Spur übers Meer - Jobst Schlennstedt - E-Book

Spur übers Meer E-Book

Jobst Schlennstedt

4,4

Beschreibung

Als eine siebzehnjährige Lübecker Schülerin verschwindet, wendet sich ihre verzweifelte Mutter an Privatermittler Simon Winter. Die Spur führt Winter in den Filz der niedersächsischen Landespolitik, doch erst als im dänischen Rødby ein Fahrzeug mit einem weiteren verschleppten Mädchen entdeckt wird, ahnt Winter, welche Dimension der Fall tatsächlich hat.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 314

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,4 (30 Bewertungen)
20
3
7
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jobst Schlennstedt, 1976 in Herford geboren und dort aufgewachsen, studierte Geografie an der Universität Bayreuth. Seit Anfang 2004 lebt er in Lübeck. 2006 erschien sein erster Kriminalroman. Hauptberuflich ist er als Projektmanager in einem Lübecker Beratungsunternehmen tätig. Im Emons Verlag erschienen die Westfalenkrimis »Westfalenbräu« und »Dorfschweigen«. Außerdem die Küstenkrimis »Tödliche Stimmen«, »Der Teufel von St.Marien«, »Möwenjagd«, »Traveblut«, »Küstenblues« und »Todesbucht«. Mit »Spur übers Meer« liegt jetzt der erste Band seiner neuen Kriminalreihe um den Ermittler Simon Winter vor.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2014 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: © TerraVista/LOOK-foto Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Hilla Czinczoll eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-623-2 Küsten Krimi Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons: Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

Macht macht Macht, Macht macht Gewalt.

Manfred Hinrich

DUNKELHEIT

Sie fiel nicht zu. Diese verfluchte Tür, durch die in den vergangenen Tagen nicht der geringste Laut gedrungen war, fiel diesmal einfach nicht ins Schloss.

Carla spürte ihren Herzschlag. Er trommelte unter ihrer Brust. Rasend und ungleichmäßig. Wie die Bässe in dem Club, zu denen sie vor ein paar Wochen eine ganze Nacht lang mit ihm getanzt hatte.

Noch einmal schloss sie ihre Augen, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht doch alles nur einbildete. Vielleicht träumte sie, oder machte sich ein gewisser Wahn in ihr breit? Als sie die Augen wieder öffnete, hatte sie jedoch keinen Zweifel mehr: Der Weg war frei. Sie konnte gehen. Ein paar Schritte nur, dann wäre sie raus aus dieser Hölle. Zurück in der Welt, die sie vor zehn Tagen verlassen hatte. Einer Welt, die für sie nie wieder dieselbe sein würde wie zuvor.

Sie blickte sich ein letztes Mal um. Der Raum, in dem sie zehn Tage und Nächte verbracht hatte, stank erbärmlich. Irgendwann war sie froh gewesen, dass es stockdunkel war, so brauchte sie immerhin nicht zu sehen, in welchem Elend sie hatte hausen müssen.

Eine Kerze am Tag hatten sie ihr in den Raum geschoben. Dazu einen Eimer mit frischem Wasser und einen als Toilettenersatz. Alle paar Tage etwas Papier und Seife. Trotzdem hatte sie das Gefühl, unangenehm zu riechen. Ihr Körper fühlte sich fremd an. Sie hatte längst jeden Bezug zu ihm verloren.

Kaum besser war das Essen gewesen, das sie ihr gegeben hatten. Jeden Tag zwei Cheeseburger und zwei trockene Brötchen. Einmal hatten sie eine Tafel Schokolade gebracht, die sie so schnell gegessen hatte, dass sie anschließend Magenschmerzen bekam. Keine Vitamine, nichts Frisches. Nicht einmal irgendein aufgewärmtes Fertiggericht aus der Dose hatten sie ihr in den Raum geschoben.

Zehn verfluchte Tage lang. Carla wusste es auf den Tag genau, trotz der ständigen Dunkelheit, durch die das Gefühl für den natürlichen Tages- und Nachtrhythmus längst ausgesetzt hatte. Das Blut zwischen ihren Beinen war ein untrügliches Zeichen. Darauf konnte sie sich immer verlassen. Seit sie fünfzehn war, kamen ihre Blutungen alle sechsundzwanzig Tage. Meistens um die Mittagszeit. So auch heute.

Vorsichtig lehnte sich Carla gegen die schwere Eisentür, die sich langsam bewegte. Im nächsten Moment wurde sie von einem grellen Lichtkegel geblendet. Reflexartig hielt sie sich die Augen zu. Die Angst, die sie in den vergangenen Tagen durchlitten hatte, hielt sie noch immer fest im Griff. Sie lähmte sie. Denn sie hatte nicht den Hauch einer Ahnung, was hinter der Tür auf sie wartete.

Als sie an diesen gottverdammten Ort verschleppt worden war, hatte sie nichts von ihrer Umgebung erkennen können. Die beiden Männer, von denen sie vom Fahrrad gezerrt und in den Kofferraum einer großen Limousine gesperrt worden war, hatten ihr sofort einen dicken Stoffbeutel über den Kopf gezogen. Ihre Hände und Füße hatten sie mit festem Klebeband fixiert. Den Rucksack, in dem sie das ultrakleine Notebook, das sie zu ihrem siebzehnten Geburtstag bekommen hatte, und ihr Smartphone mit sich trug, hatte sie nie wiedergesehen.

Erst nach mehreren Stunden, die sie regungslos in diesem dunklen, nach Feuchtigkeit und Schimmel stinkenden Loch ausgeharrt hatte, waren die maskierten Männer zurückgekommen und hatten sie von dem schmerzenden Klebeband erlöst. Trotz des Schocks über ihre Entführung war ihr Leben damals, vor zehn Tagen, noch in Ordnung gewesen. Zumindest hatte sie bis zu dem Moment, als die beiden Männer den Knoten der Kordel gelöst und den Beutel von ihrem Kopf gezogen hatten, das Gefühl gehabt, noch am Leben zu sein.

Doch dann hatte sich die Tür ein weiteres Mal geöffnet. Jemand war beinahe lautlos eingetreten. In der Dunkelheit hatte sie das Gesicht nicht sehen können, doch am Gang hatte sie erkannt, dass die Person männlich war. Plötzlich hatte dieser Mann die Taschenlampe in seiner Hand eingeschaltet. Und Carla war sofort bewusst geworden, weshalb sie hier war. Dass man sie brechen würde. Dass der Mensch, der sie war, nicht länger am Leben bleiben sollte. Sie musste sterben. Unwiderruflich. Carla hatte es begriffen, als sie dem Mann in die Augen geblickt hatte.

Allmählich gewöhnten sich Carlas Augen an das Licht, das durch den schmalen Spalt fiel. Sie schob die Tür noch ein Stück weiter auf. So weit, dass ihr Blick auf einen lang gezogenen und hell beleuchteten Gang fiel. Sie erkannte grelle Neonröhren, die an den Wänden flackerten. Eine Maus huschte piepsend über den zementierten Boden. Wohin nur führte dieser Gang?

Von Tageslicht keine Spur. Die Freiheit, die sie eben noch vor Augen gehabt hatte, war womöglich doch weiter entfernt als erhofft. Vielleicht war das Ganze bloß ein Test. Sie wollten sie prüfen. Ob sie erfolgreich gewesen waren. Konnten sie mit ihr rechnen? Oder würde sie im erstbesten Moment die Flucht ergreifen? Sie schloss nicht aus, dass man ihren Willen nur noch weiter brechen wollte, indem man ihr die vermeintliche Chance auf eine Flucht offenbarte.

Carla spürte, dass ihr Herz raste. Hundertzwanzig Beats pro Minute, fuhr es ihr durch den Kopf. Die Nacht in der Diskothek, in der sie durchgetanzt hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie auf Musik getanzt. Musik, die sie früher niemals gehört hätte. In dieser Nacht war sie glücklich wie nie zuvor gewesen.

Sie schloss die Augen. Irgendetwas hielt sie zurück. Der Gedanke an die Freiheit beunruhigte sie. Zu viel war mit ihr passiert, um einfach so hier hinauszuspazieren. Die Vorstellung, jemals wieder Menschen dort draußen zu begegnen, riss ihr den Boden unter den Füßen weg. Ihnen in die Augen zu schauen, mit ihnen zu reden, all das schien ihr in diesem Augenblick unmöglich. Sie fühlte sich wie tot.

Die Kräfte verließen sie. Wie in Trance beobachtete sie, dass die Tür keine zwanzig Zentimeter vor ihren Augen zufiel. Ohne eine Chance, darauf zu reagieren. Sie nahm ihr Schicksal an. Das Schicksal, hier in diesem Verlies zu sterben.

Die Menschen, die ihr in ihrem Leben etwas bedeutet hatten, erschienen vor ihrem inneren Auge. Viele waren es nicht gewesen. Eine beste Freundin hatte sie nie gehabt. Sie dachte an ihre Mutter, selbst ihr Vater, der sie wie kein anderer verletzt hatte, kam ihr in den Sinn. Sie dachte an das alte Leben, damals, als zu Hause noch alles in Ordnung gewesen war. Und sie dachte an den Menschen, der vor ein paar Monaten so unvermittelt in ihr Leben getreten war, dass sie ihr Glück kaum hatte fassen können. Doch all das bedeutete jetzt nichts mehr.

Die Bilder der vergangenen Wochen und Monate verschwanden, als Carla mit einem Mal ein Geräusch wahrnahm. Das leise Quietschen der zufallenden Eisentür riss sie aus ihren Gedanken. Sie besann sich augenblicklich. Die Hoffnung, doch noch einmal im Leben Fuß zu fassen, kam wie aus dem Nichts zurück.

67METER ÜBER NN

Als er das Vibrieren in seiner Hosentasche spürte, fühlte sich Simon Winter erhaben. Er hielt den Blick auf die Meerenge zwischen Festland und Fehmarn gesenkt. Auf das tiefblaue Wasser der Ostsee und den bereits abgeblühten Raps, der so markant war für den Küstenabschnitt.

Winter stand an der höchsten Stelle der Stahlkonstruktion, durch deren Bogen er im Inneren in weniger als fünf Minuten hinaufgestiegen war. Auf dem Scheitel der Fehmarnsundbrücke, exakt siebenundsechzig Meter über dem Wasserspiegel. Er hatte sich intensiv vorbereitet. Wusste alles über den Bau der Brücke. Über die Konstruktion, die neuralgischen Stellen, die Winde, die über den Sund zogen, und die Fließrichtung des Ostseewassers. Was er jedoch am wenigsten berücksichtigt hatte und ihm jetzt am meisten zu schaffen machte, war der Verkehr unter ihm. Ein Schwindelgefühl packte ihn, während die Autos im Sekundentakt in Richtung Puttgarden vorbeirauschten, um die nächste Fähre nach Dänemark zu erreichen.

Winter zog sein Handy aus der Jackentasche und warf einen flüchtigen Blick auf das Display. Er kannte die Nummer nicht. Vorwahl 0451. Lübeck. Es gab nicht viele Personen, die seine Nummer besaßen. Zumal er seine SIM-Karte und mit ihr seine aktuelle Nummer alle drei Monate wechselte. Er nahm ab und meldete sich mit klarer Stimme. »Sommer.«

»Spreche ich mit Simon Winter?« Die leise Frauenstimme am anderen Ende der Leitung war kaum zu verstehen.

»Das kommt darauf an.«

»Wie bitte?«

»Woher haben Sie meine Nummer?«

»Von einem Kollegen von Ihnen.«

»Name?«

»Hansen«, antwortete die Frau. »Kalle Hansen.«

»Das meine ich nicht«, antwortete Winter scharf. »Ich will wissen, wie Sie heißen.«

»Mein Name ist –«

»Nein, warten Sie. Ich weiß es selbst. Sie sind Anja Broling, richtig?«

»Woher wissen Sie das?«

»Die kleine Bäckerei am Brink. Sie gehört Ihnen. Die Telefonnummer steht auf Ihrer Schaufensterscheibe. Offenbar habe ich sie irgendwann gelesen und abgespeichert.«

»Das stimmt«, sagte die Frau. »Sie kennen unseren kleinen Laden also?«

»Natürlich«, antwortete Simon Winter. »Sie wissen doch sicherlich auch, was ich beruflich mache?«

»Sie sind Privatdetektiv, deshalb rufe ich Sie an.«

»Falsch«, erwiderte Winter. »Ich bin der beste Ermittler zwischen Nord- und Ostsee. Wahrscheinlich auch weit darüber hinaus. Wenn Sie einen einfachen Privatdetektiv suchen, dann wenden Sie sich bitte wieder an Kalle Hansen.«

»Aber er war es doch, der mir Ihren Namen genannt hat. Er hat sich nicht einmal angehört, was ich zu sagen habe. Keine Zeit, hat er behauptet.«

»Schon gut«, wiegelte Winter ab. »Ich werde Ihnen zuhören. Außerdem haben Sie recht, Hansen hätte Ihnen ohnehin nicht weiterhelfen können. Das scheint er sogar selbst inzwischen einzusehen. Dann erzählen Sie mir jetzt bitte, weshalb Sie mich angerufen haben.«

»Es geht um meine Tochter.«

»Carla?«

»Wieso …?«

Winter räusperte sich angestrengt. Er verspürte keine Lust, sich ständig zu erklären. »Was ist mit ihr?«, fragte er stattdessen.

»Sie ist verschwunden«, antwortete Anja Broling. Plötzlich klang ihre Stimme brüchig. »Seit drei Tagen habe ich nichts mehr von Carla gehört. Ich bin mit meinen Nerven am Ende.«

»Warum melden Sie sich bei mir, anstatt zur Polizei zu gehen?«

»Können wir uns in Ruhe unterhalten? Nicht am Telefon. Dann erkläre ich Ihnen alles. Sie werden verstehen, weshalb ich mich an Sie wende, um meine Tochter zu finden. Die Polizei würde sich nicht darum kümmern.«

»Ist es ernst?«

»Was meinen Sie damit?«

»Carla ist nicht einfach abgehauen und schläft bei einer Freundin?«

»Nein.«

»Gut«, sagte Winter. »Ich versuche, in zwei Stunden in Lübeck zu sein. Warten Sie, bis ich mich bei Ihnen melde. Dann erfahren Sie unseren Treffpunkt. Vorher reden Sie bitte mit niemandem über die Angelegenheit.«

Simon Winter legte auf und steckte das Handy zurück in seine Hosentasche. Nachdenklich fuhr er sich durch seine halblangen dunkelblonden Haare, die sich vom Wind und Salzwasser strähnig anfühlten. Er blickte nach unten. In die dunkelblaue Ostsee, hier im Fehmarnsund.

Siebenundsechzig Meter, durchfuhr es ihn erneut. Winter litt nicht unter Höhenangst, dennoch spürte er für den Bruchteil einer Sekunde wieder dieses Schwindelgefühl, das Adrenalin, das durch seinen Körper strömte. Die Euphorie, die er plötzlich empfand, war stärker als alles, was er kannte. Das, was der Anruf von Anja Broling in ihm auslöste, war besser als jede Droge. Dagegen war der Kick, auf der höchsten Stelle der Fehmarnsundbrücke zu stehen, ein laues Lüftchen gewesen.

Es war dieser besondere Moment, in dem er sich ausmalte, was alles würde passieren können, der ihn antrieb. Die Frage, mit wem er es in den Tagen und Wochen zu tun bekäme. Welche Tragweite seine Ermittlungen haben würden. Und für wen es ungemütlich werden konnte. Und letztlich auch die Tatsache, dass es Menschen gab, die sich an ihn wandten, weil ihnen sonst niemand mehr helfen konnte. In diesen Augenblicken empfand Winter größtmögliche Befriedigung.

Das Spiel konnte beginnen. Er war bereit.

Winter ballte die Fäuste, streckte sie in den Himmel und stieß einen kurzen, aber lauten Schrei aus. Dann wandte er sich um und begab sich in Richtung Abstieg.

DAS GESPRÄCH

Simon Winter stand vor dem Modell der Stadt und musterte die engen Gänge und Gassen. Hier war er geboren, mitten auf der Altstadtinsel, im Marienkrankenhaus, nur einen Steinwurf von den beiden Türmen des Lübecker Doms entfernt. Vor sechsunddreißig Jahren und dreihundertachtundzwanzig Tagen.

Er kannte jeden Pflasterstein, jeden verborgenen Winkel und jeden Ladenbesitzer der Stadt mit Namen. Die Altstadt war sein Zuhause, durch das er sich mit schlafwandlerischer Sicherheit bewegen konnte. Und trotzdem hatte er Lübeck vor mehr als drei Jahren den Rücken gekehrt. Die Stadt hatte ihn eingeengt, seine Gedanken waren nicht mehr frei genug gewesen, um bei seinen Ermittlungen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Um kreative Lösungen zu finden. Um die richtigen Mandanten kennenzulernen und Fälle zu bearbeiten, für die es sich lohnte, den Hörer abzunehmen.

»Herr Winter?«

Er fuhr herum und legte augenblicklich den Finger auf den Mund.

»Seien Sie bitte leise! Niemand muss wissen, dass Sie und ich hier sind.«

»Sie haben doch selbst vorgeschlagen, dass wir uns im Holstentor treffen.«

»Der Ort ist genau richtig, trotzdem sollten wir vorsichtig sein«, wiegelte Winter ab. »Sehen Sie das hier?«

»Das Modell der Stadt?«

»Es zeigt die Altstadt im 14.Jahrhundert. Das ist absolut faszinierend. Keine nordeuropäische Stadt hatte zu diesem Zeitpunkt eine vergleichbare Größe. Lübeck war damals die Königin der Hanse.«

»Lassen Sie uns bitte schnell zur Sache kommen«, sagte Anja Broling mit belegter Stimme. »Ich mache mir große Sorgen um meine Tochter.«

»Worauf ich hinaus möchte, Frau Broling«, sagte Winter. »Schauen Sie sich diese Stadt an. Selbst wenn sie nicht mehr mit damals vergleichbar ist, haben wir es noch immer mit einem unvergleichlichen System aus Gängen und Hinterhöfen zu tun. Ihre Tochter hier zu finden, dürfte nicht einfach werden.«

»Wenn sie überhaupt hier in der Stadt ist.«

»Natürlich, wir wissen es nicht. Was ich sagen will: Wenn es bereits auf dieser relativ kleinen Fläche schwierig ist, sie zu finden, sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass die Suche nach Ihrer Tochter unter Umständen langwierig werden kann. Aber ich möchte Sie nicht noch mehr verunsichern, erzählen Sie mir bitte von Carla. Alles, was ich wissen muss. Und zwar von vorn.«

»Ich habe ja bereits am Telefon erwähnt, dass Carla vor drei Tagen nicht nach Hause –«

»Von vorn«, fiel Winter Anja Broling ins Wort. »Es ist wirklich wichtig.«

»Natürlich«, antwortete die Frau, der man die Sorge um ihre Tochter in jeder Bewegung und jeder Äußerung anmerkte. Winter schätzte sie auf Mitte vierzig, auch wenn das eingefallene Gesicht, die schlechten Zähne und tiefen Ränder unter den Augen sie älter erscheinen ließen. Die dunkelblonden Haare hingen strähnig über die Schultern und rundeten den Gesamteindruck ab, den Winter bereits nach wenigen Momenten gewonnen hatte.

»Zum ersten Mal verschwunden ist Carla vor vier Monaten«, begann sie schließlich. »Ich war sofort außer mir vor Sorge. Ich kannte so etwas von ihr überhaupt nicht. Am nächsten Tag war sie zum Glück wieder da.«

»Entschuldigung, dass ich Sie noch einmal unterbrechen muss«, sagte Winter streng. »Unter von vorn verstehe ich, dass Sie im Grunde mit der Geburt Ihrer Tochter beginnen. Ich muss alles lückenlos wissen.«

»Aber …«

»Wollen Sie Ihre Tochter wiedersehen oder nicht?«

»Natürlich, es ist nur so, dass …« Anja Broling stockte und blickte ihn aus glasigen Augen an. Winter bemerkte, dass sie verkrampfte und sich am Geländer, das um das Modell herumführte, festhielt. Ihre Beine zitterten. Sie sah jetzt erst recht mitgenommen aus, ihre Haut aschfahl. Eigentlich musste er Mitleid mit der Frau haben. Doch darin war er nie sonderlich gut gewesen. Und glaubhaft schon gar nicht.

»Können wir unser Gespräch an einem anderen Ort fortsetzen?«, fragte Anja Broling nun. Sie schien sich wieder etwas gefangen zu haben.

»Sie haben vollkommen recht«, sagte Winter mit derart viel Verständnis in der Stimme, dass er sich einen Moment lang über sich selbst wunderte. »Kommen Sie, gehen wir in ein Café, wo wir uns in Ruhe unterhalten können.«

»Trotz der Sache mit ihrem Vater würde ich behaupten, dass Carla eine gute Kindheit gehabt hat.«

»Und er hat sich seitdem kein einziges Mal bei Ihnen oder Ihrer Tochter gemeldet?«

»Soweit ich weiß, nein.«

»Soweit Sie wissen?«, fragte Winter skeptisch. »Könnte es also doch sein?«

»Hören Sie doch mit dieser vorwurfsvollen Fragerei auf«, antwortete Anja Broling kopfschüttelnd. »Ich dachte, Sie wollen mir helfen.«

»Ob ich für Sie arbeite, entscheide ich erst, wenn Sie mir alles gesagt haben.«

»Dann lassen Sie mich erzählen. Aber so, wie ich es für richtig halte.«

»Selbstverständlich.« Simon Winter lächelte bemüht. Es war nicht das erste Mal, dass er sich dazu zwingen musste, einen Gang herunterzuschalten. Meistens war er gedankenschneller als seine Umwelt. Und ungeduldig. Aus zwischenmenschlicher Sicht nicht immer die beste Kombination.

»Der ganze Mist fing vor sechseinhalb Jahren an, als mein Mann ohne Vorankündigung abgehauen ist und mir nichts weiter als einen kleinen Zettel hinterlassen hat. Ganze zehn Zeilen. Dass er den nächsten Flieger nach Bangkok nehmen wird, weil er es zu Hause nicht mehr aushält. Bis heute weiß ich nicht, was ihn damals geritten hat. Zwischen uns war im Grunde alles in Ordnung. Wir hatten keine wahnsinnig romantische Ehe, mit wöchentlichen Blumensträußen und täglichem Sex. Aber eigentlich war alles gut zwischen uns.«

»Gab es eine andere Frau?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Anja Broling achselzuckend. »Wir haben damals noch ein einziges Mal telefoniert, weil er ein paar finanzielle Dinge regeln wollte. Wenigstens hat er jeden Monat etwas Geld für Carla und mich gezahlt.«

»Er lebt also seitdem in Thailand?«

»Ich habe vor ein paar Wochen von einer ehemaligen Bekannten von ihm gehört, dass er wieder in Deutschland ist. Er soll in Kiel wohnen.«

»Und er hat sich nicht bei Ihnen gemeldet?«

»Nein.«

»Bei Carla?«

»Nicht dass ich wüsste.«

Winter musterte Anja Broling. Ob sie überhaupt wusste, mit wem ihre Tochter Kontakt hatte?

»Als er gegangen ist, war Carla gerade einmal elf Jahre alt. Verstehen Sie eigentlich, was das für sie bedeutet hat?«

»Ja.«

»Wie bitte?«, fuhr es aus ihr heraus. »Woher wollen Sie denn wissen, wie sich meine Tochter gefühlt hat?«

»Ich könnte es Ihnen erklären, aber es bringt Ihre Tochter nicht zurück. Also reden wir lieber über Carla. Wie ging es mit ihr weiter? Was ist mit ihr passiert, als sie in die Pubertät kam?«

»Wenn ich das nur wüsste«, seufzte Anja Broling. »Sie hat sich verändert. Anfangs, nachdem Lars abgehauen war, habe ich gar nicht gemerkt, dass sich Carla immer weiter zurückzog. Aber irgendwann war es dann offensichtlich, dass sie anders ist als andere Mädchen in ihrem Alter.«

»Inwiefern?«

»Ich hatte zum Beispiel nie das Gefühl, dass sie sich für die Jungs aus ihrer Klasse interessiert. Dabei ist das doch normal, wenn man sechzehn oder siebzehn Jahre alt ist. Sie hat sich immer nur in ihrem Zimmer eingesperrt, anstatt sich zu verabreden und rauszugehen.«

»Haben Sie mit ihr darüber gesprochen?«

»Nein, keine Chance. Carla ist schon an die Decke gegangen, wenn ich ihr Zimmer nur betreten habe.«

»Das klingt, als hätten Sie und Ihre Tochter sich nicht sonderlich nahegestanden. Was können Sie überhaupt über ihr Leben sagen?«

Anja Brolings Schulterzucken und der resignierte Blick waren Antwort genug.

»Reden wir über die letzten Wochen«, sagte Winter. »Gab es irgendetwas, das Ihnen an Ihrer Tochter aufgefallen ist? Etwas, das anders war als sonst?«

»Ja, allerdings«, antwortete Anja Broling. »Ich hatte stärker als je zuvor das Gefühl, meine Tochter zu verlieren. Sie selbst sprach sogar davon, bald ausziehen zu wollen. Ich meine, sie ist siebzehn und geht noch zur Schule. Da zieht man doch noch nicht einfach von zu Hause aus.«

»Soll jedoch vorkommen.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Was ich zum Ausdruck bringen wollte, ist, dass es alles andere als ungewöhnlich klingt, wenn ein Teenager noch vor seiner Volljährigkeit auf eigenen Beinen stehen will.«

»Aber Carla ist doch noch überhaupt nicht in der Lage, Verantwortung für ein Leben in den eigenen vier Wänden zu übernehmen. Weder finanziell, noch traue ich ihr sonst zu, dass sie sich selbst versorgen kann.«

»Wie meinen Sie das?«

»Carla hilft mir kein bisschen im Haushalt. Sie fühlt sich für nichts verantwortlich, lässt sich von mir komplett bedienen. Soviel ich weiß, hat sie sich auch in der Schule oder in irgendwelchen Vereinen noch nie engagiert. Sie können mir glauben, als Mutter verzweifelt man manchmal an so etwas. Aber ich habe sie immer in Schutz genommen. Wegen der Sache mit Lars.«

»Was macht Carla den ganzen Tag, wenn sie in ihrem Zimmer ist? Hat sie gelegentlich Besuch von Freundinnen?«

»Wenn es nur so wäre, dann würde ich mir weit weniger Sorgen um sie machen. Leider ist es so, dass sie immer nur allein gewesen ist.« Erneut war Anja Broling den Tränen nahe. Sie schluckte schwer, ehe sie weiterredete.

»Carla kommt von der Schule, rennt die Treppe hoch und sperrt sich in ihr Zimmer ein. Tag für Tag das Gleiche. Vor ein paar Monaten hat es dann plötzlich eine Veränderung gegeben. Irgendetwas muss mit ihr passiert sein. Denn seitdem ist sie beinahe wöchentlich, meistens freitags, nach der Schule nicht mehr nach Hause gekommen. Wie bereits gesagt, kann ich mich noch sehr genau daran erinnern, als sie zum ersten Mal verschwunden ist. Es waren fürchterliche Stunden der Angst für mich. Die Polizei konnte nichts machen, weil Carla am nächsten Morgen wieder vor mir stand und sich entschuldigt hat, als wäre sie lediglich ein paar Minuten zu spät zum Essen gekommen. Ich solle mir keine Sorgen machen, hat sie gesagt. Alles wäre in Ordnung. Wissen Sie, wie ich mich gefühlt habe?«

»Sagen Sie es mir.«

»Ich habe Carla angeschrien. Sie gefragt, ob sie eigentlich darüber nachdenkt, was sie da sagt. Ob sie nachvollziehen kann, dass sich eine Mutter immer Sorgen um ihr Kind macht. Ich habe wie wahnsinnig auf sie eingeredet, doch das alles hat nichts genutzt. Am darauffolgenden Freitag ist sie wieder verschwunden. Und danach wieder. Immer und immer wieder. Jedes Mal nur für eine Nacht. Ich habe bis heute nicht von ihr erfahren, wo sie in diesen Nächten schläft. Die Ungewissheit hat mich kaputt gemacht.«

»Sind Sie niemals auf die Idee gekommen, Ihre Tochter zu beobachten? Ihr zu folgen, sie abzupassen?«

»Sie meinen, ich hätte ihr freitags nach der Schule auflauern sollen?«

»Zum Beispiel.«

»Glauben Sie, ich hätte das nicht getan?«

»Dann wissen Sie also inzwischen, was Carla nach der Schule gemacht hat?«

»Ja, leider. Und genau deshalb mache ich mir noch größere Sorgen um sie. Wenn ich mir vorstelle, mit welchen Typen sich Carla umgeben hat, möchte ich mir nicht ausmalen, in welcher Situation sie sich gerade befindet.«

»Was sind das für Typen, von denen Sie sprechen?«

»Jungs von ihrer Schule. Sie sind etwas älter als Carla, stehen kurz vor dem Abitur, glaube ich.«

»Sie sagten vorhin, dass sich Carla nicht für Jungs interessieren würde.«

»Das glaube ich auch weiterhin. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nicht mit ihnen mitgegangen ist, weil sie sich für einen dieser Kerle interessiert hat, sondern …« Anja Broling brach ab und vergrub ihr Gesicht in den Händen.

»Sagen Sie mir bitte, was Sie glauben«, drängte Winter.

»Haben Sie Kinder?«, fragte Anja Broling.

Winter schüttelte den Kopf.

»Dann können Sie sich überhaupt nicht vorstellen, wie ich mich fühle.« Sie wischte sich eine Träne weg, die über ihre Wange kullerte, und atmete tief ein und aus. »Ich habe herausgefunden, dass meine Tochter Drogen nimmt. Verstehen Sie auch nur ansatzweise, was so etwas für eine Mutter bedeutet?«

»Nein, wohl kaum. Aber ich kann Ihnen helfen, Ihre Tochter aus diesem Sumpf herauszuholen. Sagen Sie mir bitte, wovon wir reden. Welche Art von Drogen konsumiert sie? Marihuana, Kokain, Pillen, Crystal Meth, Heroin?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Anja Broling entrüstet. »Ist das nicht auch vollkommen egal?«

»Mit Sicherheit nicht«, antwortete Winter. »Jede Droge wird in einem anderen sozialen Milieu konsumiert. Ich muss wissen, mit wem wir es zu tun haben. Wer sind diese Jungs, mit denen sie abgehangen hat?«

»Sie gehen auf die gleiche Schule wie Carla, mehr weiß ich nicht.«

»Woher wissen Sie denn überhaupt, dass Ihre Tochter Drogen nimmt? Haben Sie sie dabei erwischt?«

»Ihre Lehrerin hat es mir erzählt. Sie hat mich angerufen, weil sie der Meinung war, dass ich wissen sollte, was mit Carla los ist. Ihre Leistungen in der Schule sind seit einiger Zeit deutlich nach unten gegangen. Für sie aus unerklärlichen Gründen.«

»Und daraus schließen Sie, dass Carla Drogen konsumiert hat?«

»Ich habe ihre Lehrerin gefragt, wer diese Jungs sind, mit denen ich sie beobachtet habe. Sie war sofort sehr besorgt und hat mir geraten, dringend mit Carla zu sprechen, weil sie den Verdacht hat, dass einige dieser Typen mit Drogen dealen würden. Ich habe versucht, mit ihr zu reden, aber ich kam ja gar nicht an sie heran.«

Simon Winter blickte vom Fenster des neuen Cafés, das im sanierten Hafenschuppen nördlich der Hubbrücke eröffnet hatte, auf die Trave und massierte seine Schläfen. Schräg gegenüber lagen die Media Docks, der Strandsalon und der alte Hafenkran, der im gleißenden Sonnenlicht funkelte. Er hatte keinen Zweifel daran, dass Anja Broling ihm nicht die volle Wahrheit sagte. Entweder sie wusste mehr über diese Mitschüler ihrer Tochter, oder es gab noch ganz andere Dinge, die sie ihm verschwieg.

»In Ihrer Situation hätte ich mir wahrscheinlich sofort Carlas Mitschüler geschnappt. Im Grunde ist es am naheliegendsten, dass sie sich bei einem von ihnen versteckt hält. Aber je länger ich nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass Sie recht haben.«

»Wovon reden Sie denn jetzt schon wieder?«

»Carla ist woanders.«

»Woanders?«

»Wahrscheinlich ist sie nicht bei diesen Jungs. Sie sind vermutlich nicht älter als siebzehn oder achtzehn. Das heißt, sie wohnen noch bei ihren Eltern. Unwahrscheinlich, dass sich Carla dort versteckt hält. Wir müssen trotzdem an die Namen kommen. Ich will mit ihnen sprechen.«

»Sie glauben also, dass sie noch am Leben ist?«

»Weshalb sollte ich etwas anderes denken?«, fragte Winter überrascht.

»Ich mache mir nun mal meine Gedanken.«

Winter musterte Anja Broling, die nachdenklich an ihrem Tee nippte. Es fiel ihm schwer, Vertrauen zu ihr aufzubauen. »Für den Fall, dass Sie noch mehr zu sagen haben, bitte ich Sie, jetzt damit herauszurücken. Falls ich herausfinde, dass Sie mir etwas verschweigen, arbeite ich keine Sekunde länger mit Ihnen zusammen.«

»Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.« Sie wandte ihr Gesicht ab und kramte eine Packung Zigaretten aus ihrer Handtasche hervor. »Sind wir fertig? Ich würde gern eine rauchen.«

»Noch nicht ganz, wir müssen noch über das Geschäftliche reden«, sagte Winter. »Ich arbeite ausschließlich auf Provision, Sie bezahlen mich also nur im Erfolgsfall. Eine komfortable Situation für Sie. Dafür wird es am Ende aber ein klein wenig teurer als üblicherweise. Dann, wenn ich Ihre Tochter gefunden habe. Akzeptieren Sie das?«

»Das Geld werde ich auftreiben, Hauptsache, Sie finden meine Tochter«, antwortete Anja Broling energisch. »Ich werde dafür sorgen, dass sich auch mein Mann beteiligen wird.«

»Ich vertraue Ihnen.« Winter wunderte sich über seine eigenen Worte. War es doch genau das, was er nicht tat. »Ich würde mir jetzt gern Carlas Zimmer ansehen.«

»Jetzt?«

»Ja, wir haben schon genug Zeit verloren.«

»In Ordnung, dann lassen Sie uns fahren. Ich kann Sie mitnehmen und später wieder zu Ihrem Auto herbringen. Ich muss sowieso noch einmal in die Stadt.«

»Wir fahren getrennt«, sagte Winter. »Wir sollten verhindern, dass uns jemand zusammen sieht. Diskretion ist mein oberstes Gebot. Normalerweise erfährt niemand davon, für wen ich arbeite.«

»Klingt gut.«

»Gut? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«

»Es klingt professionell und vertrauenerweckend. Gefällt Ihnen das besser?«

»Ein wenig. Ihnen sollte auf jeden Fall klar sein, dass ich an Sie dieselben Erwartungen habe, die ich auch an meine Arbeit stelle. Äußerste Diskretion, keine Alleingänge und ganz wichtig: Sie reden nicht mit der Kriminalpolizei, ohne dass wir beide darüber gesprochen und uns abgestimmt haben.«

»Verstanden.«

»In Ordnung, dann sind wir im Geschäft.« Simon Winter nickte und reichte Anja Broling die Hand, als hätte er gerade den Kaufvertrag für eine neue Einbauküche unterschrieben. »Ab jetzt werden wir uns nicht mehr zusammen in der Öffentlichkeit zeigen. Aber Sie können sich glücklich schätzen. Sie haben den besten Ermittler beauftragt, den ich kenne. Und ich verspreche Ihnen, dass ich Ihre Tochter finden werde.«

GRAU

Simon Winter hatte nie das Gefühl gehabt, mit seinen knapp ein Meter neunzig außergewöhnlich groß zu sein. Doch als er den Flur des Hauses in der Pelzerstraße betrat, glaubte er sofort, seinen Kopf einziehen zu müssen. Das Haus der Brolings wirkte derart klein, dass er sich unwillkürlich an ein Puppenhaus erinnert fühlte. Die Decken waren maximal zwei Meter zwanzig hoch und der Flur so schmal, dass zwei Personen Mühe hatten, nebeneinanderzustehen.

»Lassen Sie uns hochgehen, hier unten werde ich immer so depressiv.«

Winter blickte Anja Broling überrascht an. Hier in ihren eigenen vier Wänden wirkte sie noch verzweifelter als zuvor. Er wollte ihr zustimmen, hielt sich im letzten Moment aber zurück.

»Sie wohnen hier mit Ihrer Tochter Carla also allein?«

»Ja. Seitdem Lars uns verlassen hat, haben wir beide zumindest etwas mehr Platz hier.« Anja Broling lächelte schief, dann wandte sie sich um und stieg die knarzenden Holzstufen ins obere Stockwerk hinauf. »Passen Sie auf. Die Bohlen sind zum Teil lose. Ich habe einfach nicht den Kopf, mich darum auch noch zu kümmern. Und stoßen Sie sich nicht, die Decke über der Treppe ist besonders niedrig.«

Simon Winter mühte sich in gebückter Haltung die Treppe hinauf. Es war, als hinge eine Schwere über diesem Haus, die einem jede Luft zum Atmen nahm. Nicht nur das Verschwinden von Carla lastete auf dem Haus, die gesamte Architektur war erdrückend. Wenig Platz, kaum Licht, dazu ein leicht modriger Geruch. Winter fühlte sich unwohl und wäre am liebsten sofort wieder umgekehrt, doch ein Blick in Carlas Zimmer war wichtiger als jede Information, die er von ihrer Mutter erhielt. Fotos, eine Handschrift, die Farben der Kleidung – jedes noch so kleine Detail konnte Aufschluss über den Charakter eines Menschen geben.

»Hier entlang.« Als sie oben angekommen waren, zeigte Anja Broling ans Ende des Gangs. »Da ist ihr Zimmer. Dort hat sie sich Tag für Tag eingesperrt. Sie können mir wirklich glauben, dass ich mehr als einmal an ihr verzweifelt bin.«

»Bestimmt.« Winter nickte und versuchte, einen verständnisvollen Blick aufzusetzen. Dann blieb er stehen und machte eine abwehrende Handbewegung. »Ab hier allein.«

»Wie bitte?«

»Ich brauche absolute Ruhe, während ich mich in Carlas Zimmer umsehe.«

»Ich weiß nicht, ob das in Carlas Interesse wäre«, sagte Anja Broling. »Das ist ihre Privatsphäre, in die sie nicht einmal mich hineingelassen hat.«

»Wir dürfen keine Zeit verlieren«, drängte Winter. »Lassen Sie mich ins Zimmer. Zehn Minuten, länger brauche ich nicht.«

»Passen Sie bitte ein wenig auf. Ich möchte nicht, dass Carla merkt, dass jemand in ihren Sachen gewühlt hat.«

»Im Moment ist das wirklich unser geringstes Problem, Frau Broling«, entgegnete Winter, während er auf Carlas Zimmertür zutrat und sie öffnete. Bevor er in dem Raum verschwand und die Tür hinter sich zuzog, gab er Anja Broling mit einem eindringlichen Blick zu verstehen, dass sie ihn für eine Weile allein lassen sollte.

Grau.

Winter runzelte verwundert die Stirn, während er sich umsah. Es existierte tatsächlich kein anderer Farbton in Carlas Zimmer als Grau in verschiedenen Nuancen. Einige Gegenstände waren anthrazitfarben, andere hellgrau. Es dominierte jedoch ein gewöhnlicher mausgrauer Farbton.

Er setzte sich an den hellgrauen Schreibtisch und lehnte sich zurück. Gedankenverloren griff er nach einem Brieföffner und ließ ihn in der rechten Hand kreisen. Das hier ist kein Zimmer eines siebzehnjährigen Mädchens, fuhr es ihm durch den Kopf. Zumindest nicht das eines normalen, pubertierenden siebzehnjährigen Mädchens, das sich für Klamotten und Jungs interessierte. Das hier war das genaue Gegenteil. Farblos und deprimierend. Hier lebte kein fröhliches Mädchen. Kein Mädchen, das sich auf das nächste Wochenende freute, um mit ihren Freundinnen auszugehen.

Winter war sich sicher, dass all die deprimierenden Dinge in diesem Zimmer mit Bedacht ausgewählt worden waren. Alles passte zusammen, auf eine ganz eigene traurige Art und Weise. In der Unpersönlichkeit, die das Zimmer ausstrahlte, erkannte Winter ein Muster – Sinnbild für Clara Brolings Persönlichkeit.

Sie hatte es nicht zugelassen, dass andere Menschen Zugang zu ihrem Leben fanden. Das Grau war gewissermaßen ihre äußere Hülle, mit der sie andere abgeschreckt hatte. Niemand hatte ihr zu nahekommen sollen. Ihre Mutter hatte es gesagt: Clara war eine Einzelgängerin, ohne enge Freundinnen. Sie hatte sich seit Jahren zurückgezogen. Eingeigelt. Den Kontakt nach außen vollständig abgebrochen. Und all das, weil sich ihr Vater vor sechseinhalb Jahren von einem auf den anderen Tag aus dem Staub gemacht hatte.

Winter ließ seinen Blick weiter kreisen. Das Zimmer war nicht so leer an persönlichen Dingen, wie er im ersten Moment geglaubt hatte. An der Wand am Kopfende des Bettes hingen Fotos von Carla. Schwarz-Weiß-Fotos. Er trat näher heran und setzte sich auf die Bettkante. Ihm fiel auf, dass selbst die Satinbettwäsche dunkelgrau war.

Es waren acht gerahmte Fotos. Auf jedem einzelnen war Carla in immerzu derselben Position zu sehen. Porträts vor einer weißen Wand. Bei genauerem Hinsehen waren jedoch Unterschiede zwischen den Bildern zu erkennen. Sie zeigten ein junges Mädchen, dessen Gesichtsausdruck sich von Aufnahme zu Aufnahme veränderte. Sie mussten in zeitlichen Abständen entstanden sein.

Es waren diese Kleinigkeiten in ihrem Blick, die Winter sofort auffielen. Von Foto zu Foto wurden die Augen leerer. Sie blickten an ihm vorbei auf einen imaginären Punkt, den nur Carla hatte sehen können. Auch die Art und Weise, wie sich ihre Mundwinkel im Laufe der Zeit verformt hatten, deutete auf eine Veränderung ihrer Persönlichkeit hin. Carla Broling schien ein zutiefst unglückliches und verletztes Mädchen zu sein. Sie war sich darüber sogar im Klaren gewesen und hatte ihre Gemütslage in einer Fotoreihe dokumentiert. Als sei sie stolz darauf, ihr Leiden auf diese Weise zu verewigen.

Es gab noch mehr Fotos. Sie hingen über einem kleinen Schminktisch an der gegenüberliegenden Wand. Passfotos, die allerdings nicht für ihren Ausweis gemacht worden waren. Die Bilder waren düster. Beim Anblick des weinenden Mädchens, dessen schwarze Wimperntusche an den Wangen hinunterfloss, kam ihm unweigerlich der Gedanke, dass sich Carla womöglich etwas angetan hatte. Das hatte er bislang noch nicht in Erwägung gezogen. Vielleicht war sie eine depressive Jugendliche gewesen, die im Selbstmord die einzige Möglichkeit zur Lösung ihrer Probleme sah.

Er sah sich den Schminktisch an. Carla besaß eine ganze Reihe an Make-up-Artikeln. Von Eyelinern über Lidschatten bis hin zu Lippenstiften war alles dabei, jedoch kein Rot oder Pink wie bei anderen Mädchen. Schwarz und Dunkelblau waren Carlas Farben.

Winter stand von dem Stuhl am Schminktisch auf und begann, durch das Zimmer zu laufen. Erst langsam, dann immer schneller. Wie ein Wildschwein auf der Suche nach Trüffeln.

Hier fehlen Dinge, kam es ihm plötzlich in den Sinn. Winter hatte keinen Zweifel. Ein siebzehnjähriges Mädchen besaß ein Handy, einen Computer und wahrscheinlich auch einen MP3-Player. Vielleicht auch ein Tagebuch. Nichts dergleichen hatte er bislang gefunden. Er riss die Schubladen des Schreibtischs auf, sah in ihrem Kleiderschrank nach und suchte im Bettkasten nach einem Geheimversteck. Ohne Erfolg. Kein einziger persönlicher Gegenstand, den Carla tagtäglich benutzte. Hier in diesem Zimmer sah es aus, als hätte Carla es bereits vor einigen Monaten verlassen.

Handy und MP3-Player mochte sie ohnehin dabeigehabt haben, aber dass Carla ihren Laptop mit in die Schule genommen hatte, erschien ihm seltsam. In dem Fall war ihr Verschwinden vielleicht geplant gewesen. Möglicherweise hatte aber auch jemand hinter Carla aufgeräumt, nachdem sie entführt, verschleppt oder was auch immer worden war, hatte alles entfernt, was auch nur im Entferntesten einen Hinweis auf ihr Verschwinden hätte geben können.

Winter zückte sein Smartphone und klickte sich eine Weile durch einige Social-Media-Apps hindurch, die er ausschließlich zu Recherchezwecken installiert hatte. Facebook, Twitter, Instagram – nirgendwo hatte Carla Broling unter ihrem vollständigen Namen ein Profil angelegt. Weshalb auch? Ihr lag nichts daran, mit Freunden zu kommunizieren. Sie hatte sich in ihre eigene Welt zurückgezogen, es gab keinen Grund für sie, sich über soziale Netzwerke mit Freundinnen oder Freunden zu verabreden.

Winter ging in Richtung Zimmertür. Er war fertig hier, hatte alles gesehen. Bevor er das Zimmer verließ, wandte er sich noch einmal um. Er scannte das graue Einerlei und speicherte ab, was er sah. Dann trat er aus dem Raum und zog die Tür hinter sich zu.

»Haben Sie Carla an dem Tag gesehen, als sie das letzte Mal dieses Haus verlassen hat?«

Anja Broling schrak zusammen. Sie fuhr herum und ließ das Messer, mit dem sie gerade Fleisch auf ihrem Küchenbrett geschnitten hatte, auf den Fliesenboden fallen. Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie ihn an. »Entschuldigen Sie bitte, was haben Sie gesagt?«

»Wann genau haben Sie Ihre Tochter das letzte Mal gesehen?«

»Vor drei Tagen, das sagte ich doch bereits.«

»Ich muss es genauer wissen«, drängte Winter. »Haben Sie beobachtet, wie Carla das Haus verlassen hat?«

»Sie ist wie jeden Morgen zur Schule gegangen.«

»Ich meine, haben Sie sie dabei gesehen?«

»Wenn Sie so fragen, nein, ich habe sie nicht gesehen. An diesem Morgen habe ich nämlich vor meiner Tochter das Haus verlassen, weil ich einen frühen Termin in der Arbeit hatte. Aber ich bin mir sicher, dass sie kurz nach mir gegangen ist. Sie hatte zur ersten Stunde Unterricht.«