Sex bitte nur in der Suite - Carsten K. Rath - E-Book + Hörbuch

Sex bitte nur in der Suite E-Book

Carsten K. Rath

4,7

Beschreibung

12 Hotels. 12 Storys. 12 Meilensteine eines 5 Sterne-Lebens. Alles für ein Ziel: den besten Service der Welt. Carsten K. Rath nimmt seine Leser mit auf eine heitere und manchmal irrwitzige Weltreise hinter die Kulissen der Haute Hotellerie. Der Junge aus der rheinischen Provinz fing als Terrassenkellner auf der untersten Stufe der Hierarchie an und kämpfte sich bis nach ganz oben durch. Von Nelson Mandela über Margaret Thatcher und Helmut Kohl bis hin zur ersten Liga der Hollywood- und Musikstars der letzten Jahrzehnte: Carsten K. Rath hat ihnen allen ein Dach über dem Kopf gegeben. Gespeist aus über 25 Jahren Erfahrung in den besten Hotels der Welt auf vier Kontinenten erzählt der »Rockstar der Grand Hotellerie« kuriose und amüsante Geschichten mit Lerneffekt, die das Hotelleben schreibt vom Schwarzwald bis nach Peking.

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Carsten K. Rath

Sex bitte nur in der Suite

Aus dem Leben eines Grand Hoteliers

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Kathrin Keienburg-Rees

Umschlagmotiv:© Christian Bordzio

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-80342-0

ISBN (Buch) 978-3-451-32959-3

Die zum Teil autobiografischen Geschichten in diesem Buch sind aus meiner Erinnerung erzählt. Wie es mit Erinnerungen so ist, stellen sie oft eine Melange aus den tatsächlichen Abläufen und Zuspitzungen dar, die sich im Laufe der Zeit beim Erzählen in die Erinnerungen einschleichen.

Einige Namen, Orte und Abläufe in den Geschichten wurden allerdings gezielt von mir verändert. Diese Änderungen dienen dem Schutz und der Sicherheit beziehungsweise der Privatsphäre beteiligter Personen und des Autors.

Inhalt

Vorwort von Professor Nico Hofmann

1 | HinterzartenIm Land der Kuckucksuhren

2 | FrankfurtKleine Lichter leuchten wärmer

3 | JohannesburgDie Welt ist bunt

4 | KapstadtPrinzessin auf dem heißen Stuhl

5 | PekingUnd täglich droht der Gesichtsverlust

6 | DresdenSchweine und Diamanten

7 | BerlinAm Puls einer Legende

8 | LondonEs ist nicht alles Gold, was glänzt

9 | NaplesMoral vs. Freiheit

10 | CelleAuf steinernem Boden wachsen keine Tulpen

11 | Robinsons Inseln There’s No Business Like Show Business

12 | MUC, CPT, PMI Das Herz eines Unternehmers

An die Hoteliers der Zukunft

Dank

Nachwort von Frank Marrenbach

Vorwort

Das Hotel ist die Bühne des Lebens – große Emotionen, überwältigende Dramen und ein Blick in die Seele des Menschen zwischen Eitelkeiten, Sein und Schein – all das macht die Faszination der Hotellerie vor und hinter den Kulissen aus.

In Deutschland gibt es kaum jemand Besseren als Carsten Rath, der einen großen Teil seines beruflichen Lebens ganz mit der Leidenschaft des Hoteliers wirkt und nicht nur den präzisen Blick auf die eigene Mannschaftsaufstellung und auf die eigenen Gäste hat, sondern auf kluge Weise auch ein visionärer Unternehmer geworden ist. Carsten Raths Buch ist eine wunderbare Reise geworden, und für alle Hotelbegeisterten, die sich für das große Ganze – also sowohl für den Gast als auch für den Betrieb hinter den Kulissen – interessieren, ist die Lektüre geradezu ein Muss.

Carsten Rath kann mit seiner ganzen Berufs- und Lebenserfahrung punkten: zu unterschiedlich die Stationen, die Länder, die Gäste, die Sitten – Rath hat das alles, hat die ganze Welt erlebt und diesen großen Kosmos zwischen Service, Gastfreundschaft und der Introspektion in die Seele seiner Kundschaft zu einem klugen Leseerlebnis zusammengefasst.

Aber Carsten Rath bleibt bei der reinen Schilderung und der aufregenden Reportage seines Berufslebens nicht stehen. Es sind die Lebensweisheiten, die moralischen Fallhöhen und ein kluger Diskurs, was Gastfreundschaft, Teamfähigkeit, Authentizität und klarer Umgang mit Diskretion und Moral eigentlich für uns im Leben bedeuten. Hier weist die Lektüre weit über ihr eigenes Sujet hinaus und es kommt nicht von ungefähr, dass Carsten Rath mittlerweile als Personal Coach und mentaler Sparringspartner auf Augenhöhe mit Größen aus Kultur und Wirtschaft unterwegs ist.

Es ist ein außerordentliches Lebensmodell für den heute 48-Jährigen geworden, in dem sich scheinbar mühelos jahrzehntelange Lebens- und Berufserfahrung aus der Hotellerie mit einer ganz eigenen neu gefundenen Lebensphilosophie verbindet.

Carsten Raths Buch ist nicht nur ein schönes Leseerlebnis über die weltweite Hotellerie, es ist auch ein kluger Lebensratgeber in Sachen Dynamik und wie sich das Leben mit uns verändert – und wie wir es ganz eigenständig verändern können.

Professor Nico Hofmann

1 | Hinterzarten Im Land der Kuckucksuhren

Professionalität ohne Herzlichkeit ist Arroganz

Die Seele des Kuckucks

Der Kuckuck in der Schwarzwälder Uhr ist ein verhinderter Rockstar. Gebaut für das Brettchen, das die Welt bedeutet, darf er nur stündlich für wenige Sekunden ans Licht. Sein Repertoire ist beschränkt auf den immer gleichen Ausruf, der dem geneigten Kitschliebhaber seine Erwartungshaltung erfüllt. Schon als Kind habe ich mich gefragt, was dieser bunte Vogel wohl denken mag, hinter seinem Türchen, in jeder dunklen Stunde, bis er wieder für einen kurzen Moment ins Rampenlicht darf. Selbst wenn die Türen sich öffnen, darf er nicht singen, was er will. Kaum hat er seinen Standard abgespult, zieht der Mechanismus seiner Bühne ihn gnadenlos wieder hinter den hölzernen Vorhang.

Will er nicht raus da und fliegen und singen? Wie fühlt sich das an, immer nur nach Vorschrift zu zwitschern, immer in der Rolle zu bleiben und nie herauszufinden, ob er die Welt mit seiner Stimme erobern kann?

Als Azubi in einem Hochschwarzwälder Gasthof gab ich drei Jahre lang den Service-Kuckuck. In einer ganz kleinen Welt, dem Modell einer Kuckucksuhr im größeren Maßstab. 1987 begann ich meine Ausbildung im Hugenottenhof in Hinterzarten am Titisee. Damals hatte er vier Sterne. Inzwischen wurde er abgerissen und neu gebaut – mit einem veränderten Konzept. Ich bezweifle, dass es für die heutigen Service-Kuckucks dort einen Unterschied macht. Eine Kuckucksuhr ist eine Kuckucksuhr ist eine Kuckucksuhr.

Nicht nur der Hugenottenhof hat sich verändert. Heute bin ich froh darüber, dass ich dort gelernt habe. Drei Jahre in der Mechanik der Kuckucksuhr waren eine Lektion fürs Leben. Ohne diese Erfahrung hätte ich vielleicht nie erkannt, wo das Herz des Service schlägt, wie sich Service Excellence anfühlt und welchen Unterschied das für den Gast macht. Ein Freigeist ist nicht auf einem Brett festgeschraubt. Er fliegt, wohin er will. Er entscheidet selbst, wann es Zeit ist, auf die Bühne zu gehen und wieder hinter dem Vorhang zu verschwinden. Nur wenn er seine Leidenschaft auslebt, kann er sie auf andere übertragen. Ein Lakai ohne Agenda, der sich auf seiner Bühne nicht zu Hause fühlt, kann auch keinen Gast behandeln wie einen Star.

Vielleicht hätte ich auch fliegen gelernt, ohne vorher drei Jahre auf den wurmstichigen Brettern des Hugenottenhofs festgeschraubt zu sein. Aber hätte es sich genauso großartig angefühlt?

Polyester statt Tennishosen

Ohne die geringste Ahnung, was mich erwarten könnte, hatte ich mich für einen Job in der Hotel- und Tourismusbranche entschieden. Dass man für Ziele hart arbeiten muss – vor allem an sich selbst –, hatte ich dagegen längst gelernt. Genau genommen hatte ich schon zwei geplatzte Karriereentwürfe hinter mir.

Als Jugendlicher hatte ich Tennis als Ausweg entdeckt. Der Tennisplatz am anderen Ende der Sackgasse, in der ich wohnte, wurde zu meinem Refugium – und, so glaubte ich lange Zeit, zu meinem Tor in die große, weite Welt. Ich war ein Raubein; der Geruch von Asphalt und verschwitzten Straßenkindern und die Farbpalette von Veilchen im Gesicht hatten meine Kindheit geprägt. Unter den Lacoste tragenden Tennis-Söhnchen der Cabrio-Mütter, die so ganz anders waren als ich, fiel ich auf. Auch meinem Trainer Rainer, der meiner aufbrausenden Art kaum Herr wurde. Er versuchte mich mit Liegestützen, Kniebeugen und Sprints zu sozialisieren, doch es half nichts. Seine Versuche, meine Energie zu kanalisieren, machten mich nur noch stärker, schneller, aggressiver.

Es dauerte nicht lange, bis ich zu einem ernsthaften Gegner für die Luxuskinder aus der Umgebung wurde. Erst wurde ich Bambino-Clubmeister, dann Stadtmeister, dann ging es in eine höhere Liga. Andere Vereine wurden auf mich aufmerksam. Ich erhielt einen Sponsorenvertrag von Adidas und trug abwechselnd die neuen Linien von Ivan Lendl und Stefan Edberg. Wenn meine Tagesform nicht mit meinen Erwartungen mithalten konnte, zerschlug ich schon mal einen der gesponserten Schläger am Netzpfosten.

Zu jenen Tennisspielern, die ihre Gegnerschaft auf den Ball projizieren, ihn hassen und auf ihn einprügeln, wie einst Jimmy Connors, gehörte ich nicht. Sondern zu denen, die den Gegner auf der anderen Seite des Platzes ausmachten. Der Ball war mein Freund, mein Werkzeug, meine Waffe, ein Teil von mir. Tausende Male am Tag presste ich ihn in meiner Hosentasche zusammen, um den Epicondylus lateralis humeri zu stärken – einen der wichtigsten Muskeln des Tennisspielers. Bälle lange hin und her zu spielen und mich taktisch an den Gegner heranzutasten, lag mir nicht; ich wollte immer gleich punkten. Aufschlag-Volley, Return-Volley, Punkt. Es funktionierte. Der Ausweg aus der Sackgasse schien perfekt.

Bereits mit 14 begann ich andere zu trainieren und mein erstes eigenes Geld zu verdienen. Mit 17 gründete ich neben der Schule, die ich nur noch gelegentlich besuchte, eine eigene Tennisschule. Mein erster Service-Gedanke war geboren: Ich wollte den Menschen mehr bieten, als nur gelbe Filzkugeln übers Netz zu schlagen. Ich gab meinen Schülern, was sie wollten: Abwechslung, Aufmerksamkeit und Anerkennung. Das funktionierte tatsächlich so gut, dass ich mir bald einen Partner ins Boot holte, um die hohe Nachfrage überhaupt noch bedienen zu können. Als Spieler war er deutlich schlechter als ich, dafür war er jedoch ein echter Charmebolzen. In seiner eigenen Wahrnehmung war er außerdem einer der besten Surfer der gesamten Milchstraße, und tatsächlich sah er Björn Dunkerbeck in der alten Fernsehwerbung für Milky Way verblüffend ähnlich. Mein Surfer-Freund erklärte mir, was Cashflow bedeutet, und überredete mich, Unterrichtsstunden nur noch »en bloc« zu 20- oder 30-Stunden-Einheiten anzubieten. Schnell hatten wir 500 Stunden verkauft. Ich fühlte mich reich und bildete mir ein, die Schule nicht mehr zu brauchen. Lustlos absolvierte ich trotzdem irgendwie die 12. Klasse. Mein Ziel war ja längst gesteckt: Ich wollte Tennisprofi werden, und mit den Unterrichtsstunden würde ich es auch schaffen.

Der Traum platzte noch vor dem Ende meiner Schulzeit. Die 500 Stunden waren zwar verkauft, allerdings größtenteils noch abzuarbeiten. Mein Partner aber war weg. Er hatte das Geld genommen und sich, so munkelte man, nach Australien abgesetzt. In den folgenden Monaten arbeitete ich allein nach und nach die 500 Stunden ab, dafür sorgte mein Vater. Er wollte sicherstellen, dass ich diese Lektion fürs Leben nicht so schnell vergaß.

Mein erster Enthusiasmus war gründlich verflogen. Ich erkannte, dass ich mein Geld nicht für den Rest meines Lebens in kurzen Hosen verdienen wollte. Eine Alternative hatte ich aber noch nicht. Kurz darauf nahm mir das Schicksal eine Entscheidung ab: Ein Bänderriss, gefolgt von einem Leistenbruch und als krönendem Abschluss auch noch von einem Bandscheibenvorfall senkten die ohnehin geringen Chancen auf eine Karriere als Tennisprofi auf null. Als Profisportler kann man den Körper bis zu einem bestimmten Punkt austricksen, aber ein schwaches Bindegewebe ist ein Dealbreaker. Und ich hatte ein schwaches Bindegewebe.

Das war’s. Ich hatte immer noch keinen Plan B für mein Leben. Ich grübelte, suchte, wand mich in meiner Orientierungslosigkeit. Bis ich an einer Tennisbar ein hübsches Mädchen kennenlernte, das mir von ihrer Ausbildung zur Restaurantfachfrau erzählte. Mir gefiel, was ich da hörte: Abwechslung, Ambiente und Anerkennung. Meinem Vater gefiel es gar nicht: »Kellner? Ist das dein Ernst?« Er zerrte mich zum Arbeitsamt. Heraus kam ich mit dem besser vertretbaren Karrierevorschlag »Hotelfachmann«.

Vom Tennislehrer zum Hotelfachmann – ein ziemlicher Spagat, könnte man meinen. Damals war es mir nicht klar, aber rückblickend kann ich die Konstante durchaus erkennen: Mein Interesse galt der Dienstleistung. In meiner jugendlichen Naivität waren es jedoch andere Eigenschaften, die ich zur Qualifikation hochstilisierte: Ich hatte Lust auf Menschen, ich hielt mich für unwiderstehlich, und vom Tennis hatte ich einen perfekt geformten Hintern für die Damenwelt an den Tischen, zwischen denen ich servierend hin und her flanieren würde. Die Welt der Hotellerie umwehte in meiner Vorstellung der Hauch von Glamour, Freiheit und Abenteuer: luxuriöse Suiten, temperierte Pools, die Chance, bei der Arbeit die Welt mit einem Glas Champagner in der Hand zu entdecken. Und nicht zu vergessen: Ständig würde ich umgeben sein von erfolgreichen, betuchten Gästen. Grenzenlose Möglichkeiten, wohin das Auge reicht. Ich mit meiner unbändigen Energie und meinem raubeinigen Charme musste nur noch bis zur Spitze durchmarschieren. Was sollte da schon schiefgehen?

Die Tempelwächter des Fünf-Sterne-Service, die Personalabteilungen der feinen Hotelketten, zeigten sich von meiner Qualifikation wenig beeindruckt. Weder bei Kempinski noch bei Ritz Carlton oder Mandarin Oriental hatte man auf mich gewartet, wie sich schnell herausstellte. Ich bekam eine Absage nach der anderen. Heute, als geschäftsführender Gesellschafter meiner eigenen Hotelgesellschaft Kameha Grand und der RichtigRichtig.com Management- und Unternehmensberatung, kann ich es den Kollegen von damals nicht verdenken.

Und so nahm ich, was ich bekommen konnte: eine Lehrstelle als Kellner – eigentlich: Hotelfachmann – am Titisee im hintersten Winkel des Hochschwarzwalds. Schneewittchen hätte sich dort wohlgefühlt. Für mich war der Hugenottenhof nicht mehr als eine Notlösung. Immerhin würde ich mit Gästen zu tun haben und mir so meine ersten Sporen in der Hotellerie verdienen. Doch bevor ich im Hugenottenhof beginnen konnte, musste ich zunächst sogar noch einige Monate in seinem Gastronomie-Discounter-Ableger, dem Schwarzwaldstern im Höllental, arbeiten. Nomen est omen…

Der erste Schock ließ nicht lange auf sich warten: Nachdem ich einige Jahre nur in den edlen Tenniskollektionen von Adidas herumgelaufen war, musste ich mich jetzt an eine völlig andere Arbeitskluft gewöhnen: Als Kellner in diesen Häusern trug man Polyester.

Gästeverarbeitende Industrie

Bei dieser ersten kleinen Ernüchterung blieb es nicht. Auch die Schönen und Reichen, denen ich zu begegnen dachte, schienen ihren Champagner woanders zu trinken. Im Hugenottenhof und noch mehr im Schwarzwaldstern hatten wir es mit einer vollkommen anderen Kategorie von Reisenden zu tun: den Pauschaltouristen.

Das Gros der Gäste bestand aus Deutschen auf Heimaterkundung. Sie machten der alemannischen Tradition der Schwarzwald-Gegend alle Ehre: In großen Gruppen entstiegen sie großen Bussen – quasi mit »allen Mannen«. In diesen Jahren, gegen Ende der Achtziger, waren es besonders viele, denn wir schrieben die Ära der Schwarzwaldklinik. Nur drei Kilometer vom Hugenottenhof, im Parkhotel Adler, wurde die Fernsehserie gedreht, die eine ganze Generation von dieser Mittelgebirgsregion träumen ließ. Mein Anblick half vielen älteren Damen dabei, denn ich sah Sascha Hehn, dem jungen Fernseh-Oberarzt, damals nicht unähnlich. Die Klinik selbst, die oft in der Serie zu sehen war, lag jedoch etwa 40 Kilometer entfernt.

Es gab aber noch eine andere Kategorie von Gästen. Die kletterten einmal täglich aus einem noch größeren, stets klimatisierten Bus – jedenfalls die, die des eigenmächtigen Gehens noch fähig waren. Hierbei handelte es sich um die AARP-Gäste, American Association of Retired People. Gemeinsam hatten diese Gäste, dass sie die 70 überschritten hatten; vielen von ihnen tendierten sogar Richtung 90. Neben der einen oder anderen Ladung Japaner bildeten sie das Maximum an großer weiter Welt und Glamour, das mir während meiner Lehre geboten wurde.

Übel nehmen konnte ich den Schönen und Reichen ihr Fernbleiben nicht. Schließlich waren wir polyesterummantelten Service-Kuckucks auch das Maximum an Glamour, das der Hugenottenhof zu bieten hatte. Eigentlich war es sogar ganz gut, dass viele der Gäste nicht mehr so richtig sehen und hören konnten.

Das, wofür diese Menschen kamen, beherrschte der Hugenottenhof jedoch bestens. Das urdeutsche Essen aus der Region – Forelle Müllerin-Art, Flädlesuppe, Maultäschle und allen voran die Schwarzwälder Kirschtorte – war von hervorragender Qualität. Die Atmosphäre des Fachwerkhauses hätte aus amerikanischer Sicht authentischer nicht sein können. Der Blick auf den Titisee war die naturgewordene Fantasie eines Landschaftsmalers à la Caspar David Friedrich. Alle Klischees über die spießigen Deutschen wurden ebenfalls bedient. Und Touristen, die es auf nostalgischen Alemannenkitsch abgesehen hatten, hätten sich keinen besseren Ort aussuchen können als diese kleine, grün umrahmte Welt in der Mitte von Nirgendwo. Jeder busreisende Pauschaltourist würde, hätte es die Möglichkeit damals schon gegeben, wohl eine flammende Rezension beim Reiseportal seiner Wahl hinterlassen: »Urlaub wie aus dem Bilderbuch! Und ein Sascha-Hehn-Typ hat uns bedient!«

Doch wie war es um die Service-Qualität bestellt? Nach den Maßstäben, die ich heute anlege, wenn ich ein Hotel bewerte, war die alles andere als bilderbuchhaft. Der Hugenottenhof – und erst recht der Schwarzwaldstern – war keine Heimat fern der Heimat. Die beiden Häuser waren Produktionsanlagen der gästeverarbeitenden Industrie. Die Abläufe dort ließen sich mit einem Frachthafen vergleichen: Nach einer gnadenlos durchgetakteten Logistik wird ein Container nach dem anderen mit riesigen Kränen von A nach B verladen. All das geschieht, ohne dass jemand sich dafür interessieren würde, was er da eigentlich genau verlädt, wer es geschickt hat und für wen es bestimmt ist. Keine Zeit für Sentimentalitäten. Und bevor ein Fehler oder eine Unachtsamkeit überhaupt nur auffallen kann, ist der Container längst wieder auf See, unterwegs zu einem anderen Hafen, und ward nie wieder gesehen.

So ähnlich funktionierte die Abfertigung der Gäste in den typischen Schwarzwälder Durchlauferhitzer-Gasthöfen. Die wenigen Ausnahmen lagen fernab der Standardroute, fernab vom Durchfahrtstourismus. Mehrmals täglich kam eine Ladung Fracht in einem Bus an: Tür auf, Touris raus, gegenseitiges »Abschießen« vor der Fassade der riesigen Kuckucksuhr Hugenottenhof. Durch den Kuckucksuhrenshop, die Plastikkuckucksuhr mit Plastikgeld bezahlen. Rein ins Großraumrestaurant, einmal gerade durch bis auf die Terrasse mit Blick auf eine wild romantische Schlucht, setzen, warten auf die Vorstellung.

Dann öffneten sich die Türen der Kuckucksuhr – Auftritt der polyesterummantelten Service-Kuckucks. Also auch: meiner. Einer militärisch durchgeplanten Choreografie folgend marschierten wir durch den Gastraum, verteilten wir uns auf unsere Bereiche der riesigen Terrasse und nahmen Bestellungen im Akkord auf: Getränke, Menü, einschließlich der Torte alles weitestgehend vorgegeben. Türchen auf, Kuckucks rein, Bestellungen in die Küche brüllen. Türchen wieder auf, Essen auf die Tische, Abmarsch, Türchen zu.

Und die Gäste? Mund auf, Schwarzwälder Spezialitäten rein, Obstler hinterher. Raus aus dem Restaurant, Powershopping für Spätentschlossene, runter auf den Parkplatz, rein in den Bus, Abfahrt. Auf Nimmerwiedersehen, schöne Kitschtour noch, zu den sieben Zwergen hinter den sieben Bergen. Länger als 45 Minuten sollten die Gäste für drei Gänge, Toilette und Shopping nicht im Hause verweilen: Effizienz war Gesetz.

So ging das die ganze Saison über: mehrere Busse pro Tag, manchmal mehrere gleichzeitig. Wir Kellner hatten alle Hände voll zu tun. Für persönliche Betreuung, ein Schwätzchen oder um auf Sonderwünsche einzugehen blieb schlicht keine Zeit. Selten hielt irgendetwas die Routine auf – und wenn, galt es, das Stöckchen schleunigst aus dem Getriebe zu holen.

Im Vorraum des Restaurants, im Durchgang zur Toilette, stand eine dieser damals modernen Personenwagen, die aus dem Geburtsjahr und dem Gewicht einen »persönlichen« Biorhythmus errechnen und auf einem Zettel ausdrucken. Die erste Service-Beschwerde meines Lebens kam von einem alten Texaner mit Cowboyhut, der ein ganz spezielles Problem mit der Maschine hatte: Die Jahreszahlen auf der Skala, an der man sein Geburtsjahr eingeben konnte, reichten nur bis 1900 zurück. Der gute Mann war aber 1899 geboren, also damals bereits 87 Jahre alt – und verlangte von mir eine Lösung des Problems. Ich setzte mein charmantestes Lächeln auf und lenkte ihn ab, indem ich ihn auf eine Kuckucksuhr an der Wand hinter ihm aufmerksam machte. Solange er wegschaute, stellte ich von ihm unbemerkt mit einer schnellen Bewegung das Jahr 1900 ein und warf die Münze, die er mir in die Hand gedrückt hatte, in den Schlitz. Er bekam seinen Biorhythmus, und ich war um zwei Dollar Trinkgeld reicher.

Service Excellence sieht anders aus. Um Gäste zu binden, muss man ihnen Aufmerksamkeit schenken und auf ihre Wünsche eingehen. Machte die Eigentümerfamilie – übrigens die Könige der Kuckucksuhrenindustrie – mit dem Hugenottenhof also alles falsch? Keineswegs. Dieser Gasthof lebt vom Klischeetourismus: von Menschen, die die volle Schwarzwald-Dröhnung wollten, damit sie dieses Fleckchen auf ihrer Traveller’s-To-do-Liste abhaken können. Diese Leute hatten nicht vor, jedes Jahr wiederzukommen und zwei Wochen dort zu verbringen. Der Hugenottenhof ist keine Heimat fern der Heimat, sondern eine Touristenattraktion, ein Bestandteil des Schwarzwald-Programms. Da ist die standardisierte Gästeverarbeitung mit maximalem Volumen aus unternehmerischer Sicht ein sinnvolles Geschäftsmodell. Die Gäste haben keinen Grund, enttäuscht zu sein, denn sie kommen für genau das, was sie auch bekommen. So gesehen wird im Hugenottenhof vieles richtig gemacht. Bis heute.

Terrassenkellner auf den Golanhöhen

Die rustikale Massenabfertigung bedeutete für mich als Kellner körperliche Schwerstarbeit. Jeder, der auch nur einen Saisonjob als Kellner an einem Touristen-Hotspot gemacht hat, um sich in den Ferien etwas dazuzuverdienen, weiß, wovon ich rede.

Die Terrasse war riesig. In meiner Erinnerung mag sie von Jahr zu Jahr noch größer geworden sein, aber groß war sie wirklich. Die Ausmaße der Terrasse waren allerdings nicht die größte Herausforderung für uns Kellner. Wir nannten sie die »Golanhöhen« – aus gutem Grund. Genau wie das Hochplateau im Nahen Osten zwischen dem See Genezareth und der syrischen Hauptstadt Damaskus war sie im Sommer brütend heiß, potenziell vermint und immer wieder Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen. Die meisten davon wurden zwischen mir und meinem Chef Klaus-Dietrich ausgetragen – dem meines Erachtens wahrscheinlich besten schlechten Oberkellner, dem ich je ausgeliefert war.

Als ich ihn das erste Mal sah, hielt ich ihn fälschlicherweise für harmlos. Klaus-Dietrich wirkte auf mich so groß wie drei übereinandergestapelte Schwarzwälder Kirschtorten. Mit dem würde ich schon fertigwerden. Dachte ich – ungefähr fünf Sekunden lang. Dann bellte Klaus-Dietrich sein erstes Kommando: »Deine Kellner-Station sind die Golanhöhen!«

Von diesem Moment an war ich auf die Terrasse abonniert. Denn Klaus-Dietrich konnte mich schon auf den ersten Blick ungefähr genauso gut leiden wie ich ihn. Er hasste mich, und er ließ es mich spüren. Jede Kuckucksuhr braucht einen, der sie aufzieht. Klaus-Dietrich zog mich auf, jeden Tag, ohne Unterlass. Für mich war er die gastronomische Reinkarnation von Napoleon: genauso winzig, genauso selbstherrlich und genauso arrogant. Vor allem seinen zwei Erzfeinden gegenüber: mir und dem Gast. Gäste waren für ihn so etwas wie die Babys von ungeliebten Verwandten für einen Kinderhasser mit Zwangsneurosen: Ständig wollen sie irgendwas, ständig plärren sie, und ständig machen sie Dreck.

Der Polyester-Napoleon hielt nicht viel von Service. Gastfreundschaft lag ihm fern, Empathie war ihm ein Fremdwort. Die Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen und ihre Bedürfnisse zu erkennen, ist ein entscheidendes Merkmal echter Service-Persönlichkeiten. Sie ist die Grundvoraussetzung, um Gäste zu begeistern, und die Basis für eine persönliche, herzliche Beziehung. Herzlichkeit ist nicht unprofessionell, sondern Trumpf. Professionalität ohne Herzlichkeit ist Arroganz. Und Klaus-Dietrich war – hochprofessionell.

Als kleiner Tyrann hatte er natürlich Freude daran, mich schwitzen zu sehen. Und dazu hatte er reichlich Gelegenheit. Unsere weißen Hemden hatten wir stets hochgeschlossen zu tragen, mit einer eng geschnürten Fliege. In der schwarzen, knisternden Polyesterhose hatte man Glück, wenn man sich keinen Wolf lief. Der schlimmste Teil der Uniform aber war die typische Schwarzwald-Weste: grün, aus Samt, mit roten Blümchen darauf. Im Frühling und Sommer sahen wir damit aus, als würden wir täglich aus der Wiese hinter dem Hugenottenhof auferstehen wie Zombies aus einem Blumenbeet.

Die Weste habe ich noch – nicht, weil ich die stoffgewordene Blumenwiese so hübsch finde. Sondern weil sie mich daran erinnert, wie meine Arbeit und die meiner Leute nicht sein darf. Die Weste ermahnt mich, keine Klischees zu bedienen, sondern Menschen.

Meine Ausbildung dauerte nicht zwei, nicht drei, sondern volle dreieinhalb nicht enden wollende Jahre. Den größten Teil davon verbrachte ich auf den Golanhöhen und war jeden Abend dankbar für meine austrainierten Tennisspielerarme. Schauen Sie sich einmal die Unterarme von Vollzeit-Kellnern in stark frequentierten Terrassenlokalen an, und Sie wissen, was ich meine: Darauf kann man bequem ein großzügiges Stück Schwarzwälder-Kirsch ohne Teller servieren. In den ersten Wochen schmerzte jede Faser meines Körpers, wenn die letzte Busladung abgefahren war. Mehr als einmal fragte ich mich, ob ich mit dieser Ausbildung die richtige Entscheidung getroffen hatte. Mehr als einmal (pro Tag, anfangs) hatte ich die Schnauze gestrichen voll. Doch je länger ich dabeiblieb, desto überzeugter war ich davon, am richtigen Ort zu sein: Wenn ich dieses Bootcamp bei Klaus-Dietrich auf den Golanhöhen überstand, würde ich bereit sein für alles, was da kommen mochte. Wenn das der notwendige erste Schritt war, damit etwas aus mir wurde, dann würde ich so viele Forellen, Maultäschle und Schwarzwälder Kirschtorten auf meinem Unterarm balancieren, wie ich tragen konnte.

Mit Drill war ich schon einmal klargekommen, als ich ein klares Ziel vor Augen hatte: damals, bei meinem ersten Tennis-Trainer, der meine überschüssige Energie in Liegestütze und Kniebeuge zu kanalisieren versucht hatte. Wie damals, sagte ich mir, wird auch Klaus-Dietrich mich mit seinen Schikanen am Ende nur stärker machen. Egal wie sehr Klaus-Dietrich mir zusetzte: Ich hielt durch. An den Abenden, wenn ich alles hinschmeißen wollte, hielt mich manchmal nur dieser eine Gedanke aufrecht: Du wirst mich nicht brechen. An dir scheitere ich nicht. Dir werde ich es zeigen. Und tatsächlich: Die Prüfung am Ende meiner Lehrzeit schloss ich als einer der Besten in der Region ab. Ein guter Dienstleister war ich allerdings noch längst nicht, denn das Wichtigste konnte Klaus-Dietrich mir nicht vorleben: Herzlichkeit.

Man kann von guten und von schlechten Vorbildern lernen. Von Klaus-Dietrich habe ich gelernt, wie man erfolglos bleibt – zum Beispiel als Kellner auf den Golanhöhen auf Lebenszeit. Davon konnte ich mich täglich überzeugen: Wann immer ich genau das Gegenteil von dem tat, was er uns als guten Service einimpfte, stimmten meine Trinkgelder. Folgte ich seinen Regeln, gingen sie in den Keller. Klaus-Dietrich zu erleben zeigte mir, dass man im Service keinen Blumentopf gewinnt, wenn man auf andere Menschen herabsieht. Der Gast spürt das – und genau um ihn dreht sich alles. Im Service geht es immer nur um den Gast. Wer sich beim Service selbst in den Mittelpunkt stellt, wird nie außergewöhnlich gut werden.

So gesehen machte mich dieses schlechte Vorbild zu einem anderen Menschen und einer besseren Service-Persönlichkeit. Danke, Klaus-Dietrich – und das meine ich ganz ehrlich.

Ein Sprungbrett in die weite Welt

Schließlich wurde ich von den Golanhöhen erlöst und arbeitete für einige Monate an der Rezeption des Hugenottenhofs – denn ein paar Zimmer gab es dort tatsächlich auch. 14, genau genommen. Dass ich Spaß an der Sache hatte, merkte man der Service-Qualität offensichtlich an. Denn eines Tages, kurz vor dem Ende meiner Lehre, stand ein Gast namens Pecco Beaufays vor mir und erklärte in einem breiten amerikanischen Akzent: »Ich will deinen Lebenslauf.« Da ich wohl einigermaßen irritiert dreingeschaut haben musste, fügte er umgehend hinzu: Er hätte mich in den letzten Tagen beobachtet. Er sei ein hohes Tier bei Kempinski und wolle nun dafür sorgen, dass ich Karriere mache.

Dass das für einen Hotelfachmann kurz vor Ende seiner Lehre einem Sechser im Lotto gleichkam, wurde mir erst später klar. Ehrlich gesagt hatte ich bis dahin jemals weder von ihm noch von Kempinski gehört. In diesem Moment beschäftigte mich eine andere Frage: Was zum Teufel sollte ich in meinen Lebenslauf schreiben? Fachhochschulreife irgendwie durchgepeitscht, Tenniskarriere nach Verletzung vorzeitig beendet, Ausbildung in einem gästeverarbeitenden Betrieb? Das einzige, was ich außer meiner Ausbildung noch als Service-Erfahrung einstreuen konnte, war ein Aushilfsjob als Barkeeper in einer miesen Kneipe, den ich als Jugendlicher mal eine Zeit lang gemacht hatte. Und damit sollte ich einen Kempinski-Boss beeindrucken?

Der Mann aber war »entschlossen«, wie er sagte – und so überreichte ich ihm vor seiner Abreise einige Tage später einen eher euphemistischen Lebenslauf. Meine Tenniskarriere war nun nicht durch eine Verletzung beendet worden, sondern durch meine Liebe zur Hotellerie. Aus dem Kneipenjob war ein Praktikum in der Event-Gastronomie geworden. Und der Hugenottenhof gehörte in meiner Darstellung zur »Gruppe der gehobenen Schwarzwald-Gastronomie«.

Rückblickend hätte ich mir die Mühe sparen können: Der Lebenslauf an sich interessierte Pecco Beaufays herzlich wenig – er brauchte ihn einzig für die Administration in der Personalabteilung. Wie er mir Jahre später verriet, hatte er mich wegen meiner positiven Ausstrahlung angesprochen. Er hatte etwas in mir gesehen, von dem ich selbst nicht wusste, dass ich es besaß: eine Service-Attitüde, die in seinen Augen zu Kempinski passte. Wer hätte das gedacht: Ausgerechnet der Hugenottenhof – für mich der Inbegriff von Servicefeindlichkeit – wurde schließlich doch noch mein Sprungbrett in die große weite Welt der Luxushotellerie. Unter dem altehrwürdigen Kempinski-Wappen, in den späten Achtzigern der Inbegriff der Luxus-Hotellerie, würde ich schon herausfinden, wie Service wirklich funktioniert. Sollte man meinen. Nicht wirklich – aber lernen sollte ich auch dort eine ganze Menge.

Service geht anders …

Dem Hugenottenhof kehrte ich – nicht überraschend – ohne Wehmut den Rücken. Ich war einfach nur froh, mich von Klaus-Dietrich verabschieden zu können. Wie viel ich im Hugenottenhof als Negativ-Blaupause tatsächlich über Service gelernt hatte, wurde mir erst viel später klar. Einige Service-No-Gos sind mir nämlich immer wieder begegnet – und zwar auch in weitaus höherklassigen Hotels. In den Häusern, in denen der Service hakt, herrscht fast immer der gleiche Irrglaube vor: Das Produkt sei der Star. Viele Grand Hoteliers und – das ist die kaum vermeidbare Folge – auch ihre Angestellten glauben, man müsste dieses Produkt dem Kunden nur schillernd genug darbieten. Dann betrachte er den Service automatisch als hochklassig und beschwert sich dementsprechend auch nicht: In einem Fünf-Sterne-Haus wird der Service schon über jeden Zweifel erhaben sein!

Ein Irrtum – mit »Friss oder stirb!« lässt sich ein Fünf-Sterne-Gast nicht zufriedenstellen. Auch ein regelmäßiger Gast in Drei- und Vier-Sterne-Hotels nicht. Service ist eine hochgradig persönliche Angelegenheit – ganz besonders in einem Hotel. Service ist eine Haltung. Der Gast bringt nicht nur bestimmte Erwartungen mit, die von Mensch zu Mensch variieren, sondern auch die Erfahrungen aus anderen Häusern. Mehr noch: Seine Privat- und Intimsphäre reist mit ihm. Übernachten wir in einem Hotel oder verbringen wir dort sogar mehrere Tage oder Wochen, wird es zu unserem Zuhause, unserer Burg, unserem Schutzraum. Wir wollen uns wohlfühlen, wir wollen König sein. Wir wollen über Atmosphäre, Ausstattung und jede kleine Annehmlichkeit bestimmen können. Diesen Anspruch kann ein Hotel aber nur erfüllen, wenn es die Wünsche der Gäste voraussieht oder ihnen, soweit es irgend möglich ist, von den Augen abliest.

Beim Aufschreiben dieser Zeilen bin ich Gast in einem Berliner Fünf-Sterne-Haus. und gerade jetzt, in aller Herrgottsfrühe, beginnen die Zimmermädchen ihr Pensum zu absolvieren. Trotz »Bitte nicht stören«-Schildern an vielen Türen setzen sie auf den Fluren den Staubsauger in Betrieb. Als ob das nicht störend wäre …

Bei mir kommt das so an: Was du willst, zählt nicht. Wir machen in diesem Hotel, was wir für richtig halten. Schließlich müssen wir unseren Standard erfüllen. Es geht aber nicht darum, wie sauber der Flurteppich zu einem bestimmten Zeitpunkt ist. Es geht darum, dass der Gast zufrieden ist. Er ist der Standard. Das Produkt ist nicht der Star, sondern der Gast. Immer.

Eine solche Situation kann man durchaus anders lösen. In einigen Hotels werden die Staubsauger sogar kurz ausgeschaltet, wenn ein Gast auf dem Flur vorbeigeht.

So wie in meiner derzeitigen Bleibe war das auch im Hugenottenhof. Für Klaus-Dietrich waren die individuellen Bedürfnisse der Gäste irrelevant gewesen. Ihm war es darum gegangen, dass wir bestimmte Dinge – Gäste begrüßen, Bestellungen aufnehmen, Fisch am Tisch filetieren – auf eine von ihm vorgegebene Art und Weise machten. Technisch sind gewisse Standards unabdingbar – keine Frage. Doch Raum für Persönlichkeit blieb dabei nicht; weder für die des Kellners noch für die des Gastes. Entsprechend begeistert war Klaus-Dietrich von Sonderwünschen der Gäste. Ihm ging es nicht darum, dass die Gäste zufrieden waren – sondern darum, dass ein bestimmter Standard erfüllt wurde: der Klaus-Dietrich-Standard.

Service nach Klaus-Dietrich, Service im Hugenottenhof war mehr Schein als Sein. Und da ist der Hugenottenhof keine Ausnahme. Die Fassade der Kuckucksuhr glänzte, aber dahinter war alles aus Plastik. Nicht nur unsere Hosen – der ganze Service-Apparat. Dort gab es nur Standard und keine Herzlichkeit. Und deshalb auch keine Service Excellence. Diese Lektion begriff ich erst lange nach meiner Zeit im Hugenottenhof, aber dafür umso intensiver.

Trotzdem lernte ich schon im Hugenottenhof sehr viel von dem, was ein Hotelier auch wissen sollte. Ich lernte die formalen und technischen Basics der Gastronomie und des Hotelwesens. Bis heute kann ich einen Tisch für jeden Anlass korrekt eindecken und jedes genießbare Tier tranchieren, das in Europa über die Wiesen läuft oder in Seen und Bächen schwimmt. Leider kann ich auch eine Forelle schlachten – nichts war mir in den ganzen dreieinhalb Jahren mehr zuwider, nicht einmal die Attacken des Polyester-Napoleons. Der Todesteich, der Wassertrog mit den Forellen, stand draußen auf dem Hof. Während meiner Zeit in der Hotelküche – die erste Station jedes Azubis im Hugenottenhof – musste ich da ständig raus, um dem Küchenchef neue Forellen zu holen: Netz in den Trog, Forelle auf den Holzblock, ein Hammerschlag auf den Kopf. So gesehen habe ich also auch das Töten im Hugenottenhof gelernt. Dann den Fisch längsseits am Bauch aufschneiden, den Daumen reinstecken und die Innereien rausstreichen – und wehe, ich vergaß den Darm, dann rastete der Koch aus. Das merkte man nämlich erst am Ende des Kochvorgangs, und dann musste der Fisch weggeworfen werden. Manchmal vergaß ich ihn mit Absicht.

Und noch einiges mehr. Notfalls kann ich eine ganze Busladung AARP-Gäste in kürzester Zeit durchservieren, ohne mich aus der Ruhe bringen zu lassen. Und ich schaffe es bis heute, auch in einer grün-rot geblümten Schwarzwaldweste Haltung vorm Gast zu bewahren. Bei Bedarf kann ich selbst dann ehrlich weiterlächeln, wenn es Scheiße regnet. Ich schaffe es, mich auch mit den, sagen wir mal, anspruchsvollsten Persönlichkeiten und den widrigsten Bedingungen zu arrangieren und niemandem seine noch so exotischen Sonderwünsche übel zu nehmen. Der Gast hat immer recht – davon bin ich zutiefst überzeugt. Aber ich lernte eben auch, meinen Kopf durchzusetzen, wenn ich es allen Widerständen zum Trotz für nötig hielt. Alles Eigenschaften, die mir im Laufe meines weiteren beruflichen Werdegangs immer wieder sehr nützlich geworden sind.

Ich lernte noch etwas, das ich vielleicht nirgendwo sonst so eindrücklich hätte erfahren können und das ich in meiner jugendlichen Arroganz nicht früh genug begreifen konnte: Die Hotellerie ist keine Branche für zartbesaitete Zeitgenossen. Ich hatte mir den Job in erster Linie aufgrund des Glamourfaktors ausgesucht. In Wahrheit ist die Hotellerie hinter dem Tresen nicht Glamour, sondern Blood & Sweat & Tears. Es ist ein wahnsinnig dankbarer Job, wenn man ihn mit der richtigen Haltung macht – aber immer auch ein wahnsinnig harter. Das muss jeder Nachwuchs-Servicepersönlichkeit klar sein, die über eine Karriere im Hotelwesen nachdenkt. Für diese Lektion war Klaus-Dietrich der perfekte Lehrmeister. Technisch formte er mich nach seinem Vorbild: professionell, aber nicht herzlich. Ersteres ist ihm erstaunlicherweise nachhaltig gelungen, die Herzlichkeit konnte ich mir später zum Glück anderswo angewöhnen.

Man muss sich Mentoren suchen oder eben mit denen leben, die man vorgesetzt bekommt. Nicht von Klaus-Dietrich, aber durch ihn lernte ich, mich nicht brechen zu lassen. Hart zu bleiben, ohne hart zu werden. Nur so werden aus harten Jungs feine Kerle.

Die dritte und vielleicht wichtigste Lektion, die ich im Hugenottenhof lernte – und erst später wirklich begriff – war die, was ein richtig gutes Hotel ausmacht. Auch hier dient mir meine Lehrzeit bis heute als Negativfolie: Mit einer unschlagbaren Location wie der des Hugenottenhofs müssen Sie sich keine Gedanken darüber machen, ob Gäste kommen. Wenn Sie allerdings wollen, dass diese Gäste wiederkommen, brauchen Sie einen Service, den der Gast nirgendwo auf der Welt genauso wiederfindet. Sie brauchen Mitarbeiter, die Gäste durch eine persönliche Beziehung an Ihr Haus binden. Sie brauchen Leidenschaft.

Wo schlägt also das Service-Herz? Nicht in den perfekt ineinandergreifenden Zahnrädern des Uhrwerks, die schon die kleinste Erschütterung aus der Bahn werfen kann. Nicht in einem standardisiert geschnitzten Gehäuse. Es schlägt einzig und allein im Kuckuck. Der Gast hat nur etwas davon, wenn der Kuckuck nach draußen darf und seinen Charme versprüht.

Es sind die bunten Vögel hinter den geschnitzten Holzläden, die den Unterschied machen. Ein Hotelier, der ein besonderes Hotel erschaffen möchte, muss sie von ihren Brettchen losschrauben und fliegen lassen.

2 | Frankfurt Kleine Lichter leuchten wärmer

Service ist eine Haltung

Gestatten: Stresemann junior

Bei meinem Vorstellungsgespräch, vermittelt durch Pecco Beaufays, im Kempinski Frankfurt-Gravenbruch war ich 90 Minuten zu früh dran. Der durchschnittlich schüchterne Bewerber hätte sich an die Bar gesetzt und einen Kaffee getrunken oder hätte sich in aller Ruhe umgesehen – jedenfalls wäre er unter dem Radar geblieben, bis es ernst wird. Klaus-Dietrich hatte es aber nicht geschafft, mir meinen jugendlichen Leichtsinn auszutreiben. Ich ging geradewegs zur Rezeption und forderte den Stresemann mit Gesicht hinter dem Tresen auf, mich beim Chef anzumelden: »Richten Sie Herrn Haug bitte aus, dass ich schon da bin und wir mit dem Bewerbungsgespräch anfangen können.« Der Blick des Rezeptionisten besagte: Halt mal den Ball flach – hier ist Frankfurt, nicht Hintertupfingen. Trotzdem tat er, wie ihm geheißen.

Damals, Ende der Achtziger, war Günther Haug Direktor des Kempinski Hotel Gravenbruch. Er führte das Haus klassisch und in diesem Sinne vorbildlich. So wirkte er auch, als er schließlich im Stechschritt auf mich zukam: feinster Blauzwirn, Doppelmanschettenhemd, gestärkter Kragen, ernster Blick. Hier und da nickte er einem Gast zu, während er die Lobby durchschritt. Natürlich war er auf die Minute pünktlich; ich nahm in diesem Moment nur wahr, dass er mich 90 Minuten hatte warten lassen.

Nachdem er die gediegene Lobby durchquert hatte, begrüßte er mich mit einem festen Händedruck und den Worten: »Sie kommen auf Empfehlung von Pecco Beaufays, deshalb nehme ich mir gern Zeit für Sie.« Ob er es tatsächlich so meinte oder ich es nur so verstand, werde ich wohl nie erfahren, aber mich beschlich ein flaues Gefühl: Der will dich gar nicht. Der macht das nur, weil einer, der noch wichtiger ist, ihn dazu aufgefordert hat.

Daraufhin versuchte ich, das Gespräch betont locker-flockig mitzugestalten, um die Situation zu entschärfen. Das gelang mir ganz und gar nicht. Günther Haug verzog keine Miene, stellte nur knappe und präzise Fragen. Die meisten davon konnte ich nicht zu seiner Zufriedenheit beantworten. Eine schmerzhafte Bemerkung nach der anderen handelte ich mir ein, darunter: »Zwei Fremdsprachen sollten Sie schon fließend beherrschen.« Natürlich wusste er aus meinem kreativen Lebenslauf, dass ich damit nicht dienen konnte.

Entweder war es die Empfehlung von Pecco Beaufays oder Günther Haug konnte das, was der große Kempinski-Boss in mir gesehen hatte, auch erkennen: Nachdem er mir erst einmal höflich, aber eindrücklich vor Augen geführt hatte, was ich alles nicht konnte, stellte er mich ein – und zwar als Junior-Rezeptionist. Wobei das »Junior« ausschließlich für die Gehaltsuntergrenze stand – der Aufgabenbereich unterschied sich keineswegs von den vollwertigen Rezeptionisten.

Ab sofort war ich also auch so ein Typ wie der hinter dem Tresen, der mich zuvor so abschätzig angesehen hatte. Ein Stresemann mit Gesicht.

Trotz meiner ausgeprägten Selbstsicherheit hatte ich auf einmal ernste Zweifel, ob ich die Probezeit überstehen würde: Ich, der Service-Kuckuck, im Kempinski? Konnte das gut gehen? Passte ich in dieses elitäre Umfeld? Ich kam mir vor wie ein Kuckucksei, das Pecco Beaufays Günther Haug in sein stolzes Nest gelegt hatte.

Die erste Herausforderung musste ich noch vor Dienstantritt meistern: Die Personalchefin hatte mir schriftlich mitgeteilt, ich müsste mir meine Arbeitskleidung selbst besorgen. Einen Stresemann, selbstredend – ein textiles Relikt aus einer anderen Zeit. Was soll’s, dachte ich. Alles ist besser als Polyester und Blumenweste. Später, nachdem ich auf dem rutschigen Parkett der besseren Gesellschaft laufen gelernt hatte, wurde mir klar: Wenn schon Stresemann, dann hätten wir Rezeptionisten ihn, der Etikette folgend, jeden Tag um 17 Uhr gegen einen Frack tauschen müssen. Aber das war wohl selbst dem Kempinski eine Spur zu traditionell.

In meiner Skepsis entschied ich mich zunächst dagegen, mir einen Stresemann zu kaufen – ich glaubte nicht so recht daran, dass sich die beträchtliche Summe lohnen würde, die er kosten sollte. Stattdessen lieh ich mir einen solchen Anzug für eine horrende Gebühr bei einem Smoking-Verleih. Nur dort hatten meine Mutter und ich nach endloser Suche überhaupt einen gefunden.

Hotel ist nicht gleich Hotel