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Eine junge Frau ist ermordet worden. Schnell wird Hauptkommissar Birger Andresen klar, dass es eine Verbindung zu einer kurz zuvor ermordeten Medizinstudentin gibt. Welche Rolle spielt der zwielichtige Anatomieprofessor? Was bedeuten die verwirrenden Aufzeichnungen der Toten? Sind es womöglich doch zwei Täter? Als eine Journalistin verschwindet, setzt Andresen, der sich auf eine seltsame Weise zu ihr hingezogen fühlt, alles daran, sie zu finden.
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Seitenzahl: 280
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Jobst Schlennstedt, 1976 in Herford geboren und dort aufgewachsen, studierte Geographie an der Universität Bayreuth. Seit Anfang 2004 lebt er in Lübeck und arbeitet hauptberuflich als Projektmanager in einem Hamburger Beratungsunternehmen. Nach »Tödliche Stimmen« ist mit »Der Teufel von St. Marien« mittlerweile der vierte Band der Kriminalreihe um den Lübecker Kommissar Birger Andresen im Emons Verlag erschienen.www.jobst-schlennstedt.de
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.
© 2014 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-717-8 Küsten Krimi Originalausgabe
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»Man stirbt nicht an einer
bestimmten Krankheit,
man stirbt an einem ganzen Leben.«
Charles Péguy
1
Es hatte Besitz von Georg ergriffen wie ein heimtückischer Virus. Er hatte lange Zeit keinen Namen dafür gehabt, hatte ihn immer nur »es« genannt. Solange er zurückdenken konnte. Und das war lange. Immer nur »es«. »Es« war wie ein Bruder. Einer, den es in seinem vorherigen Leben nie gegeben hatte. Aber gleichzeitig auch wie einer, den er nie hatte haben wollen.
»Es« war die dunkle Seite in ihm, die sich damals, als er noch ein Kind gewesen war, zum ersten Mal gezeigt hatte. Gleich nachdem das Grauen, dem er als Kind ausgesetzt gewesen war, seinen Höhepunkt erreicht hatte. In diesem Moment, als seine Eltern von ihm gegangen waren, war auch er gestorben. Fortan war er ein anderer Mensch. Georg. Sein Leben, sein Handeln, alles diente nur noch dazu, den Schein zu wahren. Georg gelang dies um Klassen besser als seinem alten Ich. Georg war der Manager seines Lebens. Sein ursprünglicher Name existierte nur noch auf dem Papier.
Vor einigen Wochen hatte sein »Bruder« dann zum ersten Mal zu ihm gesprochen. Er hatte sich ihm vorgestellt, sein Name war Edward. Edward war wortkarg gewesen, schien aber bestens über sein Leben Bescheid zu wissen. Etwas hatte ihn irritiert. Warum wusste er selbst so wenig über Edward, obwohl der schon so lange an seiner Seite war?
Die Schübe waren in all den Jahren gekommen und gegangen, ohne dass er Einfluss darauf nehmen konnte. Er hatte sich damit abfinden müssen. Doch in letzter Zeit waren sie heftiger geworden.
Mit einem Mal bekam er es mit der Angst zu tun. Angst, die Kontrolle zu verlieren. Wo war die Erinnerung an das letzte Mal? Nur ein riesiges schwarzes Loch war geblieben.
Er krallte sich am Esszimmertisch fest und rang nach Luft. Um ihn herum wurde es hell und plötzlich wieder dunkel. Vorsichtig setzte er sich auf einen der alten Holzstühle, die er von seinen Eltern übernommen hatte, und stützte sich mit beiden Armen auf.
Immer stärker schlug das Pendel in die verkehrte Richtung. Edward war zurück und übernahm das Kommando über seinen Körper. Georg stand auf und packte behutsam seinen Rucksack und eine kleine Tasche.
Als er aufbrach, fühlte er sich wie früher, als er mit seinen Eltern noch gemeinsam in den Urlaub gefahren war. Aber auch damals war schon längst nicht mehr alles in Ordnung gewesen.
Um kurz nach sieben warf er die Tür seiner Wohnung hinter sich zu. Er wusste, es würde einige Tage dauern, ehe er zurückkehren würde.
2
Irgendwie schien in diesem Morgen der Wurm drin zu sein. In der Küche war ihr die Dose mit dem Kaffeepulver aus der Hand gerutscht. Anschließend musste sie feststellen, dass ihre Heizung ausgefallen war und aus der Dusche nur eiskaltes Wasser kam. Und schließlich hatte sie sich derart heftig an der Kante ihres Bettes gestoßen, dass sie mit einem stechenden Schmerz am Schienbein in Richtung Wohnungstür humpelte.
Sie hatte sich noch einmal ins Bett gelegt, um ihr Frühstück vor dem Fernseher im Schlafzimmer zu sich zu nehmen. So wie sie es jeden Morgen tat. Doch dann hatte es plötzlich an der Tür geklingelt. Sie war aufgesprungen, um sich ihren Bademantel aus Satin überzuwerfen. Im Sommer schlief sie immer nackt, aber so wollte sie sich nicht an der Tür zeigen. Und dann war sie vor lauter Hetze an der Bettkante hängen geblieben. Sie konnte die blau-gelben Verfärbungen schon erahnen, die sich immer bildeten, sobald ihre Haut auch nur den kleinsten Stoß erlitt.
Wer um alles in der Welt klingelte um diese Uhrzeit? Es war gerade mal halb acht. Der Briefträger würde es kaum sein, ein Paket erwartete sie jedenfalls nicht. Außerdem war es viel zu früh dafür. Vielleicht einer der Nachbarn wegen der kaputten Heizung?
Vorsichtig zog sie die Wohnungstür auf. Erst jetzt fiel ihr auf, dass es unten an der Haustür geklingelt hatte. Der Schmerz am Schienbein hatte ihr offenbar das Gehirn vernebelt.
»Hallo? Wer ist denn da?«, rief sie in die Gegensprechanlage.
Die Antwort war nur schwer zu verstehen, doch sie glaubte gehört zu haben, dass es um die defekte Heizung ging. Sie drückte den Summer und schob die Wohnungstür ein Stück weit zu, ohne sie jedoch ganz zu schließen. Sie ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Im Eisfach griff sie nach einer Kühlmanschette. Ihr Gesicht verzog sich, als das kalte Eis die empfindliche Haut berührte. Und dennoch tat es gut, Schmerz mit Schmerz zu bekämpfen. Etwas, das sie als kleines Kind von ihrem Vater gelernt hatte. Nicht nur, dass ein Indianer keinen Schmerz kannte. Nein, besser noch war, sich in den Arm zu zwicken, bis der neuerliche, weniger intensive Schmerz den ursprünglichen verdrängt hatte. Und tatsächlich, es funktionierte.
Sie schloss die Augen und atmete durch. Das Kälteempfinden verwandelte sich langsam in ein angenehmes Gefühl, das schmerzende Schienbein war kaum noch zu spüren. Sie richtete sich auf und legte die Manschette beiseite.
Der Heizungsmann kam ihr wieder in den Sinn. Die Wohnungstür war noch immer angelehnt. Sie zog sie auf und streckte ihren Kopf hinaus. Nichts war zu hören. Kein Geräusch von Schritten, die die Treppe heraufkamen. Komisch, dachte sie. Aber wahrscheinlich wollte der Mann nur ins Haus gelangen, um einen Blick auf die Heizungsanlage im Keller zu werfen. Sie drückte die Tür fest zu und kehrte ins Schlafzimmer zurück, wo sie langsam ihren Bademantel abstreifte.
In diesem Moment berührte eine feuchte Hand ihre Schulter. Sie war wie paralysiert, stand für den Bruchteil einer Sekunde regungslos da, ehe sie sich umdrehte und dem Mann mit der grobporigen Haut direkt in die funkelnden Augen sah.
Sie wusste sofort, dass es nicht der Heizungsinstallateur war, der sie fixierte. Es waren seine Augen, die ihr schlagartig klar werden ließen, was er mit ihr vorhatte. Mit seiner Zunge fuhr er sich über die Lippen. Ihr wurde schlecht.
Der Mann musterte sie noch immer mit gierigem, durchdringendem Blick. Er war klein, kaum größer als sie, aber dafür umso kräftiger. Mit seinem massigen Körper versperrte er die Tür. Sie war gefangen in ihrem eigenen Schlafzimmer. Rasch zog sie den Bademantel fest und trat einige Schritte zurück. Sollte sie laut schreien und hoffen, dass sie jemand hörte?
Sie hatte keine Chance. Er öffnete das Vorderfach seines Rucksacks und holte ein Messer hervor. Die Klinge blitzte in seiner rechten Hand, während er mit zwei großen Schritten auf sie zukam und ihr das Messer an die Kehle hielt. Gleichzeitig holte er mit der Linken aus und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht.
Während sie zur Seite taumelte, packte er ihre Schultern und schleuderte sie aufs Bett. Hastig richtete sie sich auf. Den Schmerz, der durch den Schlag entstanden war, spürte sie nicht. Ebenso wenig wie ihr lädiertes Schienbein. Die Angst war stärker. Das hatte ihr Vater ihr damals nicht gesagt. Nicht nur Schmerz konnte Schmerz verdrängen, sondern auch Angst.
Das Gefühl der Ohnmacht war so stark, dass sie aufstöhnte. Nicht einmal mehr Ekel konnte sie bei seinem Anblick empfinden. Wie ein wildes Tier kam er ihr vor. Ein Tier, das nicht mehr aufzuhalten war.
Ihr verzweifelter Blick richtete sich zur Decke. Aus der Ferne hörte sie seine widerlichen Geräusche. Sie wusste, dass ihr Leben zu Ende ging, ohne zu ahnen, welches Martyrium ihr noch bevorstand.
3
Birger Andresen versuchte sich daran zu erinnern, wann er das letzte Mal so wenig zu tun gehabt hatte wie in den vergangenen Wochen. Und nicht nur ihm erging es so. Der Großteil seiner Kollegen bei der Lübecker Mordkommission war mehr oder weniger beschäftigungslos. Auch wenn das natürlich niemand zugegeben hätte.
Endlich hatte er Zeit, all die Papiere abzuarbeiten, die sich auf seinem Schreibtisch angesammelt hatten und mittlerweile von Kaffee- und Fettflecken gezeichnet waren. Aber wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass es ihn langweilte, sich an die liegen gebliebenen Fälle zu setzen, die zum Teil mehr als ein halbes Jahr alt waren.
Seitdem Andresen im April zum Hauptkommissar befördert worden war, hatte er keine größere Ermittlung mehr übernommen. Es schien ihm fast so, als sei er durch seinen neuen Dienstgrad zum Schreibtischhengst verkommen.
Sein Blick fiel auf eine Nachricht seines ehemaligen Kollegen Heckmann. Sie hatte zwischen all den Unterlagen gelegen. Heckmann und er waren im letzten Sommer Augenzeugen eines Amoklaufs in einem Lübecker Kaufhaus geworden, bei dem fünf unschuldige Menschen ums Leben gekommen waren, darunter auch eine junge Kollegin der Schutzpolizei. Das war der Anfang einer komplizierten und langatmigen Ermittlung gewesen, die schließlich einen der größten Medikamentenschmuggel zwischen Deutschland und Russland aufdecken konnte.
Nichts als Rechtfertigungen und Ausreden, dachte Andresen, während er den Brief las. Heckmann war nicht stark genug gewesen. Anstatt sich durchzubeißen nach den schlimmen Vorfällen, hatte er im Februar einfach seinen Dienst quittiert. Es wurde sogar gemunkelt, dass er nicht nur seinem Beruf, sondern auch Lübeck den Rücken kehren wollte. Sein Nachfolger hatte nicht lange auf sich warten lassen. Kriminalrat Frank Sibius, der Leiter der Mordkommission, war überaus bemüht gewesen, so schnell wie möglich adäquaten Ersatz zu präsentieren. Und es war ein offenes Geheimnis, dass er dabei seine Kontakte ins Ostwestfälische hatte spielen lassen.
Seit Anfang April gehörte Ben Kregel nun zum Team der Lübecker Mordkommission. Er war zuvor bei der Kripo Bielefeld tätig gewesen. Andresen wusste nicht viel über seinen neuen Kollegen, außer dass ihm der Ruf vorauseilte, ein Stinkstiefel sondergleichen zu sein. Aus diesem Grund und wegen eines Anflugs von Rivalität hatte Andresen bislang kaum mehr als fünf Sätze mit Kregel gewechselt, geschweige denn mit ihm zusammengearbeitet. Er ging ihm schlicht und einfach aus dem Weg.
Es war kurz vor elf. Gleich hatte er einen Termin mit einer Redakteurin der Lübecker Rundschau. Anlässlich des Prozesses gegen Thomas Hünemeier, einen der Drahtzieher des Medikamentenschmuggels aus dem vergangenen Jahr, war er angesprochen worden, vom Polizeialltag nach solchen Ereignissen zu berichten.
Ein Vogel flog gegen das Fenster und weckte ihn aus seinen Gedanken. Diese Geschichte würde er wohl zeit seines Lebens nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Zu stark waren die Bilder gewesen. Sie hatten sich fest in seine Erinnerungen eingebrannt.
Das Telefon klingelte. Er sah, dass es das Sekretariat war.
»Die Frau von der Presse ist da.«
»Danke, Sylvia, ich komme.«
Andresen trat auf den Flur und sah, dass die junge Frau auf der Besucherbank Platz genommen hatte. Zielstrebig ging er auf sie zu und stellte sich vor.
»Andresen. Guten Tag, Frau…«
»Hennings. Wiebke Hennings, Lübecker Rundschau.«
»Bitte kommen Sie. In meinem Büro können wir uns ungestört unterhalten.« Er ging in Richtung seines Zimmers. »Möchten Sie etwas trinken? Kaffee, Tee, Wasser?«
»Cappuccino?«, fragte sie zögerlich.
»Klar, warten Sie bitte einen Augenblick.«
Er ging den Gang zurück und betätigte am Kaffeeautomaten die entsprechenden Knöpfe. Während er wartete, betrachtete er die Frau genauer. Erst jetzt bemerkte er, dass sie ihn an jemanden erinnerte. Doch ihm fiel nicht ein, an wen. Sie sah durchaus attraktiv aus mit ihren langen blonden Haaren und dem eng anliegenden dunkelbraunen Zweiteiler. Andresen nahm den Cappuccino und ging den Flur entlang. Mit einem kurzen Nicken machte er deutlich, dass sie ihm in sein Büro folgen sollte.
»So, Frau Hennings. Nehmen Sie bitte Platz. Vielleicht können Sie mir noch einmal erklären, was genau Thema Ihres Artikels sein soll.«
»Natürlich«, antwortete Wiebke Hennings. Sie schenkte ihm ein niedliches Lächeln, offenbar mit der Absicht, dass Andresen das Gefühl haben sollte, ernst genommen zu werden.
»Wir möchten unseren Lesern gern davon berichten, wie die Polizei mit den Folgen dieser schrecklichen Ereignisse im letzten Jahr umgeht. Auch um der Bevölkerung Mut zu machen, dass es nicht noch einmal zu so etwas wie diesem Amoklauf kommen wird.«
»Dann schießen Sie mal los!«
»Danke«, sagte Wiebke Hennings. »Meine erste Frage bezieht sich auf den Tag, an dem…«
Das Klingeln des Telefons unterbrach sie.
»Bitte entschuldigen Sie.« Andresen nahm den Hörer ab.
»Ah, Julia. Was gibt’s denn? Ich bin gerade in einem Gespräch.«
Er drehte sich in seinem Schreibtischstuhl zur Seite und blickte aus dem Fenster, während er Julias Worten lauschte. »Wo seid ihr denn jetzt?«, fragte er nach einer Weile. »Und die Hausnummer?– In Ordnung. Ich bin in fünf Minuten bei euch. Sichert alles ab! Und ruf Kregel und die Techniker an. Sie sollen ebenfalls kommen.«
Andresen legte auf. Er starrte nachdenklich aus dem Fenster.
»Wir müssen unser Gespräch ein andermal fortsetzen. Es tut mir schrecklich leid, Frau… äh… Hennings, aber manchmal gibt es einfach Dinge, die wichtiger sind als PR-Arbeit.«
»Natürlich«, antwortete Wiebke Hennings verständnisvoll. »Ist etwas Ernstes geschehen?«
Andresen war augenblicklich auf der Hut. Er rief sich ins Gedächtnis, dass sie, trotz aller Sympathie, die er für sie empfand, eine Journalistin war und nichts anderes als eine gute Story im Sinn hatte.
»Das wird sich zeigen«, antwortete er ausweichend. »Rufen Sie mich doch einfach morgen an, dann können wir einen neuen Termin vereinbaren.«
Er begleitete sie bis zum Fahrstuhl und verabschiedete sich von ihr. Unschlüssig stand er auf dem Gang. Warum eigentlich hatte er nicht auch den Fahrstuhl genommen? Er hatte Julia gesagt, er sei in fünf Minuten da. Völlig utopisch. Kurzerhand nahm er die Treppe und rannte im Eilschritt hinunter ins Parkhaus.
***
Zehn Minuten später parkte er vor dem Haus in der Fleischhauerstraße. Trotz Blaulicht und Martinshorn war es ihm stets ein Gräuel, sich durch den zäh fließenden Verkehr Lübecks zu kämpfen.
Julia und Niels standen bereits im Eingangsbereich des Hauses und erwarteten ihn.
»Sind wir die Ersten?« Andresen wunderte sich.
»Mitnichten«, rief plötzlich eine Stimme. Harald Seelhoff, Leiter der Kriminaltechnik, kam auf ihn zu und zog die Augenbrauen hoch. »Oder meinst du, der Tatort sperrt sich von allein ab?« Er schob sich an Andresen vorbei und drängte sich durch die Eingangstür des renovierungsbedürftigen Altstadthauses. Andresen sah seinem Kollegen hinterher und schüttelte den Kopf. Was waren Kriminalpolizisten doch manchmal für Kotzbrocken. Und davon konnte er nicht einmal sich selbst ausschließen.
»Wie habt ihr eigentlich davon erfahren?«
»Ein Mann rief an und sagte, er glaube, Meike Kalm sei etwas zugestoßen, weil er sie seit Tagen nicht mehr gesehen hat. Und dann hat er einfach aufgelegt«, antwortete Kriminalmeisterin Julia Winter. Sie war seit zwei Jahren bei der Lübecker Kriminalpolizei, nachdem sie zuvor die Polizeianwärterschule mit herausragenden Noten abgeschlossen hatte. Andresen wusste, dass sie es im Kollegenkreis nicht immer einfach gehabt hatte. Vor allem die männlichen Kollegen hatten sie aufgrund ihrer blonden Haare und des hübschen Aussehens auf dem Kieker. Manch einer schien ein Auge auf sie geworfen zu haben. Andresen schätzte Julia allerdings vor allem als eine äußerst gewissenhafte und zielstrebige junge Frau, auch wenn sie mit ihrer gelegentlich ungestümen Art schon das ein oder andere Mal über das Ziel hinausgeschossen war.
»Hast du mit ihm gesprochen?«
Sie schüttelte den Kopf und nickte zu Kriminalobermeister Niels Reiser hinüber.
»Es war ein komisches Gespräch, wenn man denn überhaupt von einem Gespräch reden kann. Er klang so… so desinteressiert. Gar nicht, als ob er sich tatsächlich Sorgen machen würde.«
Andresen hörte nicht mehr richtig zu. Seelhoffs Verhalten von vorhin beschäftigte ihn mehr, als er nach außen hin zeigen wollte. Andauernd hatte er Probleme mit den Technikern. Mit Siederdissen war er bereits mehrfach aneinandergeraten. Dass sich jetzt auch noch Seelhoff so ungehobelt verhielt, wurmte ihn. Nachdenklich betrat er das Haus und ging die schmale Treppe hinauf. Vor der hölzernen Wohnungstür im zweiten Stock hantierte Siederdissen mit rot-weißen Absperrbändern herum. Als er Andresen erblickte, verzog er sein Gesicht zu einer Grimasse und wandte sich demonstrativ von ihm ab.
»Sie liegt im Schlafzimmer.«
Andresen verzichtete darauf, ihm zu antworten, und betrat stattdessen die Wohnung.
»Pass doch auf!«, raunzte Seelhoff plötzlich. »Hast du keine Überzieher dabei? Dann hol dir von Siederdissen welche!«
Andresen zuckte zusammen und ging ein paar Schritte zurück. Nachdem er sich die blauen Plastikfolien über die Schuhe gezogen hatte, nahm er einen zweiten Anlauf und betrat die Wohnung.
»Es ist kein schöner Anblick. Ich weiß nicht, was hier vorgefallen ist, aber es war sehr viel Gewalt im Spiel. Wenn du mich fragst, ähnelt das Ganze dem Mord an Sina Reimer.«
»Seit wann mischt sich denn die Technik in die Ermittlungsarbeit ein?«, fragte Andresen süffisant.
»Seitdem es in der Mordkommission drunter und drüber geht«, kam es von draußen.
Andresen ignorierte Siederdissens Kommentar, der offenbar auf Heckmanns Kündigung abzielte.
»Sina Reimer ist Lorenz’ Fall. Warum ruft man mich überhaupt hierher?«, fragte Andresen.
Seelhoff zuckte mit den Schultern und verschwand in einem angrenzenden Zimmer. Andresen ging langsam hinter ihm her, noch immer irritiert über das Verhalten der beiden Männer von der Kriminaltechnik. Vor ihm lag das Schlafzimmer der Frau.
Seltsamerweise ließ ihn der Anblick der toten Frau im ersten Augenblick kalt. Zu entstellt, zu unnatürlich lag ihr nackter Körper auf der weißen Bettwäsche, als dass ihn ihr Tod hätte berühren können. Seelhoff stand neben dem Bett und sah Andresen an.
»Denkst du dasselbe wie ich?«, fragte er.
»Ich denke gerade gar nichts«, murmelte Andresen.
Der blasse Leichnam war von gelb-schwarzen Hämatomen übersät. Die Extremitäten standen in absonderlicher Art und Weise ab und wirkten nicht wie Teile eines menschlichen Körpers. Dunkelblonde Haare verdeckten in Strähnen das Gesicht.
»Es wird immer abartiger. So etwas gab es früher nicht.«
Andresen verdrehte die Augen. Er konnte es nicht leiden, wenn die ach so gute alte Zeit glorifiziert wurde. Perversitäten wie diesen Mord hatte es schon immer gegeben.
»Mal wieder ein Fall für Birnbaum«, flüsterte er. »Es sieht tatsächlich so aus, als hätten wir es mit einem Wiederholungstäter zu tun.«
»Woher willst du das wissen, ich dachte, Lorenz…?«, hakte Seelhoff ein.
»Ich habe die Fotos von Sina Reimers Leiche gesehen. Die Ähnlichkeit ist frappierend.«
»Du weißt, was das bedeutet?«
»Nein, was denn?«, fragte Andresen provozierend.
Seelhoff griff in einen silbernen Koffer, den er neben dem Bett abgestellt hatte. Andresen ging aus dem Schlafzimmer und lehnte sich im Flur gegen den Türrahmen. Julia und Niels kamen zu ihm.
»Wir müssen den Krisenstab einberufen. Julia, bitte kümmer dich darum. Sag Sibius, Lorenz und den anderen Bescheid.«
Eilig verließ er die Wohnung und lief die Treppe hinab. Seine Uhr zeigte kurz vor halb eins, als er sich hinter das Steuer seines Volvos setzte. Adrenalin durchspülte seinen Körper. Er wusste, von nun an suchten sie nach einem Serienmörder. Eine junge Frau war zu Tode gefoltert worden, auf brutalste Weise. Und wenn sie nicht vollkommen falschlagen, mussten sie davon ausgehen, dass der Täter nicht zum ersten Mal zugeschlagen hatte.
4
Es hatte nur ein paar Minuten gedauert, ehe Andresen das Kommando übernommen und die Aufgaben verteilt hatte. Seitdem er Hauptkommissar war, konnte er sich endlich sicher sein, dass ihm niemand mehr reinredete, wenn er gewisse Entscheidungen traf. Selbst Sibius war froh darüber, schließlich wand er sich wie ein Aal, wenn es darum ging, Verantwortlichkeiten zu übertragen.
»Das, was Kai geschildert hat, macht deutlich, dass wir es mit einem Täter zu tun haben, der brutaler vorgeht, als wir es aus vergleichbaren Fällen kennen«, setzte Andresen zum Schlusswort an. »Doch die Brutalität ist nur das eine. Auch die Dauer des Martyriums ist bemerkenswert.« Er holte tief Luft. »Wir werden ein Ermittlungsteam unter meiner Führung bilden, das sich ausschließlich um diesen Fall kümmert. Julia, du wirst dabei sein. Kai und Niels, es wäre gut, wenn ihr auf Abruf bereitstehen würdet. So lange kümmert ihr euch um die übrigen Ermittlungen.«
Kriminalkommissar Kai Lorenz schüttelte den Kopf. »Ich hatte den Fall Sina Reimer. Warum reißt Birger die Angelegenheit jetzt an sich?«, fragte er in Richtung Sibius gewandt. »Entscheidet er jetzt über mich?«
»Nein, natürlich nicht. Aber er hat recht mit dem, was er sagt. Birger und Julia sind ein eingespieltes Team, und als Hauptkommissar wird er diesen Fall leiten.«
Sibius’ Worte saßen. Lorenz’ Widerspruch war im Keim erstickt worden.
»Danke, Frank«, sagte Andresen.
Sein Verhältnis zu Lorenz war nicht erst seit seiner Beförderung angespannt. Vielleicht war es an der Zeit, ein klärendes Gespräch mit ihm zu führen, ehe die Situation zwischen ihnen zu einem echten Problem wurde. Er verdrängte den Gedanken und ergriff erneut das Wort.
»Ben, bitte stell alle Unterlagen über Sina Reimer zusammen und versuch, so viel wie möglich über Meike Kalm herauszufinden. In einer Stunde setzen wir uns zusammen und besprechen die weitere Vorgehensweise.«
Andresen gab Sibius ein Zeichen, dass er nichts weiter zu sagen hatte.
»In Ordnung. Ich hoffe, dann weiß jeder, was zu tun ist. Also, an die Arbeit.« Sibius hustete verlegen, ehe er noch einmal ansetzte. »Bitte wartet noch einen Augenblick. Ich muss euch noch etwas mitteilen.«
Andresen blickte seinen Chef irritiert an. Was gab es denn noch so Wichtiges?
»In diesem Jahr scheint uns offenbar nichts erspart zu bleiben«, begann Sibius. »Erst Heckmanns Entscheidung, den Dienst zu quittieren, und nun wird uns auch Willi verlassen und krankheitsbedingt in frühzeitigen Ruhestand gehen. Er hat mich heute Morgen davon in Kenntnis gesetzt. Bei Gelegenheit will er sich von euch allen verabschieden.« Sibius hielt kurz inne, bevor er weitersprach. »Das bedeutet natürlich auch, dass auf jeden von uns vorerst mehr Arbeit zukommen wird.«
Andresen stand auf und verließ als Erster den Besprechungsraum. Die Nachricht von Willi Wibels Ausscheiden hatte ihn nachdenklich gemacht. Es war weniger die Tatsache, dass Wibel nicht länger seinen Dienst ausüben konnte: Er war ohnehin schon seit Längerem gesundheitlich angeschlagen und hatte mehrfach bekundet, lieber heute als morgen seinen Job an den Nagel hängen zu wollen. Es war etwas anderes, das ihn beunruhigte. Mit Ben Kregel war erst vor Kurzem ein neues Gesicht zu ihnen gestoßen. Nun würde auch Wibels Abschied eine Lücke hinterlassen, die gefüllt werden musste. Und die Tatsache, dass Wibel Kriminaloberkommissar gewesen war, machte das Ganze nicht einfacher. Auf Veränderungen dieser Art konnte er gut und gern verzichten.
Er nahm auf seinem Schreibtischstuhl Platz und griff nach seinen Aufzeichnungen. Das Wichtigste war, Strukturen zu schaffen. Er entschied sich für die altbewährte Methode und nahm einen leeren Zettel und einen Stift zur Hand. Auch wenn es die Rechtsmedizin noch nicht bestätigt hatte, konnten sie mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass der Mörder von Meike Kalm und Sina Reimer ein und derselbe war. Zumindest deuteten die Verletzungen und die Art und Weise, wie sie die Frauen vorgefunden hatten, darauf hin. Er notierte beide Namen auf dem Zettel und ergänzte sie um ihr Alter und einige persönliche Daten.
Sina Reimer war zweiundzwanzig Jahre alt geworden und hatte zuletzt in einer Maisonettewohnung im Lübecker Stadtteil St.Jürgen gelebt. Alle weiteren Details hoffte er von Kregel zu erfahren. Von Meike Kalm wusste er ebenfalls nur das Alter und ihren Wohnort. Sie war ein Jahr älter als Sina Reimer gewesen.
Das Bild der toten Meike Kalm, die so unnatürlich verrenkt auf ihrem Bett gelegen hatte, kam ihm wieder in den Sinn. Wer war bloß dazu fähig, einen Menschen so zuzurichten? Was hatte sie alles erleiden müssen, ehe das Martyrium ein Ende gefunden hatte? Den blauen Flecken und Wunden am Körper zufolge konnte es Tage, womöglich sogar Wochen gedauert haben.
Offensichtlich hatte der Mörder auch sexuelle Gewalt an den Frauen verübt, zu deutlich waren die dunkelroten, zum Teil gelblich verfärbten Stellen zwischen ihren Beinen gewesen. Ein klares Indiz dafür, dass es sich bei dem Mörder der beiden Frauen um einen Mann handeln musste.
Lorenz hatte in der Besprechung angedeutet, dass die Rechtsmedizin vermute, Sina Reimer sei bis zu zwanzigmal vergewaltigt worden und habe Schläge, Tritte und andere Misshandlungen über sich ergehen lassen müssen. Sie mussten davon ausgehen, dass es Meike Kalm ähnlich ergangen war.
Der Gedanke daran löste ein Schwindelgefühl bei Andresen aus. Meike Kalm stand plötzlich vor ihm. Eine fröhliche, junge Frau, die ihr Leben noch vor sich hatte. Er sah wieder ihren toten nackten Leichnam, die verdrehten Gliedmaßen, den Körper übersät von Gewaltspuren.
Es klopfte an seiner Tür.
»Wir sind so weit.« Kriminalobermeisterin Barbara Kracht lugte durch den Türspalt. Andresen hatte Kregel angewiesen, sie mit in die Ermittlungen einzubeziehen. Sie war eine erfahrene Polizistin und hatte genau wie er selbst die vierzig knapp überschritten. Ihr rotbraunes Haar wirkte zerzaust wie immer. »Wollen wir ins Sitzungszimmer gehen? Da haben wir mehr Platz.«
»Barbara«, fuhr Andresen hoch. »Nein, nein, kommt rein. Draußen steht noch ein Stuhl. Warte, ich hole ihn. Ich wollte mir ohnehin gerade einen Kaffee holen.«
Sina Reimer war Studentin der Medizin an der Universität Lübeck gewesen und stammte auch gebürtig aus der Hansestadt. Sie war Single gewesen und hatte sich laut ihrer Eltern vor allem auf ihr Studium konzentriert. Lorenz und Kregel hatten die Vernehmungen im Verwandten- und Bekanntenkreis geführt, ohne einen entscheidenden Hinweis auf ein mögliches Tatmotiv ausfindig machen zu können. Vielmehr ging man davon aus, dass es sich um einen heimtückischen Mord mit sexuellem Motiv handelte und einen Täter, der sein Opfer nicht gekannt hatte. An dieser Stelle hakte Andresen ein.
»Das muss nicht zwangsläufig der Fall sein. Er – wenn wir denn von einem Mann als Täter ausgehen– kann Sina Reimer durchaus gekannt haben. Vielleicht hat sie ihn jedoch nicht gekannt. Wir wissen doch, dass manche Mörder ihren Opfern jahrelang auflauern, ehe sie zuschlagen.«
»Da bin ich eher skeptisch«, fiel ihm Kregel ins Wort. »Vielleicht passt diese These ja bei Sina Reimer, aber Meike Kalm war offenbar weder reich noch sonderlich attraktiv.«
Andresen sah verstört zu Kregel hinüber. War das sein Ernst oder hatte er einfach nur einen flapsigen Spruch in die Runde werfen wollen? Er verzichtete darauf, die Bemerkung zu kommentieren.
»Hier ist der Ordner über Sina Reimer, mit allen Protokollen der Vernehmungen.« Barbara legte einen dicken schwarzen Ringordner auf den Tisch. »Über Meike Kalm wissen wir noch nicht allzu viel. Daher habe ich keine Ahnung, wie Ben zu seiner Einschätzung kommt. Ihre Angehörigen sind mittlerweile allerdings verständigt worden.«
»War sie auch Studentin?«, fragte Andresen.
»Sie hat in so einem Körnerfresserladen gejobbt. Und das mit Abitur.«
»Spricht man in Ostwestfalen so über Tote?«, fragte Andresen barsch.
»Gelegentlich«, konterte Kregel mit gespielt unschuldigem Lächeln.
»Wir werden uns gleich dransetzen und so viel wie möglich über sie in Erfahrung bringen«, sagte Barbara. »Ich denke, es wäre gut, wenn du die Vernehmungen leiten würdest, Birger.«
»Warum denn?«, fragte Kregel in ihre Richtung. »Ich meine, weshalb sollten wir die Gespräche nicht selbst führen? Darum braucht sich Birger doch nicht zu kümmern.«
Andresen tat so, als hätte er Kregels Worte nicht gehört. »In Ordnung. Stellt bitte eine Liste derer zusammen, mit denen wir sprechen müssen. Und denkt an die Nachbarn, vielleicht hat irgendjemand etwas gehört oder gesehen. Ich werde heute Nachmittag erst mal die Akten über Sina Reimer wälzen.«
Nachdem Barbara und Kregel sein Büro verlassen hatten, lehnte sich Andresen in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme hinter dem Nacken und schloss die Augen.
Kregel war ein sonderbarer Typ. Einerseits zielstrebig und scharfsinnig, andererseits provozierte er mit seinen unbedachten Äußerungen derart, dass sich ein vernünftiges Miteinander nur schwerlich einstellen wollte. Seine hochgewachsene und durchtrainierte Statur tat ihr Übriges dazu, dass man ihm gegenüber reserviert auftrat. Wenn sich Kregel weiterhin so rüde benahm, würde er ihn in die Schranken weisen müssen.
Er schnappte sich den Ordner über Sina Reimer und schlug ihn auf. Irgendetwas lähmte ihn, als sein Blick auf das oberste Blatt fiel. Er konnte nicht sagen, was es war, aber er fand einfach nicht zu seiner gewohnten Konzentration. Bilder von entstellten Körpern, Heckmann, Wibel, aufstrebende Kollegen, seine Freundin Meret. All das tanzte vor seinem inneren Auge und zwang ihn dazu, den Ordner zu schließen. Mit einem Mal war auch Wiebke Hennings da, die Journalistin. Er runzelte die Stirn. Sie hatte etwas ausgestrahlt, das ihn dazu veranlasste, auf der Hut zu sein.
Nachdenklich sah Andresen aus dem Fenster. Er musste an Meret denken, die er im vergangenen Jahr kennengelernt hatte. Nach der Scheidung von Rita war sie die erste Frau gewesen, mit der er sich ernsthaft auf mehr als eine bloße Affäre eingelassen hatte. Das war jetzt etwas mehr als ein Jahr her. Doch in den letzten Wochen hatte sich ihre Beziehung deutlich abgekühlt, was nicht zuletzt daran gelegen hatte, dass Meret wochenlang Überstunden in der Anwaltskanzlei, in der sie arbeitete, verrichten musste und zwischendurch einige Tage mit ihrer Freundin Helena nach Schweden verreist war.
Aber es war nicht nur das gewesen. Eine Ahnung beschlich ihn bereits seit längerer Zeit. Das Empfinden, wenn sie spätabends zu ihm ins Bett gekrochen kam, war mit einem Mal nicht mehr dasselbe gewesen. Tag für Tag hatte er sich gefragt, was der Grund dafür sein konnte, ohne eine Antwort zu finden. Die Magie, die er verspürt hatte, als sie sich kennengelernt hatten, und die Nervosität, die bei ihren ersten Treffen geherrscht hatte, waren verschwunden. Der normale Lauf der Dinge oder das Ende einer kurzen Romanze? »Hey Jude« klang ihm wieder in den Ohren. Sie hatten es damals gehört, als sie sich ineinander verliebten. Würde es bald schon »Yesterday« sein?
Es klopfte, und die Tür zu seinem Büro wurde aufgestoßen.
»Birger, halt dich fest. Die beiden haben zusammen studiert. Medizin an der Uni Lübeck, im gleichen Semester«, sagte Barbara.
»Ich dachte, Meike Kalm war…«
»Sie hat nach dem zweiten Semester abgebrochen und arbeitete seitdem in einem Biowarengeschäft als Verkäuferin.«
Andresen schüttelte den Kopf. So schnell hatten sie wohl selten einen Zusammenhang zwischen zwei Mordfällen herstellen können.
»Du weißt, was das heißt, Barbara?«
Sie nickte.
»Wir brauchen alle Namen ihrer Kommilitonen. Am besten sogar eine Liste aller Lübecker Medizinstudenten der vergangenen Jahre. Und die Namen aller Dozenten, Doktoren und Professoren. Auch die der sonstigen Universitätsangestellten. Von den Reinigungskräften bis zum Mensapersonal dürfen wir niemanden ausschließen. Ich will morgen früh in der Uni sein und mit den Gesprächen beginnen. Wir fangen erst mal mit ihrem Semester an. Und sag Kregel, er soll dir helfen. Und Julia auch.«
»Glaubst du nicht, dass es besser wäre, erst einmal mit den Angehörigen zu sprechen, bevor wir die halbe Uni auf den Kopf stellen?«
Andresen dachte einen Augenblick nach, ehe er antwortete.
»Wir brauchen die Namen, so oder so. Ich möchte zuerst einige Gespräche an der Uni führen. Danach fahren wir zu Meike Kalms Eltern. Manchmal ist es besser, sich erst ein objektives Bild zu machen, ehe man mit den familiären Emotionen konfrontiert wird.«
»Also, ich bin mir nicht…«
»Ich will die Namen haben«, würgte Andresen Barbaras neuerlichen Einwand ab. »Und denk dran, sie mit unserer Kartei abzugleichen. Wer weiß, was sich auf diesem Weg ergibt.«
Barbara knallte Andresen einige Zettel auf den Tisch und verließ schnurstracks sein Büro. Er blickte verdutzt hinter ihr her und wunderte sich über ihre heftige Reaktion. Sie war eben ein Dickkopf, redete er sich ein.
Andresen versuchte seine Gedanken zu ordnen und senkte den Kopf über die Unterlagen, die ihm Barbara auf den Tisch gelegt hatte, als plötzlich sein Handy piepte. Er warf einen raschen Blick auf das Display und sah, dass Meret ihm eine SMS geschrieben hatte. »Schaffe es heute nicht mehr, habe zu viel zu tun. Weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Hoffe, du hast Verständnis. LG Meret«.
»Na prima«, murmelte Andresen. Er schüttelte den Kopf. Früher oder später musste er mit ihr reden, das war klar.
Die Liste der Personen an der Universität umfasste mehr als tausend Namen. Barbara hatte ihm am späten Nachmittag eine Übersicht aller Absolventen der letzten Jahre sowie der aktuell Studierenden vorgelegt. Hinzu kam ein Adressregister all derjenigen, die an der Universität angestellt waren. Es reichte vom Professor bis hin zum universitätseigenen Postmitarbeiter. Reinigungspersonal, Handwerker und IT-Spezialisten waren ebenso aufgeführt wie Doktoranden, wissenschaftliche Hilfskräfte und Sekretariatsangestellte. Barbara und Julia hatten ganze Arbeit geleistet.
»Wissen wir, wer alles in dem Semester der beiden war und wie ihre Professoren hießen? Wir müssen es zuerst über diesen Weg versuchen«, fragte Andresen.
»Wir haben die Namen derjenigen, die das Medizinstudium zusammen mit Sina Reimer und Meike Kalm begonnen haben. Wie viele davon noch übrig sind, wissen wir allerdings nicht.« Barbara stockte. Sie hatte gemerkt, dass ihre Formulierung unglücklich ausgefallen war. »Du weißt ja, wie ich das meine. Es brechen schließlich eine ganze Menge Leute ihr Studium ab.« Sie holte tief Luft, bevor sie fortfuhr. »Die Professoren und Dozenten sollten aber noch dieselben wie damals sein.«
»Auf wie viele Personen kommen wir in der Summe?«, fragte Andresen.
»Etwas mehr als zweihundert, ohne weiteres Universitätspersonal.«
Andresen nickte zögerlich. »In Ordnung«, fuhr er fort. »Wir werden morgen an die Universität fahren, um uns ein erstes Bild zu machen. Anschließend gehen wir einen Schritt tiefer. Die Angehörigen können uns bestimmt sagen, mit wem die beiden an der Universität näher befreundet waren. Wir müssen mit den Familien sprechen. Hat das Lorenz nach dem Mord an Sina Reimer nicht eingeleitet? Sie wird doch so etwas wie einen Freundeskreis an der Uni gehabt haben. Möglicherweise war sie auch in einer dieser Organisationen aktiv. Fachschaften, AStA, weiß der Kuckuck, wie die alle heißen.«
Andresen merkte, dass Barbara verzweifelt versuchte, seinen übersprudelnden Worten zu folgen. In solchen Momenten war er kaum zu bremsen.
»Warum bin ich da nicht sofort draufgekommen?«, grummelte er plötzlich. »Wir können zwar nicht alle befragen, aber wieso nehmen wir nicht einfach einen umfassenden DNA