Seth & Eli: Geh mit mir - Cardeno C. - E-Book

Seth & Eli: Geh mit mir E-Book

Cardeno C.

4,5

Beschreibung

Als Eli Block seinen Kindheitsschwarm im Wohnzimmer seiner Eltern sitzen sieht, versucht er auf schamlose Weise, den jungen Rabbi zu verführen. Leider jedoch erinnert Seth Cohen sich kaum an ihn und blockt von vornherein alle Annäherungsversuche ab. Es entwickelt sich eine erst zarte und dann immer engere Freundschaft zwischen den beiden Männern. Eli muss einen Weg finden, um über seine unerwiderte Liebe hinwegzukommen und gleichzeitig seinen besten Freund in seinem Leben zu halten – was gar nicht so einfach ist, wenn es sich dabei um ein und dieselbe Person handelt. Der professionelle, anständige Seth ist schockiert über Elis Aufdringlichkeit und dessen Trotzhaltung gegenüber gesellschaftlichen Normen. Dennoch fühlt er sich zu dem fröhlichen Mann auch hingezogen. In den Jahren, in denen sich ihre Freundschaft vertieft, erlebt er mit, wie Eli zu einem Mann heranreift, den er bewundert und respektiert. Seth beginnt, sich nach dem zu sehnen, was Eli ihm so einfach angeboten hatte, und muss sich entscheiden, ob er seinen sicheren Lebensplan für eine gemeinsame Zukunft mit Eli über den Haufen wirft. Ein Titel der Home Storys Reihe.

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Cardeno C.

Seth & Eli

Geh mit mir

Ein Titel der Home Storys Reihe

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2018

http://www.deadsoft.de

© the author

Titel der Originalausgabe: Walk with me

Home Stories Vol. 7

2. veränderte Auflage

Übersetzung: Elian Mayes

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© Tony – stock.adobe.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-269-4

Inhalt

Als Eli Block seinen Kindheitsschwarm im Wohnzimmer seiner Eltern sitzen sieht, versucht er auf schamlose Weise, den jungen Rabbi zu verführen. Leider jedoch erinnert Seth Cohen sich kaum an ihn und blockt von vornherein alle Annäherungsversuche ab. Es entwickelt sich eine erst zarte und dann immer engere Freundschaft zwischen den beiden Männern. Eli muss einen Weg finden, um über seine unerwiderte Liebe hinwegzukommen und gleichzeitig seinen besten Freund in seinem Leben zu halten – was gar nicht so einfach ist, wenn es sich dabei um ein und dieselbe Person handelt.

Kapitel 1

Gewähre uns ein langes Leben.

Ein Leben voller Frieden.

Ein Leben voller Güte.

Ein Leben voller Gnade.

Ein Leben voller Stärke und Gesundheit.

Ein Leben voller Gottesfurcht.

Ein Leben frei von Tadel und Schande.

Ein Leben voller Liebe für die Tora.

Ein Leben, in welchem all unser Sehnen nach Güte erfüllt wird.

Judith und Tobias Robert

und

Lawrence und Natalie Hines

laden euch ein, dem Bündnis ihrer Kinder Lauren und Gregg am Sonntag, den 17. Juni 2001 beizuwohnen.

Seth Cohen

Siebenundzwanzig. So alt war ich, als wir uns trafen. Damals bedeutete es noch etwas, jemanden zu treffen. Nein. Das war, als es für mich noch etwas bedeutete, jemanden zu treffen. Aber egal. Das wird sich schon noch klären.

Der Punkt ist, dass ich damals dachte, ich wäre hetero. Wenn man sagt, dass man bis [hier beliebiges Ereignis eintragen] dachte, man ist hetero, ist typischerweise die erste Frage: »Wie alt warst du, als das passiert ist?«, meist gepaart mir einem Hauch von »wie konntest du nicht wissen, dass du schwul bist?«. Eigentlich eine gute Frage. Mir scheint nämlich, dass die meisten das wissen, bevor sie in ihren späten Zwanzigern sind. Für mich jedoch war Eli Block der erste Kerl, der jemals meine Aufmerksamkeit fesselte. Nicht der Erste, der sie auf sich gezogen hat, nein, das nicht. Aber der erste, der sie einfing und festhielt. Frauen hatten meine Aufmerksamkeit übrigens auch nie so lange.

Ich hatte Hormone, so wie jeder andere auch, und wenn ich im Nachhinein darüber nachdenke, hatte ich mich schon früher mal nach dem einen oder anderen Mann umgedreht. Ebenso allerdings nach Frauen und deswegen hatte ich immer angenommen, dass es einfach nichts bedeutete. Zumindest wäre es das gewesen, was ich angenommen hätte, wenn ich jemals damit aufgehört hätte, all das zu analysieren. Romantische Verwicklungen standen nie sehr weit oben auf meiner Prioritätenliste. Also genau genommen standen sie überhaupt nicht darauf. Bis zu diesem Zeitpunkt lag mein ganzer Fokus auf der Schule und dem Tempelleben.

Ich hatte Freundinnen – eine in der Highschool, eine am College, eine während der zwei Jahre, die ich wegen meiner Rabbinerausbildung in Israel verbrachte. Aber obwohl jede dieser Beziehungen für mehrere Jahre hielt, war keine von ihnen ernst. Zumindest nicht, wenn ernst bedeutet, dass man an nichts anderes denken kann.

Ich war also ein ernster Kerl, der sich niemals ernsthaft in jemanden verliebt hatte. Und dann tauchte Eli auf.

Er hielt ein Skateboard.

Sein Haar war zu lang.

Seine Jeans waren zu figurbetont.

Sein Shirt war nicht existent.

Er war der Sohn meines Chefs.

Er war viel zu jung.

Und er war er.

Also ignorierte ich das Offensichtliche. Na ja, ich versuchte es. Es stellte sich allerdings heraus, dass es unmöglich war, irgendetwas zu ignorieren, das mit Eli Block zu tun hatte. Zumindest für mich. Trotzdem dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis ich verstand, was meine Gefühle für ihn bedeuteten und wie selten sie waren. Und wie wichtig.

***

»Rabbi Block, Ich möchte Ihnen noch mal dafür danken, dass Sie mir diese Möglichkeit geben«, sagte ich und streckte ihm meine Hand hin. »Ich freue mich wirklich darauf, der Gemeinde beizutreten und von Ihnen ausgebildet zu werden.«

Er schüttelte meine Hand und tätschelte meine Schulter, bevor er mich in das Wohnzimmer geleitete. »Wir sind nun Kollegen, Seth. Du kannst mich Avi nennen. Und wenn ich bedenke, wie gut du deinen Abschluss am HUC gemacht hast, bezweifle ich, dass du besonders viel Ausbildung benötigen wirst.«

Ich war damals in die Fußstapfen meines Vaters und meines älteren Bruders Jed getreten und hatte mich am Hebrew Union College eingeschrieben, um Rabbi zu werden. Obwohl die beiden in Kalifornien lebten, war die Gemeinde klein genug, dass Avi meinen Vater recht gut kannte. Er hatte sogar meinen Bruder schon einige Male getroffen und das, obwohl Jed erst seit fünf Jahren im Rabbinat war.

»Vergiss nicht seine Jugendarbeit«, sagte die Frau des Rabbis und kam näher. »Die Leute am Camp Ahava wurden ziemlich trübselig, als du wegen des College zu beschäftigt warst, um für sie zu arbeiten.«

Ich senkte meinen Kopf und spürte, wie meine Wangen warm wurden. »Hi, Mrs. Block. Es ist schön, Sie zu sehen.«

»Du kannst mich Meredith nennen, Seth.« Sie küsste meine Wange und wischte dann die Reste ihres Lippenstifts weg. »Setz dich.« Sie neigte den Kopf Richtung Sofa.

Ich ließ mich auf eines der Kissen nieder. Meredith setzte sich neben mich, während Avi es sich in einem der Sessel gegenüber bequem machte.

»Wie geht es deiner Mutter?«, fragte Meredith.

»Es geht ihr gut. Ich soll euch von ihr grüßen.«

»Ich werde sie später mal anrufen.« Meredith nickte. »Ich sage ihr, wie gut du aussiehst und dass wir alles dafür tun werden, dass du dich hier wohlfühlst.«

Dieser Anruf war nicht nötig. Nicht, weil ich ein erwachsener Mann war und schon lange nicht mehr bei meinen Eltern lebte, sondern weil ich so gut wie jeden Tag mit meiner Mutter sprach. Einmal war ich während der Prüfungsphase etwa eine Woche lang zu beschäftigt gewesen, um sie zurückzurufen. Als ich es dann endlich tat, beantwortete sie den Anruf mit einem knappen »Ich bin tot«. Ich habe niemals wieder so lange mit dem Anruf gewartet. Das war das Schuldgefühl einfach nicht wert.

»Danke, Mrs. Bl…« Sie hob eine Augenbraue und ich schaffte es gerade noch, mich zu korrigieren. »Meredith.«

Sie tätschelte mir die Schulter und wandte sich an ihren Mann. »Was für Aufgaben hast du für Seth an seinem ersten Tag?«

»Wir reden jetzt etwas und morgen werden wir–«

»Mom!«

Meredith erhob sich und Avi drehte sich zur Tür.

»Mom!«

»Hier, Eli!«, rief Meredith zurück.

Laute, schnelle Schritte erklangen gemeinsam mit einem »Was gibt’s zum Abendessen? Ich verhung–«

Die Worte erstarben in dem Moment, als Eli Block durch die Tür trat. Quietschend kam er zum Stehen. Wortwörtlich. Seine Schuhe quietschten auf dem Holzboden. Er hielt ein Skateboard in seiner rechten Hand und schlug mit der linken gegen die Wand. Vermutlich, damit er nicht umfiel.

Sein Haar hing ihm ins Gesicht. Es war braun, wie meins, im Gegensatz zu meinem lockigen jedoch glatt. Als er die Hand hob, um den Vorhang aus Haaren beiseite zu wischen, bemerkte ich noch einen anderen Unterschied: Seine Augen waren grün, nicht wie meine langweilig braun – und sie waren groß. Für einen Augenblick stockte mir der Atem und ich musste mich selbst daran erinnern, weiterzuatmen.

»Seth«, stieß er aus, seine Stimme überraschend tief für jemanden, der so jung aussah. Nicht wegen seiner Größe – er war vermutlich nur ein wenig kleiner als meine 1,77 –, sondern wegen seiner haarlosen Brust (die ich sehen konnte, weil er kein Shirt trug) und seinen dünnen Beinen (was ich daher wusste, weil seine Jeans unfassbar eng war). Am meisten jedoch war es wegen seines Gesichts: diese großen Augen, die rosigen Wangen, die perfekte, samtene, elfenbeinfarbene Haut …

Wunderschön. Das war der Gedanke, der mir durch den Kopf schoss. Er kam so plötzlich und stark, dass ich nicht verhindern konnte, dass er sich festsetzte. Also wand ich mich unbehaglich auf meinem Platz, fragte mich, ob Avi und Meredith die unpassenden, lüsternen Gedanken erahnen würden, die ich gegenüber ihrem Sohn hegte.

»Eli«, sagte Meredith und streckte den Arm nach ihm aus. »Du erinnerst dich doch sicher an Seth Cohen vom Camp Ahava, nicht wahr?«

Elis Blick haftete auf mir. Ohne seine Mutter anzusehen, antwortete er: »Ob ich mich an ihn erinnere?« Er ließ sein Skateboard los und es fiel zu Boden. »Ich träume immer noch von ihm.«

Mir fiel die Kinnlade herunter, mein Blut wich aus meinem Gesicht und mein Kopf ruckte zu Avi. Ich erwartete, ihn wütend oder schockiert zu sehen, aber stattdessen hielt er sein PDA in der Hand und tippte auf die Schlüssel.

»Eli«, seufzte Meredith. »Beschäm Seth doch nicht so. Er ist gerade erst angekommen.«

»Das mach ich doch gar nicht«, gab Eli zurück und schritt in meine Richtung. »Wenn ich ihn beschämen wollte, würde ich erzählen, um welche Art von Träumen es sich dabei handelt.«

Plötzlich hatte ich das Gefühl, halb zu ersticken. Ein merkwürdiges Geräusch entkam mir, dann schnappte ich nach Luft.

»Eli!«, fuhr Meredith ihren Sohn an. Es war schon beeindruckend, wie sie nur seinen Namen sagte und es zugleich nach so viel mehr klang.

»Was, Mom?« Er sah über seine Schulter zu ihr, kam mir aber weiterhin näher. »Ich hab nicht gesagt, dass es schmutzige Träume waren.« Er wandte sich erneut mir zu, fing meinen Blick mit seinem ein. »Das waren sie aber.«

Ich hustete. Mein Hirn schwamm, versuchte zu verarbeiten, was gerade abging, und ich beugte mich nach vorne, um zu Atem zu kommen.

»Ich habe nicht … Wir haben nicht …« Ich bekam nicht genug Sauerstoff in mein Hirn, um den Satz zu beenden. Da war nur eine vage Erinnerung an einen jungen Eli Block in dem Sommercamp, in dem ich gearbeitet hatte. Da war ich jedoch seit fünf Jahren nicht mehr gewesen und ich konnte mich an keinerlei bedeutende Interaktionen mit ihm erinnern. Erst recht an keine, die der Stoff für irgendwelche Träume gewesen sein könnten.

»Eli!«, schnauzte Avi, der endlich von seinem PDA aufsah. »Du kannst so etwas doch nicht zu Seth sagen. Er ist zum Arbeiten hier, nicht um sich mit deinen Kindheitsschwärmereien zu befassen. Du bist inzwischen achtzehn, also benimm dich auch wie ein Erwachsener.« Er sah zu mir. »Ignorier ihn einfach, Seth. Er ist ein Einzelkind und wir haben ihn zu sehr verwöhnt …« Seufzend schüttelte er den Kopf. Dann schlang er seine Arme um die Knie und sah mich eindringlich an. »Morgen haben wir die Hochzeit von zwei Mitgliedern der Gemeinde hier. Ich werde dich offiziell vorstellen und du kannst zusehen und vielleicht auch einige Leute treffen. Die Braut ist …«

Es war unmöglich, seinen Worten zu folgen. Zum einen war ich verwirrt über Elis schamlose, unverblümte Kommentare und die nonchalante Reaktion seiner Eltern. Außerdem hatte er mich endlich erreicht und setzte sich ausgerechnet direkt neben mich. Das hieß, dass ich von ihm in der Ecke eingequetscht wurde. So sehr, dass sein Oberschenkel sich an mich presste. Er saß etwas gedreht, sah mich direkt an. Ich konnte ihn riechen, so nah war er. Ein bisschen nach Schweiß, aber nicht unangenehm. Ich legte meine Hände in den Schoß, um zu verstecken, wie wenig unangenehm.

»Ich hab Bilder von dir«, sagte Eli leise. Als ich nicht antwortete, wurde er genauer. »Ich hab jedes Mal welche gemacht, wenn sich die Gelegenheit ergab, aber sie sind nie besonders gut geworden.«

»Eli, komm, hilf mir in der Küche«, sagte Meredith.

Er ignorierte sie und schaffte es irgendwie, mir noch näher zu kommen. »Du bist sogar noch heißer als früher«, sagte er wehmütig und seufzte laut.

Ich musste ziemlich versteinert aussehen, denn Avi runzelte die Stirn und deutete nachdrücklich Richtung Küche. »Geh!«

»Aber …«

»Eli Solomon Block! Ich sage dir, du wirst es sehr bereuen, wenn du Seth von hier vergraulst, nachdem die Gemeinde beinahe ein Jahr gebraucht hat, um ihn hierher zu bekommen. Hast du mich verstanden?«

Eli murmelte etwas Unverständliches.

»Nun geh und hilf deiner Mutter in der Küche oder geh duschen oder schlag deinen Kopf gegen die Wand, wenn es hilft. Aber was auch immer du tust, halt dich fern von Seth. Deinetwegen fühlt er sich unwohl.«

»Ich seh dich beim Abendessen«, sagte Eli in einem Tonfall, der wohl verführerisch klingen sollte. Es kam nicht besonders sexy an, dafür aber niedlich, süß und witzig, was irgendwie doch die ultimative Verführung war. Er legte die Hand auf mein Knie, drückte es kurz, strich meinen Oberschenkel hinauf und …«

»Eli!«, brüllte Avi.

»Ich geh duschen.« Eli sprang auf die Füße und legte seine Hand an den Knopf seiner Jeans. Er fixierte mich und leckte sich über die Lippen, während er seine Hose öffnete.

Ich sah panisch zu Avi.

»Hast du den Verstand verloren?«, schrie dieser seinen Sohn an. »Ganz abgesehen davon, wie lächerlich du aussiehst und wie unwohl sich Seth deinetwegen fühlt, sitze ich immer noch hier!«

Eli sah kurz zu ihm, dann wieder zu mir. Er grinste zweideutig, bevor er hüftschwingend den Raum verließ.

Avi schüttelte den Kopf und stieß geräuschvoll den Atem aus. Ich dagegen war wie gelähmt vor Schreck oder Angst – oder beidem.

»Das tut mir sehr leid, Seth«, sagte Avi. »Sicher erinnerst du dich, wie man sich mit achtzehn fühlt. Eli ist voll mit Hormonen und abgesehen davon, dass die seinen Verstand vernebeln, macht er seine Mutter und mich damit wahnsinnig. Er hat offenbar damals im Sommercamp einen Narren an dir gefressen, was er übrigens jeden Tag erwähnt hat, seit ich ihm erzählt habe, dass du zu uns kommst.«

»Ich habe nicht … Ich …« Ich nahm einen tiefen Atemzug und wischte mir die Hände an meiner Hose ab. »Ich erinnere mich nur vage an ihn.«

Avi zuckte mit den Schultern. »Es scheint, dass du Eindruck hinterlassen hast, ohne es zu wissen. Er war jung und voller Hormone …« Er schüttelte den Kopf. »Scheint nach wie vor ein Thema zu sein.« Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Na ja, es könnte schlimmer sein. Ich schätze, wenn mein Sohn schon so auf jemanden fixiert ist, dann besser auf einen Mann wie dich und nicht auf irgendeinen tätowierten und gepiercten Biker.« Avi machte eine Pause und sah mich abschätzend an. »Du hast doch keine Tattoos oder Piercings, oder?«

Darüber machte er sich Gedanken? Dass sein Sohn auf einen Mann stand, war ihm egal? Die schockierenden, aufreizenden Anspielungen waren ihm egal? Nur der Gedanke an Tattoos und Piercings ging ihm unter die Haut?

Diesen letzten Gedanken fand ich irgendwie witzig, denn Tattoos und Piercings gehen normalerweise tatsächlich unter die Haut, und ich musste lachen. Avi runzelte die Stirn und sah mich misstrauisch an. Ich räusperte mich und unterdrückte ein Grinsen.

»Nein, Sir. Ich habe keine Tattoos oder Piercings. Und wenn ich mich jemals auf ein Motorrad setzen würde, würde meine Mutter wohl plötzlich aus der Luft auftauchen und dafür sorgen, dass ich den Tag meiner Geburt bereue. Das war immerhin eine 22-stündige Geburt, ohne Medikamente, während eines Sommers mit kaputter Klimaanlage.«

Avi schmunzelte. »Gut zu wissen.«

»Stört es …« Ich befeuchtete meine Lippen. »Stört es dich?« Mit einem Kopfnicken deutete ich in die Richtung, in die Eli verschwunden war.

Avi blinzelte. »Was soll mich stören?«, fragte er. Bevor ich antworten konnte, fügte er hinzu: »Jeder Mensch ist geschaffen als Gottes Ebenbild und Er macht keine Fehler.« Er machte eine Pause. »Stimmt das?«

Ich nickte heftig. »Ja, natürlich. Aber das meinte ich nicht. Nur war er … Eli war wirklich …«

Avi seufzte. »Eli ist achtzehn. Er denkt neunzig Prozent der Zeit mit dem falschen Teil seines Körpers. Aber auch Sexualität ist Teil des Menschseins und ich würde nicht wollen, dass mein Sohn ohne sie lebt. Er wird sich in ein paar Jahren schon beruhigen.« Nun sah er mich an, wollte mir wohl die Gelegenheit geben, zu antworten, aber ich konnte dem nichts mehr hinzufügen. »Okay, lass uns über die Hochzeit morgen sprechen, bevor Eli zurückkommt – mit nichts am Leib als einem Handtuch, das er dann aus Versehen fallen lässt.«

Ich hoffte sehr, dass er nicht mitbekam, wie ich schlucken musste.

***

Ich hatte seit der Highschool einige Jobs gehabt – Betreuer im Sommercamp, Jugendgruppenleiter, Laufbursche –, aber begleitender Rabbi im Tempel Beth Shalom war meine erste Position, bei der ich hoffte, sie für den Rest meines Lebens behalten zu können. Entsprechend nervös war ich. Um einen guten Eindruck auf die Gemeinde zu machen und zu verhindern, dass sie meine Einstellung bereute, wollte ich so hart arbeiten wie nur möglich. Ich hatte ein kleines, möbliertes Ein-Zimmer-Apartment gemietet, das nur ein paar Minuten Fußweg von meiner Arbeit entfernt lag, aber ich verbrachte kaum Zeit dort. Ich stolperte abends bloß in mein Bett, wachte wieder auf, duschte und ging wieder zur Arbeit.

Ich war neu in Emile City und daher kannte ich niemanden, außer dem Kerl aus meiner Jugendgruppe in L.A., der ebenfalls hierher gezogen war. Und Micah Trains war ein Workaholic, der seine Arbeit kaum zum Atmen zu unterbrechen schien, geschweige denn, um andere Menschen zu treffen. Ich hatte also ohnehin nicht viel anderes zu tun, als all meine Zeit im Tempel zu verbringen. Außerdem liebte ich meinen Job.

»Du bist spät hier.«

Erschrocken sprang ich von meinem Sitz auf und ruckte mit dem Kopf zur Tür, versuchte trotz meiner müden Augen, etwas zu erkennen.

»Eli«, sagte ich nervös. Wieder trug er extrem eng sitzende Jeans, schwarz diesmal, und das rote Shirt, das er dazu trug, lag eng an seiner schmalen Brust an. Es zeigte die schlanken Muskeln seiner Arme. Ich ließ meinen Blick über seinen Körper wandern, bevor ich realisierte, was ich da gerade tat. Als ich meine Fassung wiederhatte, wich ich zurück, bis ich mit dem Rücken an der Wand stand. »Was tust du hier?« Ich sah zur Uhr auf meinem Schreibtisch. Es war schon nach zehn. »Solltest du nicht zu Hause im Bett sein?«

»Ist das ein Angebot?«, fragte er und lehnte sich gegen den Türrahmen.

Wieder einmal war ich sprachlos. Ich wusste nicht, wie ich auf ihn reagieren sollte. Oder eher verstand ich meine Reaktion auf ihn nicht.

»Ich meinte nicht … ähm …«

Er schlenderte hinüber zu meinem leeren Schreibtischstuhl und setzte sich. Seine Position war entspannt, er spreizte die Beine und strich mit seinen Fingern von seiner Hüfte aus nach innen, richtete meine Aufmerksamkeit dorthin, wo sie ganz sicher nicht sein sollte.

»Darf ich dich was fragen?«

Das konnte definitiv nichts Gutes sein, also antwortete ich nicht darauf und stellte stattdessen eine Gegenfrage: »Es ist wirklich spät. Wissen deine Eltern, dass du hier bist?«

Eli runzelte die Stirn und kreuzte die Arme über der Brust. »Es ist nicht spät. Und davon abgesehen muss ich meinen Eltern nicht ständig sagen, wo ich bin. Ich bin erwachsen.«

»Erwachsene müssen anderen normalerweise nicht sagen, dass sie erwachsen sind«, bemerkte ich.

Er schürzte frustriert die Lippen. Seine untere schob sich dabei etwas vor. Sie war voll und rot und ich wollte daran saugen. Sofort kniff ich die Augen zusammen, um diesen unpassenden Gedanken zu vertreiben.

»Ich bin hier, weil ich dich was fragen wollte. Wenn ich tagsüber versuche, mit dir zu reden, stehen immer eine Million Leute um dich herum oder du musst zu einem Meeting.«

Sofort fühlte ich mich schuldig. Ich hatte Eli in den letzten Wochen einige Male gesehen. Und immer hatte er versucht, meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, bis ich mich hinter irgendwem versteckte oder in meiner Arbeit vergrub, um ihm aus dem Weg zu gehen. Wenn seine offensive Flirterei der Grund dafür gewesen wäre, hätte ich eine gute Entschuldigung gehabt. Tief in mir wusste ich jedoch, dass meine Unbehaglichkeit von meiner Reaktion auf ihn herrührte und nicht von dem, was er sagte oder tat. Es war ihm gegenüber nicht fair.

Ich atmete tief durch und fragte: »Wie kann ich dir helfen?«

Die Worte waren noch nicht ganz aus meinem Mund, da sagte er: »Du bist nicht hetero, oder? Ich meine, sie sagten im Camp zwar, dass du eine Freundin hast, aber ich wusste, dass sie unrecht hatten. Und selbst, wenn es damals so war, bist du trotzdem nicht hetero, oder? Ich weiß es einfach. Stimmt’s?«

Instinktiv wollte ich sagen, dass ich hetero war. Aber er stellte diese Frage mit Verzweiflung in der Stimme und zugleich Hoffnung in seinen Augen, sodass der stärkere Instinkt in mir ihn einfach nur festhalten und an mich pressen wollte, um seinen Duft einzuatmen. Und daran war überhaupt nichts hetero. Zweifelsohne war ich ziemlich verwirrt über meine eigenen Gefühle. Allerdings würde so oder so niemals etwas zwischen mir und Eli passieren, ganz egal, was ich fühlte, und das musste ich ihm klarmachen.

»Eli, mein Liebesleben ist kein angemessenes Thema, um darüber zu reden«, sagte ich und versuchte dabei streng zu klingen.

»Ach, komm schon!« Er verdrehte die Augen. »Hör auf, so zu tun, als wärst du ein alter Mann. Wir sind praktisch gleich alt.«

»Das sind wir nicht. Ich bin neun Jahre älter als du.« Ich hatte das wieder und wieder durchgerechnet, in der Hoffnung, zu einem anderen Schluss zu kommen. »Und ich arbeite für deinen Vater. Das ›Ach, komm schon‹ und die persönlichen Fragen sind unangemessen. Das muss aufhören.«

Er sackte in seinem Stuhl zusammen, ließ die Arme fallen und sagte nichts. Ich ging also davon aus, dass ich meinen Standpunkt klargemacht hätte und dass er mich von nun an mit verlockenden Blicken und Posen verschonen würde. Doch stattdessen sah er mich plötzlich an und sagte: »Nein.«

»Nein?« Diese Antwort hatte ich nicht erwartet.

»Ja«, sagte er. »Ich meine, ja, ich habe nein gesagt.«

Nun war ich verwirrt. »Du bist achtzehn. Ich bin siebenundzwanzig. Das ist ein Unterschied von neun Jahren. Das ist Fakt.«

»Das meine ich nicht.« Er rollte die Augen.

Ich hatte vollkommen die Kontrolle über dieses Gespräch verloren. Genau genommen war ich nicht einmal sicher, ob ich sie je gehabt hatte. »Was meinst du denn dann?«

»Ich meine, dass meine Gefühle nicht unangemessen sind oder was auch immer du gesagt hast.« Er setzte sich gerade hin und verschränkte wieder die Arme. »Meine Eltern haben mir beigebracht, dass meine Gefühle etwas Natürliches und Gesundes sind und dass ich mich nicht dafür schämen muss.« Seine Lippen wurden zu einem schmalen Strich, ich konnte ihm die Frustration geradezu ansehen. »Du kannst meinen Vater fragen, wenn du mir nicht glaubst.«

Mit diesem Kommentar hatte er sich selbst ins Aus geschossen, wenn er mich davon überzeugen wollte, dass er mit achtzehn alt genug war, um mich zu daten. Wer so etwas sagte, war wohl eher noch ein Kind als ein Erwachsener. Vollkommen egal, wie erwachsen sein Körper aussah.

»Ich habe nicht gesagt, dass irgendetwas mit dir nicht stimmt oder du dich dafür schämen sollst«, versicherte ich ihm und versuchte dabei sanft zu klingen.

»Aber du hast gesagt, es ist … unangemessen.«

Nun nagte er an seiner Lippe, blinzelte mehrmals und schniefte. Ihn zu verletzen, war das Letzte, was ich beabsichtigte, aber ich konnte ihm nicht geben, was er wollte.

»Es ist unpassend wegen meiner Rolle hier. Weil ich für deinen Vater arbeite, weil du zu jung für mich bist, weil deine Freunde im Camp recht hatten, als sie sagten, dass ich eine Freundin hätte. Aber vor allem …«, ich nahm einen tiefen Atemzug, »… ist es unangemessen, weil ich dir gesagt habe, dass ich nicht interessiert bin.«

Der Glanz in seinen Augen wechselte von traurig zu wütend. »Wenn du es nicht bist, wird es irgendein anderer sein.«

»Was meinst du damit?«

»Ich werde in einem Monat aufs College gehen. Ich werde nicht für immer Jungfrau sein.«

»Ich … Was?« Ich konnte dem Gespräch nicht länger folgen.

»Ich meine, dass ich es sowieso tun werde. Also musst du nicht so nobel sein und mich abweisen.«

Schon wieder ein Grund, warum ich niemals etwas mit ihm anfangen würde, aber das sagte ich ihm nicht. Denn obwohl Eli so oder so nichts für mich war, hatte er in einer Sache recht: Er war kein Kind mehr und in der Lage, seine eigenen Entscheidungen zu treffen.

»Ich hoffe, du überlegst dir das nochmal anders«, sagte ich.

»Du glaubst, ich sollte für immer Jungfrau bleiben?«, spottete er.

Ich lächelte sanft. »Nein, ich denke nur, dass Sex und Liebe zusammen gehören und dass wir kein wahres Glück oder Befriedigung erlangen, wenn wir versuchen, so viele Kerben wie möglich auf unseren Bettpfosten zu sammeln.«

Eli hob eine Augenbraue und musterte mich ungläubig. »Du bist nicht verheiratet.« Er nickte mit dem Kinn in die Richtung meiner linken Hand, an der sich kein Ring befand. »Nach deiner Theorie hattest du also niemals Sex. Ist es echt das, was du mir hier zu verklickern versuchst?«

In der Highschool hatte ich eine Freundin gehabt, aber wir waren niemals so weit gekommen, uns nackt zu sehen. Weiter war ich mit dem Mädel gegangen, mit dem ich am College zusammen gewesen war. Wir beide hatten in Schlafsälen in Schwestern- oder Bruderschaftshäusern gelebt, daher war Zweisamkeit selten gewesen. Es hatte aber die ein oder andere unvergessliche Nacht gegeben, in der wir uns ein Bett geteilt und innig gekuschelt hatten. Die längste Beziehung hatte ich während der Rabbiner-Schule gehabt. Sie dauerte zwei Jahre und mit dieser Frau hatte ich das erste Mal richtig Sex. Wir hatten uns geliebt, aber es war nicht die Art von Liebe, auf der man eine Ehe aufbaute. Sie hatte den Kerl geheiratet, mit dem sie nach mir zusammen gewesen war, und sie waren sehr glücklich. Zuletzt hatte ich gehört, dass sie ein Baby erwarteten.

»Ich versuche nicht, dich von irgendwas zu überzeugen«, sagte ich. »Ich sage dir nur, was meine Meinung ist. Ich weiß, dass du aufs College gehst und glaubst, irgendeine Art Linie übertreten zu müssen, aber das stimmt nicht. Sex, Liebe und Emotionen gehen immer zusammen. Dein Körper hat ein Gehirn und ein Herz.« Ich macht eine Pause und sah ihm in die Augen. »Ich hoffe, du vergisst das nicht, wenn du dich auf dein unteres Organ fokussierst.«

Eli verließ schmollend mein Büro und wir redeten danach nicht mehr viel miteinander. Ich war mit meiner Arbeit beschäftigt und er damit, sich auf seinen Umzug zum College vorzubereiten. Und obwohl ich noch immer merkte, dass er mich anstarrte, und obwohl wir das ein oder andere gemeinsame Abendessen bei seinen Eltern hatten, flirtete er bei Weitem nicht mehr so aggressiv.

Keiner von uns kam noch einmal auf das Gespräch zurück, das wir bezüglich seiner Collegepläne geführt hatten. Ich vermutete, dass ich zu ihm durchgedrungen war, aber ich hatte nicht den Mut, das zu überprüfen. Es dauerte auch nicht lange, bis ich diese Schwäche bereute.

Kapitel 2

Tanze, als ob niemand zusieht.

Singe, als ob niemand zuhört.

Und lebe jeden Tag, als wäre er dein letzter.

Adrienne Wolf und Bruce Linder laden Euch ein, an ihrer Hochzeitszeremonie teilzunehmen, mit der sie den Kreis ihrer Freunde und Familie vergrößern.

Wir hoffen, dass alle auf ihren Füßen bleiben.

22. Dezember 2001 um 17:30

Seth Cohen

»Hey.«

Ich sah von der Tanzfläche auf und war überrascht, Eli Block neben mir stehen zu sehen. Er war noch immer schlank, aber hatte ein klein wenig zugelegt, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte, und sein Gesicht war etwas weniger rund, sodass seine Kinnpartie markanter wirkte. Wenn ich gedacht hatte, dass Distanz meine Reaktion auf ihn verändern würde, so bewies mein Starren nun das Gegenteil.

»Eli! Hi!« Ich stand auf und hielt ihm die Hand hin. »Warst du während der Trauung auch da? Ich habe dich gar nicht gesehen.«

Was bedeutete, dass er nicht dagewesen war. Selbst unter 250 anwesenden Menschen, vor denen ich zum ersten Mal allein und nervös eine Zeremonie abhielt, hätte ich Eli mit Sicherheit bemerkt.

»Nein, war ich nicht.« Er nahm meine Hand, zog mich näher und wisperte beschwörend. »Genau genommen bin ich nicht einmal eingeladen. Ich bin einfach so gekommen.«

»Einfach so?«, fragte ich und versuchte so zu tun, als hätte mein Herz nicht begonnen, schneller zu schlagen, sobald er mich berührt hatte.

»Na ja.« Eli leckte sich die Lippen. Sie waren so rot. »Ich bin mit Adriennes jüngerer Schwester Sabrina befreundet und sie hat ein paar von uns eingeladen, rüberzukommen und den Rest an Essen und Alkohol zu vernichten.«

Es war schwer, sich auf irgendetwas zu konzentrieren, weil er so nah stand und mich direkt ansah. Er hatte die wunderschönsten Augen. Sie erinnerten mich an frisch gemähtes Gras.

»Du bist zu jung zum Trinken.«

Noch während ich das sagte, wurde mir klar, wie lächerlich das klang. Das hier war eine Hochzeit, keine Wohnheimparty. Und davon abgesehen hatte er vermutlich das ganze letzte halbe Jahr auf solchen verbracht. Während meiner eigenen Collegezeit war ich beinahe der Einzige gewesen, der um neun Uhr abends im Schlafsaal gewesen war. Mein Notendurchschnitt war mir immer wichtiger gewesen als mein soziales Leben, aber so, wie ich Elis extrovertierte Persönlichkeit einschätzte, bezweifelte ich, dass das bei ihm auch so war.

»Es war klar, dass du so etwas sagst«, meinte er mit einem Schmunzeln und einem leichten Kopfschütteln. Ich war überrascht, dass er mich nicht anfuhr oder mit den Augen rollte. Scheißegal, wie die Umstände waren, Eli hatte diese Art, die mich immer aus dem Konzept brachte. »Aber mach dir keine Sorgen. Ich glaub, es ist sowieso nicht mehr so viel Alkohol übrig. Die Trauzeugen und Brautjungfern sind über die Bar ja geradezu hergefallen.«

Ich drehte mich wieder Richtung Tanzfläche und nickte. »Sieht wohl so aus. Jemand sollte sie aufhalten, bevor sie sich noch selbst verletzen.«

Die Braut und der Bräutigam tanzten glücklich, sangen und lachten. Sie standen noch immer aufrecht, und das ganz ohne zu schwanken. Das konnte dagegen nicht von zwei Trauzeugen behauptet werden, die auf ihren Stühlen hingen und wirkten, als könnten sie nicht einmal ihre Köpfe heben. Die anderen beiden Trauzeugen versuchten gerade, mit einer der Brautjungfern zu tanzen, aber es sah eher aus, als würden sie sich gegenseitig auf den Beinen halten. Zwei andere Brautjungfern lagen sich in den Armen, die Augen geschlossen, den Kopf jeweils auf der Schulter der anderen. Sie schwankten ein wenig. Es hätte süß und romantisch sein können, aber der DJ spielte gerade »YMCA« und immer wieder versuchte eine oder beide von ihnen, die Arme zu heben, um sie dann doch bloß wieder fallenzulassen. Damit sahen sie aus wie Aufziehmännchen, deren Batterien sich dem Ende neigten.

Aber nichts davon war vergleichbar mit der letzten Brautjungfer. Sie johlte, fuchtelte mit den Armen herum, sodass ihr trägerloses Kleid gefährlich tief rutschte, und rieb sich an jedem, der ihr zu nahe kam. Die Tanzbewegungen waren schmutzig genug, um die anderen Gäste nervös werden zu lassen, sodass sich ein leerer Raum um sie bildete. Wenn sie versuchte, sich einem der anderen Tanzenden zu nähern, bewegte sich dieser unsichtbare Schild mit ihr.

»Wirst du sie fragen, ob sie mit dir tanzt?«, fragte Eli angespannt. »Du kannst deine Augen gar nicht von ihr lassen.«

»Nein!«, antwortete ich, erschrocken bei der Vorstellung. Danach bemerkte ich, wie unhöflich das geklungen haben musste, und setzte eilig hinterher: »Ich … ähm … Tanzen ist nicht so mein Ding.«

Eli ließ seinen Blick von meinem Gesicht über meinen Körper wandern und wieder zurück, blähte seine Nasenflügel, als er bei meinen Augen angekommen war. »Das bezweifle ich«, sagte er rau, nahm sich den Stuhl neben mir und schob ihn näher heran. »Ich wette, du weißt dich zu bewegen.«

Im Gegensatz zu seinen bisherigen Flirtereien klang er dabei dieses Mal nicht dreist. Und ich konnte nicht umhin, zu bemerken, dass sein Lächeln nicht mehr so unbeschwert war, wie ich es in Erinnerung hatte. Ein Hauch von Traurigkeit lag in seinen Augen.

»Willst du darüber reden?«, fragte ich. Vielleicht öffnete ich damit eine Tür zu noch mehr Reaktionen wie »Ernsthaft, Mann?«, aber es war das Risiko wert, wenn ich etwas tun konnte, um die Unbeschwertheit zurückzubringen, die Eli ausgestrahlt hatte.

Er öffnete seinen Mund, schloss ihn aber sogleich wieder und seufzte. »Nicht wirklich.« Er legte seine Hände auf dem Tisch ab, verflocht seine Finger und ließ die Knöchel knacken.

Ich wünschte, er würde mit mir teilen, was ihn so belastete. Aber warum hätte er das tun sollen? Seit dem Moment unseres ersten Treffens hatte ich ihn entweder ignoriert, ihn von mir gestoßen, ihn belehrt oder sogar alles auf einmal. Ich spürte stechende Reue darüber, was ich möglicherweise verloren hatte. Elis freudiger Geist war selten und verlockend. Der Gedanke daran, dass er verschwunden sein könnte, schmerzte in meiner Brust.

»Ich bin jedenfalls hier, wenn du deine Meinung änderst.« Ich legte meine Hand auf seine und bemerkte sofort, wie warm und weich seine Haut war.

»Danke.« Er sah hinunter auf meine Hand, schloss seine Augen und lächelte. »Also … meine Mom sagt, dass all diese Single-Frauen hier sich ein Bein ausreißen, um deine Aufmerksamkeit zu kriegen.«

Meine Wangen wurden heiß. »Davon weiß ich nichts.«

»Es gibt eine Wette darüber, wer von ihnen dich ins Bett kriegt.«

Ich schüttelte den Kopf und winkte ab. »Deine Mutter übertreibt.«

»Nein, tut sie nicht«, sagte Eli bestimmt. »Das ist wortwörtlich gemeint. Ich hab die Tabelle gesehen.«

Meine Kinnlade klappte nach unten. Langsam hob ich meinen Kopf und starrte ihn an.

»Ernsthaft«, sagte er mit einem Schmunzeln. »Sabrina hat sie mir geschickt.«

Ich öffnete meinen Mund, aber bekam kein Wort heraus. Hitze kroch mir den Hals hinauf. »Ich …« Ich schluckte und zwang mich, ihm in die Augen zu sehen. »Ich gehe nicht mit Mitgliedern der Gemeinde aus. Das wäre unangebracht.«

Ich log nicht einmal, denn mit jemandem aus der Gemeinde auszugehen, war eine schlechte Idee. Zum einen redeten die Leute miteinander und wenn ich mit einem von ihnen eine Beziehung einging, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass  etwas über mein Privatleben herauskommen würde. Außerdem war der Schritt von einer Freundin zu einer Ex-Freundin manchmal sehr klein und verletzte Gefühle ließen Menschen irrational werden. Wut und Missgunst waren nicht das, was ich in unserem Tempel haben wollte. Abgesehen davon war es ja nicht so, als ob ich ein großes Opfer brächte. Nach sechs Monaten in dieser Position hatte ich noch niemanden getroffen, mit dem ich mir mehr hätte vorstellen können.

»Ich weiß«, stimmte er zu. »Nicht wegen diesem ›unangemessen‹-Unsinn. Das ist ein Haufen Sch…« Er stoppte, räusperte sich und fuhr fort: »Nicht weil es ›unangemessen‹ wäre, sondern weil du mit niemandem zusammen bist. Denn die Spalte darüber ist in der Tabelle leer.« Er machte eine Pause und dämpfte seine Stimme. »Das bedeutet, dass du dich entweder mit jemandem triffst, der nicht zu diesem Tempel gehört, und es schaffst, das vor jedem geheim zu halten, oder es bedeutet, dass du noch immer Single bist.«

»Ich bin gerade erst hergezogen«, verteidigte ich mich und fragte mich dann, warum ich das Gefühl hatte, meine Dating-Gewohnheiten – oder eher Nicht-Gewohnheiten – überhaupt vor Eli rechtfertigen zu müssen.

»Du bist vor einem halben Jahr hergezogen. Menschen haben schon in kürzerer Zeit geheiratet.«

»Nicht ohne eine Schrotflinte im Rücken«, versuchte ich, die Atmosphäre etwas zu lockern.

»Klar.« Eli lachte. »Das wäre dann die übereilte Variante. Aber es ist nicht übereilt, sich mal zu einem Abendessen zu treffen. Also, woran hakt’s?«

Abgesehen von meiner Mutter hatte sich bisher niemand so für mein Liebesleben interessiert. Normalerweise wäre ich von Elis Aufdringlichkeit genervt gewesen, aber ich wusste, dass mehr hinter seiner Frage steckte. Ich konnte die Hoffnung sehen, die in seinen Augen schimmerte. Jedoch waren all die Gründe, wegen derer ich ihn im Sommer abgewiesen hatte, noch immer unverändert. Selbst wenn ich mich also mit ihm hätte treffen wollen, wäre es ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Und ich wollte mich auch gar nicht mit ihm treffen. Da war ich mir sicher. Na ja, ziemlich sicher.

»Ich bin sehr beschäftigt in meinem Job. Ich bin noch immer dabei, alle Mitglieder der Gemeinde kennenzulernen, und die wächst auch noch wie verrückt. Außerdem möchte ich einen Sozialausschuss und eine Havurah aufbauen. Letztere ist momentan nicht aktiv, aber ich glaube wirklich, dass es dabei hilft, einen Gemeinschaftssinn zu entwickeln, wenn Menschen in kleinen Gruppen sinnvolle Netzwerke gründen. Es wird sie näher zusammenbringen und ein Band zum Tempel als Ganzes etablieren.«

»Eine nette Rede.« Eli nickte feierlich. »Und das ist sicherlich ein Haufen Gründe.«

Obwohl er ernst klang, bemerkte ich, dass er stichelte. »Das sind gute Gründe«, betonte ich.

Er nickte noch einmal, sein Ausdruck dabei unverändert. »Das ist sicherlich ein Haufen guter Gründe.«

Ich sah ihn argwöhnisch an. Es war klar, dass da mehr in seinen Worten steckte.

Nach einigen Augenblicken der Stille bog er einen Mundwinkel nach oben und sagte: »Ich meine, mit allem, was du so zu tun hast, ist es sicher nicht so, dass du Zeit hast zu essen oder mal einen Film zu schauen. Oder ein bisschen auf der Couch zu liegen, während du einen Film guckst und nachdem du gegessen hast.«

»Ha ha«, machte ich trocken und schnaubte amüsiert, obwohl der Witz auf meine Kosten ging. Ich konnte es nicht ändern, ich mochte seine sarkastische Art. Ich mochte, wie es seine ohnehin schon großen Augen noch größer wirken ließ, wenn er versuchte, unschuldig auszusehen. Ich mochte es, ihn lächeln zu sehen. Es fiel mir schwer, mich auf das Gespräch zu konzentrieren, aber ich rettete mich irgendwie. »Ich hab schon einmal versucht, dir das zu erklären, erinnerst du dich? In einer Beziehung ist es mir wichtig, eine Verbindung zu spüren und zu glauben, dass es eine gemeinsame Zukunft geben könnte.«

»Und in einem halben Jahr hast du keine einzige Fra… Person getroffen, auf die diese Beschreibung passt?«, fragte er ungläubig.

Ich zuckte mit den Schultern. »Nein, hab ich nicht. Ich bin nicht daran interessiert, mit jemandem auszugehen, nur um mit jemandem auszugehen. Ich kann auch allein oder mit Freunden Filme sehen und essen gehen.«

Er hob eine Augenbraue. »Was ist mit Knutschen und so? Machst du das auch mit Freunden?«

»Eli«, sagte ich warnend.

»Was?«, gab er zurück – schon wieder mit diesen unschuldigen, großen Augen. »Wir sind einfach zwei Freunde, die zusammen abhängen. Freunde, die über Sport reden und über Frauen und so, richtig?« Er schlug sich mit der Faust gegen die Brust und packte sich dann in den Schritt.

Das alles wirkte so gestellt und unnatürlich, dass ich in lautes Gelächter ausbrach. »Heißt das, dass du mir alles über dein Fantasy-Basketball-Team verraten wirst und über die Leute, mit denen du ausgehst?«

»Meine Fantasien haben nichts mit Basketball zu tun«, spottete er. Dann senkte er den Blick, biss sich auf die Unterlippe und murmelte: »Und genau genommen müsste ich erst mit jemandem ausgehen, um dir davon erzählen zu können.«

»Warum gehst du denn mit niemandem aus?«

Er öffnete seinen Mund, schloss ihn dann wieder und schüttelte den Kopf. »Darüber will ich nicht reden.«

Plötzlich wollte ich nichts anderes mehr, als mit ihm darüber zu reden, was ihn bedrückte. Und über die Schule, seine Freunde, den Unterricht oder … Ich wollte einfach mit ihm reden.

»Bist du sicher?«, fragte ich. »Ich bin ein guter Zuhörer.«

Er sah mir in die Augen und ich konnte ihm ansehen, dass er versuchte, sich zu entscheiden. Eine Welle der Enttäuschung schwappte über mich, als er sagte: »Nein, danke.«

»Okay … also … wenn du es dir anders überle–«

»Oh Scheiße!« Eli schnappte nach Luft.

»Was?«

Er deutete über meine Schulter. »Sollte sie das tun?«

Ich drehte meinen Kopf und sah hinter mich. Die Brautjungfer, die allein getanzt hatte, hatte es wohl aufgegeben, einen Partner finden zu wollen, und klammerte sich an einen der Pfosten, die das Zelt hielten, unter dem wir uns befanden.

»Ich weiß nicht, wie stabil diese Pfosten sind«, sagte ich und stand auf.

Eli besah sich den Pfosten und die Frau, die sich daran festhielt, sich mit all ihrem Körpergewicht zurücklehnte und Kreise drehte. »Na ja, immerhin halten sie das Zelt, also sollten sie recht stark sein.«

»Ja, aber das ist kein befestigtes Zelt. Die Pfosten stehen also nur auf dem Gras und stecken nicht in der Erde.« Genau in diesem Moment sprang die Frau in die Luft und begann mit einem Stripper-Wirbel. »Wenn sie zu stark daran reißt, könnte der Pfosten umfallen. Ich werde mal rübergehen und …«

Der Pfosten kippte, die Frau hing daran, und beide kippten ins Gras. Der Rest meines Satzes wurde von den Schreien verschluckt, als das Zelt zusammenstürzte und alle unter sich begrub, inklusive Braut und Bräutigam. Der schwere Stoff fiel zusammen mit den Lichterketten auf uns hinab und alles wurde schwarz.

»Sind alle unverletzt?«, fragte ich, meine Worte klangen dumpf.

»Seth?« Eli klang angestrengt. »Seth?« Angestrengt und panisch.

»Ich bin hier«, sagte ich und versuchte, zu ihm zu rutschen. »Geht’s dir gut?«

»Mein Knöchel tut weh. Richtig weh.«

»Kannst du ihn sehen?«, fragte ich, bemüht, beruhigend für ihn zu klingen, obwohl mein Magen sich umdrehte, als er sagte, dass er Schmerzen hatte.

»Ich kann mich nicht bewegen«, sagte er und ächzte. »Etwas liegt auf mir.«

»Ich komme.« Ich zog mich vorwärts über Melamin-Platten, Glas und umgekippte Stühle. »Ich bin fast da.«

»Okay«, keuchte er.

Etwas Großes und Hartes stoppte mich auf meinem Weg. Ich blinzelte und dann realisierte ich, dass ich auf die Oberseite eines Tisches starrte. Er lag auf der Seite.

»Eli?«

»Ja.«

Er klang so nah. Ich fuhr mit der Hand über den Tisch und an seiner Seite entlang. Als ich die Kante fast erreicht hatte, sah ich ihn. Er war unter dem Tisch eingeklemmt. Zwei der Tischbeine lagen über seiner Brust und einer der metallenen Stützbalken des Zelts hatte seinen Knöchel unter sich begraben.

Ich holte tief Luft, erinnerte mich daran, dass es niemandem half, emotional zu werden, und rutschte so nah zu dem Balken, wie ich konnte. »Irgendwas ist ja immer mit dir«, versuchte ich zu scherzen.

»Ja«, meinte er und gab ein Geräusch von sich, das entfernt an ein Lachen erinnerte. »Das ist meine neue Masche, um Kerle aufzureißen: Unter Dingen eingeklemmt werden, sodass sie Mitleid mit mir haben.«