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Es stößt ab, gleichzeitig fasziniert es: das kranke Treiben von Serienmördern und anderen Tätern, die oft nicht einmal davor zurückschrecken, Teile ihrer Opfer zu verzehren. Bei jedem diesbezüglichen Fall sind Zeitungen und Fernsehen voll mit Berichten, jedes Mal stellt sich die Frage: Wie kann es dazu kommen? Herausgeberin Petra Klages, Diplom-Pädagogin und Kriminologin, hat sich auf die Spurensuche gemacht und versucht, die spektakulärsten Fälle von Serienmördern und Kannibalismus in Deutschland zu erklären. Es geht ihr und ihren Autoren dabei nicht um blutrünstige Phantasien – die kann man getrost den Heerscharen an Thriller-Autoren überlassen –, sondern um die authentische Schilderung der Fälle und deren Ergründung in bester FBI-Methode, einem fundierten Profiling. Auszüge ihrer Arbeit werden im Buch präsentiert. Durchaus als sensationell zu bezeichnen sind die Beiträge von Armin Meiwes, bekannt geworden als "Kannibale von Rotenburg", der in seinen Texten deutlich macht, welche Emotionen kannibalische Akte bei ihm auslöste. Aber auch historische Fälle werden behandelt, vor allem Carl Großmann, der ähnlich dem Londoner Frauenmörder Jack the Ripper in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Berlin sein Unwesen trieb und seine Opfer zu Wurst verarbeitet haben soll. Noch tiefer in die Historie schauriger Verbrechen führt der Kriminalhistoriker Michael Horn mit der so genannten Pappenheimer-Familie, einer Landstreicherfamilie des 16. Jahrhunderts, in der schon Kinder zu Mördern wurden. Verbrechen sind also zeitlos – wie die Faszination, die Grausamkeiten wie Serienmord und Kannibalismus auf uns ausüben. Ähnliche psychische Mechanismen wie beim Serienmord, werden auch bei Fällen schwerer sexueller Gewalttaten wirksam, wie Dr. Mark Benecke und Diplom-Psychologin Wawrzyniak anhand eines brandaktuellen Falls schildern.
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Seitenzahl: 401
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Petra Klages (Hg.)
Serienmord und Kannibalismusin Deutschland
V. F. SAMMLER
Petra Klages (Hg.)
Fallstudien • Psychologie • Profiling
V. F. SAMMLER
Umschlaggestaltung: DSR – Werbeagentur Rypka/Thomas Hofer, A-8143 Dobl/Graz
Titelbild: Werbeagentur Rypka GmbH, Lukas M.
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ISBN 978-3-85365-249-7Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.
© Copyright by V. F. SAMMLER, Graz 2011Layout: Klaudia Aschbacher, 8111 Judendorf-Straßengel
Die folgenden Erzählungen sind eine Aufforderung an die Menschen – eine Aufforderung hinzusehen, einzugreifen und zu helfen. So kann Schlimmes – möglicherweise sogar einige der furchtbarsten Verbrechen – verhindert werden.
Petra Klages und die Co-Autoren setzen sich erneut erfreulich real mit dem Thema Intensivtäter und Serienmörder auseinander. Wie in dem Buch „Brieffreundschaft“ mit einem Serienmörder werden unterschiedliche Anteile der Lebensgeschichten und Entwicklungen der Täter in der Gesamtheit beleuchtet und bislang nicht beachtete Aspekte dargestellt. Petra Klages geht damit weit über die meist dramatischen Darstellungen der Taten und Tatphantasien von anderen Autoren hinaus, ohne diese jedoch zu schönen. Natürlich wird die Grausamkeit in ihrer Wirklichkeit dargestellt, die jedoch im Kontext des Erklärens eine ganz andere Bedeutung bekommt. Die Darstellung der Entwicklung vom „normalen“ Menschen, der durch die Sozialisation und seine persönlichen Entwicklungen zu einem Mörder wird, steht hier der Allgemeinheit zur Verfügung. Dabei wird in diesem Buch das Tabu des Kannibalismus mittels prägnanter Beispiele in der Gesamtheit dargelegt. Faszinierend, abstoßend und aufklärend zugleich ist es zum Teil möglich, hinter die Fassade der so genannten „Monster“ zu blicken, die mit ihren Morden ihre eigenen Gefühle erst ausleben konnten.
Die Leser werden sich freuen, eine sehr gut recherchierte und fachlich fundierte Arbeit lesen zu können. Es handelt sich hierbei um ein Sachbuch, das der Allgemeinheit nicht nur einen Überblick, sondern Vertiefungen zu den Themenbereichen bietet. Die verschiedenen Autorenbeiträge lassen eine professionelle Aufarbeitung vergangener und jüngerer Fälle der Kriminalgeschichte erkennen, die nicht ausgedacht, übertrieben oder einseitig dargestellt werden.
Durch ihre Profession als Diplom-Pädagogin und Kriminologin hat Klages einen wissenschaftlichen Hintergrund, der es zulässt, diese Art der Literatur in einem komplexen und interdisziplinären Licht erscheinen zu lassen, der dennoch klar, unumwunden und verständlich bleibt. In meiner Tätigkeit als Dozent an der Polizeiakademie Niedersachsen (FB Rechtswissenschaften) und als Kriminologe ist es sehr wichtig, fundierte Literatur lesen zu können, die eine qualitative Auseinandersetzung erkennen lässt und mehr ist als die Zurschaustellung von Gewalt und Phantasie.
Der Bereich der Serienmörder mit seinen verschiedenen Facetten ist in der deutschsprachigen Literatur häufig vertreten, jedoch nicht in dieser offenen und tiefgründigen Form. Prävention ist hierbei ein herausragendes Thema, mit dem sich die entsprechenden Professionen interdisziplinär beschäftigen müssen, um mehr über die Entwicklung vom Menschen zum Mörder oder Serienmörder, der trotzdem Mensch ist und bleibt, verstehen zu können. Diesem Anspruch wird die Literatur von Petra Klages gerecht. Ihre Literatur muss weiter analysiert, untersucht und entsprechend einer präventiven Ausrichtung in die tägliche Arbeit mit auffälligen Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen einfließen.
Kinder, die traumatische Erlebnisse erleiden mussten, können durch eine genaue Analyse besser geschützt und eventuell therapiert werden, damit sie nicht einen ähnlichen Entwicklungskreislauf nehmen, wie die in den Büchern von Klages dargestellten Täter. Nicht jedes Kind oder jeder Erwachsener, der traumatische Ereignisse erlebt hat – sei es Gewalt in der Familie, Misshandlung oder schwerwiegende dauernde Erniedrigungen –, wird später Täter. Vielleicht kann aber durch präventive Ansätze der oder die eine von grausamen Taten abgehalten werden. Gerade die Ausführungen von Arwin Meiwes sollten in dem präventiven Kontext gesehen werden. Seine von ihm persönlich dargestellten Phantasien in den Kurzgeschichten können in die therapeutische Arbeit mit einfließen und Hilfe bei der Bearbeitung von devianten Phantasien geben. Es ist notwendig, dass die von Klages vorgestellten realen Fälle interdisziplinär aufgegriffen werden, um potentielle Täter in ihrer kriminellen Entwicklung zu stoppen und weitere Opfer zu verhindern.
Polizeikommissar und Kriminologe Christian Pundt
Gestern im Gerichtssaal. Der Angeklagte lässt sich beim Hereinkommen nicht fotografieren. Er hält sich einen Aktenordner vors Gesicht, bis die Richterin den Fotografen rauswirft. Angeklagt ist ein schlanker Mann in weichem Wollpulli und mit grauer Föhnwelle. Er soll sechshundert Mal „sexuelle Handlungen vorgenommen haben“, immer an denselben zwei Kindern. Er betreute sie, war ihr Ersatzvater und hielt Kontakt, bis die Therapeutinnen den Opfern vor Kurzem verboten, ihm weiter Briefe in den Knast zu schreiben.
Im Laufe der Verhandlung bleiben „nur“ noch um die hundert – oder doch zweihundert? – sexuelle Handlungen übrig. „Wie soll ich mich an die genaue Zahl erinnern“, sagt der Angeklagte, „wo die Kinder doch bei mir gelebt haben? Irgendwann war ich nicht mehr der Jüngste, da hat der Oralverkehr sicher abgenommen.“ Er blättert verständnislos in seinen Unterlagen, in denen er akribisch jeden Monat aufgezeichnet hat, in dem er mit den Jungen – in seinen zweideutigen Worten – „zusammen war“.
Die Richterin gibt sich ungerührt, obwohl ihre Stimme schwankt. Sie versucht stundenlang, die genauen Sex-Häufigkeiten zu errechnen. „Sie waren doch im Urlaub mit den Kindern! Daran müssen sie sich doch erinnern. Waren Sie in einem Zelt? Im Freien? Oder wo?“ – „Ach“, sagt der Angeklagte, „das spielt doch keine Rolle, ob es im Zelt war …“
Es ist hoffnungslos. Alle reden und tanzen um den heißen Brei herum, keiner haut auf den Tisch, keiner hört dem anderen richtig zu. Die Richterin vertagt das Verfahren, die Bild-Zeitung schießt die beiden Opfer, die jetzt sechs Stunden ohne jede Information vor der abgeschabten Türe auf einem Gerichtsflur herumsaßen, noch von hinten ab. Alles geht seinen üblichen, ans Idiotische grenzenden Behördengang.
Eine Frage, die niemand stellt, ist die, warum unser Angeklagter eigentlich so geworden ist, wie er ist. Vor Gericht ist das in diesem Fall aber auch wirklich egal. Er sieht sowieso nichts ein, hat keine Therapie gemacht und beharrt darauf, dass er zeitlebens keinem Kind Gewalt zugefügt hat. Das stimmt sogar, denn nett war er immer. Sogar der warum auch immer zugezogene Psychologe will nur wissen, ob Gewalt und Zwang im Spiel waren oder nicht. Er möchte das gegen den allgemeinen Willen im Saal, die beiden Opfer heute und für immer in Ruhe zu lassen, noch einmal hören. „Wie viele Pädophilen-Verfahren hatten Sie schon?“, fragt der Verteidiger den Psychologen daraufhin verdächtig freundlich und milde. „Das hier ist doch ein ganz durchschnittliches Pädophilen-Verfahren, kein Mord! Haben Sie schon jemals davon gehört, dass normale Pädophile Gewalt gegen Kinder anwenden?“ Nein. Darüber hatte sich niemand im Raum Gedanken gemacht. Die meisten Pädophilen überreden, überrumpeln, überlisten und bestechen ihre Opfer. Messer und Pistole brauchen sie dazu nicht.
Bald wird es allen zu viel. Beratungspause, Kaffeepause, Rechtsgespräch, Mittagspause, Abbruch. Der Staatsanwalt, ein kleiner, junger, überdynamischer Mann, macht noch schnell eine sehr schlüpfrige Bemerkung und beantragt Haftbefehl. Der Angeklagte hatte sich nämlich verplappert und zugegeben, während einer Bewährungszeit vor zig Jahren sofort wieder Kontakt zu seinen kindlichen Opfern aufgenommen zu haben.
Überhaupt macht es dem Staatsanwalt sichtlich Spaß, den Täter wie eine Schlange zu zertreten. Dass sich der alte, sanfte Angeklagte im Buchhalter-Habitus vor allem wegen der angeforderten Zahlenpräzision, die er so gerne liefern würde, windet, versteht der Jurist nicht. Er ist für Abstraktes zuständig. Umgekehrt ist es auch nicht besser. Die Frage danach, ob er die Jungs, nachdem sie Schamhaare hatten, noch sexuell anziehend fand, findet nun der Angeklagte seltsam. „Nein, darüber bin ich zum Glück hinaus“, sagt der Mann so sachlich wie selbstverständlich, „ich bin doch nicht ephebophil.“ „Was?“, fragt die Richterin aufgeschreckt. „E -- phe -- bo -- phil“, buchstabiert der Mann sehr höflich, so als hätte die Richterin, genau wie er, einfach nur ein schlechtes Gehör. In Wahrheit hat sie den Begriff, der die Hinwendung zu nachpubertären Jungen beschreibt, noch nie gehört.
Am zeitigen Nachmittag ist das Trauerspiel, das nur aus Missverständnissen besteht, zum Glück zu Ende. Alle gehen nach Hause.
Zunächst nur am Rande – nämlich zur späteren Feststellung der Schwere der Tat – deutet jemand an, dass es nicht nur um den Täter geht, sondern dessen sexuelle Handlungen auch auf die Opfer Auswirkungen haben. Eines der Opfer, so stellt sich heraus, sitzt nämlich selbst im Gefängnis – verurteilt für Sex mit Kindern, in haargenau der Art, die er selbst als Kind erlebte. Die Psychologen berichten, dass er in seiner Sexualität unwiderruflich auf kleine Jungen geprägt ist, während sein Bruder – das zweite Opfer – eine auf Erwachsene ausgerichtete Sexualität entwickelte. Sexuelle Missbrauchserfahrungen in der Kindheit können sich also ganz unterschiedlich auf die Psyche der Opfer auswirken. Wer Kindesmissbrauch nur aus den Medien kennt, reagiert auf diesen bei manchen Tätern bestehenden Zusammenhang von Missbrauchserlebnissen in der Kindheit und späteren eigenen Taten mit Unverständnis. Denn intuitiv würde man meinen, dass doch gerade ehemalige Missbrauchsopfer das mit dem Missbrauch einhergehende Leid so genau kennen müssten, dass sie dies von eigenen Taten abhalten sollte. Hierbei ist Außenstehenden oft nicht klar, dass in den meisten Fällen von sexuellem Kindesmissbrauch eben keine brutale Gewalt herrscht, sondern Psychoterror der unterschwelligen Art:
Die Täter – sehr oft Familienmitglieder oder soziale Bezugspersonen der Kinder – bauen meist durch Zuwendung und Aufmerksamkeit eine persönliche Beziehung zu ihren Opfern auf. Auf diese Weise geraten die Kinder allmählich in ein emotionales Abhängigkeitsverhältnis, bei dem sie die sexuellen Handlungen dulden, aus Angst, ihre Bezugsperson zu verlieren. So entwickeln die Kinder häufig und zumindest eine gewisse Zeitlang durch den kontinuierlichen Missbrauch und die Einbettung der sexuellen Handlungen in ihren Alltag den Glauben, es sei „normal“, die sexuellen Wünsche der erwachsenen Bezugsperson erfüllen zu müssen.
Das ist ein verheerender Mechanismus: Einerseits geben sich die Kinder oft selbst die Schuld für den Missbrauch, da sie den in ihnen wirkenden emotionalen Abhängigkeitsprozess nicht verstehen und verarbeiten können. Andererseits können sich die Täter dadurch, dass sie keine körperliche Gewalt anwenden, ihre Taten schönreden, indem sie sich sagen: „Wenn das, was ich tue, so schlimm für das Kind wäre, dann würde es ja nicht mehr zu mir kommen. Ich zwinge es ja nicht.“ Hält man sich das vor Augen, dann wird nachvollziehbarer, wie tiefgreifend die Folgen für das Selbstbild, die Beziehungsfähigkeit und die Sexualität von Missbrauchsopfern sind.
Natürlich kann auch vieles andere in der Entwicklung von Kindern schiefgehen. Auch harmlosere Erfahrungen als Missbrauch, beispielsweise die frühe Trennung von einem Elternteil, können eine deutlich ungünstige Folge auf die Beziehungsfähigkeit von Kindern haben. Klar ist, wie gesagt, auch, dass sich Missbrauchserfahrungen sehr unterschiedlich auf Menschen auswirken. Bekannte Folgen sind Depressionen, Angststörungen, die Borderline-Persönlichkeitsstörung, sexuell abweichende Vorlieben, Störungen der Fähigkeit, sich auf zwischenmenschliche Beziehungen einzulassen, und vieles mehr. In ihrer Ausprägung und Zusammenstellung variieren die Folgen stark, sie schränken aber zumindest immer die Fähigkeit zu entspannten Partnerschaften ein.
Das ist kein Wunder, denn die menschliche Entwicklung setzt sich immer aus dem Zusammenspiel von genetischen und Umwelteinflüssen zusammen. Das bedeutet, dass es Umwelteinflüsse gibt, die bestimmte Entwicklungen wahrscheinlicher machen, aber sich eben nicht in jedem Fall gleich auswirken. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Rauchen von Zigaretten. Es erhöht nachweislich die Wahrscheinlichkeit, Lungenkrebs zu entwickeln, doch weitaus nicht jeder Raucher entwickelt Lungenkrebs.
Einen Extremfall dessen, was aus einem ehemaligen Missbrauchsopfer werden kann, schilderte Petra Klages in ihrem Buch „Brieffreundschaft“ mit einem Serienmörder. Dort hat sie viele Darstellungen eines besonders grauenvoll handelnden Täters gesammelt: Sie schrieb ihm Briefe, und er schrieb zurück – oft und detailliert. Als Pädagogin und Kriminologin hat Klages so jahrelang einen neuzeitlichen Sexualmörder ausgeforscht, für den noch nicht einmal ein Heiliger Zuneigung empfinden kann. Der Täter hatte seine Opfer aufgeschnitten, zerstückelt, ihnen die Eingeweide entnommen und sie an gut einsehbaren Orten in offensichtlichen Posen abgelegt. Mehr geht nicht.
Allerdings beschreibt der Mann in seinen Briefen nicht nur Dinge, die auf den ersten Blick bloß grauenerregend sind, sondern die auf den zweiten Blick auch sehr viel darüber aussagen, was in ihm vorging. Dem Kriminalisten hilft das, vergleichbare Taten besser auf mögliche Spuren hin zu untersuchen, der Psychologin ermöglicht es, nach Therapie- oder Vorbeugungsmöglichkeiten zu suchen. Es ist schade, dass nicht jeder Täter seine Geschichte so veröffentlichen kann. Als John Douglas und Robert Ressler in den 1980er-Jahren versuchten, Serienmörder für ihren Arbeitgeber, das FBI, zu befragen, wurde es ihnen sogar mündlich verboten. Gut, dass die beiden ihre Vorgesetzten nicht schriftlich gefragt hatten – so erhielten sie nie ein schwarzes auf weißes „Nein“ und führten ihre systematische Untersuchung von Tätern trotzdem durch. Der Lohn: Ein wesentlich verbessertes Verständnis der Seele von Serientätern.
Vor allem eines wurde dabei endgültig klar: Die mal über- und mal unterbewerteten Umwelteinflüsse auf ein Kind verdichteten sich zu vorhersagbaren Gesetzmäßigkeiten, was die Wahrscheinlichkeit von möglichen negativen Folgen problematischer Kindheitserlebnisse auf die Psyche der Kinder angeht. Dennoch wird noch sehr viel geforscht werden müssen, um die Zusammenhänge verschiedener Einflussfaktoren zunehmend präziser beschreiben und so auch beeinflussen zu können. Es lässt sich allerdings die Tendenz erkennen: Je stärker das Trauma, dem ein Täter in seiner Kindheit ausgesetzt war, desto fürchterlicher können seine Wut und seine eigenen Taten werden. Das hört sich fürchterlich banal an. Ist es aber nicht, denn es gibt sehr viele Arten, ein Kind zu zerstören. Manche wurden leider erst in der Neuzeit verstanden.
So ähnlich ist es mit dem pädophilen Mann aus dem oben geschilderten Verfahren. Er ist, wie die meisten Täter, Lichtjahre von einem Mord entfernt. Dennoch versteht er nicht, dass Liebe, Sex und elterlicher Schutz bei Kindern nicht vermischt und in einer Person gebündelt werden dürfen. Die seelisch vernachlässigten Opfer, die sich zunächst über liebevolle Brotsamen im sonstigen emotionalen Nichts freuen, werden als Erwachsene fast unweigerlich selber zu Bindungsgestörten, Suizidenten oder eben Pädophilen. Andere werden Stricher, die durchdrehen, wenn sie eines Tages verlassen werden – und sei es nur von ihrem Freier. Wir haben zwei solche Wohnungstatorte gesehen. Es gab keine Stelle in den betreffenden Räumen, die nicht von Blut bedeckt war. Wirklich keine.
Briefe und Berichte von Tätern – ganz gleich, ob sie körperliche Gewalt ausübten oder nicht – sollen und können natürlich keine Sympathie erzeugen. Aber als Menschen mit Gedanken, Gefühlen und Meinungen wie viele andere Menschen erwartet man sie immerhin auch nicht. Fernseh- und Zeitungsberichte stellen sie sehr oft als Gruselgestalten dar und vermitteln das bequeme Gefühl, es handele sich um Kreaturen – Monster, die nichts mit „normalen“ Menschen gemein hätten. Viele Täter bezeichnen sich sogar selbst so.
Wie schmal die Grenze zwischen Menschen, die für viele unvorstellbar grausame Taten begehen, und denen, die dies nicht tun, aber in Wirklichkeit ist, wird durch Erlebensschilderungen der Täter klar. Ihre Schilderungen von Erinnerungen und Gefühlen, von alltäglichen Problemen und Gedanken lassen sie als menschliches Gegenüber erscheinen – ein Gegenüber mit Stärken und Schwächen, mit sympathischen und unsympathischen Eigenschaften. Das Grauen, das sich in ihren sexuellen Phantasien und Taten zeigt, steht eingebettet in das Gesamtbild von Menschen, die selbst Opfer von Missbrauch, Traumata und Vernachlässigung in der Kindheit wurden, die teilweise Ehemann, Vater, Arbeitskollege und Nachbar waren. Kein „tobendes Monster aus einer dunklen Höhle“, sondern oft in die Gesellschaft integrierte Menschen, die von außen durch nichts von ihren Nachbarn unterscheidbar waren. Nicht, weil sie sich perfekt tarnen, sondern weil große Anteile ihres Erwachsenenlebens eben normal sind.
Eine unbequeme Einsicht, denn wer möchte sich vorstellen, dass der eigene Mann, Bruder, Vater oder beste Freund eine dunkle Seite in sich tragen kann, die sich der Vorstellungskraft der meisten Menschen – zum Glück – vollkommen entzieht. Es gehört zum Wesen des Menschen, seine Umgebung als halbwegs stabil und einschätzbar erleben zu wollen – wie anders könnten Menschen ihre alltäglichen Aufgaben sonst erfüllen? Dazu gehört auch der Glaube daran, dass es auf der Welt „gute“ und „böse“ Menschen gibt und dass man selbst und die nächsten Angehörigen in der Regel zu den „Guten“ gehören.
Diese Grundüberzeugung wird von den Tätern fast immer ins Wanken gebracht. Am Ausgangspunkt der Geschehnisse steht fast immer ein „normales“, wenn auch vernachlässigtes Kind, das Zuneigung und Geborgenheit sucht, aber sexuelle Übergriffe, manchmal auch Gewalt und Grausamkeit als selbstverständliche und in einen Kontext von Zuwendung und Aufmerksamkeit eingebettete Dinge kennenlernt. Das große Problem daran ist – auch vor Gericht –, dass vieles von dem, was die Täter aus ihrer Kindheit berichten, den meisten Menschen völlig unvorstellbar erscheint. Doch die geschilderten Missbrauchstaten an Kindern geschehen nachweislich und oft. Es gibt reichlich Bild- und Filmmaterial auch aus Westeuropa, und das nicht nur, weil die Daten immer leichter übermittelbar werden. Dass aus einigen der Opfer später selbst Täter – welcher Art auch immer – werden, ist ein seit Jahrhunderten bekanntes Phänomen. Die bleibenden Schäden in der Seele eines Menschen zeigen sich in den zerstörten Lebensläufen, in denen auch Liebe und Zuneigung später nicht mehr so viel heilen, wie man es hoffen würde.
„Mörder werden nicht geboren, sondern gemacht“, schreibt Petra Klages, das macht sie auch in diesem Buch deutlich. Dabei geht es ihr nicht darum, „grausame Handlungen zu entschuldigen, es geht um Erklärungen für das Geschehene“. Fast schon pedantisch setzt sie sich mit den Tätern auseinander und weist auf Gesetzmäßigkeiten hin – Absolution erfahren die Täter dadurch nicht. Denn traumatische Erlebnisse können zwar sehr gut – auch auf der Ebene der Gehirnentwicklung – das Entstehen abweichender sexueller Phantasien, ob pädophil oder gewalttätig, erklären. Doch Phantasien zu haben, rechtfertigt nicht deren Umsetzung. Das wird in den Lebensgeschichten der Täter deutlich: Sie zeigen in manchen Lebensphasen überhaupt keine ihrer jeweiligen Neigung entsprechenden Verhaltensweisen.
Auch gibt es zahlreiche Menschen, die den Tätern vergleichbare sexuelle Phantasien haben, ohne diese jemals tatsächlich in die Realität umzusetzen. Ein Leben ohne Umsetzung der sexuellen Phantasien ist also durchaus möglich. In jedem einzelnen Fall entscheiden sich zumindest die Serientäter für das, was sie tun – und diese getroffenen Entscheidungen werden durch nichts gerechtfertigt.
Dennoch begünstigen Missbrauchserfahrungen stark die Entwicklung von Persönlichkeitseigenschaften, die zu Taten mit weiteren Opfern führen – allem voran die sexuell abweichenden Phantasien in Kombination mit dem Wegfallen von Perspektivübernahme und somit Mitgefühl den Opfern gegenüber.
Ein Appell – auch im Namen von therapierten oder teilweise einsichtigen Tätern – an die LeserInnen ist vor allem, daraus zu lernen und auffällige Verhaltensweisen eines Kindes aus dem Umfeld deutlicher wahrzunehmen. Wünschenswert wäre, wenn die LeserInnen, die sich die Schilderungen der Täter vor Augen führen, dann nicht untätig bleiben, sondern versuchen, mit dem Kind ins Gespräch zu kommen und sich eventuell Rat von Beratungsstellen zu holen.
Jeder Einzelne kann sich dafür entscheiden, hinzusehen oder wegzuschauen. Was die Folgen des Wegschauens im Falle von Kindesmissbrauch und -vernachlässigung sein können, das demonstrieren die Schilderungen der Täter eindrucksvoll. Es lohnt sich daher, im Täter auch den Opfer-Anteil zu sehen. Nicht aus Mitleid und nicht aus klebrigen Gefühlen von Schuld und Sühne, sondern ganz einfach damit nicht noch mehr Opfer entstehen.
Denn glauben Sie uns: Es gibt in diesem Spiel keine Gewinner. Nur eine höhere oder niedrigere Anzahl von Opfern.
In diesem Buch werden die Tatbestände Serienmord1 und eines der größten Tabus der Menschheit – der Kannibalismus – thematisiert. Einige der schlimmsten Serienmörder und Kannibalen werden hier der Betrachtung unterzogen. Aspekte, die bislang keine oder nur geringe Erwähnung fanden, werden aufgearbeitet und in einen Zusammenhang mit dem Leben und grausamen Wirken der Schwerstkriminellen gestellt. Die Täter wurden nicht nach quantitativen Maßstäben – also der Anzahl ihrer Opfer –, sondern nach ihrem sichtbaren und rekonstruierbaren Tatverhalten bzw. ihrem Modus Operandi ausgewählt. Die Taten, die den kriminellen und seriellen Kannibalismus betreffen, sind häufig von besonderer Brutalität und Grausamkeit gekennzeichnet. Der in diesem Buch vorgestellte Fall des Kannibalen Armin Meiwes unterscheidet sich deutlich von anderen Fällen des kriminellen Kannibalismus. Erstmalig ist es möglich, sich selbst ein anderes Bild vom kannibalistisch orientierten Armin Meiwes zu machen, von den sich früh entwickelnden, devianten2 Phantasien, seiner Tat – die ein Menschenleben forderte – und den zugrunde liegenden, nur teilweise bewussten Motivationen. Intensive Recherchen, zahlreiche Gespräche und die Korrespondenz mit Armin Meiwes zeigen seine klaren, jedoch zum Teil nur schwer nachvollziehbaren Positionen – der ausgeprägten kannibalistischen Orientierung. Neben der Betrachtung der Kindheit, Jugend und der Tat ist es möglich, seine heutigen Gedanken und Gefühle kennenzulernen. Seine Phantasien beschreibt Armin Meiwes selbst innerhalb von vier Kurzgeschichten.
Im Vorfeld werden zum besseren Verständnis, die wichtigsten Definitionen der in diesem Buch thematisierten Tatbestände geklärt.
(2) Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, aus Habgier oder aus sonst niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet. (StGB § 211)
Mord setzt die Tötung eines Menschen voraus, dieses beinhaltet nicht nur das aktive Handeln – die Tat –, sondern auch die Unterlassung. Bei den meisten Menschen ist eine Hemmschwelle in Bezug auf ein Tötungsdelikt vorhanden. Diese Hemmschwelle reduziert sich beispielsweise durch „Probeopfer“ – die häufig Tiere sind – und außerdem in Krisen- und Kriegszeiten durch verrohende Prozesse, die auf die Menschen einwirken. Ein Beispiel hierfür ist der sprunghafte Anstieg an Serienmördern in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Vor 1919 waren Serienmorde in Deutschland eine eher seltene Erscheinung. Die durchschnittliche Opferanzahl eines Mehrfachmörders lag vor dem Ersten Weltkrieg bei drei Opfern, wobei es sich allerdings meist um Tötungen innerhalb der Familie handelte. Kriegsereignisse, Revolutionen und Katastrophen bedeuten einen extrem negativen Einfluss für die Persönlichkeitsentwicklung – und die menschliche Psyche an sich. Dieses macht sich in einem überproportionalen Anstieg krimineller Delikte, insbesondere der Gewaltdelikte, inklusive der Tötungs-, Vergewaltigungstaten sowie serieller Morde bemerkbar.
Unterschiedliche kriminelle Delikte – insbesondere spezielle Tötungsdelikte – machen eine Prüfung der psychischen Verfassung des Täters durch entsprechende Gutachter notwendig. Die Interpretation der vorliegenden Fakten ist eine Interpretation – nicht mehr und nicht weniger. Aufgrund unterschiedlicher Auslegungen und subjektiver Wahrnehmung der Daten von Anwälten, Tätern und auch Staatsanwälten kommt es gelegentlich – wie im Falle des Armin Meiwes – zu einem zweiten Prozess. Die Ergebnisse schlagen sich dann unter Umständen in ausgesprochen uneinheitlichen Gerichtsurteilen nieder. Ein Urteil muss also nicht zwingend richtig oder angemessen sein, es steht immer in Abhängigkeit von der Gesetzgebung, der Gesellschaftsform und außerdem in einem nicht zu unterschätzendem Verhältnis von der Subjektivität und den individuellen Zuschreibungsprozessen der Individuen, die Recht sprechen.
Die Gesetzgebung erfährt in sich verändernden Gesellschaften Entwicklungsprozesse, die sich in Gesetzesänderungen niederschlagen. Die an sich objektiven Gesetze sind zudem mehr oder weniger flexibel ausleg- bzw. anwendbar, liegen also im Ermessensspielraum der Akteure. Ob das richtig oder falsch ist, sei dahingestellt.
Ein Mörder muss nach deutschem Recht die Tötung eines Menschen mit den entsprechenden Mordqualifikationen aus Absatz 2 begehen, um für einen Mord nach § 211 StGB bestraft werden zu können. Die Beweislast liegt nicht bei dem Angeklagten, sondern den Instanzen des Strafrechts. Durch ein Gerichtsverfahren soll selbstverständlich soweit wie möglich objektiv die Tat und die Tatausführung bzw. das Verhalten des Täters bewertet werden, damit ein möglichst gerechtes Urteil im Namen des Volkes gefällt werden kann. Wie erwähnt, ist ein objektives Gerichtsurteil schwer möglich, da die Interpretationen der Verantwortlichen ebenfalls eine – wenn auch nicht klar messbare – Rolle spielen. Berücksichtigt werden muss außerdem, dass vor dem Gesetz alle Menschen gleich behandelt werden sollen. Dieses ist jedoch ebenfalls schwer möglich, da beispielsweise ein guter Rechtsbeistand die finanziellen Kapazitäten vieler Menschen übersteigt. Es spielt also ebenfalls eine Rolle, über welche Mittel der Angeklagte bzw. der Täter verfügt. Ein weiterer Punkt wäre die soziale Position des Angeklagten, die ebenfalls einen – wenn auch schwer messbaren – Anteil an der Rechtsfindung hat.
Vorprogrammiert ist also aus unterschiedlichen Gründen eine verschiedenartige Handhabung und Rechtsprechung bei sich ähnelnden Delikten, aber verschiedenen Tätern. Gut verdienende, sozial integrierte Täter mit einem hohen Bildungsstand haben ohne Zweifel bessere Chancen, ihr Urteil zu ihren Gunsten zu beeinflussen – und sei es nur durch einen brillanten und teuren Rechtsanwalt. Ein Spiegelbild dieser Sachverhalte findet sich in der hohen Anzahl sozial benachteiligter Verurteilter.
Im weiteren Verlauf des Buches wird – wie bereits erwähnt – auf den Fall von Armin Meiwes eingegangen. Es empfiehlt sich daher, „die Tötung auf Verlangen“ im Vorfeld wenigstens kurz zu thematisieren. Bei der „Tötung auf Verlangen“ handelt es sich um einen Straftatbestand nach § 216 StGB. Entscheidet das Gericht, dass es sich um ein Tötungsdelikt nach § 216 handelt, wird der Täter milder bestraft, da er eine andere Person auf dessen ausdrückliches bzw. ernsthaftes und eindringliches Verlangen hin getötet hat. Dieser Straftatbestand soll angewendet werden, wenn nachweisbar ist, dass der Getötete ausdrücklich und ernsthaft seine Tötung wünschte. Selbstverständlich muss die Einordnung dieses Deliktes nach § 216 besonders kritisch betrachtet werden. Wird ein Urteil gemäß § 216 gefällt, beinhaltet dieses eine Sperrwirkung des § 211 – Mord – und auch des § 212 – Totschlag. Den Nachweis für die „Tötung auf Verlangen“ zu erbringen, gestaltet sich – dieses liegt in der Natur der Sache – schwierig. Die Interpretation und letztendliche Beurteilung der Vorgänge unterliegt, wie in den anderen Fällen, denen, die Anteil an der Urteilsfindung haben. Wichtig ist jedoch, dass der Täter aufgrund des Verlangens des Opfers bzw. des Getöteten reagiert hat und nicht seinen eigenen Wunsch oder sein Bedürfnis in den Vordergrund stellt. Wenn der Angeklagte sich sowieso bereits zur Tat entschlossen hat, handelt es sich nicht mehr um das Delikt „Tötung auf Verlangen“, sondern um den Tatbestand Mord oder Totschlag. Die Rechtsprechung kalkuliert auch Irrtümer des Täters ein; es handelt sich dann jedoch weiterhin um ein Delikt nach § 216 – allerdings nicht, wenn der Irrtum des Angeklagten fahrlässig war. Ob und wann der Irrtum des Angeklagten als fahrlässig bezeichnet werden kann, unterliegt wieder einmal der Interpretation. Eine große Rolle spielt der Grundsatz bzw. die auch als „Zweifelssatz“ bezeichnete Formulierung in dubio pro reo – was im deutschen Strafrecht soviel bedeutet wie: Im Zweifel für den Angeklagten. Von diesem Grundsatz des deutschen Strafrechts wurde im Falle von Armin Meiwes kein Gebrauch gemacht.
Es existieren zahlreiche unterschiedliche Definitionen von Serienmord, dies macht es notwendig, eine Definition vorzustellen, die sich an den Maßstäben des FBI, des Profilers und Kriminalpsychologen Dr. Thomas Müller und den Werken von Geberth (1995, 1996) orientiert. Unter Serienmord subsumieren sich mindestens zwei oder mehr Mordhandlungen meist einer einzelnen Person, seltener eines mörderisch agierenden Duos oder einer ganzen Familie – wie beispielsweise der Bean-Family oder der Pappenheimer-Familie. Serienmörder werden überproportional häufig in ihrer Kindheit schwer geschädigt, häufig durch sexuelle Gewalt. Im Vorfeld der Taten begehen auffällig viele serielle Mörder extreme Tierquälereien an einer unbestimmbaren Anzahl unterschiedlicher Tiere. Die Tatmuster bei Tieren und Menschen weisen deutliche Parallelen auf. Durch einen Serienmörder werden mehrere Morde verübt, die in der Regel einen zeitlichen Abstand von Wochen, Monaten oder Jahren aufweisen. Die Intervalle zwischen den Taten verkürzen sich im Laufe der Aktivitäten meist merklich. Im Vorfeld des ersten Mordes ist ein extremes Ereignis der Auslöser. Es kann sich um den Verlust einer Person, eine Trennung, den Arbeitsplatzverlust oder ähnlich einschneidende Ereignisse handeln. Die Situation wird von den Tätern als alternativlos und häufig zutiefst deprimierend empfunden.
Die Phasen zwischen den Morden werden als „Abkühlungsphasen“ bezeichnet. Ronald Holmes, der amerikanische Profiler und Professor für Strafrechtspflege, differenziert die Täter nach ihren Motiven und unterteilt sie in vier Kategorien. Sie bestehen aus dem visionären, dem missionarischen, dem hedonistischen und dem machtorientierten Typus. In seiner späteren Arbeit mit Stephen Holmes (1994) integrierte er auch Typologien für weibliche Serienmörderinnen. Das Modell des Tötungszyklus von Joel Norris (1990) ist das derzeit glaubwürdigste und differenzierteste Modell und besteht aus folgenden Phasen: Auraphase, Auswahlphase, Umwerbungsphase, Mordphase, Totemphase und die Phase der Niedergeschlagenheit.
Zum Serienmord zählt nicht der Amoklauf, in Folge dessen eine unbestimmte Anzahl an Personen getötet werden kann, und auch nicht der so genannte Spree-Mord, der in einem rauschhaften Zustand verübt wird und in der Regel mehrere Todesopfer – allerdings ohne entsprechende zeitliche Differenz – fordert. Serielle Tötungsdelikte weisen gelegentlich eine sadistische sexuelle Orientierung auf. Die sexuelle Komponente ist bei derartigen Delikten manchmal nicht „auf den ersten Blick“ zu erkennen, da atypischer Lustgewinn zum Beispiel aus dem Einstechen auf das Opfer gezogen wird und eindeutig sexuelle Handlungen z. T. nicht durchgeführt werden. Stichverletzungen gehörten beispielsweise zu den sexuellen Präferenzen von Peter Kürten, dem so genannten Vampir von Düsseldorf.
Der Modus Operandi und die Signatur der Täter bei seriellen Sexualmördern beinhalten Verhaltensvariablen und geben Hinweise auf zugrunde liegende Orientierungen, Motivationslage und Phantasien. Serienmorde unterscheiden sich erheblich von Einzeltaten, die in der Regel Beziehungstaten im Affekt sind. Einzelmörder können, da sie vorrangig dem direkten Umfeld des Opfers zuzuordnen sind, häufig verhältnismäßig zeitnah überführt werden. Serienmörder bleiben relativ lange unentdeckt, da sie dem Umfeld der Ermordeten sehr selten zuzuordnen sind. Aus diesem Grunde agieren sie manchmal über Jahre, selten über Jahrzehnte, bevor sie überführt werden können.
Der MO (Abkürzung für Modus Operandi) beschreibt das erlernte bzw. das angelernte Verhalten des Täters, das ihm Erfolg versprechend erscheint, den Rückzug aus der Situation ermöglicht und den Ermittlungsbehörden außerdem nichts bzw. möglichst wenig über seine Person mitteilt. Der MO beinhaltet alle Handlungen, die zur Tatbegehung notwendig sind. Täter lernen – wie andere Menschen auch – im Laufe der verübten Delikte und passen ihr Tatverhalten dem Erlernten an, um effektiver und möglichst ungestört kriminell agieren zu können. Durch die Modulation ihres Tatverhaltens können nur begrenzt sinnvolle Rückschlüsse auf die Persönlichkeit gezogen werden. Der Modus Operandi ist bewusst dynamisch, Abweichungen deuten somit auf bewusst vorgenommene Veränderungen hin. Die Interpretation der Daten gestaltet sich demnach schwierig.
Anders verhält es sich mit der Signatur – der Handschrift des Serienmörders. Die Signatur ist unbewusst dynamisch und spiegelt die Motive, spezifische Phantasien und Bedürfnisse des hochgradig Kriminellen. Sie zeigt, was der Täter tun muss, um seine Phantasien und Wünsche zu realisieren. Im Verlaufe der Taten können durch die Weiterentwicklung spezifischer Phantasien deutliche Abweichungen der Signatur eintreten, bestimmte Teilaspekte bleiben jedoch vorhanden. Die Taten können zunehmend extremer werden, es wird beispielsweise häufiger auf ein Opfer eingestochen oder postmortale Verstümmelungen, rituelle Handlungen sowie das Platzieren in sexuell degradierenden Haltungen werden grausamer und exzessiver durchgeführt. Insbesondere bei hochgradig sadistischen Tätern werden diese Abweichungen in ihren Handlungsbereichen deutlich. Generell muss bei der Analyse die Frage gestellt werden, welche Handlungen bei der Tat hätten unterlassen werden können, also an sich überflüssig waren, um das Opfer zu überwältigen, zu vergewaltigen und/oder zu töten.
Das Profiling-Verfahren soll das Tatverhalten auswerten und Aussagen über die psychische und soziale Situation des Täters geben, um so die Ermittlungsarbeiten zu optimieren. Jeder Mensch drückt durch sein Handeln Entscheidungen aus, die deutlich machen, welche Motivationen, Wünsche und Phantasien dahinterstehen – das gilt auch für den Serienmörder. Bis heute orientieren sich Kriminologen an der „Crime Scene Analysis“ bzw. des „Criminal Investigative Analysis“ des FBI. Dr. Thomas Müller war ein Schüler des FBI und versteht es wie kaum ein anderer, die Spuren der Tatorte zu entziffern und treffende Täterprofile3 zu erstellen. Das Täterprofil beinhaltet beispielsweise4 Angaben zum Geschlecht, Alter, Familienstand, Gewohnheiten, Beruf und Nachtatverhalten. Spezielle Datenanalysesysteme wie ViCLAS5 oder VICAP6 sollen die Ermittlungsbehörden in ihrer Arbeit unterstützen. Das ViCLAS-Datenbanksystem ermöglicht bzw. erleichtert das Erkennen von Serienstraftaten, insbesondere im Bereich der Sexualdelikte. Da der Zusammenhang serieller Tötungen mit Tierquälerei mittlerweile belegt wurde – auch die Forschungsergebnisse der Koryphäen des FBI, John Douglas und Robert Ressler7, wiesen darauf hin –, sollte man davon ausgehen können, dass das Analysesystem Fragen aus diesem Gebiet beinhaltet, das ist jedoch bis heute nicht der Fall. Diese Gesetzmäßigkeiten werden weder in die Analysesysteme noch angemessen in die Ermittlungsarbeit einbezogen.
Für das Profiling existieren weitere Begriffe wie beispielsweise die Fallanalyse, Operative Fallanalyse (OFA), Täterprofiling und Versionsbildung. Hinter den unterschiedlichen Begriffen verbergen sich bestimmte Schwerpunkte, außerdem weisen sie auf die verschiedenen Analysemethoden und Anwendungsbereiche der Verfahren hin. Allen gemein ist das Bestreben, Handlungen bzw. verschiedene Handlungskomplexe der Täter zu interpretieren und die Verbrechensaufklärung zu verbessern. Für sexuell motivierte Gewaltdelikte und Mordfälle orientiert man sich bis heute an der „Crime Scene Analysis“ des FBI.
Trotz stetig wachsender Erkenntnisse im Bereich des Profiling finden sich erstaunlicherweise im Anschluss an die Überführung und Inhaftierung von Serienmördern sehr selten qualitative Analysen der Persönlichkeitsentwicklungen. Das Forschungsinteresse scheint sich ab dem Zeitpunkt der Urteilssprechung zu reduzieren. Die mediale „Verarbeitung“ der Taten steht wiederum in keinem Verhältnis zu diesem Sachverhalt. Qualitative Persönlichkeits- und Tathergangsanalysen sind ein grundsätzliches und adäquates Mittel, präventiv Täterkarrieren zu verhindern. Die generelle Auseinandersetzung nicht nur mit den kriminellen Aspekten der Täter, sondern eine umfassende Begutachtung sämtlicher ermittelbarer, rückwirkend nachvollziehbarer Ereignisse aus dem Leben der Täter ermöglicht ein umfassenderes Verständnis delinquenter Entwicklungen und quasi die frühe Vermeidung von Verbrechen.
Bisherige Untersuchungen belegten, dass sich überproportional häufig grausame Ereignisse in der Kindheit und der Jugend von Serienvergewaltigern und Serienmördern nachweisen ließen; bei einigen Mördern8 fanden sich sogar Verletzungen des Gehirns. Die späteren Täter waren oftmals selbst Opfer verschiedenartiger Gewalt, es mangelte in frühen Phasen nicht nur an Emotionalität, Wärme und Verständnis, sondern häufig gehörten auch Schläge und sexuelle Misshandlungen zu ihrem Alltag.
Diese Verletzungen der Psyche bewirken grundsätzlich Veränderungen in der Entwicklung und der Herausbildung bestimmter Charaktereigenschaften. Der menschliche Werdegang wird nachhaltig beeinflusst, und mit großer Wahrscheinlichkeit sind diese sich ungünstig auf die Reifung des Menschen auswirkenden Ereignisse an der Entstehung devianter und gegebenenfalls krimineller Karrieren beteiligt. Glücklicherweise wird nicht jeder Mensch mit einer von Gewalt geprägten Kindheit zum Kriminellen, viele weitere Faktoren und Prozesse sind an dieser Entwicklung beteiligt und müssen ebenfalls beachtet werden. Wenn ein Kind jedoch massiv durch extremen sexuellen Missbrauch traumatisiert wird, möglicherweise mehrfach und über einen langen Zeitraum, übersteht es das nicht unbeschadet. Das ist sowohl in diesem Buch wie auch in meinem letzten Buch „Brieffreundschaft“ mit einem Serienmörder ein wichtiger Bestandteil.
Im weiteren Verlauf dieses Buches werden auch einige Ereignisse herausgearbeitet, die an der Entwicklung der kannibalistischen Phantasien von Armin Meiwes Anteil hatten und ihren Gipfel im Ableben des Axel F.9 fanden. Die beschriebenen Verletzungen der kindlichen Psyche führen zu gravierenden Veränderungen innerpsychischer Verarbeitungsprozesse, sogar zu einer Narbenbildung im Gehirn und zur Ausprägung von bestimmten Charaktereigenschaften. Sie machen den Menschen zwar nicht zwangsläufig zum Kriminellen – sie erhöhen jedoch das Risiko, ein Krimineller zu werden.
Wichtig ist außerdem, dass ein durch wiederholtes Erleben ausgelöstes Trauma die Nervenzellen der Opfer verändern kann. Die Folgen der Verletzungen der kindlichen Psyche machen sich auch in Veränderungen der Strukturen und Funktionen des Gehirns bemerkbar. Es werden unter Umständen auch Abspaltungsprozesse oder radikale Verdrängungen – bestimmte Formen der Amnesie – verursacht. Bedeutsam ist der Verlust von Selbsterlebtem in Bildern, von emotionalen Erinnerungen und von Rückschlägen. Psychotisches Erleben kann durch die Aktivierung bestimmter Gehirnbereiche – z. B. des für Akustik zuständigen Schläfenlappens – ausgelöst werden. Die Strukturen und Prozesse des Gehirns werden durch die Verletzungen also teilweise „anders aktiv“ und sind in einigen Funktionen eingeschränkt, geschädigt oder verändert. Es ist belegt, dass erfahrene Misshandlungen zu einer Narbenbildung im Gehirn führen und die Hormonausschüttungen bis ins Erwachsenenalter beeinflussen. Durch bestimmte Ereignisse entstehen in der Kindheit und Jugend also lebenslang schädigende Traumatisierungen bzw. Verletzungen der menschlichen Psyche. Mitgefühl ist diesen schwer geschädigten Menschen übrigens häufig völlig fremd. Gut und wichtig für die menschliche Entwicklung ist im Allgemeinen eine intakte, liebevolle Bindung an die primären Bezugspersonen und ein funktionierendes, schützendes Umfeld.
Psychologisch und kriminologisch fundiert ist die Möglichkeit der Entwicklung vom Opfer zum Täter. Beispielsweise wiederholt ein Gewaltopfer das Erlebte fast exakt10 und „befreit“ sich durch die Schädigung anderer Menschen oder Tiere von diesen Opfererfahrungen. Häufig sind die ersten Opfer Tiere, später sind es dann oft Menschen. Das macht es verständlich, warum Tatmuster bei Tierquälereien, Tiertötungen und späteren menschlichen Opfern ähnlich sind. Im Buch „Brieffreundschaft“ mit einem Serienmörder zitierte ich aus den Briefen des Serienmörders, den ich ebenfalls Axel F. nenne. Der Name „Axel F.“ wird von mir mit dem englischsprachigen „John Doe11“ gleichgesetzt. Der Täter quälte erst Tiere und verging sich dann an Leichen, bevor er Menschen grausam tötete. Der Modus Operandi und die Signatur des Serienmörders zeigten insbesondere im Falle von Axel F. bei Menschen und Tieren weitgehende Übereinstimmungen. Auch von Großmann ist bekannt, dass er sodomistische Akte verübte, Tiere quälte und tötete – seine Tatmuster waren bei Tieren und Menschen ebenfalls ähnlich. Der Schritt vom tierischen zum menschlichen Opfer ist für die Täter klein. Tierquälerei ist also mehr als ein Warnsignal. Die Tierrechtsorganisation PETA12 klärt u. a. über diese Deliktsbereiche auf. Das Kind oder der Jugendliche fühlt sich durch die Handlungen am Tier gut und mächtig, erstmalig erlebt er Kontrolle über eine von Gewalt erfüllte Situation und ist endlich nicht mehr das Opfer – sondern Täter.
Neurobiologische und interdisziplinäre Forschungen erhärten diese Aussagen und bestätigen erneut die Ergebnisse des FBI. Die erlittene Gewalt wird später von einigen Tätern – nicht aber von allen – reinszeniert, d. h. wiederholt. Vereinfacht bedeutet dies, dass der Mörder oder Serienmörder durch seine Tathandlung das Erlebte widerspiegelt und uns unbewusst viel über seine Vergangenheit und Entwicklung verrät. Für die Prävention und die Aufklärung ungelöster Verbrechen ist das Reinszenierungsverhalten der Täter von großer Bedeutung.
Freud beschrieb diesen Wiederholungsmechanismus bereits 1926 und machte deutlich, dass unerwünschte Ereignisse durch ihre Wiederholung vernichtet werden.
Eines der größten Tabuthemen der Menschheit ist mit Sicherheit – damals wie heute – der Kannibalismus. Der Begriff geht ursprünglich auf die Ureinwohner der Westindischen Inseln zurück. Kolumbus erwähnte im Jahre 1492, dass die Bewohner der Insel Hispaniola in schrecklicher Angst vor den „Caniba“ lebten. Hiermit waren die Einwohner der Nachbarinsel gemeint. Die Überlieferungen, die den Kannibalismus betreffen, reichen zeitlich betrachtet sogar noch weiter zurück. Die Azteken sollen jährlich ungefähr 15.000 Menschen geopfert und anschließend zum Teil verzehrt haben, hierbei handelte es sich primär um Fruchtbarkeitsrituale. Von Montezuma wurde berichtet, dass er männliche Kinder bzw. Körperteile von ihnen im Anschluss an pädosexuelle Praktiken verspeiste. Möglicherweise können Montezuma somit nicht nur pädosexuelle, sondern auch sadistische und kannibalistische Vorlieben nachgesagt werden.
Kannibalismus existiert in den unterschiedlichsten Formen und findet sich in zahlreichen Mythen und Märchen, wie „Hänsel und Gretel“, oder in medialen Darstellungen, wie „Robinson Crusoe“. Eine neuzeitliche und exzessive Aufarbeitung der Thematik findet sich in den zahlreichen „Zombiefilmen“, die den Markt regelrecht überschwemmt haben und nach wie vor ein großes Publikum in ihren Bann ziehen. Der rituelle Kannibalismus schließlich begegnet uns vielfach in religiösen Zusammenhängen und kommt hier beispielhaft zum Ausdruck:
Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm. Wie mich gesandt hat der lebendige Vater und ich lebe um des Vaters Willen, so wird auch, wer mich isset, leben um meinetwillen. Dies ist das Brot, das vom Himmel gekommen ist. Nicht, wie die Väter haben gegessen und sind gestorben: wer dies Brot isset, der wird leben in Ewigkeit.
(Johannes 6, 56–58)
Der rituelle bzw. symbolische Akt des Verzehrens von Menschenfleisch ist auch aus anderen Zusammenhängen bekannt. Kopfjäger und Kannibalen verzehrten die Körper oder bestimmte Körperteile bzw. Organe besiegter Feinde, im Glauben, sich so deren Kräfte einzuverleiben. Verbrecher aus vergangenen Jahrhunderten verleibten sich ebenfalls gelegentlich Körperteile und Organe ihrer Opfer ein, da sie fest daran glaubten, dass ihnen durch die Einverleibung wichtige Zauberkräfte verliehen würden und sie beispielsweise in Gefahrensituationen unsichtbar wären. In der Geschichte von Michael Horn über die Pappenheimer-Familie wird ebenfalls auf diesen teilweise sehr grausamen und für viele Menschen tödlichen Aberglauben eingegangen.
Profaner Kannibalismus unterscheidet sich von den genannten Formen durch die Motivlage der kannibalistisch agierenden Menschen. Der Akt des Verzehrens menschlichen Fleisches findet statt, um in Extremsituationen überleben zu können. Hierfür lassen sich einige Beispiele nennen:
- Von 1618 bis 1648 – im Dreißigjährigen Krieg – kam es zum Hungerkannibalismus. Die Anzahl der Menschen, die sich durch kannibalistische Akte am Leben erhielten, kann nicht mit Genauigkeit bestimmt werden.
-1942 kämpften 160.000 auf Papua-Neuginea stationierte Japaner gegen die Alliierten. Als die Versorgung der Japaner mit Nahrungsmitteln versagte, wurden gefallene Australier und später feindliche Soldaten geschlachtet und verzehrt, um das eigene Überleben zu sichern.
- Während der Belagerung der Deutschen von St. Petersburg, zwischen 1941 und 1944, herrschte ebenfalls eine große Hungersnot, die insgesamt 1,1 Millionen Menschen das Leben kostete. Auch Kannibalismus spielte damals als Todesursache eine nicht geringe Rolle.
-1972 kam es zu einem dramatischen Flugzeugabsturz in den chilenischen Anden. Von den 45 Passagieren starb bereits ein Dutzend beim Absturz, fünf weitere erlagen in der ersten Nacht ihren Verletzungen. Nach acht Tagen wurde die Suche nach dem Flugzeug eingestellt. Die Überlebenden des Flugs 571 litten nicht nur unter den extremen Wetterbedingungen – es herrschten Temperaturen von bis zu – 40 Grad –, sie hatten innerhalb kürzester Zeit die mageren Vorräte, die aus nicht viel mehr als Schokolade und Wein bestanden, aufgebraucht. Sie begannen Zahnpasta zu verspeisen und tranken ihr Rasierwasser. Auch diese Vorräte waren begrenzt. Nach wenigen Tagen begannen sie Schnee und Eis von den Körpern der Verstorbenen zu entfernen und ernährten sich in ihrer ausweglos erscheinenden Situation vom Fleisch ihrer verstorbenen Freunde. Sie schilderten diese Ereignisse, insbesondere die Akte des Zerlegens ihrer Freunde, noch Jahre später mit großer Trauer und Schmerz. Es wurde deutlich, dass diese schrecklichen Ereignisse für sie noch nach vielen Jahren eine extrem traumatische und nach wie vor sehr belastende Situation darstellten.
In offensichtlich seltener Ausprägung existierte ebenfalls der so genannte medizinische Kannibalismus. Im alten Rom wurde die Epilepsie durch das Trinken von Gladiatorenblut behandelt, und bis in das 18. Jahrhundert hinein waren Blut wie auch Körperteile Hingerichteter begehrt, um daraus Medizin herzustellen.
Aus folgender kurzer Aufzählung einiger13 bekannt gewordener Fälle lässt sich ableiten, dass Kannibalismus an sich – auch der kriminelle Kannibalismus – keine Seltenheit in der menschlichen Geschichte darstellt. Die Anthropophagie14 findet sich außerdem immer wieder – und in den furchtbarsten Ausprägungen – bei den grausamsten Serienmördern mit besonders vielen Opfern.
Im Folgenden wird lediglich eine Auswahl an Kannibalen vorgestellt. Zwei aus völlig unterschiedlichen Gründen „besondere“ Fälle, werden im Anschluss ausführlicher erläutert.
-Fritz Haarmann: Der 1879 in Hannover geborene Haarmann wurde im Dezember 1924 wegen 24-fachen Mordes zum Tode verurteilt. Der homosexuell orientierte Haarmann quälte und tötete zuerst zahlreiche Tiere, bis er im weiteren Verlauf seiner kriminellen Karriere entsprechend seiner devianten sexuellen Präferenzen männliche Kinder und junge Männer ermordete. Wegen zahlreicher anderer krimineller Delikte, wie beispielsweise Diebstahl und Hehlerei, wurde er siebzehn Mal verurteilt.
Aus seiner Kindheit ist bekannt, dass Haarmanns Vater ausgesprochen autoritär und gewalttätig gewesen war und ihn wegen seiner Enkopresis15 wiederholt und auch im Beisein anderer Personen demütigte.
Die Mutter agierte eher gegensätzlich: Sie verwöhnte ihren Sohn und gab keine klaren Regeln und Grenzen vor. Die Erziehungsstile der Eltern waren mehr als konträr und wirkten insgesamt eher willkürlich statt stabilisierend auf den Heranwachsenden, die Familienatmosphäre muss als pathologisch bezeichnet werden.
Die Mutter wurde von Haarmann sein Leben lang idealisiert, während er seinen Hass auf den Vater immer wieder deutlich machte. Ähnliche Verhältnisse wurden in Bezug auf Carl Großmann und sein Elternhaus bekannt. Haarmann wurde – wie der Serienmörder Großmann – als unterdurchschnittlich intelligent eingestuft und litt unter einer ausgeprägten Rechenschwäche. Seine Begabungen lagen, ähnlich wie bei Großmann, in anderen Teilbereichen. Er verfügte über sehr ausgeprägte schauspielerische Fähigkeiten, eine exzellente Beobachtungsgabe und teilweise auch hervorragende Merkfähigkeit. Sein Auffassungsvermögen und seine Anpassungsfähigkeit in unterschiedlichsten Situationen waren überdurchschnittlich. In Kombination mit seiner extremen Grausamkeit, einem absoluten Mangel an Empathie und einem so gut wie nicht vorhandenen moralischen Bewusstsein bzw. Empfinden wirkte sich die Konstellation seiner antisozialen Persönlichkeitseigenschaften furchtbar auf seine Opfer aus.
Bei Haarmann lag zweifelsfrei eine gravierende psychische Problematik in Form einer Persönlichkeitsstörung mit einer dominanten Sexualproblematik zugrunde, bekannt waren auch paranoide Zustände. Damals wurde vielfach auf eine Störung hingewiesen, es handelte sich um eine meist in der Jugend einsetzende Schizophrenie, außerdem litt er unter epileptischen Anfällen. Nach seinem Tode wurde festgestellt, dass das Gehirn durch eine Meningitis degenerativen Prozessen unterworfen war. Hier werden Parallelen zu Großmann deutlich, der auch eine ausgeprägte Persönlichkeitsstörung aufwies und dessen Vater außerdem unter epileptischen Anfällen litt. Wie Haarmann hatte sich Großmann die Geschlechtskrankheit Syphilis zugezogen. Dieses ist insofern relevant, als dass diese Erkrankung das ZNS (Zentrales Nervensystem) befallen kann. Die Persönlichkeitsentwicklung und die zahlreichen delinquenten Handlungen sind möglicherweise neben den traumatischen Ereignissen in der Kindheit und Jugend zum Teil auf die Epilepsie, die Psychose und auch die Erkrankung des ZNS zurückzuführen. Mit ursächlich für die deviante und schließlich delinquente Entwicklung Haarmanns waren möglicherweise neben den genannten Bedingungen das kontinuierlich traumatisierend wirkende Elternhaus und der sich über einen langen Zeitraum wiederholende sexuelle Missbrauch durch einen älteren Bruder. Eine Mehrzahl der Serienmörder wurde in der Kindheit und der Jugend sexuell missbraucht.
Im Laufe der Jahre wurde Haarmann gefährlicher und gewalttätiger. Im Erwachsenenalter schlachtete und weidete Haarmann seine Opfer aus und verschenkte die Leichenteile als normales, für den Verzehr geeignetes, angeblich tierisches Fleisch. Die Frage, ob er selbst vom Fleisch seiner Opfer aß, wurde nicht geklärt. Bekannt ist allerdings, dass bei Haarmann eine sadistische Präferenzstörung vorlag und die sexuelle Erregung während der Tötung ausschlaggebend für seine grausamen Taten war.
-Joachim Kroll: Die Taten des am 17. April 1933 in Hindenburg/Oberschlesien geborenen Kroll, der in der Nachkriegszeit sein mörderisches Unwesen trieb, gehörte neben den Fällen Großmann und Haarmann zweifellos zu den Extremfällen der deutschen Geschichte. Joachim Kroll wurde mit Urteil vom 8. April 1982 des Mordes in acht Fällen und des versuchten Mordes für schuldig befunden.
Kroll wurde als sechstes von insgesamt zehn Kindern geboren. Die älteste Schwester verstarb kurz nach der Geburt, eine weitere Schwester – Elisabeth – starb 1945 an Typhus. Der Vater von Kroll war als Bergarbeiter und später als Kokereiarbeiter tätig und verstarb 1957 in Bottrop. Die Mutter verstarb bereits 1955, ebenfalls in Bottrop.
Wie Haarmann und Großmann fiel auch er in der Schule durch Leistungsversagen auf, seine Intelligenz wurde ebenfalls als unterdurchschnittlich interpretiert, bestimmte Teilbereiche dürften jedoch überdurchschnittlich ausgeprägt gewesen sein. Wie bei den eben genannten Serienmördern und mutmaßlichen Kannibalen dominierte in der Entwicklung von Joachim Kroll die pathologische Familienatmosphäre. Eine angemessene Sozialisation durch das primäre Umfeld fand nicht statt, traumatische Ereignisse wirkten bereits in der Kindheit kontinuierlich auf ihn ein und beeinflussten seine Entwicklung negativ. Die Sozialisierung und Codierung seines kindlichen Gehirns unterlag primär den konservativ-destruktiven Einflüssen des gewalttätigen Vaters. Der sadistische Serienmörder Kroll fiel frühzeitig – wie die Mehrzahl von Serienmördern16 – durch extreme Tierquälereien auf. Bereits im Alter von 15–16 Jahren benutzte er vorwiegend Kühe zur Befriedigung seiner pathologischen Sexualpräferenzen.
Verdeutlicht wird dieser Aspekt durch exemplarische Auszüge aus dem Gerichtsurteil17:
Nachdem er zuvor beobachtet hatte, wie eine Kuh von einem Bullen gedeckt wurde, begab er sich wenig später allein in den Stall und spielte mit der Hand am Geschlechtsteil einer auf dem Boden liegenden Kuh. Dabei geriet der Angeklagte in sexuelle Erregung. Als das Tier den Schwanz hob, führte er seinen Penis bei der Kuh ein und bewegte den Unterkörper bis zum Samenerguß hin und her. Weil ihn dieses Erlebnis mehr befriedigte als die Masturbation und das Tier den Kontakt geduldet hatte, nahm er derartige sodomitische Akte in der Folgezeit vielfach vor. Sie führten bei ihm stets zur geschlechtlichen Befriedigung.