Sennegrab - Jobst Schlennstedt - E-Book

Sennegrab E-Book

Jobst Schlennstedt

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Beschreibung

In der Senne ruht der Tod Nach einem Sabbatjahr kehrt Kriminalkommissar Jan Oldinghaus zurück in den Dienst und in seine ostwestfälische Heimat. Doch von Eingewöhnung kann keine Rede sein: Zwischen den Weinreben am Johannisberg wird eine Leiche gefunden. Nicht irgendeine Leiche, sondern die eines beliebten Bielefelder Politikers. War es ein Unfall, oder wurde er umgebracht? Oldinghaus bleibt kaum Zeit, darüber nachzudenken, denn zwei Frauenmorde in der Senne beschäftigen die Kripo. Und der nächste Mord scheint nur eine Frage der Zeit zu sein ...

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Jobst Schlennstedt, 1976 in Herford geboren und dort aufgewachsen, studierte Geografie an der Universität Bayreuth. Seit Anfang 2004 lebt er in Lübeck. 2006 erschien sein erster Kriminalroman. Hauptberuflich ist er Geschäftsführer eines Lübecker Beratungsunternehmens. Im Emons Verlag erschienen die Westfalenkrimis »Westfalenbräu« und »Dorfschweigen«. Außerdem die Küstenkrimis »Tödliche Stimmen«, »Der Teufel von St. Marien«, »Möwenjagd«, »Traveblut«, »Küstenblues«, »Todesbucht«, »Spur übers Meer«, »Lübeck im Visier«, »#hanseterror«, »Hafenstraße 52«, »Nebelmeer« und »Lübsche Wut« sowie der Thriller »Küste der Lügen«. Mit »Sennegrab« liegt jetzt der dritte Band seiner Kriminalreihe um den Bielefelder Kriminalkommissar Jan Oldinghaus vor.

www.jobst-schlennstedt.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Steffen Hummel/Lookphotos

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Hilla Czinczoll

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-469-8

Ostwestfalen Krimi

Originalausgabe

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Es waren nur zwölf Monate, in denen ich nicht da war,aber als ich zurückkehrte, war nichts mehr wie zuvor …

Jan Oldinghaus, Kriminalkommissar im KK 11, Bielefeld

Das Ticken der Wanduhr

Diesmal war es in Ordnung gewesen. Zumindest besser als beim ersten Mal. Und auch besser, als sie erwartet hatte.

Wenn die Umstände andere gewesen wären, hätte sie es vielleicht sogar als gut empfunden. Womöglich sogar genossen. Wenn sie sich zum Beispiel vor zwanzig Jahren kennengelernt hätten. Als ihr eigenes Leben noch so viel einfacher gewesen war. Und seines wahrscheinlich auch.

Doch jetzt war alles anders. Sie hatten Sex miteinander gehabt und anschließend gemeinsam eine Zigarette geraucht. Bevor er dann einfach ging. Wortlos, nur mit einem kurzen Nicken. Und einem Blick, den sie in ihrem Leben allzu oft gesehen hatte.

Er war ihr nichts schuldig. Immerhin hatte er von Anfang an mit offenen Karten gespielt. Klipp und klar gesagt, dass er nicht mehr von ihr wollte als das bisschen Körperlichkeit, das sie seit ein paar Wochen miteinander verband.

Und sie hatte sich darauf eingelassen. So wie sie es schon immer getan hatte. Mit all diesen Typen, die in ihrer Wohnung für kurze Zeit ein und aus gegangen waren, ohne dass auch nur einer von ihnen jemals ernsthaftes Interesse an ihr gezeigt hätte.

Sie schob das Laken beiseite und blickte an ihrem Körper herab. Sie war blass, die leichte Sommerbräune längst verschwunden. Erste Spuren ihres Alters waren deutlich zu sehen. Die Haut wurde von Jahr zu Jahr schlaffer, knackig war ihr Körper schon lange nicht mehr. Ihr Bauch, auf den sie einst so stolz gewesen war, fühlte sich nur noch weich an.

Und trotzdem konnte sie sich sehen lassen. Dass sie bereits Mitte vierzig war, wussten die wenigsten. Manchmal, wenn sie sich in Unterwäsche vor dem großen Spiegel im Flur betrachtete, mochte sie ihren Körper. Nicht im Sinne von Sich-selbst-Lieben, eher ein Akzeptieren, dass sie so war, wie sie war. Dass sie mit all ihren Fehlern und Makeln einfach leben konnte, ohne sich zu schämen.

Doch diese Momente waren in letzter Zeit immer seltener geworden. Die Wirklichkeit war mittlerweile eine ganz andere.

Sie atmete tief durch und mühte sich aus ihrem Bett. Der Sex war körperlich anstrengend gewesen. Er hatte Dinge mit ihr ausprobiert, für die sie sich eigentlich längst zu alt fühlte. Aber es war anders als mit den anderen Typen gewesen. Er war hart, aber nicht erniedrigend gewesen. Sie hätte jederzeit Nein sagen können. Das glaubte sie zumindest.

Er war gut zu ihr. Oder wenigstens nicht schlecht, korrigierte sie sich selbst. Wohin die Sache führen würde, wusste sie nicht. Der Gedanke, dass es diesmal zu mehr als ein paar heimlichen Treffen reichte, schien ihr im Grunde absurd.

Die leise Hoffnung, die sie trotz alledem verspürte, wurde im nächsten Moment mit voller Wucht von einem Gefühl der Panik verdrängt. Sie schrak zusammen. Der schrille Ton der Klingel hallte durch ihre Wohnung.

Hektisch raffte sie sich hoch und zog sich ein langes T-Shirt über. Dann atmete sie mehrmals tief durch, um sich zu beruhigen. Es kam so selten vor, dass jemand bei ihr klingelte, dass das Geräusch sie vollkommen aus der Bahn warf.

Sie schielte auf die Uhr, die am Ende des Flurs hing. Eine günstige IKEA-Uhr, die sie sich gekauft hatte, als sie hier vor acht Jahren eingezogen war.

Zwanzig nach zehn.

Er musste etwas vergessen haben. Vielleicht hatte er sich ihr Angebot, bei ihr zu schlafen, doch noch einmal durch den Kopf gehen lassen.

Leise schlich sie die letzten Meter über den Flur bis zur Wohnungstür. Ihr war unwohl. Der Gedanke, dass vielleicht jemand anders zu ihr wollte, jagte ihr plötzlich Angst ein. Sie kannte keine Menschen, die unangemeldet bei ihr aufkreuzten. Und erst recht nicht so spät am Abend.

Zitternd nahm sie den Hörer der Gegensprechanlage in die Hand und meldete sich mit einem unsicheren »Hallo, wer ist denn da?«.

Sie ließ einige Sekunden verstreichen, dann wiederholte sie ihre Worte.

Am anderen Ende der Leitung war jedoch nichts außer Stille und dem leisen Rauschen des Winds zu hören.

Sie legte wieder auf. Dann presste sie ihre linke Wange gegen die Wohnungstür.

»Bist du da?«, flüsterte sie und hoffte, einfach nur seine Stimme zu hören.

Aber niemand antwortete.

»Hast du es dir anders überlegt? Willst du heute Nacht doch bei mir bleiben?«

Keine Antwort.

Die Stille erdrückte sie förmlich. Einzig das leise, monotone Geräusch des Sekundenzeigers der Wanduhr war zu hören.

Mit dem Rücken zur Tür rutschte sie zu Boden. Minutenlang blieb sie so sitzen. Bis sich ihr Herzschlag endlich wieder normalisiert hatte und die kurzzeitige Panik, die sie verspürt hatte, verschwunden war.

Sie kannte diese Augenblicke. Unvorhergesehene Situationen, die sie komplett aus der Bahn warfen. In denen sie die Kontrolle verlor. Die sie sofort panisch werden ließen. Dazu die allgegenwärtige Furcht vor dem Alleinsein, während sie gleichzeitig fremden Menschen gegenüber misstrauisch war. Angstzustände waren ihr ständiger Begleiter. Schon seit ihrer Pubertät, kurz nachdem sich ihre Eltern getrennt hatten.

Sie verdrängte die Erinnerungen und schloss die Augen. Diesmal war es anders, das hatte sie sofort gespürt. Da war diese Traurigkeit in seinen Augen gewesen, die sie an sie selbst erinnert hatte. Noch wusste sie nicht allzu viel über ihn, aber vielleicht waren sie sich näher, als sie momentan zu hoffen glaubte.

Für einen kurzen Moment hatte sie das Gefühl, durch die geschlossene Wohnungstür sein Atmen zu hören. Sein herbes Parfüm kitzelte ihr noch immer in der Nase. Warum antwortete er ihr nicht? Oder klingelte noch einmal?

Sie verharrte noch immer hinter der Tür. Zusammengekauert, die Arme fest um die Beine geschlossen. Sie hatte Angst davor, aufzustehen und die Tür zu öffnen. Angst davor, dass er es womöglich nicht war. Angst vor dem Ungewissen. Angst vor allem, was da draußen auf sie wartete.

»Bist du da?«, fragte sie. Diesmal etwas lauter.

Eine Antwort blieb erneut aus.

Weil dort hinter der Tür überhaupt niemand war, der sie hören konnte. Bestimmt hatte nur unten an der Haustür jemand geklingelt. Vielleicht ein Klingelstreich der Jugendlichen aus der Nachbarschaft. Sie musste endlich damit aufhören, überall nur Gefahren zu sehen.

Sie raffte sich auf, drehte sich um und starrte die Tür an. Sie musste ihre Angst einfach überwinden. Dann umklammerte sie den Griff so fest, dass ihre Handknöchel weiß wurden, und hielt noch einmal kurz inne.

Im nächsten Moment riss sie die Tür auf.

Das dunkle Treppenhaus wurde nur schwach vom Schein des zunehmenden Monds, der durch die Milchglasbausteine fiel, beleuchtet.

Kein elektrisches Licht.

Ihre Augen hatten Probleme, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Sekunden vergingen, in denen sie nicht erkennen konnte, was gerade um sie herum geschah. Sofort fuhr ihr wieder die Panik durch den Körper. Hektisch trat sie einen Schritt zurück, um die Tür wieder zuzuschlagen.

Im nächsten Moment erkannte sie einen schwarzen Schatten, der vom Treppenabsatz sprang und auf sie zustürmte. So schnell, dass sie keine Chance mehr hatte, auszuweichen.

Das kalte Metall des Hammers, den sie mit verschwommenem Blick auf sich zurauschen sah, traf sie mit solcher Wucht, dass sie nur für den Bruchteil einer Sekunde überhaupt Schmerz empfand.

Während das Blut aus der Wunde knapp oberhalb ihrer rechten Schläfe strömte und auf den Teppichboden ihres Flurs tropfte, verlor sie das Bewusstsein und sank in sich zusammen.

Den zweiten Schlag auf ihren Kopf spürte sie bereits nicht mehr.

Kloß im Hals

Einige Sekunden lang überlegte Jan Oldinghaus, die Tür einfach wieder zuzuziehen. Wenigstens die erste Nacht nach seiner Rückkehr könnte er irgendwo anders verbringen.

Vielleicht bei seinem besten Freund Philipp. Oder bei seiner Schwester Isabel. Für einen kurzen Augenblick dachte er sogar an seine Eltern.

Schließlich fuhr er sich mit beiden Händen durchs Gesicht und strich sich die halblangen rotblonden Haare zurück. Dann betrat er seine Herforder Wohnung doch und ließ die Tür hinter sich langsam ins Schloss fallen.

Jan Oldinghaus war jetzt ganz allein. Zum ersten Mal seit fast einem Jahr würde er die Nacht ohne jemanden in seiner unmittelbaren Nähe verbringen. Nicht in einem viel zu kleinen Tourbus, nicht in irgendeinem mittelmäßigen Hotelzimmer in einem abgelegenen Kaff jenseits der Zivilisation oder – wenn es mal besonders gut gelaufen war – in einem eigens angemieteten Haus, in dem er gemeinsam mit der Band und allen Crewmitgliedern geschlafen hatte.

Ihn übermannte eine seltsame Mischung aus Sehnsucht nach dem Leben der vergangenen Monate und völliger Erschöpfung, verbunden mit dem Wunsch, seine Wohnung in den nächsten Tagen nicht mehr zu verlassen.

Auch nach all den Monaten glaubte er, hier noch immer den Geruch von Räucherstäbchen wahrzunehmen. Seine Untermieterin Mareike hatte damals immer häufiger ihre Yogakurse in seiner Wohnung veranstaltet. Mit dem Ergebnis, dass er sich am Ende fremd in seinen eigenen vier Wänden gefühlt hatte. So hatte er ihr die Wohnung noch bereitwilliger überlassen und sich in die Arbeit gestürzt.

Bis zu dem Tag, als Banjo, der Manager seiner Band »Underdogs«, ihnen Sylvia Vankerckhoven vorgestellt hatte. Sie war Chefscout in einer der größten Castingshow-Produktionsfirmen Europas und hatte die »Underdogs« für die Show »Next Big Thing« ausgewählt. Sie hatten allen Ernstes für die Teilnahme an einer Samstagabendshow im Fernsehen eine Zusage bekommen.

Jans Schwester Isabel war damals erst seit Kurzem die Leadsängerin der Band gewesen, nachdem sie spontan für den eigentlichen Frontmann Tom hatte einspringen müssen. Philipp, sein bester Freund seit Kindheitstagen, am Bass. Elli an der Gitarre und Jens am Keyboard. Und er selbst am Schlagzeug. Das waren die »Underdogs« – eine Coverband, die zu weitaus mehr in der Lage war, als bekannte Songs nachzusingen.

In der Castingshow waren sie von der ersten bis zur letzten Livesendung diejenigen gewesen, die Jury und Publikum am meisten begeistert hatten. Vor allem mit ihren eigenen Stücken hatten sie überzeugt. Auch Jan hatte zwei Lieder beigesteuert. Die melancholischen Songs, wie Isabel sie nannte, waren die Gänsehautmomente in den Shows gewesen. Am Ende hatten sie sich souverän gegen die anderen neun Bands durchgesetzt und einen Plattenvertrag bei einem Major-Label gewonnen. Nach drei Monaten waren sie dann schließlich auf große Tournee durch Deutschland, Österreich und die Schweiz gegangen.

Während er seinen Blick durch den Flur seiner Wohnung schweifen ließ, hatte er das Gefühl, als läge dieses Kapitel seines Lebens bereits Jahre zurück. Dabei waren seit dem letzten Auftritt, ihrem Abschlusskonzert, gerade einmal drei Tage vergangen. Vielleicht lag es daran, dass sich die Zeit auf Tour wie ein Roadmovie angefühlt hatte, in dem sie die Hauptrollen spielten. Mit Sicherheit aber auch daran, dass jedem Einzelnen von ihnen unterwegs schon nach wenigen Wochen klar geworden war, dass dieser Weg, im Musikgeschäft Fuß zu fassen, ganz und gar nicht das war, was sie sich bei Gründung der Band mit Anfang zwanzig vorgestellt hatten.

Autogrammstunden, Fototermine, Konzerte in Diskotheken und Auftritte auf Stadtfesten – nach der ersten kurzen Euphoriewelle hatte ihnen der Stress zunehmend zugesetzt. Jeden Tag in einer anderen Stadt aufzutreten und zu schlafen, war kräftezehrend gewesen.

Jan bewegte sich langsam durch seine Wohnung. Es fühlte sich fremd an. Nicht nur, dass Mareike nicht mehr da war und ihre manchmal anstrengende, aber stets fröhliche Art ihm jetzt schon fehlte. Da war noch etwas anderes, das ihm zu schaffen machte.

Er schaltete das Licht in der Küche ein und ließ sich auf einem alten Panton-Stuhl nieder, den Mareike bei ihrem Auszug offenbar nicht mitgenommen hatte. Aus der Jackentasche zog er eine Bierdose, die er eben noch an der Tankstelle gekauft hatte, und öffnete sie. Nach einem kräftigen Schluck lehnte er sich zurück und schloss die Augen.

Seit dem Anruf seiner Mutter vor zwei Wochen kreisten seine Gedanken nur noch um seine Eltern. Er ahnte oder vielmehr wusste bereits, dass sein Leben in nächster Zeit eine Richtung nehmen könnte, die ihm alles andere als recht war.

Jahrelang hatte er sich immer wieder gefragt, wie es sein würde, wenn sich sein Vater Heinrich eines Tages aus gesundheitlichen Gründen ganz aus der Bewirtschaftung des elterlichen Hofes zurückziehen würde. Wenn er auch innerlich loslassen musste von dem, was sein Leben ausgemacht hatte.

Cord, sein verhasster älterer Bruder, hatte sich schon vor Jahren für diesen Moment in Stellung gebracht. Er hatte nie einen Zweifel daran aufkommen lassen, dass er derjenige war, der den Hof einmal übernehmen würde. Aber auch ihr Vater hatte zu keiner Zeit ein anderes Ziel verfolgt. Und trotzdem hatte er Jan Vorwürfe gemacht, als der ihm mitgeteilt hatte, dass er seine Zukunft nicht auf dem Hof sehe.

Schließlich war es genau so gekommen, wie Cord es geplant hatte. Bereits seit einigen Jahren war er für die Geschäfte mit dem Gestüt und den Ackerbaubetrieb verantwortlich. Sein Vater hatte allerdings noch immer mit am Verhandlungstisch gesessen und, so wie Jan ihn kannte, wahrscheinlich nicht selten das letzte Wort gehabt.

Doch damit war es jetzt vorbei. Sylvia, seine Mutter, hatte sich am Telefon unmissverständlich ausgedrückt. Heinrich hatte vor zwei Wochen einen Schlaganfall erlitten. Nicht den ersten, doch die Warnschüsse in den letzten Jahren waren so glimpflich verlaufen, dass sie niemand ernst genommen hatte. Diesmal war es allerdings so schwerwiegend, dass sich die Ärzte schon nach einem Tag sicher gewesen waren, dass der Patriarch der Familie nie wieder der Alte werden würde.

Seine Mutter hatte sich kurzgefasst und doch genug gesagt. Widerwillig hatte Jan die Nachricht zur Kenntnis genommen. Es fiel ihm schwer zu akzeptieren, dass ausgerechnet er nun für seinen Vater da sein sollte, wie es bei seiner Mutter durch die Blume bereits angeklungen war. Während Cord sich dieser Verantwortung entziehen und sich ausschließlich um den Hof und die Geschäfte kümmern würde. Und das auch noch mit Billigung ihres Vaters.

Jan hatte seit diesem Anruf einen Kloß im Hals. Er merkte, wie sehr ihn die Gedanken an seinen Vater und Cord auch jetzt wieder aufwühlten. Wie wütend sie ihn machten.

Er hatte kein gutes Verhältnis zu seinem Vater. Noch nie gehabt. Oder besser gesagt, er hatte überhaupt kein Verhältnis zu ihm. Vaters Liebling war immer Cord gewesen. Deren Beziehung war so viel intensiver, dass es Tag für Tag eine neue Erniedrigung gewesen war. Wie konnte ein Vater nur eins seiner Kinder lieben, während ihm die anderen so egal waren?

Und dann war da noch diese Affäre, die Heinrich ihm vor einiger Zeit gebeichtet hatte. Aus der sogar ein Kind hervorgegangen war. Sein Halbbruder, der durch eine tragische Geschichte nicht mehr am Leben war.

Das Einzige, was ihn bei dem Gedanken an seinen kranken Vater und die schwierigen Zeiten, die vor ihnen lagen, ermutigte, war die Gewissheit, dass seine Schwester Isabel an seiner Seite war. Zusammen würde es ihnen hoffentlich gelingen, diese Situationen zu meistern.

Er atmete tief durch, öffnete die Augen wieder und griff nach seiner Bierdose. Die Sehnsucht nach den vergangenen Monaten kam zurück. Überall und nirgends zu sein, bloß nicht in der Nähe seiner Familie.

Bis zu seiner Rückkehr in den Dienst bei der Kripo Bielefeld blieben ihm noch exakt zehn Tage. Er würde die Zeit nutzen müssen, um einige Entscheidungen zu treffen.

Falsche Entscheidung

Diese Stadt war sein Zuhause.

Diese Stadt, die er so liebte und manchmal doch hasste. Für die er nach außen hin kämpfte, die er bisweilen aber tief im Innern bekämpfte. Die er zeit seines Lebens verlassen wollte, was er jedoch niemals geschafft hatte.

Bielefeld. Sein Zuhause. Seine Heimat. Da lag sie vor ihm. So schön und unscheinbar. So lebendig und behäbig. So faszinierend und langweilig.

Die brennende Spitze der Zigarette sah in der Dunkelheit wie ein Glühwürmchen aus, das regungslos in der Luft verharrte. Er nahm einen kräftigen Zug und pustete den Rauch in kleinen Ringen wieder aus.

Das Gefühl, dass die ganze Sache womöglich in die falsche Richtung laufen könnte, war von Anfang an da gewesen. Von dem Moment an, in dem er den Anruf angenommen und sich auf diesen Gesprächstermin eingelassen hatte.

Er hatte ihn gekannt, viele Jahre waren sie sich immer wieder über den Weg gelaufen. Aber niemals hätte er geahnt, wie schwierig es mit ihm sein konnte. Dass das Gespräch heute Abend bereits nach wenigen Minuten vollkommen außer Kontrolle geraten war, hätte er sich beim besten Willen nicht vorstellen können. Ein normaler Austausch über das, was in den letzten Monaten vorgefallen war, und darüber, was vielleicht gemeinsam vor ihnen lag, war überhaupt nicht möglich gewesen. Stattdessen war er sofort auf Konfrontation gegangen. Dabei war es ihm vollkommen egal gewesen, dass sie nicht allein waren, denn die meisten Teilnehmer der Konferenz vom Nachmittag waren noch anwesend. Dass wahrscheinlich viel zu viele Leute mitbekommen hatten, worüber sie in Streit geraten waren.

Es war ein Fehler gewesen, hier überhaupt aufzutauchen. Jetzt, in diesem Moment, wo er auf die Lichter seiner Stadt hinabblickte, konnte er sich nicht einmal mehr erklären, weshalb er dem Gespräch zugestimmt hatte. Was er sich davon versprochen hatte. Zu glauben, dass er der bessere Geschäftspartner sein würde, war irrwitzig gewesen.

Es war gekommen, wie es kommen musste. Er schüttelte nur noch den Kopf. Über sich selbst, weil er so naiv gewesen war. Und über ihr Gespräch vor ein paar Stunden, das um ein Haar mit Handgreiflichkeiten geendet hätte.

Ein letzter Zug. Dann schnippte er die Zigarette weg. Über den Zaun, den Abhang des Johannisbergs hinunter.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Lichter im Restaurant des Hotels erloschen waren. Es musste bereits nach Mitternacht sein. Auch die Bar, an der er nach dem Streit den Rest des Abends gesessen hatte, war mittlerweile geschlossen. Es war an der Zeit, ein Taxi zu rufen und sich nach Hause bringen zu lassen. Das Zuhause, das nur noch aus einer schicken Hülle bestand. Wie es im Innern aussah, wusste nur er. Ginge es nach ihm, würde es noch eine Weile so bleiben, aber ihm war klar, dass die Situation nicht mehr lange zu verheimlichen war.

Die Dunkelheit war mittlerweile so durchdringend, dass er Probleme hatte, sich zu orientieren. Dass er an der Bar wahrscheinlich einen Gin Tonic zu viel getrunken hatte, kam in diesem Moment erschwerend hinzu. Er stolperte beinahe über seine eigenen Füße und konnte sich gerade so noch am Geländer festhalten.

Als er wieder aufsah, schrak er derart zusammen, dass er sich auf die Zunge biss. Den Schmerz im Mund verdrängte der Schock. Er war sich sicher, für den Bruchteil einer Sekunde in einigen Metern Entfernung plötzlich eine Gestalt gesehen zu haben. Jetzt war sie nicht mehr da.

Er scannte die Umgebung. Versuchte, in der Dunkelheit irgendein Detail zu erkennen. Ein Paar Augen. Womöglich hatte er ein Tier gesehen.

Doch da war niemand.

Hatte er sich das gerade etwa nur eingebildet? Der Streit heute Abend, die ganzen anderen schrecklichen Dinge, die um ihn herum geschahen … Vielleicht war das, was er gerade erlebte, nur eine logische Folge aus alledem. Er bildete sich Dinge ein. Halluzinierte bloß. Sah eine Gefahr, wo gar keine war. Doch je mehr passierte, desto anfälliger wurde er.

Geschäftlich hatte ihn der heutige Abend jedenfalls kein Stück weitergebracht. Immerhin wusste er jetzt, woran er war. Wenn er dabei sein wollte, musste er wohl oder übel bei seinen ursprünglichen Plänen bleiben und sich damit abfinden, dass es nicht das war, was ihn wirklich zufrieden machte. Zwischenmenschlich würde es schwierig werden, aber längst nicht so unmöglich wie das, was er heute Abend erlebt hatte.

Er fischte eine weitere Zigarette aus der Packung in seiner Jackentasche und zündete sie sich an. Dann sah er zurück auf die im Dunkeln daliegende Terrasse des Restaurants, ließ seinen Blick noch einmal weitläufig kreisen, um sich zu überzeugen, dass ihm seine Psyche nur ein Schnippchen geschlagen hatte. Was ihm allerdings sofort wieder Angst einjagte, weil er wohl einfach nicht Herr über seine Psyche war.

Er rauchte die Zigarette so schnell runter, dass ihm schwindelig wurde. Schließlich wandte er sich ab und bog auf den serpentinenartigen Weg ein, der den Johannisberg hinabführte. Um diese Uhrzeit auf ein Taxi zu warten würde wahrscheinlich länger dauern, als zu Fuß in die Altstadt zu gehen, dachte er. Er würde noch einen letzten Absacker trinken, ehe er sich Gedanken darüber machte, wo er heute Nacht schliefe.

Je weiter er sich vom Restaurant und dem angrenzenden Hotel entfernte und je mehr Kurven er hinter sich ließ, desto dunkler wurde es um ihn herum. Anfangs sah er sich immer wieder um, obwohl er sich die Gestalt vorhin wohl nur eingebildet hatte. Doch mit jedem Meter, den er zurücklegte, schwand ein wenig von seiner Unruhe. Er war allein. Es gab niemanden, der ihn verfolgte. Seine Angst, so real sie ihn auch überkam, war unbegründet.

Er holte sein Handy aus der Hosentasche hervor und schaltete die Taschenlampe ein. Sie leuchtete ihm den Weg so gut aus, dass er mit sicheren Schritten vorwärtskam.

Er fiel in einen gleichmäßigen Trott, doch plötzlich hörte er ein Geräusch. Schuhe, die auf Schotter knirschten und nicht seine eigenen waren.

Sofort kam die Angst zurück. Jetzt traute er sich nicht mehr, sich umzusehen. Stattdessen begann er, immer schneller zu gehen, nach wenigen Metern rannte er bereits. Das Handy hielt er fest umklammert in seiner linken Hand. Der Lichtkegel der Taschenlampe flipperte trotzdem unkontrolliert durch die Nacht.

Halluzinierte er schon wieder? Er glaubte, den Atem seines Verfolgers direkt in seinem Nacken zu spüren.

Diese Angst war absurd. Und doch existent.

Er lief immer schneller. Seine Panik wuchs. Er hörte das Knirschen auf dem Schotter. Die Schritte auf dem Asphalt. Das Keuchen, das ihm seltsam bekannt vorkam.

Im nächsten Moment rutschte er weg. Strauchelte, hielt sich nur mit größter Mühe noch auf den Beinen. Er wollte weiterrennen.

Sein Handy. Verdammt.

Es glitt ihm wie in Zeitlupe aus der Hand.

Von einem auf den anderen Moment war alles dunkel. Den Weg, der wie in Serpentinen zwischen den Weinreben des Winzer’schen Gartens entlangführte, konnte er nur noch erahnen. Die Lichter der Stadt am Fuße des Bergs waren zu schwach, um ihm den Weg zu leiten.

Die Schritte hinter ihm wurden lauter. Da war jemand, der ihm aufgelauert hatte und ihm folgte!

Das Keuchen kam immer näher. Gefühlt keinen Meter mehr entfernt. Plötzlich stolperte er. Über irgendeinen harten Gegenstand. Einen Stein. Was auch immer.

Er verlor den Boden unter den Füßen. Und spürte in dem Moment seltsamerweise, wie mit einem Mal die Panik aus seinem Körper heraustrat. Es war nur ein kurzer Augenblick, und doch fühlte es sich an, als sei er abgehoben, um mit einem kräftigen Flügelschlag davonzugleiten.

Doch im nächsten Moment setzte auch schon wieder der Sinkflug ein. Mit dem Kopf voraus prallte er gegen eine Steinmauer.

Er überschlug sich und blieb schließlich zwischen den Weinreben liegen. Der Aufprall war so hart gewesen, dass er sofort tot war. Das knackende Geräusch seines brechenden Genicks hatte er nicht mehr wahrgenommen.

Das Keuchen war verstummt. Stattdessen hallte ein leiser Fluch durch die Nacht. Dann bückte sich die Gestalt nach dem heruntergefallenen Handy und verschwand, ohne sich noch einmal umzusehen, in der Nacht, die bereits von einem feinen Nebel durchzogen war.

Von null auf hundert

Jan hatte lange geschlafen, war frühstücken gegangen und hatte anschließend das Nötigste eingekauft. Das Alleinsein fühlte sich immer noch befremdlich an. Es war vor allem die gemeinsame Zeit mit Isabel, die er jetzt schon vermisste. So nah wie während der Monate auf Tour waren sie einander nie zuvor gewesen. Sie hatte ihm ein ums andere Mal geholfen, wenn er kurz davorstand, auszusteigen, weil ihm einfach alles über den Kopf wuchs. Letztlich war sie der eigentliche Grund, weshalb er überhaupt in Erwägung zog, sich um seine Eltern zu kümmern und vielleicht sogar für eine gewisse Zeit lang zurück auf den Hof zu ziehen. Gemeinsam mit Isabel würde es wohl einigermaßen erträglich werden, hoffte er.

Das lautlose Vibrieren seines Handys durchbrach seine Gedanken. Jan zog das Telefon aus seiner Hosentasche und warf einen flüchtigen Blick auf das Display. Er hatte keinen Gedanken daran verschwendet, wer der Anrufer sein könnte, aber den Namen, den er las, hatte er sicherlich nicht erwartet. Es war Cengiz Ergün, sein engster Kollege bei der Kripo.

»Du weißt also, dass ich wieder zurück bin?«

»Deine Schwester hat es mir gesagt.«

»Isabel?«, fragte er überrascht.

»Hast du noch eine andere?«

»Was hast du mit ihr tun? Warum sprecht ihr überhaupt miteinander?«

»Ich habe sie zufällig getroffen, aber das ist nicht meine Angelegenheit«, antwortete Cengiz vielsagend. »Klär das mit deiner Schwester.«

»Was denn klären?«, fragte Jan verwundert.

»Hör mal, ich muss dringend mit dir sprechen«, blockte Cengiz ab. »Du musst früher zurückkommen als geplant.«

»Schön, dass ihr mich vermisst, aber die paar Tage bis zum offiziellen Ende meines Sabbatjahrs werdet ihr doch wohl noch abwarten können.«

»Leider nicht«, antwortete Cengiz. »Offenbar hast du heute noch keine Nachrichten gehört.«

Jan schüttelte den Kopf und schob ein leises »Nein« hinterher.

»Henning Gronemeyer«, fuhr Cengiz fort. »Ist dir sicher ein Begriff?«

»Natürlich.«

»Er ist tot«, sagte Cengiz. »Wurde heute Morgen zwischen den Weinreben am Johannisberg gefunden. Wir wissen noch nicht genau, was vorgefallen ist, aber momentan ist nichts auszuschließen.«

»Was bedeutet das?«

»Es gibt ein paar Dinge, die näher untersucht werden müssen. Mehr kann ich momentan aber auch nicht dazu sagen. Unser wichtigster Anhaltspunkt ist die Tatsache, dass alles andere als Fremdeinwirkung schwer vorstellbar ist.«

»Warum rufst du mich an?«

»Ich habe vorhin mit Vera zusammengesessen. Jemand muss sich um den Fall kümmern. Du bist unsere einzige Hoffnung. Alle anderen sind leider anderweitig eingebunden. Wann könntest du hier sein?«

»Dein Ernst?«

»Du kennst mich. Höre ich mich etwa an, als würde ich spaßen?«

»Wenn es gar nicht anders geht, lass ich mich Montagmorgen mal blicken.«

»Zu spät«, entgegnete Cengiz knapp. »Heute um achtzehn Uhr haben wir eine Krisensitzung, dann solltest du spätestens dabei sein.«

»Aber –«

»Kein Aber.«

Wieder wollte Jan etwas entgegnen, doch er hörte, dass Cengiz bereits aufgelegt hatte.

Fluchend griff er nach einer Dose Bier aus dem Kühlschrank. Er freute sich darauf, zurück in den Dienst zu gehen. Während der Tour hatte es immer häufiger Tage gegeben, an denen er sich in seinen Job als Kriminalkommissar zurückgewünscht hatte. Dennoch hatte er sich seine Rückkehr anders vorgestellt.

Früher wieder einzusteigen als geplant, war das eine. Aber Cengiz hätte wenigstens fragen können. Oder besser noch Vera, seine Chefin. Seit Monaten hatte Jan nichts mehr von ihr gehört, obwohl er ihr mehrfach Nachrichten auf ihr Handy geschickt hatte.

Er hatte schon die ganze Zeit vermutet, dass ihr sein Sabbatjahr gegen den Strich gegangen war. Aber wollte sie ihm jetzt, wo er zurück war, direkt mal zeigen, dass inzwischen ein anderer Wind in der Mordkommission wehte?

Doch so kannte er sie eigentlich nicht. Sie waren ein eingespieltes Team gewesen, verstanden sich auch außerhalb der Arbeit gut. Es musste deshalb wirklich dringend sein, wenn sie ihn noch während seiner Auszeit für einen Samstagabend zu einer Krisensitzung einbestellten.

Er wischte die Gedanken an Vera beiseite und konzentrierte sich darauf, was Cengiz ihm soeben erzählt hatte. Henning Gronemeyer war also tot. Einer der bekanntesten Lokalpolitiker Bielefelds. Seit Jahren auch Landtagsabgeordneter.

Jan erinnerte sich, dass Gronemeyer für seine besondere Volksnähe bekannt gewesen war. Vor der letzten Wahl war er als nächster Bürgermeisterkandidat gehandelt worden, manche hatten ihm sogar eine noch größere Politkarriere zugetraut. Soweit Jan wusste, hatte es bislang immerhin bereits zum Vize-Fraktionsvorsitz in der Partei und zum Landtagsabgeordneten gereicht.

Sein Blick kreiste durch Küche und Wohnzimmer. Aus dem großen Fenster hinaus auf den Neuen Markt, Herfords wohl schönsten Platz. Besonders viel Licht drang nicht von außen herein. Der herbstliche Nebel wollte heute einfach nicht verschwinden. Wie ein grauer Schleier hing er über der Stadt. Und über ihm.

Seit er gestern Nachmittag seine Wohnung aufgeschlossen und betreten hatte, fühlte er sich schlecht. Die Einsamkeit. Die Stille. Mareike, sie fehlte ihm. Die Gedanken an seinen Vater. Und jetzt noch dieser Anruf von Cengiz. Da wünschte er sich fast, sofort wieder auf der Bühne zu stehen. Dort würde er sich solchen Stimmungen nicht überlassen können. Nichts ging über die Momente, wenn ihnen das Publikum frenetisch zujubelte.

Jan stand hastig auf, schüttete den Rest seines Biers in die Spüle und zog den Reißverschluss seiner engen Lederjacke zu. Hier ganz allein wollte er nicht den Rest des Tages verbringen. Schon gar nicht den ersten Tag nach seiner Rückkehr.

Er atmete tief durch und schlug sich mehrmals mit den Handinnenflächen auf die Wangen. So lange, bis es schmerzte. Bis er sich fit genug für die nächsten Stunden fühlte. Denn bevor er ins Präsidium fahren würde, hatte er noch etwas anderes zu erledigen.

Nur noch weg

Jan parkte seinen alten dunkelgrünen Mini Cooper neben Cords Landrover und schaltete die Musik aus, die er während der knapp fünfzehnminütigen Fahrt von seiner Wohnung bis zum Hof seiner Eltern voll aufgedreht hatte. Wie immer in solchen Momenten hatte er seine innere Ruhe mit einer der alten Oasis-Scheiben gefunden.

Ein kurzer Blick auf seine Smartwatch. Nur noch eine knappe Stunde bis zur Krisensitzung im Präsidium, von der Cengiz erzählt hatte. Zu wenig, um die Zukunft seines Vaters Heinrich auf dem Hof der Familie mit allen zu besprechen, aber ausreichend Zeit für ein paar klärende Worte.

Dass er sich spontan überlegt hatte, für eine Weile wieder in sein altes Jugendzimmer einzuziehen, um seine Mutter bei der Pflege des Vaters zu unterstützen, wollte er jedoch erst ansprechen, sobald die Fronten mit Cord geklärt waren. Wenn Isabel und er sich schon um ihre Eltern kümmerten, dann sollte sich sein Bruder auch gefälligst komplett heraushalten. Wie das in der Praxis funktionieren sollte, wusste Jan auch noch nicht genau. Allerdings war ihm auf dem Weg hierher bereits eine Idee gekommen, die anzusprechen heute aber wohl noch nicht der richtige Zeitpunkt war.

Als er ausstieg, sah er aus dem Augenwinkel, dass seine Mutter gerade aus dem Haus getreten war und auf ihn zukam. Jan gab sich einen Ruck und ging ihr entgegen.

»Na, mein Junge, schön, dass du wieder da bist.« Sylvia Meyer zu Oldinghaus zog ihn zu sich heran und drückte ihn. Weil Jan die Umarmung kaum erwiderte, wirkte ihr Versuch, auf ihren Sohn zuzugehen, ungewollt unbeholfen.

»Du siehst müde aus«, sagte sie, nachdem sie von ihm abgelassen und ihn einige Sekunden lang schweigend gemustert hatte. »Kann es sein, dass diese Sache vielleicht doch nicht die beste Idee war?«

»Diese Sache, wie du sie nennst, war das Beste, was ich in meinem Leben bislang gemacht habe«, entgegnete Jan, bereits leicht genervt, und trat einen halben Schritt zurück. »Ein Traum von mir ist in Erfüllung gegangen. Dass ich müde aussehe, hat damit zu tun, dass eine Konzerttournee ein knochenharter Job ist. Mit dem ich übrigens allein in einem halben Jahr so viel Kohle verdient habe wie in zwei Dienstjahren bei der Kripo.«

»So meinte ich das doch gar nicht, mein Junge.« Sylvia fuhr sich fahrig durch ihre langen weißblonden Haare und suchte nach den richtigen Worten. »Es ist doch aber nun mal so, dass das kein richtiger Job ist. Zumindest auf Dauer. Das sieht deine Schwester übrigens genauso.«

»Was sieht sie genauso?«

»Dass diese Band ein nettes Hobby ist, aber doch kein –«

»Das soll Isabel genau so gesagt haben?«, unterbrach Jan seine Mutter barsch.

»Nun ja, nicht direkt. Aber ich habe es ihr angesehen. Es wird auch für sie Zeit, endlich wieder in ein geregeltes Leben zurückzukehren. Wobei ich da aktuell leider meine Zweifel habe.«

»Wovon sprichst du jetzt schon wieder?« Jan schüttelte irritiert den Kopf. Augenblicklich musste er an Cengiz’ Anruf denken. Auch der hatte eine seltsame Bemerkung über seine Schwester gemacht. Was war denn mit Isabel seit ihrer Rückkehr passiert?

Bevor Sylvia antworten konnte, öffnete sich erneut die Haustür und Jans Bruder Cord trat heraus. Zielstrebig kam er auf die beiden zu.

»Große Familienzusammenkunft«, sagte er statt einer Begrüßung, mit süffisantem Unterton. »Interessant, dass ihr euch nach einem Jahr Abwesenheit hier wieder blicken lasst. Ausgerechnet jetzt, wo es Vater schlecht geht. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.«

»Ist Isa auch hier?«, fragte Jan seine Mutter verwundert.

Sie nickte, wirkte durch Cords Anwesenheit jedoch plötzlich eingeschüchtert.

»Unsere liebe Schwester hat uns sogar eine kleine Überraschung mitgebracht«, mischte sich Cord wieder ein.

Seine herablassende Art ließ Jan schlagartig wütend werden. Er biss sich auf die Unterlippe und schluckte die Worte, die ihm auf der Zunge lagen, herunter. Was meinte Cord mit der »Überraschung«?

Sein fragender Blick entging seinem Bruder nicht.

»Was guckst du denn so, als wüsstest du nicht, wovon ich rede? Wahrscheinlich hast du doch das Ganze eingefädelt.«

Jan sah seine Mutter und Cord abwechselnd an. In der Hoffnung, aus ihren Augen etwas ablesen zu können. Irgendeinen Hinweis darauf, was mit Isabel los war. Er hatte sie vor zwei Tagen zuletzt gesehen. Nach dem Abschlusskonzert waren sie schnell auseinandergegangen, hatten sich jedoch versprochen, so bald wie möglich in Ruhe miteinander zu reden und die neue Situation mit ihren Eltern zu klären.

»Komm, verarsch mich nicht«, sagte Cord mit einem Mal. »Ich nehme dir nicht ab, dass du keine Ahnung hast.«

»Sag mir jetzt, wovon du sprichst.«

»Ernsthaft jetzt?« Cord schien empört. »Du weißt nicht, dass unsere liebe Schwester da drinnen mit deinem besten Freund am Küchentisch sitzt? Händchen haltend.« Cord redete sich in Rage. »Ihr wart ein Jahr lang zusammen unterwegs, und du behauptest ernsthaft, davon nichts mitbekommen zu haben? Vielleicht kannst du deiner Mutter etwas vormachen, aber mir ganz bestimmt nicht.«

Jan hörte schon gar nicht mehr hin. Er stürmte an seinem Bruder vorbei in Richtung der noch offen stehenden Haustür. Im nächsten Moment stand er in der Küche, die er mit so vielen glücklichen und weniger schönen Kindheitserinnerungen verband, und blickte seiner Schwester in die Augen.

An ihrer Seite saß Philipp. Seine linke Hand, die auf ihrem Knie lag, zuckte. Ehe er sie dann langsam wegnahm.

Mein bester Freund, hämmerte es in Jans Kopf unaufhörlich. Schon seit Grundschulzeiten. Wie oft hatte Philipp hier auf der Küchenbank neben ihm gesessen, wenn seine Mutter Pickert gebacken hatte. Manchmal mit Isabel in ihrer Mitte. Sie waren die engsten Freunde. Wie Familie.

Und jetzt das.

Er schnappte nach Luft. Fuhr sich durchs Gesicht. Versuchte, irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, der in den vergangenen Monaten während der Tournee darauf hingedeutet hätte, dass die beiden …

Jan drehte sich weg. Was sollte er sagen? Nichts von dem, was ihm auf der Zunge lag, schien ihm passend zu sein.

Auch Isabel und Philipp schwiegen. Warteten sie etwa darauf, dass er das Wort ergriff?

Er musste hier raus, bevor er den beiden Dinge an den Kopf warf, die er später womöglich bereuen würde. Hastig verließ er die Küche, durchquerte die Diele und stand Sekunden später wieder an der Luft. Doch der Nebel, der wie ein gigantischer Schleier über der Landschaft hing, wirkte nur noch erdrückender.

»Na, was sagst du jetzt?« Cord triumphierte. »Deine ach so tolle Schwester.«

»Warte, Jan!«, schallte es fast gleichzeitig aus dem Innern des Hauses.

Er wollte nicht reden. Nicht mit Isabel oder Philipp und schon gar nicht mit Cord. Er wollte einfach nur noch weg von hier. Diesem Ort, an dem er aufgewachsen war und bis zu seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr gewohnt hatte. Den er aus tiefster Seele jedoch hasste, nicht nur manchmal, vielleicht sogar schon immer gehasst hatte.

Ohne Cord und seine Mutter, die noch immer zusammenstanden, eines Blickes zu würdigen, ging er auf seinen Mini zu und sperrte ihn auf.

»Lass uns über alles reden«, hörte er seine Schwester aus der Ferne rufen, während er die Tür öffnete und sich erschöpft auf den Fahrersitz fallen ließ. Gerade als er sie wieder zuziehen wollte, erschien seine Mutter neben ihm.

Sie weinte. Mehrere große Tränen liefen an ihren Wangen herunter. Traurig sah sie dennoch nicht aus. Ihre Gesichtszüge wirkten hart und unerschütterlich. Er war sich sicher, etwas Kompromissloses in ihren Augen erkennen zu können.

»Ich muss das erst mal alles verdauen«, sagte Jan leise.

»Das müssen wir alle«, antwortete sie stoisch. »Ich sage dir aber eines: Wenn du dich jetzt aus dem Staub machst, brauchst du dich nie wieder hier blicken zu lassen.«

»Ich mache mich nicht aus dem Staub, aber du verstehst doch wohl hoffentlich, dass ich hier und heute nicht –«