Sexismus - Zana Ramadani - E-Book

Sexismus E-Book

Zana Ramadani

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Beschreibung

Seit Wochen erhitzt die Kampagne #MeToo die Gemüter. Mitte Oktober von US-Schauspielerin Alyssa Milano ausgelöst, fordert der Hashtag Frauen auf, offen über sexuelle Belästigung und Vergewaltigung zu berichten. Seitdem haben unzählige Frauen weltweit bekannt, in der Vergangenheit sexuell drangsaliert worden zu sein. Auch Bestsellerautorin und Feministin Zana Ramadani hat bei deutschen Männern einiges erlebt – von eindeutigen Angeboten bis hin zu Übergriffen durch namhafte Politikergrößen. In ihrem neuen Buch spricht sie Klartext über den Sexismus vieler Männer, geht aber auch mit dem Aktionismus mancher #Feministinnen hart ins Gericht. Unmissverständlich macht Zana Ramadani deutlich: "Vergewaltigung und andere sexuell motivierte Attacken müssen härter bestraft werden." Dennoch warnt sie eindringlich vor einer einseitigen Debatte zugunsten von Frauen: "Wir dürfen nicht jeden dämlichen Spruch eines senilen alten Mannes an den Pranger stellen. Die Neigung, jedes missglückte Kompliment zu sexueller Gewalt zu stilisieren, verhöhnt die tatsächlichen Opfer und bremst den Fortschritt auf den wirklichen Problemfeldern des Geschlechterkampfes wie der Gleichstellung der Frau in der Arbeitswelt." In ihrem Buch plädiert sie für eine schonungslos ehrliche Diskussion und macht deutlich, warum ein digitaler Aufschrei der Frauen nicht genügt und auch Männer Opfer von Sexismus werden können.

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ZANA RAMADANI

SEXISMUS

Über Männer, Macht und #Frauen

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1. eBook-Ausgabe 2018

© 2018 Europa Verlag GmbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,

unter Verwendung eines Fotos von © Jörg Schulz / Chuck Knox Photography

Lektorat: Silwen Randebrock

Layout & Satz: BuchHaus Robert Gigler, München

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95890-230-5

ePDF-ISBN: 978-3-95890-231-2

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

Diese Buch widme ich …

… allen Ausnutzern, Übergriffigen, Vergewaltigern –damit ihr endlich lernt.

… allen schweigenden Mitwissern, Trittbrettfahrernund Falsch-BeschuldigerInnen –damit auch ihr endlich lernt.

… vor allem allen wahren Opfern –damit ihr stark seid, mutig, kämpferisch und wisst,dass ihr niemals alleine seid.

Dieses Buch widme ich auch meiner Tochter Edda.Und ihrem Papa. Der doch ganz ordentlich feministischsozialisiert worden zu sein scheint.

INHALT

1. #METOO: ICH EMPÖRE MICH, ALSO BIN ICH

2. SEX UND LÜGEN IN HOLLYWOOD

Vergewaltigung: das schlimmste Verbrechen gegen Frauen

Harvey Weinstein lässt antanzen

Über Woody Allen ist »schwierig zu reden«

Dustin Hoffman ist ein »Lustmolch und großer Entertainer«

Vier Buchstaben gegen übergriffige Männer: N E I N

Was ist sexuelle Gewalt?

Sexismus-Hysterie: »Eine flüchtige Hand an meinem Knie«

3. BÖSE MÄDCHEN KOMMEN ÜBERALLHIN

Alltagssexismus

Berechnende Biester und die »Waffen der Frau«

Die Schuld der Frauen

Falschbeschuldigungen und falsche Freisprüche

Der missbrauchte Mann

4. DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER

Zeigt sie an!

#MeToo? Nicht in der Berliner Bubble

Alberne Allianz: Gender- und muslimische Feministinnen

Gewalt gegen Männer

Ein Produkt auch von Frauen: die Pornofizierung der Gesellschaft

Müssen Männer und Frauen sich voneinander fernhalten?

5. MAD MEN UND DESPERATE HOUSEWIVES

»Die Herrschaft der 20 Prozent«

Warum verdienen Frauen weniger als Männer?

Warum führen in Unternehmen weniger Frauen als Männer?

Unterrepräsentiert: Frauen in der Politik

Doppelbelastung: Kinder, Küche und Karriere

6. TIME’S UP: GEMEINSAM GEGEN SEXISMUS IM ALLTAG

Wie soll das gehen?

Anmerkungen

1. #METOO: ICH EMPÖRE MICH, ALSO BIN ICH

Auf meinem Smartphone ist ein Foto gespeichert, das mich mit einem ehemaligen Bundespräsidenten zeigt; sein linker Arm umschlingt meinen Rücken, seine Hand liegt auf meiner linken Hüfte. Er hatte mich nicht gefragt, ob er das dürfe, und ich hatte ihn nicht dazu aufgefordert, das zu tun.

Nach einer Expertentagung zum Thema Integration im Schloss Bellevue im Berliner Tiergarten gab es einen Empfang. Im Vorraum zum großen Saal in der ersten Etage war ein Chichi-Buffet mit Häppchen aufgebaut, drinnen glitzerten große Kristalllüster von der hohen Decke, das Parkett glänzte, wo kein dicker Teppich die Schritte dämpfte, und an den kleinen Stehtischchen unterhielten sich die Gäste, unter ihnen Necla Kelek, Ahmad Mansour und Ali Ertan Toprak, Henriette Reker, Rita Süssmuth und Armin Laschet sowie Giovanni di Lorenzo. Die Herren trugen Anzug und Krawatte, ich hatte, dem Anlass angemessen, ein knielanges, blaues, hochgeschlossenes Schmetterlingskleid mit Rücken-Reißverschluss gewählt.

Da kam Joachim Gauck heran. Eine Freundin stellte uns einander vor. Er kannte das Interview, das kurz zuvor in der Zeitung Die Welt erschienen war, in dem ich meine Wut über die Exzesse in der Silvesternacht in Köln ausgedrückt und die muslimischen Mütter dafür verantwortlich gemacht hatte, dass ein erschreckender Anteil unter den muslimischen Männern so ist, wie er ist: faul, verwöhnt und frauenfeindlich, erzogen von Müttern, die Jungen wie Paschas päppeln und Mädchen zu Mägden machen. »Diese Männer lernen, dass Frauen, die einen kurzen Rock oder eine enge Hose tragen, verfügbar sind«, sagte ich damals. »Sie lernen, dass sie das Recht haben, sie respektlos zu behandeln.«1

Der Bundespräsident wusste auch, dass ich Mitgründerin der deutschen Sektion von Femen war, der feministischen Aktionsgruppe, die mit blanken Brüsten und pointierten Parolen gegen Sexismus und die Unterdrückung der Frauen protestierte. Ausgerechnet darauf bezog sich seine erste Frage: »Aber Sie ziehen sich doch heute hier nicht aus?«

Ich lächelte, vermutlich etwas verstört, und meinte, dem wichtigsten Mann im Staat eine Antwort zu schulden: »Nee, heute mal nicht«, hörte ich mich sagen. »Es wäre ja auch nicht so einfach, dieses Kleid auszuziehen.«

Dies schien er als Einladung misszuverstehen, vielleicht war sein nächster Satz auch einfach nur ein unbeholfener Scherz: »Wenn nur das das Problem ist, dann kann ich Ihnen helfen.«

Das machte mich tatsächlich ein wenig verlegen. Um über die peinliche Situation hinwegzukommen, winkte ich einen befreundeten Fotografen herbei und bat ihn um ein paar Aufnahmen. Ein Assistent nahm Gauck schnell das Weinglas aus der Hand, mich aber ließ der Hausherr nicht mehr los, solange wir in die Kamera blickten, und ich rechnete fast damit, dass die Hand tiefer rutschte, zum Hintern hin. Auf den Fotos ist später zu sehen, dass der alte Mann mich umarmt und seine Hand auf meine Hüfte legt. Ich schaue etwas pikiert drein, sichtlich verunsichert.

Was sollte ich tun? Er war der Bundespräsident. Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf: Der ist ja schon ganz schön alt. Und auch in seinen jungen Jahren wäre er zweifellos nicht mein Typ gewesen. Ich war unangenehm berührt, aber ich ließ das »Gaucken«, wie ich derartiges Betatschen seither nenne, über mich ergehen, ich spielte mit, lachte meine Bedenken weg. Wir standen eine ganze Weile so da, auch nach dem Ende des Shootings, bis es mir gelang, mich aus Joachim Gaucks Umarmung zu befreien.

Wie hatte dieser Mann geurteilt, als Rainer Brüderle wegen eines zu tiefen Blicks ins Dekolleté einer Journalistin und eines frechen Altherrenspruchs unter Beschuss der Hashtag-Feministinnen geriet? »Wenn so ein Tugendfuror herrscht, bin ich weniger moralisch, als man es von mir als ehemaligem Pfarrer vielleicht erwarten würde.« Mit Sicherheit gebe es in der Frauenfrage noch einiges zu tun. »Aber eine besonders gravierende flächendeckende Fehlhaltung von Männern gegenüber Frauen kann ich hierzulande nicht erkennen.« Wenn es keine schlimmeren Sorgen gebe, »dann lasst uns mal sehen, was jenseits dieser Wallungen wirklich kritikwürdig ist«.2

Der Satz erschütterte und entsetzte die jungen Initiatorinnen von #aufschrei, und so schrieben sie Gauck einen Brief. »Wir vermissen in Ihren Äußerungen vor allem Feingefühl und Respekt gegenüber all den Frauen, die sexistische Erfahrungen gemacht haben.« Eine der Initiatorinnen sagte der Zeitschrift Der Spiegel: »Wenn man so ein supereigenartiges Wort wie Tugendfuror liest, tut das weh und macht wütend.«3

Gehörte ich zur Gruppe der allgegenwärtigen Netzfeministinnen, hätte auch ich nach dem Treffen mit Gauck einen Hashtag erfunden. Oder ich wäre auf einen der rasenden Empörungszüge aufgesprungen, die jeden Urheber eines nicht vom Femi-TÜV geprüften Worts zermalmen; laut, sehr vehement hätte ich aus dem präsidialen Salon hinaus in die digitale Welt getippt: »Schock! Sexuelle Belästigung!« Ich habe es nicht getan. Ich fand seine Wortwahl noch erträglich. Es ist sein Alter, sage ich mir, er ist anders sozialisiert und hat entsprechende Rollenbilder. Und irgendwann kam ich zum Ergebnis, er sei zwar ein kleiner Grapscher, aber sicher auch ein Gentleman, der mich wahrscheinlich freigelassen hätte, wenn ich ihn darum gebeten hätte. Ich habe ihm sein verwirrendes Verhalten verziehen und das »Gaucken« ohne Schaden überstanden. Im Vergleich zu dem, was tatsächliche Opfer von Vergewaltigungen und anderen sexuellen Übergriffen erleiden müssen, war die Sünde des evangelisch-lutherischen Pastors, so ja Gaucks eigentliche Berufung, eine lässliche, die sein Gott ihm wohl verzeihen wird.

Eine Frau wie ich, die sich unter Einsatz ihres Körpers für Frauenrechte eingesetzt hat, muss nicht betonen, dass Sexismus in unserer Welt allgegenwärtig ist. Noch größer aber sind Empfindlichkeit und Egomanie. Wo lange Schweigen war, ist heute Hysterie. Zahlreiche Hashtag-Initiativen schlugen sich auf die Seite bedrängter Frauen, in Deutschland #TeamGinaLisa und #aufschrei. #MeToo erlebte ein erstes Hoch, nachdem eine Bandaufnahme des damaligen amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump öffentlich wurde, in dem von ihm die Worte zu hören waren: »Grapsch ihnen an die Pussy.«

Wie einer wie Trump seine Macht ausspielt und vor allem Frauen dominiert, hat NBC-Journalistin Katy Tur in ihrem Buch »Unbelievable: My Front-Row Seat to the Craziest Campaign in American History« (Unglaublich: In der ersten Reihe bei der verrücktesten Kampagne der amerikanischen Geschichte) beschrieben. Sie war die Erste, die ihn bei seinen Wahlkampfauftritten stetig begleitete. Trump habe sie als »Little Katy« bezeichnet und bei mehreren Auftritten versucht, sie zu demütigen. Vor einem Auftritt in der Frühstückssendung »Morning Joe«, so berichtete sie, habe Trump seine Hände auf ihre Schultern gelegt. »Bevor ich weiß, wie mir geschieht, sind seine Hände auf meinen Schultern, seine Lippen auf meiner Wange. Meine Augen weiten sich. Mein Körper wird ganz starr. Mein Herz hört auf zu schlagen.« Ihr erster Gedanke sei gewesen: Hoffentlich hat das keine Kamera erfasst. Ihre Vorgesetzten würden sie nicht mehr ernst nehmen. Offenbar war dem nicht so. Und Trump bestreitet den Vorfall, nach Erscheinen des Buchs tweetete er: »Fake news.«4

US-Präsident Donald Trump ist ein größenwahnsinniger Caveman, ein Höhlenbewohner. Er strahlt extreme Dominanz aus, ist großmäulig und selbstbewusst, und er ist damit lange Zeit erfolgreich gewesen, sodass er Geld anhäufen und Machtpositionen besetzen konnte. Leider hat das auch viele Frauen beeindruckt, so sehr, dass sie ihn statt Hillary Clinton wählten.

Den zweiten Höhenflug erlebte #MeToo, nachdem die New York Times und der New Yorker berichtet hatten, dass und wie der Filmproduzent Harvey Weinstein seine Macht benutzt haben soll, um junge Frauen zum Sex zu nötigen. Nun offenbarte der Hashtag die Größe eines Problems, und Alyssa Milano, die ihn recycelte, gelang, was sie im Sinn gehabt hatte: »Wenn alle Frauen, die sexuell belästigt oder angegriffen werden, schrieben: ›Ich auch‹, dann könnten wir den Menschen eine Vorstellung vom Ausmaß des Problems geben.«

Zahlreiche prominente Schauspielerinnen und Journalistinnen berichteten über männliche Übergriffe nicht nur im Showbusiness. Im Dezember 2017 beerbten die »Schweigebrecherinnen« von #MeToo den US-Präsidenten als »Person of the Year« des Time Magazine, als einflussreichste Personen des Jahres, vor Donald Trump und dem chinesischen Staatsoberhaupt Xi Jinping. Das Cover zeigte fünf Frauen, darunter die Schauspielerin Ashley Judd und die Sängerin Taylor Swift. Das Problem aber ist bereits in seiner ganzen Dimension bekannt, seit Susan Brownmiller 1975 in ihrem Buch »Against our will. Men, women and rape« (auf Deutsch 1978: »Gegen unseren Willen«) schrieb, Vergewaltigung sei »eine Methode bewusster systematischer Einschüchterung, durch die alle Männer alle Frauen in permanenter Angst halten«.5

Keine Frage: #MeToo war dringend nötig. Nachdem Frauen so lange geschwiegen und damit das Verhalten der Täter gebilligt, gefördert, gestärkt und die nächsten Opfer ermöglicht hatten, sprachen sie es endlich aus. #MeToo zeigte zunächst »denen da oben«: So wird es nicht weitergehen. Aber bald nervte die Kampagne. Das Ausmaß der körperlichen Übergriffe gegen Frauen wäre auch ohne die hysterischen Übertreibungen, ohne den grassierenden Hashtag-Hype erkannt worden. #MeToo jedoch und all die Artikel und Blogs zum Thema unterschieden bald nicht mehr zwischen einer Vergewaltigung, einer unerwünschten Umarmung, Altherrenkomplimenten und unbeholfener Wortwahl.

Die Kampagne wäre wirkungsvoller gewesen, wäre sie differenzierter geblieben, nicht nur in den Vereinigten Staaten von Amerika. Was subsumieren wir heute alles unter dem Begriff Sexismus! Und welche Folgen hat diese Inflation der Anklagen und Anwürfe, der Verdächtigungen und Vorverurteilungen. Der Anschein entstand, als litte die eine Hälfte der Menschheit unter der Dauergeilheit der anderen. Am deutlichsten zeigte das Frankreichs Schwester-Hashtag »balancetonporc«, auf Deutsch: Schwärze dein Schwein an. Das heißt ja: Jede Frau hat ein Schwein, Frauen sind umgeben von Unholden, und es ist aussichtslos, sich als wehrloses, weiches Wesen gegen diese trieb- und testosterongesteuerten Tiere zu wehren. Aber nun formieren sie sich, die Jägerinnen, und wer auf deren Abschussliste steht, ist so gut wie tot. Das Urteil ist so schnell gesprochen wie vollstreckt. Beweisaufnahme? Unnötig.

Das Maßlose und Moralisierende in der Sexismusdebatte ist nicht neu, die Entwicklung in Richtung Hysterie und Hetze erfolgt fast zwangsläufig, weil sie von vermeintlichen Opfern bestimmt wird, die über ihre eigene Geschichte, ihre Betroffenheit, ihren Schmerz schreiben und ihren Peiniger als stellvertretend für alle Männer sehen. Die Frauen schleudern ihre Erfahrungen hinaus in eine Welt, die sie als feindlich empfinden, und sie tun das, weil sie endlich Gelegenheit dazu haben. »Vergewaltigung ist so amerikanisch wie Apple Pie«, hatte eine amerikanische Bloggerin schon vier Jahre vor #MeToo geschrieben. Die Gesellschaft sei gekennzeichnet durch eine Vergewaltigungskultur. Mit dieser Behauptung verfestigte sich weltweit ein ideologischer Begriff, im Englischen rape culture genannt. Die Vergewaltigungskultur sei zwar unsichtbar, aber allgegenwärtig; Filme, Zeitschriften, Mode, Bücher, Musik, Humor und sogar Barbie vermittelten die Botschaft, Frauen seien dazu da, benutzt, missbraucht und ausgebeutet zu werden. Die Antwort von Caroline Kitchens, Wissenschaftlerin am American Enterprise Institute, hätte damals schon nachdenklich stimmen müssen: Natürlich sei eine Vergewaltigung ein entsetzliches Verbrechen, das keine Toleranz erfahren dürfe und logischerweise strafbar sei. Aber es sei »nicht Teil unserer Kultur«, sondern das genaue Gegenteil unserer Kultur. Die Theorie von der Vergewaltigungskultur leiste wenig für die Opfer, »aber ihre Macht, die Gehirne von jungen Frauen zu vergiften und feindliche Umgebungen für unschuldige Männer zu schaffen, ist unermesslich«. An den amerikanischen Hochschulen gebe es eine Obsession, die sogenannte rape culture zu beseitigen. Das habe zu Hysterie und Zensur geführt. Sie kritisiert »eine außer Kontrolle geratene Lobby, welche die Öffentlichkeit, unsere Lehrer und Politiker auf den falschen Weg leitet«, schrieb sie im Time Magazine. »Es ist Zeit, die Vergewaltigungs-Hysterie zu beenden.«6

So hätten »Aktivistinnen« am Wellesley College, einer privaten Hochschule für Frauen, verlangt, dass eine Statue eines männlichen Schlafwandlers beseitigt werden müsse; der fast nackte Mann könnte Erinnerungen an sexuelle Übergriffe hervorrufen (triggern).

So auch in Deutschland: In Berlin musste sich der akademische Senat der Alice-Salomon-Hochschule (ASH) mit dem Vorwurf von Studentinnen beschäftigen, die ein Gedicht aus dem Jahr 1953 als sexistisch empfanden, das seit 2011 eine Fassade zierte. Es stammt von Eugen Gomringer, der von der ASH ausgezeichnet worden war und ihr daraufhin das Gedicht schenkte. Es lautet: avenidas/avenidas y flores/flores/flores y mujeres/avenidas/avenidas y mujeres/avenidas y flores y mujeres y/un admirador. (Alleen/Alleen und Blumen/Blumen/Blumen und Frauen/Alleen/Alleen und Frauen/Alleen und Blumen und Frauen und/ein Bewunderer.)

Dergleichen soll also das verhasste Patriarchat repräsentieren, die Herrschaft der Väter, eine kleine Gruppe von Männern, welche die Mehrheit unterdrücken, die Frauen und die jungen Männer. Wer denkt wie die Studentinnen in Berlin und Massachusetts, kann vermutlich in einem Mann nichts anderes sehen als einen Apfelkuchen (Apple Pie), einen Frauenschänder. Und dann ist es auch nicht überraschend, dass die aktuelle Massenhysterie zu einem Generalverdacht führt. Das jedoch kann schlimme Folgen haben. Es bedarf nur einer Anschuldigung, um das Leben eines Mannes zu zerstören, ihm die Existenzgrundlage und seine Ehrhaftigkeit zu entziehen, wenn er in eine fieberhafte außergerichtliche Hexenjagd gerät und vorverurteilt an einen öffentlichen Pranger namens Internet gestellt wird. In den USA, so Kitchens, finde sich eine wachsende Zahl junger Männer wegen Vergewaltigungsvorwürfen vor Campus-Rechtsausschüssen, in denen faire Prozesse praktisch unmöglich seien; die »Angeklagten« seien »schuldig, weil beschuldigt«.

So verlor im Sommer 2015 ein anerkannter britischer Biochemiker, der für seine Krebsforschungen den Nobelpreis erhalten hatte, seinen guten Ruf und seine Ehrenprofessur. Während einer Tischrede hatte Sir Timothy Hunt sich darüber lustig gemacht, »dass ein chauvinistisches Monster wie ich gebeten worden ist, vor Naturwissenschaftlerinnen zu reden«, woraufhin er sich einen Scherz über »Mädchen im Labor« erlaubte: »Drei Dinge geschehen, wenn sie im Labor sind; man verliebt sich in sie, sie verlieben sich in einen, und wenn man sie kritisiert, weinen sie. Vielleicht sollten wir getrennte Labore für Jungen und Mädchen haben.« Dann sagte er: »Spaß beiseite«, und setzte seine Rede fort, in der er auch die Leistungen von Wissenschaftlerinnen für die wirtschaftliche Entwicklung in Korea würdigte. Die Naturwissenschaften brauchten Frauen, sie sollten sich nicht durch Hindernisse und »Monster wie mich« abhalten lassen. Es gab erfreute Rückmeldungen, aber auch eine Twitter-Initiative von drei Wissenschaftlerinnen, die damit zur Jagd auf Hunt bliesen. Sie brachten ihn schließlich zur Strecke, er verlor seinen Job.7

Der damals 72-Jährige war offensichtlich zu blauäugig. Er hätte wissen müssen, dass nicht alle Menschen Ironie verstehen (wollen), ganz besonders eine Sorte von Feministinnen. Das Brett vor dem Kopf erlaubt es manchen auch nicht, das Körnchen Wahrheit zu sehen, das in jedem Witz steckt. Schon gar nicht waren jene Damen in der Lage, zurückzuscherzen oder zurückzuschlagen. Die meisten Männer können das besser. Leider.

Natürlich müssen wir uns mit allen Mitteln gegen sexuelle Gewalt wehren, wo sie tatsächlich gegeben ist. Frauen zu ermutigen, dazu hat #MeToo beigetragen. Dazu trägt auch jede Anzeige gegen Täter bei, auch wenn uns viele einreden wollen, das führe zu nichts. Jeder verurteilte Täter ist eine Warnung an potenzielle Nachahmer.

Selbstverständlich gibt es auch in Deutschland Gewalt gegen Frauen bis hin zu abscheulichen Verbrechen wie Vergewaltigung. Auch in diesem Land lebt noch immer ein Rest der patriarchalen Gesellschaft, die Frauen nicht als gleichwertig betrachtet und für benutzbar hält. Aber wir müssen unterscheiden zwischen Vergewaltigung, einer Dummheit und Respektlosigkeit. Wir sollten nicht jeden törichten Ton eines geilen Greises oder eines engstirnigen, einfältigen Esels an den Pranger stellen. Die Neigung, jedes missglückte Kompliment zu sexueller Gewalt zu stilisieren, verhöhnt die tatsächlichen Opfer und bremst den Fortschritt auf den wirklichen Problemfeldern des Geschlechterkampfs. Wenn junge Frauen, die sich vermutlich als Feministinnen verstehen, sich mit solchen Banalitäten beschäftigen, dann übersehen sie die wichtigen Auseinandersetzungen, die großen Kämpfe der Frauen für Gleichberechtigung und Gleichheit, die noch längst nicht ausgefochten sind, etwa die Gleichstellung der Frauen in der Arbeitswelt.

In der hitzigen Debatte seit #MeToo wird bereits als Förderer der rape culture denunziert, wer in Erwägung zieht, unter den Beschuldigten könnte sich der eine oder andere unschuldig Angeklagte befinden; das sei Beschuldigung von Opfern, heißt es. Gefährlich ist auch die Behauptung, sexuelle Gewalt und Vergewaltigungen seien weder epidemisch noch endemisch, weder an US-Campussen noch auf dem Oktoberfest oder im Karneval. Das liegt daran, dass eine kleine Gruppe von »Aktivistinnen« versucht, die Debatte über faires und gleichberechtigtes Miteinander der Geschlechter an sich zu reißen. Über das Web und die sozialen Netzwerke haben sie die Geschlechterdebatte auf der ganzen Welt in ein geiferndes Geschrei verwandelt, das jegliche Art von Sexismus nivelliert. Keine Frage: Wir müssen jede Form von Misogynie beseitigen, wer aber unter Androphobie leidet, sollte zu einem Arzt gehen. #MeToo hat sich zu einer Debatte zwischen Hysterie und Bagatellisierung entwickelt, einen Tsunami an Beschuldigungen geschaffen, eine Inflation der Sexismusvorwürfe entfacht. In diesem Klima stehen Abschottungsfeministinnen all jenen gegenüber, die für Vernunft und Miteinander plädieren. Früher galt: Ich denke, also bin ich. In der heutigen Internethysterie lautet das Motto: Ich empöre mich, also bin ich. Wir haben neben schockierenden Fakten einen Trend zur Bevormundung von angeblich hilfsbedürftigen Frauen. Wir haben Anfeindungen von Frauen gegen jene, die Verantwortung nicht nur bei Männern sehen, sondern auch bei Frauen, die – nur ein Beispiel – ihre Mädchen zu Heidi Klum schicken. Wir haben den Versuch, Frauen aus der feministischen Bewegung auszuschließen, die – wie ich – gegen bedingungslose Abtreibung und gegen »Sexarbeit« sind, die es in Ordnung finden, mit einem Mann ein Kind zu zeugen, und der guten, alten Familie und der häuslichen Kinderbetreuung noch etwas abgewinnen können. Und wir haben Sprechverbote, verordnet aus der unbegründeten Angst, »Antifeministen« und »Männerrechtlern« Munition zu liefern.

Das Weltbild der Abschottungsfeministinnen ist eindeutig: Männer sind Täter. Frauen sind Opfer. Alle Männer sind schuldig. Hat eine Frau einen Mann angeklagt, ist für sie die Sachlage klar. So kann die außerhalb unseres Rechtsverständnisses liegende Forderung erhoben werden, Männer auf der Grundlage eines individuellen Gefühls zu verurteilen; für sie liegt eine Vergewaltigung vor, wann immer eine Frau sich vergewaltigt fühlt. In einer demokratischen Grundordnung mit einem demokratischen Rechtssystem müssen wir jedoch akzeptieren, dass Täter ist, wem Schuld nachgewiesen ist. Tatverdächtige sind noch keine Täter – können es aber werden.

Keine Frage: Männer neigen oft zu Selbstüberhöhung, verursacht durch die noch immer herrschende patriarchale Sozialisierung. Sexismus geschieht bewusst – und unbewusst. Und gerade das Unbewusste macht die Sache gefährlich und mühsam zu bekämpfen. Hinzu kommt, was manche kompromisslose Kämpferin nicht hören will: Auch Frauen agieren sexistisch.

Auf der anderen Seite stehen wir Frauen uns selbst im Weg: Wir sind uns nicht einig, was Feminismus ist. Wir sind Kannibalinnen am eigenen Geschlecht. Wenn Frauen geschlossen für ihre Rechte und gegen deren Verletzung eintreten wollen, brauchen wir eine eindeutige Definition dessen, was Sexismus, sexuelle Gewalt und Vergewaltigung bedeutet. Und wir müssen dafür sorgen, dass der Vergewaltigung angeklagte Menschen vor Gericht gestellt werden und wir das Urteil abwarten und akzeptieren, statt sie an den digitalen Pranger zu stellen und beruflich und gesellschaftlich zu zerstören.

Was von radikalfeministischen Schreierinnen heute als sexuelle Gewalt verstanden wird, ist häufig eher unbedacht, unhöflich oder unmoralisch. Wenn wir den Begriff wahllos gebrauchen, sorgen wir nicht nur für eine Nivellierung, die auch die schwerwiegendste Tat in etwas Gewöhnliches verwandelt, die Schuld des Täters relativiert und die Überlebende – wie Vergewaltigte seit 1990 genannt werden sollen – und ihren Schmerz nicht mehr ernst nimmt. Vielmehr wenden sich auch wohlgesinnte, lernende und feministische Männer ab. Weil aber bei #MeToo zunehmend alles in einen Topf geworfen wurde und dieser Trend sich in vielen Beiträgen in allen erdenklichen Medien niedergeschlagen hat, ist die Kampagne übergelaufen und auf der Herdplatte verbrannt. Nun riecht es unangenehm säuerlich nach Geschlechterkrampf und Rechthaberei.

Eine einseitige, moralisierende Massenhysterie, Schwarz-Weiß-Denken und Extremismus von »Feministinnen«, die bei jedem etwas schlüpfrigen Witz in Ohnmacht fallen und ein Trauma erleiden, wenn ein 80-Jähriger ein weibliches Knie berührt, führt uns nicht in eine gleichberechtigte Zukunft. Es entstehen nur neue Opfer, wenn ein Internetmob mit ein paar Tweets einen einigermaßen prominenten Mann vernichten kann, den Menschen, den Kollegen, einen Familienangehörigen. Das als Kollateralschaden gegenüber dem Geschlecht zu rechtfertigen, das »uns« bisher geknechtet hat, ist zynisch. Jedermann, selbst wenn unschuldig und fehlerfrei, kann dieser Jagd zum Opfer fallen.

Wir sind alle Menschen, und wir können alle TäterInnen oder Opfer von Sexismus und Gewalt werden. Prozentzahlen interessieren Überlebende nicht, sie oder er ist ein Individuum. Wir müssen Sexismus gemeinsam beseitigen, um miteinander leben zu können. Dazu gehört aber, dass auch Frauen ihrer Verantwortung gerecht werden und sich zu ihrem Teil der Verantwortung an der derzeitigen Misere bekennen.

Heute sind fast alle Frauen Feministinnen, quer durch alle demokratischen Parteien; sie alle streiten für eine gerechtere Verteilung der Lebenschancen und ein Leben nach ihrem Gusto – jede einzelne von ihnen –, nicht nach den Befehlen eines Mannes. Die Männer in Europa haben inzwischen einen großen Teil ihrer Macht über Frauen verloren, die Mad Men sterben aus. Anders als die britische Autorin und Feministin Laurie Penny nahelegt, ist es nicht so, dass »Männer auf beiden Seiten des Atlantiks und des politischen Spektrums Vergewaltigung rechtfertigen«.8 Aber natürlich ist noch längst nicht alles in Ordnung im Mit- und Gegeneinander der Geschlechter. Was fehlt in Deutschland noch, damit wir sagen können: Der feministische Kampf ist beendet, soziale Gleichheit erreicht? Dieses Buch wird es ergründen.

Schon hier ist festzuhalten: Es wird nicht ohne die Männer gehen, jedenfalls müssen wir diejenigen mitnehmen, die sich von den chauvinistischen Einstellungen der Traditionalisten, Männerrechtler und ähnlicher Steinzeitmänner abgewendet haben. Lasst uns nicht die Kerle, die – fast könnte ich sagen – feministisch sozialisiert sind, mit dem Bade ausschütten. Sogar in testosterongeladenen Cavemen steckt immer auch etwas Weiches. Je rauer die Schale, desto emotionaler der Kern. Mit den meisten Männern kann Frau doch eine Menge Spaß haben. Und Trans kann mit Trans, Homo mit Homo und Lesbe mit Lesbe und so weiter. Ich steh auf Mann. Und mit einigen von ihnen habe ich schon den siebten Himmel kennengelernt, aber natürlich auch die Hölle, anstrengende Auseinandersetzungen und stürmische Streitereien, die es in jeder lebendigen Beziehung gibt. Aber das ist nun wirklich privat.

2. SEX UND LÜGEN IN HOLLYWOOD

Vergewaltigung: das schlimmste Verbrechen gegen Frauen

Jede Frau kennt das: Ich gehe spät in der Nacht allein nach Hause, die Straße ist nur spärlich beleuchtet, und ich höre Schritte hinter mir. Schon ist sie da, die Angst. Die Angst vor dem Unvorstellbaren. Die Angst, zum Sex gezwungen zu werden. Vergewaltigt zu werden. Wir leben noch immer in einer Männerwelt, in der Frauen tagtäglich sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Die Männer sind körperlich die Stärkeren, täglich ist in den Zeitungen zu lesen, dass manche das ausnutzen, und allein das begründet jegliches Gefühl der Angst. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, und mein Herz schlägt schneller, wenn ich eine dunkle Gasse durchschreite und ein Mann mir begegnet – oder mehrere. Deshalb vermeide ich dunkle Gassen und unbeleuchtete Straßen sowie unbewachte Parkplätze. Wenn ich aus dem Auto aussteige oder nachts unterwegs bin, habe ich mein Handy fest in der Hand. Auf Treppen achte ich darauf, dass kein Mann mir folgt, der mich hinuntertreten könnte. Eine Frau ist ständig in Alarmbereitschaft.

Ich habe keinen Selbstverteidigungskurs absolviert, ich bin unsportlich, messe von Kopf bis Fuß nur einen Meter und sieben- undfünfzig Zentimeter. Meine Waffen sind eine verdammt laute Stimme, ein Pfefferspray und mein Tactical Pen (ein Druckpunktverstärker fürs Zuschlagen). Ich weiß auch, wohin ich treten muss, um einem Mann wehzutun. Ob das den körperlichen Unterschied wettmacht, will ich nicht erproben müssen. Ich weiß, dass er mich mit einem Schlag zu Boden schmettern könnte. Der körperliche Unterschied zwischen Mann und Frau ist nun einmal da.

Der Gedanke, einen solchen Überfall erleben zu müssen, sprengt jede Vorstellungskraft, und ich ahne, dass ich danach nicht mehr in der Lage wäre, mein Leben fortzusetzen. Lieber tot, als nach einer Vergewaltigung als Opfer weiterleben zu müssen. Mich in meinem eigenen Körper nicht mehr wohlzufühlen. Mich bedauern lassen zu müssen. Mich fragen zu müssen, wie ich jemals wieder mit dem geliebten Partner intim sein könnte. Hören zu müssen, ich solle mich zusammenreißen, das Krönchen wieder richten und weitermachen; oder vielleicht im Gegenteil mit Vorwürfen konfrontiert zu werden, wenn ich mich doch als überlebensfähig erwiese und nicht den Rest meines Lebens in Schwarz ginge wie eine alte Witwe. Träfe mich das Schicksal einer Vergewaltigung, so hoffe ich, mithilfe anderer mit dem Erlebten fertigzuwerden. Wie eine Frau das Grauenvolle bewältigt und wie lange es dauert, müssen wir ihr überlassen.

Jede Frau kennt diese Angst. Und auch wenn mir außerhalb meiner politischen Arbeit in meinem Freundes- und Bekanntenkreis bisher keine Frau offenbart hat, vergewaltigt worden zu sein, so geschieht es doch, unzweifelhaft. »Wer Spaß an Schizophrenie hat, ist beim Thema Vergewaltigung an der richtigen Adresse«, schreibt die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal. »Wo sonst soll man sich vor etwas fürchten, das als Gefahr hinter jeder Ecke lauert, während es gleichzeitig der Ausnahmefall sein soll – wie vom Blitz getroffen zu werden –, der in unserem Alltag nahezu nicht thematisiert wird?«9

Aber Angst kann niemand wegreden. Sie ist da, und sie ist nicht unbegründet, das zeigt die ganze Menschheitsgeschichte. Seit Urzeiten machen Männer sich Frauen gegen deren Willen gefügig, dringen in sie ein, nicht nur mit ihrem Penis, demütigen sie und mit ihnen die Männer, die sich grämen, wenn sie ihre Frauen nicht beschützen konnten. In patriarchalen Gesellschaften ist die Frau bis heute eine Art von Ware, die der Mann nach Gusto benutzt. Aber auch in vermeintlich zivilisierten Gesellschaften erlauben sich Männer bis heute, Frauen einfach und sprichwörtlich zu nehmen.

In Deutschland werden täglich durchschnittlich 20 Vergewaltigungen angezeigt, 94 Prozent davon von Frauen. Bei einer anonymen Befragung des Universitätsklinikums Ulm aus dem Jahr 2015 gab eine von 200 Frauen an, im vergangenen Jahr zum Sex gezwungen worden zu sein; sexueller Gewalt ausgesetzt sehen sich in diesem Zeitraum 1,2 Prozent der Frauen. Sich sexuell aggressiv verhalten zu haben gaben 1,5 Prozent der befragten Männer zu.10

Auch ich kannte den Mann, der gegen meinen ausdrücklichen Willen handelte. Bei mir war es ein Date mit einem Juristen. Es geschah in einer Lebensphase, in der nichts klappte, eine leichte Krise, ich war auf der Suche nach einer Beziehung, nach Nähe, nach dem Ankommen, nach dem richtigen Leben. Er war höflich. Und er schien sich für mich zu interessieren. Aber er kam mir immer wieder zu nah, ich drängte ihn immer wieder zurück. Beim dritten Treffen nach einem gemeinsamen Flohmarktbesuch gingen wir – von mir nicht geplant – zu ihm nach Hause. Es war Tag, und wir tranken keinen Alkohol. Aber er bedrängte mich, ich sagte mehrfach, ich möchte nicht. Ich hätte gehen können, aber ich ging nicht. Und dann ist es geschehen. Vermutlich kennt jede Frau auch diese Situation. Es gibt Typen, die eine Frau ganz gegen ihren Willen ins Bett quatschen.

Wie kann das passieren? Solche Männer verstehen es, Frauen zu manipulieren. Sie spüren deine Zerrissenheit und finden immer das richtige Wort. Sie bedrängen dich, bis du an der Wand stehst, überrascht und etwas ängstlich, und wenn sie das merken, geben sie nach. Dann stellt sich das Gefühl ein, dass er es gar nicht so meint, wie du dachtest. Kaum hast du dich beruhigt und durchgeatmet, drängt er wieder voran, ein bisschen aggressiver als zuvor, ein bisschen fordernder. So verschiebt sich die Grenze Stufe um Stufe. Und ehe man sich’s versieht, ist es passiert.

Zu Hause fühlte ich mich schlecht. Ich wollte ihn nicht wiedersehen, schrieb ihm – was mich bis heute ärgert – eine höfliche SMS und wünschte ihm »nur das erdenklich Beste«, statt zu sagen: Ich wünsche dir, dass jemand deine Grenzen überschreitet und dir etwas antut, was du nicht willst! Er antwortete, er habe es für ein Spiel gehalten. Was er damit sagen wollte: Du wolltest es doch auch!

Noch immer glauben Männer, Frauen zierten sich. Wenn sie Nein sagen, meinen sie Ja. Sie wollen erobert werden. Natürlich will ich auch erobert werden. Aber ich will Respekt. Und das gab er mir nicht. Ich schrieb ihm ein letztes Mal: »Du respektierst keine Grenzen!« Damit endete unsere Kommunikation.

Damals begriff ich dieses Ereignis nicht als Vergewaltigung. Viele Feministinnen würden heute sagen: Klar war es das. Du fühltest dich gefangen, warst in einer depressiven Phase, und er bemerkte es und nutzte deine Schwäche aus. Deshalb konntest du dich nicht ausreichend wehren, deshalb konntest du dieser Situation nicht entkommen. Ich denke dann: Ich hätte ja gehen können; er hätte mich nicht gehindert. Sicher ist: Ein Trauma habe ich nicht erlitten. Nein, ich habe etwas gelernt; das passiert mir nie wieder!

Harvey Weinstein lässt antanzen

Auch Ashley Judd kannte ihren Peiniger. Die US-amerikanische Schauspielerin war eine von drei Frauen, die uns am 5. Oktober 2017 aufrüttelten. Seither wissen wir, dass Harvey Weinstein nicht nur ein erfolgreicher Filmmogul ist, sondern ein Mann, der seine Macht ausgenutzt haben soll, um Frauen zu Sex zu nötigen. In der New York Times berichtete Judd, dass Weinstein sie vor zwei Jahrzehnten ins Peninsula Beverly Hills Hotel eingeladen haben soll. Sie habe das Treffen für ein geschäftliches Frühstück gehalten, aber er habe sie in sein Hotelzimmer geschickt, wo er bald in einem Bademantel erschienen sei und sie gefragt haben soll, ob er ihr eine Massage geben könne oder sie ihm beim Duschen zusehen wolle.

2014 soll Weinstein seine neue Angestellte Emily Nestor an ihrem ersten Tag ins selbe Hotel einbestellt haben. Er soll ihr angeboten haben, ihre Karriere zu fördern, wenn sie seine sexuellen Avancen akzeptiere. Eine weitere Assistentin behauptete, Weinstein habe von ihr verlangt, ihn zu massieren, während er nackt gewesen sei. Schließlich habe Weinstein sie »weinend und sehr verstört« zurückgelassen. Lauren O’Connor, die das in einem Memo über sexuelle Belästigung und anderes Fehlverhalten ihres Chefs festgehalten hatte, sagte der New York Times: »In dieser Firma besteht eine giftige Umgebung für Frauen.« Ich bin überzeugt: Firma steht für ganz Hollywood.

Bevor er sich in eine Klinik begab, wo er angeblich eine Therapie beginnen wollte, verabschiedete sich Weinstein mit einem Statement, das als Geständnis aufgefasst werden kann: »Ich erkenne an, dass die Art, wie ich mich in der Vergangenheit Kollegen/Kolleginnen gegenüber verhalten habe, eine Menge Schmerz bereitet hat, und ich bedaure das aufrichtig. Ich versuche, es künftig besser zu machen, ich weiß, das wird ein langer Weg. Das ist meine Verpflichtung. Mein Weg wird es nun sein, mich kennenzulernen und meine Dämonen zu bekämpfen.« Er arbeite mit Therapeuten und beabsichtige, eine Weile auszusteigen, um sich mit dem Problem auseinanderzusetzen.11

Mit Jessica Hynes meldete sich tags darauf via Twitter eine britische Schauspielerin. Sie war 19, als sie bei Weinstein für eine Filmrolle vorsprechen sollte – im Bikini. Sie habe den Job nicht bekommen, und sie sei sicher: »Da gibt es mehr.« Und es kam mehr: Wenige Tage nach dem Artikel in der New York Times berichtete Ronan Farrow (Jurist und Journalist), Sohn der Hollywoodstars Woody Allen und Mia Farrow, im Magazin New Yorker