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Anita Berber (1899–1928) war Filmstar, Tänzerin, Modeikone und Skandalfigur zugleich. Sie trug Frack und Monokel, lange vor Marlene Dietrich, sie lebte auf offener Bühne ihre Bisexualität und ihre Drogensucht aus, prügelte sich mit Kritikern, versuchte Gäste ihrer Aufführungen zu bestehlen – und geriet damit immer wieder in Konflikt mit den Normen der Gesellschaft. Diese Biografie erzählt das dramatische Leben Anita Berbers als Spiegelbild einer wilden und in sich widersprüchlichen Zeit. Nirgendwo anders als im Berlin der frühen Zwanzigerjahre wäre ihre kurze, einzigartige Karriere möglich gewesen.
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Seitenzahl: 288
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Armin Fuhrer
SEXTROPOLIS
Anita Berber und das wilde Berlin der Zwanzigerjahre
BeBra Verlag
Kapitel 1: Skandal in Wien
Kapitel 2: Zwei erste Male
Kapitel 3: Ein neuer Stern am Himmel
Kapitel 4: Vor der Kamera
Kapitel 5: Umwälzungen
Kapitel 6: Hunger, Leid, Elend
Kapitel 7: Aufstieg
Kapitel 8: Die »neue Frau«
Kapitel 9: Celly de Rheidts Ballett
Kapitel 10: Eton Boy
Kapitel 11: Königin der Nacht
Kapitel 12: Diva
Kapitel 13: Tanz am Abgrund
Kapitel 14: Sextropolis
Kapitel 15: Schicksalhafte Begegnung
Kapitel 16: Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase
Kapitel 17: 1923
Kapitel 18: Niedergang in den Goldenen Zwanzigern
Kapitel 19: Absturz und Tod
Anhang
Die Aufregung ist groß, die Spannung greifbar, das Konzerthaus seit langem restlos ausverkauft. Seitdem Wochen zuvor bekannt wurde, dass Anita Berber in der Stadt ist und am 14. November gemeinsam mit ihrem Partner Sebastian Droste ihr neues Programm, die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase, aufführen wird, ist sie in diesem Jahr 1922 das beherrschende Thema des Boulevards. Endlich ist wieder etwas los in Wien, freuen sich die Zeitungen. Denn seit die Inflation in Österreich gestoppt wurde, durchlebt die Stadt eine Krise – die Touristen strömen jetzt noch mehr als ohnehin schon nach Berlin, die im doppelten Sinne des Wortes billige Hauptstadt des Deutschen Reiches. Hier reißt die Inflation alles mit sich, lässt zugleich aber Besucher mit ausländischen Devisen zu Königen werden, denn alles ist für ein paar Dollar, Pfund oder Gulden zu haben: Antiquitäten, Wohnungen, Nächte in den nobelsten Hotels, verruchte Unterhaltung in den zahllosen Nachtclubs, Frauen. Berlin gilt als die »Hure Babylon«, das Zentrum des Lasters und der Lust. Und dieses Zentrum hat eine Herrscherin, eine Königin: Anita Berber.
Viele Geschichten ranken sich um diese gerade einmal 23 Jahre alte Frau, die als Schauspielerin in Skandalfilmen wie Prostitution und Anders als die Anderen mitgewirkt hat und deren Auftritte als Nackttänzerin in den berühmtesten Lokalen der Metropole an der Spree inzwischen legendär sind. Tänzerin – ja, eine gute vermutlich sogar. Aber dass sie stets von einem Nebel von Kokain, Morphium und Alkohol umgeben sein soll, ihr Gesicht hinter einer Maske aus Schminke verbirgt, ihre bisexuellen Neigungen offen auslebt und ihre sexuellen Fantasien unbekleidet auf der Bühne tanzt, erhöht ihr Ansehen gerade beim bürgerlichen Publikum nur noch weiter. Laster – Sehnsucht des Bürgers! Wohlwollend, fast dankbar vermerkt der Journalist Karl Tschuppik alias Kajetan, dass es Anita Berber als Einziger gelinge, das Wunder zu vollbringen, den größten Saal Wiens, das Konzerthaus mit seinen 1800 Sitzen, bis auf den letzten Platz zu füllen.
Die Berliner Königin der Nacht hat sich schon seit einigen Wochen in Wien niedergelassen und probt, gemeinsam mit ihrem nicht minder geheimnisvollen Partner Sebastian Droste, ihre Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase. Ist es nicht geradezu eine Ehre, dass sie sie hier, in Wien, aufführt, und nicht in Berlin? Dass Berber und Droste ihr Programm zuerst an der Donau zeigen, ist allerdings ein Irrtum. Tatsächlich tanzen sie ihr Programm bereits Anfang Oktober, also sechs Wochen vor dem Auftritt im Konzerthaus, im Blüthner-Saal in Berlin. Aber der Auftritt, obwohl ebenfalls ausverkauft, findet in den Zeitungen praktisch keinen Widerhall, und wenn doch, dann eher spöttischen. Mit Berlin sind Anita und Sebastian in diesem Herbst 1922 erst einmal durch. Dort wird sie nur noch als »Nackttänzerin« gesehen. Aber ihr Anspruch ist ein ganz anderer. Sie will vom seriösen, anspruchsvollen Publikum wahrgenommen werden, und der Schlüssel zu diesem Erfolg sollen die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase werden. Wien ist der Versuch eines Neuanfangs für Anita Berber, die erst seit wenigen Wochen mit ihrem neuen Partner auftritt.
In Wien ist Berber keine Unbekannte, denn hier hat sie mit dem Regisseur Richard Ostwald eine Reihe von erfolgreichen Filmen gedreht und hier ist sie auch schon mehrmals aufgetreten – allerdings galt sie damals noch nicht als verruchte, skandalumwitterte Tänzerin, sondern als Talent seriöser Kunst, als vielversprechendes Nachwuchstalent des expressionistischen Ausdruckstanzes.
Doch Publikum und Kritiker haben jetzt, bei ihrer Rückkehr, kein großes Interesse an Anitas und Sebastian Drostes künstlerischen Versuchen. Allein die Tatsache, dass die beiden beim Tanzen sicher auch ihre Hüllen fallen lassen werden, ist die Sensation. Wien ist bei weitem nicht so wild, so enthemmt, so verzweifelt, verzagt und großmäulig wie Berlin. Im Vergleich wirkt es eher provinziell und spießig. Aber verruchte Schönheit weiß man auch hier zu schätzen, zumindest ein Teil des Publikums. »Mag sein, daß die Menschen im allgemeinen und die Wiener im besonderen die nackte Wahrheit nicht hören wollen, aber sehen, sehen wollen sie sie alle … wenn sie Anita Berber heißt«, schreibt die Wiener Mittags-Zeitung.
Bis heute wird immer wieder behauptet, Sebastian Droste und Anita Berber hätten den Skandal, der sich in den Wochen nach dem Auftritt im Konzerthaus vor den Augen eines fasziniert-abgestoßenen Publikums abspielt und von den Zeitungen breitgetreten wird wie kaum ein anderer, bewusst inszeniert, nachdem der erhoffte Erfolg der Aufführung ausgeblieben sei. Doch das ist kaum glaubwürdig, denn alles beginnt bereits kurz nach der Ankunft des Paares an der Donau, Wochen vor dem Auftritt. Schon Drostes erster Schritt in Wien wirkt keineswegs so, als unternehme er ihn in der Hoffnung auf Publicity. Sebastian Droste, der unter seiner Herkunft aus einem wohlhabenden Elternhaus leidet, weil er dadurch die Authentizität seiner Kunst gefährdet sieht, braucht Geld – viel Geld. So versucht er, sich bei einem Juwelier fünfzig Millionen Kronen zu beschaffen. Er legt dem Mann eine gefälschte Unterschrift eines Bekannten, des Prinzen von Taxis, vor. Der Schwindel fliegt auf, kommt zur Anzeige – und die Behörden verfügen Drostes Ausweisung mit anschließendem fünfjährigen Einreiseverbot. Urkundenfälschung ist eben mehr als ein Kavaliersdelikt. Aber er bekommt eine Schonfrist; er darf bleiben, bis die angekündigte Aufführung seines und Anita Berbers Tanzabends stattgefunden hat. Zu groß wäre wohl die Aufregung, wenn das Ereignis, dem die Wiener Kulturszene wie das Bürgertum entgegenfiebern, wegen des kriminellen Vergehens eines der beiden Akteure nicht stattfinden könnte.
Lehren zieht Droste daraus nicht. Am Morgen nach der Aufführung steht die Polizei vor seinem Hotelzimmer und verhaftet ihn. Diesmal soll er zwei adeligen Damen aus Deutschland Schmuck und eine beträchtliche Summe Geld, die Rede ist von 200 Millionen Kronen und 70.000 Lire, gestohlen haben. Anita Berber muss ihren Partner herauspauken und für ihn bürgen; ob die Vorwürfe stimmen, lässt sich nicht belegen. Der behördlichen Ausweisung kommen die beiden nicht nach, obwohl der Tanzabend im Konzerthaus inzwischen vorüber ist. Das Paar bleibt Stadtgespräch, die Journalisten mutmaßen, wann es wohl zur Abschiebung kommen werde. Wien sonnt sich in der Anwesenheit der bekannten Skandaltänzerin und ihres nicht minder verruchten, wenn auch noch nicht so bekannten Partners, es wird geklatscht und getratscht, die Boulevardblätter spekulieren, wie es weitergeht. Berber und Droste wollen in Wien bleiben und suchen neue Auftrittsmöglichkeiten. Sicher ist, dass die große Aufmerksamkeit eine gute Werbung ist, fraglich aber, was stärker wiegt: der Wunsch, in Wien zu bleiben, oder die Hoffnung, aus dem Klatsch Kapital zu schlagen. Es ist durchaus möglich, dass Droste mit seinem Sinn für Marketing erkennt, dass es sich auszahlen könnte, wenn das Paar die Sensationslust der Wiener Szene kitzelt. Die Kehrseite aber ist, dass die Auftritte selbst in den Hintergrund rücken. Sie sind keine Kunst-, sondern gesellschaftliche Ereignisse.
Auf der Suche nach neuen Auftrittsmöglichkeiten trifft Droste auf Moritz Rosner, den Leiter des Etablissements Ronacher. Der ist begeistert von der Aussicht, dass die berühmte Anita Berber auf seiner Bühne tanzt, und bietet dem Paar einen Vertrag für den Monat Dezember an. Nun gibt es nur eine Hürde – die drohende Ausweisung durch die Polizei. Moritz Rosner klärt die Angelegenheit mit einem Trick. Er behauptet, Droste könne seine Schulden in Wien durch das Geld, das er im Ronacher einnimmt, wenigstens zu einem Teil begleichen. Und so genehmigen die Behörden eine Verlängerung des Gastspiels für den Dezember. Rosner freut sich auf die Aufführungen mit seinen illustren Bühnenstars, die ihm Geld in die Kasse spülen sollen, doch schon kommt es zum nächsten Skandal. Es wird bekannt, dass Droste auch Verträge mit dem Apollo-Theater und dem Kabarett Tabarin abgeschlossen hat. Rosner ist empört und ruft die Internationale Artistenorganisation an. Die entscheidet eindeutig: Anita Berber und Sebastian Droste müssen ihre Verträge mit dem Apollo-Theater und dem Tabarin kündigen und dürfen nur im Ronacher tanzen. Bei Missachtung droht der Ausschluss aus der Artistenorganisation, was einem Auftrittsverbot auf fast allen europäischen Bühnen gleichkäme. Doch Regeln haben Anita Berber noch nie interessiert, der Regelbruch hat sie berühmt gemacht. Sebastian Droste hat seine kriminellen Neigungen bereits offenbart und sich als halbseidener Geschäftspartner erwiesen, dem vertragliche Vereinbarungen egal sind. Also treten beide einfach weiter auf den verbotenen Bühnen auf.
Jetzt ist der öffentliche Skandal perfekt und überlagert jegliche künstlerische Wertschätzung. Die Wiener verfolgen die Vorgänge atemlos, die Zeitungen berichten in großer Aufmachung. »Ganz Wien ist über die Affären der Tänzerin Anita Berber furchtbar aufgeregt. Ganz Wien fragt sich: Tanzt sie oder tanzt sie nicht?«, schreibt die Illustrierte Kronen Zeitung. Und wenige Tage zuvor, am 6. Dezember, weiß das Prager Tagblatt zu berichten: »Die bekannte Tänzerin Anita Berber hält seit Wochen das Interesse Wiens gefangen. Sie hat bei ihrem ersten Auftreten im großen Konzertsaal mit einem Nackttanz große Sensation hervorgerufen. Seither tanzte sie allabendlich in den großen Vergnügungsetablissements, im Tabarin und gab überdies zwei Abende im großen Konzertsaal, die völlig ausverkauft waren.«
Am Abend vor dem Erscheinen dieses Artikels allerdings wird der Auftritt im Tabarin verboten. Berber und Droste finden sich trotzdem ein und werden vom Publikum gefeiert – auch ohne zu tanzen. Was für ein herrlicher, aus Berlin importierter Skandal, so etwas hat man in der ehemaligen K.-u.-k.-Hauptstadt lange nicht mehr erlebt. Auch für die Zeitungen ist die Sache ein Fest. Dass die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit Grenzen habe, wie die Volks-Zeitung am 10. Dezember meint, davon kann keine Rede sein.
Das Publikum strömt zu den Aufführungen, aber kaum mehr jemand interessiert sich wirklich für die Tanzdarbietungen auf der Bühne, es geht um nackte Haut und um das exzentrische Gebaren der Berliner Stars. Aber wenn Berber und Droste diesen Skandal um des Skandals willen bewusst inszenieren, tun sie sich letztlich damit keinen Gefallen. Angesichts der Ambitionen, mit denen sie nach Wien gekommen sind, in der Hoffnung, dass ihre Kunst hier wahrgenommen und geschätzt und die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase ihnen wieder den Zugang zum künstlerisch interessierten Publikum verschaffen würden, ist der große Skandal, der über Wochen Wien erschüttert, absolut kontraproduktiv. Er katapultiert sie endgültig von den Bühnen der hohen Kunst auf die des Kabaretts. Da hilft es nichts, dass Anita Berber in einem Interview darauf besteht, keine Nackttänzerin, sondern Künstlerin zu sein.
Einigen wenigen Journalisten gelingt es, bis in ihr Hotelzimmer vorzudringen und im wahrsten Sinne des Wortes hautnah zu berichten. So zwei Mitarbeiter der Zeitung Der Montag, die von Anita Berber offenherzig empfangen werden. Als die beiden Journalisten zum vereinbarten Zeitpunkt an der Tür des Hotelzimmers klopfen, öffnet ihnen Droste. Anita liegt noch im Bett. Im Artikel heißt es: »Wir sitzen beim Bette der Berber. Sie ist stark geschminkt, trägt derzeit kurz geschnittene rote Haare (früher einmal war blondes Haar die Mode), eine rohseidene Hemdbluse und eine Seidendecke. Die Hemdbluse steht vorne an der Brust – offenbar aus Zerstreutheit – offen und gewährt dem Beobachter eine nicht uninteressante Perspektive … Im Zimmer selbst sitzen drei gut gekleidete junge Leute herum, die gierig jedem Blick und jeder Bewegung der Künstlerin folgen. Der eine, Herr Droste, spricht mit einer gelangweilten Miene über den großen Skandal der vergangenen Tage. Wir wenden uns an Anita Berber und bitten sie, die Geschichte ihrer Verhaftung zu erzählen.« Damit spielt der Autor auf eine kurzzeitige Verhaftung Berbers und Drostes durch die Wiener Polizei wenige Tage zuvor an.
Auch der weitere Verlauf des Skandals wird begleitet von einer breiten, oft süffisanten Berichterstattung in den Zeitungen. Trotz des Verbots und der Drohung der Artistenorganisation tanzen Anita und Sebastian wieder im Apollo-Theater und im Tabarin. Das zuständige Gericht verurteilt die beiden zu einer zehntätigen Arreststrafe, die erst im letzten Augenblick durch einen Vergleich vermieden werden kann. Auch darüber wissen die Zeitungen zu berichten, mit allen pikanten Details. Aber dann scheint sich die Sache doch noch gütlich regeln zu lassen, denn Anita Berber und Sebastian Droste versichern, dass sie künftig nur noch im Ronacher tanzen werden. Doch getreu ihres Mottos, dass Vereinbarungen getroffen werden, um sie zu brechen, treten sie prompt auch noch in den Kammerspielen auf. Ihre Begründung lautet, dass das Verbot sich nach ihrer Auffassung ausschließlich auf Varietés erstrecke, nicht aber auf Theater, wie es die Kammerspiele sind. Erneut von einer Verhaftung bedroht, versichert Anita Berber, überhaupt nicht mehr auf irgendeiner Bühne Wiens zu tanzen, nur um am Abend desselben Tages wiederum in den Kammerspielen auf der Bühne zu stehen.
Nun hat die Polizei genug und nimmt das Paar am nächsten Abend, vermutlich am 26. Dezember, vor dem angekündigten Auftritt in Arrest. »Eine Zeitlang wurde sie täglich in den Nachtstunden verhaftet. In der Früh musste ich dann immer für sie intervenieren. Die Polizei ist stets bös auf sie gewesen. Sie hat in ihr ein Geschöpf gesehen, das gegen jede Ordnung ist. Sie nahm nämlich auch bei der Polizei oder bei der Behörde überhaupt nie ein Blatt vor den Mund. Sie randalierte dort genauso wie in der Garderobe oder im Nachtlokal. Sie machte Lärm, weil sie sich nur in Skandalluft wohlfühlte«, erinnert sich später der Theaterproduzent Siegfried Geyer von den Kammerspielen. Anita Berber hat offensichtlich jedes Maß verloren und sieht sich in einem Wettstreit mit den Behörden. Zudem stachelt sie sicher der tägliche Konsum von Kokain an. Zu einem Nachgeben ist sie nicht bereit, das ist etwas für Schwächlinge, und schwach, das ist sie gewiss nicht.
Und tatsächlich, ihre Hartnäckigkeit zahlt sich aus. Berber und Droste kommen mit der Zahlung eines Bußgeldes davon und dürfen weiter in den Kammerspielen tanzen. Was die Wiener Behörden zu diesem Entgegenkommen veranlasst, muss dahingestellt bleiben. Fraglos bringt der Skandal der Stadt überregionale Publicity. Zugleich aber gehen die Wiener Behörden im Herbst 1922 gerade verstärkt gegen den stark ansteigenden Konsum von Drogen wie Morphium und Kokain vor. Da macht es sich nicht eben gut, wenn zwei Stars, die im öffentlichen Rampenlicht stehen wie kaum jemand sonst, sich in aller Öffentlichkeit Morphium spritzen oder Koks konsumieren. So haben sie vor allem von Sebastian Droste die Nase dann doch gestrichen voll und weisen ihn nach Ablauf des Engagements in den Kammerspielen am 5. Januar 1923 aus Wien und Österreich aus. Die Polizei bringt ihn zur ungarischen Grenze, von wo er nach Budapest weiterreist.
Anita Berber bleibt nach Drostes Abschiebung zunächst in Wien. Aber auch ihre Zeit hier ist abgelaufen. Sie tritt allein im Tabarin auf. Im Gespräch mit dem Autor Lothar Fischer erinnert sich die Journalistin Grete Müller Jahrzehnte später an einen Abend nach einem dieser Auftritte: »Wundervolle Sensationen für ein grausam-lüsternes Publikum. Sie saß an einem der Tische in einer jener erhöhten, versteckten Logen; über dem engen hochgeschossenen Kleid brannte ihr weißes Gesicht mit den roten Haaren und den großen Augen, in denen das Entsetzen schrie. Zwei Herren redeten in sie hinein. Da warf sie die Arme plötzlich hoch, und den Oberkörper über den Tisch, und weinte, weinte, dass die roten Haare nur so flogen. Armer Teufel, armer, armer Teufel …«
Arm – ja, und das auch in finanzieller Hinsicht. Irgendwann müssen auch Berbers Geldsorgen erdrückend geworden sein, denn sie nutzt ihren letzten Soloauftritt im Tabarin rund eine Woche nach Drostes Abreise dazu, Gäste zu bestehlen. Sie versucht, Wertgegenstände aus der Garderobe mitgehen zu lassen, und überredet zwei Bekannte, Kleidungsstücke unter ihren Mänteln aus dem Haus zu schmuggeln. Doch die Sache fliegt auf, als der Portier sie und ihre Helfer am Ausgang nach ihren Passierscheinen fragt, wie es Vorschrift ist, wenn jemand das Gebäude mit Paketen verlassen will. Anita Berbers Antwort? Sie schlägt dem Mann die Faust ins Gesicht. Der fackelt nicht lange und schlägt zurück. Die Folge ist eine wilde Rauferei, in die sich auch mehrere Gäste stürzen und die um sich schlagende Berber festhalten. Als sie schließlich vom Chef des Hauses persönlich vor die Tür gesetzt wird, läuft sie zur nächsten Polizeistation, um Anzeige zu erstatten. Doch ihre Angaben werden von mehreren Zeugen widerlegt. Schlimmer noch, bei ihr wird auch eine Tasche gefunden, die Droste einer deutschen Gräfin gestohlen hat. Ein neuer Skandal, auf den sich die Wiener Blätter einmal mehr mit Lust stürzen. Am nächsten Tag wird auch Anita Berber aus Wien und Österreich ausgewiesen. Den schriftlichen Bescheid zerreißt sie vor den Augen der Polizisten, die ihn ihr überreichen, aber das nützt nichts – sie muss aus Wien verschwinden. Der Sturm dieses neuesten und letzten Skandals an der Donau wird weit über die Grenzen der Stadt hinaus wahrgenommen und erreicht auch die Boulevardpresse in Berlin. Anita Berber habe ihre Rolle als Nackttänzerin in Wien damit ausgespielt, urteilt die BZ am Mittag. Zu Recht.
Vor dem Hintergrund des versuchten Diebstahls mutet das Mitleid, das die Journalistin Grete Müller mit Anita zeigt, merkwürdig an. In dem bereits erwähnten Interview gibt sie zu Protokoll: »Man ertanzt sich die Pelze, die Toilette und Brillanten nicht, nicht diesen Luxus, an den sie doch so gewöhnt gewesen, der allein das Gesicht des Lasters erträglich, ja anziehend macht, und den sie umso mehr liebte, da sie ihn mit dem Mann ihres Herzens teilen wollte. Eine ganze Meute hetzte diese Armen immer tiefer – bis ins Gefängnis.« Aber ist Anita Berber nicht vielmehr ein Mensch, der sich den Luxus nicht mehr leisten kann, aber glaubt, ein Anrecht auf diesen Luxus zu haben? Während andere nicht wissen, wie sie sich und ihre Kinder ernähren oder, um in Anitas Milieu zu bleiben, wie sie ihren nächsten Schuss, ihre nächste Nase Kokain finanzieren sollen, lebt sie in Saus und Braus, wohnt im teuren Adlon und anderen Nobelhotels, trägt Pelze und Seidenschuhe. In Wien hinterlassen Sebastian Droste und Anita Berber hohe Schulden. In Budapest, wohin sie sich nach dem Wien-Debakel zunächst flüchten, gelangen sie laut dem Journalisten und Autor Leo Lania, der mit Anita befreundet ist, an Geld, indem sie die Unterschrift von Sebastians wohlhabendem Vater auf Wechseln fälschen – jetzt rettet Droste seine Herkunft aus reichem Hause, unter der er doch so leidet.
In Wien wird gegen beide ein Aufenthalts- und Auftrittsverbot ausgesprochen. Anitas Versuche in den folgenden Jahren, bei den Behörden eine Aufhebung zu erreichen, scheitern. Der Skandal, den sie in der Stadt ausgelöst hat, ist so groß, dass Polizei und Justiz glauben, die Bevölkerung vor ihr schützen zu müssen. Die offizielle Begründung für die Ausweisung sind aber nicht ihre Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase, und sie liegt auch nicht in ihren Vertragsbrüchen. Offiziell wird sie ausgewiesen, weil sie unbekleidet zur Musik von Ludwig van Beethoven getanzt hat – das habe dem Ansehen des großen Meisters geschadet, urteilt das zuständige Gericht. In Europas Hauptstadt der klassischen Musik, die Wien noch immer ist, ein unverzeihlicher Fauxpas.
In Berlin nimmt man die Wiener Eskapaden der Berber gelassener zur Kenntnis. Hier in der Vier-Millionen-Metropole ist das Leben rasanter, die Sitten sind rauer als im vergleichsweise gemütlichen Wien. Und ohnedies ist Anita Berber längst zu einer bekannten Figur in dieser von den Wirren der Nachkriegszeit – Hunger, Massenelend, Hyperinflation hier, Schiebertum und Inflationsgewinner da – erschütterten Stadt geworden. Seit dem Winter 1914/15 lebt Anita in Berlin, in einer Fünf-Zimmer-Wohnung in der Zähringerstraße 13 in Wilmersdorf, gemeinsam mit ihrer Mutter Lucie, ihrer Großmutter und zwei Tanten. Inzwischen 23 Jahre alt, hat sie sich einen Namen als Tänzerin und Schauspielerin gemacht und gilt als eine Art Königin des Nachtlebens. Und auch wenn ihre Karriere als skandalumwitterte Erscheinung noch am Anfang steht, dürfte mancher Berliner und manche Berlinerin kaum sonderlich überrascht über ihr Verhalten in Wien gewesen sein.
Früh hat die am 10. Juni 1899 in Leipzig geborene und in Dresden aufgewachsene Anita ihre Leidenschaft für den modernen Tanz entdeckt und Unterricht genommen. Das künstlerische Talent ist ihr in die Wiege gelegt, schließlich ist Vater Felix Berber ein bekannter Violinvirtuose und Mutter Lucie eine gefragte Chansonnière, die in Kabaretts in Berlin und Hamburg auftritt. Allerdings nehmen beide Eltern wenig Einfluss auf die Tochter. Sie trennen sich schon kurz nach ihrer Geburt, Felix Berber zieht nach München, Lucie Berber widmet sich ihrer Karriere und ist oft monatelang nicht zu Hause, die Tochter in der Obhut der Tanten. Anitas Wunsch, auf den großen Bühnen zu tanzen, wird übermächtig, und so bewirbt sie sich, zunächst ohne Wissen ihrer Mutter, 1916 in der Schauspielschule von Maria Moissi. Die 42 Jahre alte Moissi hat ursprünglich als Schauspielerin gearbeitet, sich aber früh von der Bühne zurückgezogen. 1910 hat sie den wohl berühmtesten Schauspieler seiner Zeit geheiratet, Alexander Moissi, und kurz darauf eine Schauspielschule für Mädchen und junge Frauen gegründet. Schauspielschule ist ein großes Wort – tatsächlich unterrichtet sie ihre Schülerinnen gegen Honorar in ihrer privaten Villa im feinen Berliner Grunewald. Hier lernt Anita unter anderem die ein Jahr jüngere Bernhardine Katharina Anna Schneider kennen, die sich seit ihrer Hochzeit 1918 Dinah Nelken nennt. Nelken gehört Jahrzehnte später zu den letzten Zeitzeugen, die Anita Berber persönlich kannten und von Lothar Fischer noch Anfang der Achtzigerjahre befragt werden.
Eines Tages taucht die Tänzerin Rita Sacchetto im Unterricht von Moissi auf und verkündet, dass junge Schauspielerinnen unbedingt auch Unterricht im Tanz benötigen. Dagegen hat niemand etwas einzuwenden und Anita schon gar nicht, denn der Tanz ist ja ihr eigentliches Ziel. So gibt sie Sacchetto eine Kostprobe ihres Könnens, immerhin hat sie bereits ab 1912 zu den Elevinnen des berühmten Tanzlehrers Émile Jaques-Dalcroze in Dresden gehört. Das wirkt auf Sacchetto überzeugend, schließlich gehört Jaques-Dalcroze zu den Pionieren des modernen Tanzes, von denen sie selbst beeinflusst ist.
Sacchetto gilt längst als eine Protagonistin des avantgardistischen Ausdruckstanzes. Der Ausdruckstanz, der seinen Ursprung in Deutschland hat, saugt die Einflüsse eines kulturellen Umbruchs und Aufbruchs auf, der sich in Europa seit Beginn des neuen Jahrhunderts bemerkbar macht. Anita wechselt zu Sacchettos Studio, bei der sie sich gut aufgehoben fühlt. Inspiriert von ihren beiden Brüdern, die überlebensgroße Bilder malen, will Sacchetto tanzende Bilder erschaffen. Der aufgeschlossene Teil des Publikums ist begeistert, und das nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen westeuropäischen Ländern und in den USA, inklusive der Metropolitan Opera in New York. In der Saison 1909/10 füllt Rita Sacchetto große Konzertsäle, ihr Tanz gilt gerade in Amerika als der letzte Schrei. Schnell macht der Begriff Ausdruckstanz die Runde, auch New German Dance genannt. Besonders erregt die Gemüter – positiv wie negativ –, dass die Tänzerinnen und die wenigen androgyn wirkenden Tänzer fast unbekleidet auf der Bühne agieren. Es geht darum, die dunklen Seiten der menschlichen Psyche offenzulegen – wie sollte das in den traditionellen Gewändern des herkömmlichen Balletts funktionieren?
Sacchetto hat ihre Tanzschule in Berlin-Grunewald Anfang 1915 eröffnet. Die Rekrutierung der jungen Elevinnen bei Maria Moissi ist also sicher nicht einzig der Kunst geschuldet. Sacchetto braucht Schülerinnen für ihre neue Schule, und so ist ihr Besuch bei Moissi letztlich eine Werbeveranstaltung. Sie steht noch am Anfang und ist sehr sparsam, beispielsweise färbt und bleicht sie die Schleier für ihre Schülerinnen selbst, wie Dinah Nelken sich 1982 erinnert. Nelken schreibt später einen Roman, in dem auch ihre Hauptdarstellerin in einer Schule tanzt, bei deren Beschreibung sie die Schülerinnen von Sacchetto vor Augen hat: »Jung, schön, tapsig wie die Kälber, stellten wir in babyrosa, giftgrünen oder himmelblauen Seidenschleiern lebende Bilder, die die Begeisterung des Publikums sowie die Aufmerksamkeit der Sittenpolizei erregten.« Auf dem Unterrichtsplan stehen Tänze wie Dantes Begegnung mit Beatrice und Frühlingsreigen nach Botticelli. Neben Berber und Nelken gehören zu den Schülerinnen unter anderem Hansi Burg, die später Hans Albers heiratet, und Charlotte Schulz, die eine gefragte Schauspielerin des Stumm- wie auch des Tonfilms wird. Neben harmlosen Filmen ohne politische Bedeutung wirkt sie auch in dem antisemitischen Streifen Jud Süß mit und wird 1944 in die »Gottbegnadetenliste« von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels aufgenommen.
Anita Berber lässt in Sacchettos Schule alle Reize spielen. Nichts scheint von ihrer früheren Unsicherheit als Vierzehnjährige geblieben zu sein, als sie noch glaubte, ihr Busen sei zu klein. Jetzt fällt ihr schlanker, knabenhaft wirkender Körper auf, vor allem jungen Männern. Dinah Nelken erinnert sich an ein Wochenende, an dem die Schülerinnen zu Übungszwecken nach Eberswalde fahren und auch drei junge Schauspieler mit dabei sind. »Anita setzte sich bei jedem auf den Schoß, mit naivem Charme. Sie war ganz unschuldig und reizend. Sie war von Natur aus ein heiterer Mensch. Anita war sehr spontan und hemmungslos … Bei aller Vorliebe für Flirts hatte sie einen unglaublichen Liebreiz, ohne ordinär zu wirken. Ihr Wesen faszinierte nicht nur die Männer, sondern brachte ihr auch gleichermaßen die Sympathie der Frauen ein.«
Zu den Schülerinnen an Sacchettos Institut stößt schließlich noch eine exzentrische Tänzerin, die ein paar Jahre älter ist als die anderen Mädchen und schon wegen ihres Aussehens – sie ist eigentlich zu robust gebaut für eine Tänzerin – aus dem Rahmen fällt. Doch Maria Moissi hält große Stücke auf Valeska Gert, und auch Rita Sacchetto engagiert sie gemeinsam mit deren Freundin Brigitte Riha für ihre Tanztruppe. Schnell ist Gert der Mittelpunkt. Sie empfindet die von Sacchetto entworfenen Kostüme als langweilig und schneidert sich ein in damaligen Zeiten grotesk wirkendes Outfit. Fast könnte man meinen, sie trüge einen mit Luft gefüllten Sack, der ihr von den Hüften bis knapp über die Knie reicht.
Am 14. Februar 1916 steht endlich der erste Auftritt der jungen Sacchetto-Truppe bevor. Getanzt werden soll im Blüthner-Saal in der Genthiner Straße 11, nicht weit entfernt vom Potsdamer Platz. Aufgeregt ist Anita an diesem Tag, aber nicht aus Angst, sie könnte ihren Auftritt, den ersten vor Publikum, verpatzen. Vielmehr kann sie es kaum erwarten, dass es endlich losgeht. »Angst? Wovor?«, sagt sie zu ihrer Mutter, als die sie fragt. So ungeduldig ist sie, dass die Mutter sie kurz vor dem Beginn davon abhalten muss, schon auf die Bühne zu stürmen und loszutanzen. Auch Sacchetto ist aufgeregt. Valeska Gert lockert die Atmosphäre auf, indem sie ihr Grimassen schneidet.
Dann signalisiert ein Läuten, dass es endlich so weit ist. Der Schriftsteller und Journalist Leo Lania, der mit Anita befreundet war und kurz nach ihrem Tod 1929 einen biografischen Roman über sie veröffentlicht, hat diesen ersten Auftritt ausführlich beschrieben, und da er bei seiner Schilderung besonders auf ihre Gefühle und Empfindungen eingeht, ist anzunehmen, dass er sich auf ihre eigenen Schilderungen berufen konnte. Vom ersten Moment dieses Auftritts an, so berichtet er, habe Anita nicht gewusst, was mit ihr geschah. »Licht flammte, Schwarz fiel drüber her, Stimmen wisperten ringsum, ein paar Sekunden Stille, die so laut ist, dass man meint, das Trommelfell müsse platzen, und aufatmet, wenn endlich die ersten Takte der Musik die unerträgliche Spannung zerreißen.«
Es kommt ihr vor, als sähe sie das weite Meer unter sich, als würfe sie mit ihren Kleidern auch ihre Furcht und Scheu ab und stürze sich jauchzend in die Brandung. Anita springt auf die Bühne, wird vom Rampenlicht geblendet, aber das merkt sie nicht. Sie spürt, wie sich ihre Muskeln anspannen, wie sie mit jeder Bewegung Sicherheit gewinnt. Es fühlt sich an, als schwimme sie mit sicheren Stößen, ein Strudel wirbelt sie um sich selbst, kann ihr aber nichts anhaben, es geht in die Tiefe und wieder nach oben. »Dann erlahmen ihre Kräfte, da stockt das Herz, da lässt sie sich sinken, schließlich schlagen die Wellen über ihrem Kopf zusammen und sie fühlt sich geborgen. Wie weh das tut: sinken – sinken – und doch: welch herrliches Gefühl, sich so treiben zu lassen, sich preiszugeben, fühlen, wie die Musik von einem Besitz ergreift, jeden Widerstand bricht, einen fortspült ins Unendliche … Da zerschellt der Traum, da streckt sich eine riesige Faust aus der Tiefe ihr entgegen, greift nach ihr, eine grinsende Fratze taucht aus dem Wasser, fahl, leichenfahl – nur weg, nur fort!
Anita Berber (stehend) als Tänzerin der Sacchetto-Truppe
Kein Entrinnen. Sie kämpft, sie spannt alle Kräfte an, schnellt sich vorwärts, rascher, rascher – aussichtsloses Bemühen! Kein Ausweg, keine Rettung, die Hand umklammert ihre Füße, krümmt ihren Leib nach hinten – roter Schaum spritzt ihr ins Gesicht. Und dahinter immer wieder die grinsende Fratze, immer näher, gelbe Zähne, zottige Mähne, jetzt wälzt es sich über sie, jetzt greift die Faust nach ihrer Kehle – nicht schreien, nicht schreien: lachen! Sich ihm schenken, ihm gehören, zusammen in die Tiefe stürzen, vergehen – ver-gehen …«
Folgt man dieser Beschreibung Lanias, ist Anita völlig in ihre Rolle, in ihren Tanz versunken, bis sie geendet hat und der tosende Applaus des Publikums sie wieder in die wirkliche Welt zurückholt. Langsam richtet sie sich auf, wirkt jetzt glücklich wie ein kleines Kind. Nach einer kurzen Pause muss, nein darf sie ein zweites Mal auf die Bühne. Wieder Applaus. Sie hat sich in Trance getanzt, sich ausgeliefert. Doch eben durch dieses Ausgeliefertsein erobert sie sich das Publikum, nimmt es in Besitz. »Schade«, lautet ihre erste Reaktion, »schade, dass es vorbei ist.«
Dinah Nelken sieht den Auftritt im Nachhinein deutlich kritischer. Keines der Mädchen habe wirklich tanzen können, schreibt sie. »Wir waren alle nur ausnehmend hübsche, junge Mädchen, und der erste Abend verlief recht erfolgreich.« Auch Valeska Gert sieht im Rückblick Anitas Darbietung kritisch, weil sie sie als zu »süß« empfindet, und berichtet von ihrem Konkurrenzverhältnis zueinander: »Anita Berber tanzte: Rose und Diana mit Pfeil. Ich brannte vor Lust, in diese Süßigkeit hineinzuplatzen. Voll Übermut knallte ich wie eine Bombe aus der Kulisse. Und dieselben Bewegungen, die ich auf der Probe sanft und anmutig getanzt hatte, übertrieb ich jetzt wild. Mit Riesenschritten stürmte ich quer über das Podium, die Arme schlenkerten wie ein großes Pendel, die Hände spreizten sich, das Gesicht verzerrte sich zu frechen Grimassen.«
Für Anita aber ist dieses erste Mal auf der Bühne ein voller Erfolg. Ein anderes erstes Mal, zu dem es eine Woche vor dem Auftritt im Blüthner-Saal kommt, fällt dagegen zwiespältig aus. Ihr erster Liebhaber, reduziert man das Wort auf den sexuellen Akt, tritt just in dem Moment in ihr Leben, als sie auch auf der Bühne ins Rampenlicht tritt, und das ist kein Zufall. Anita hat beschlossen, dass sie zu ihrer Premiere einen Begleiter braucht, der ihr wie ein Bewunderer Blumen in die Garderobe bringt. Doch woher nehmen? Sie schaut sich im Bekanntenkreis ihrer Mutter um und entscheidet sich für Karl Walter. Genau genommen tritt dieser Mann nicht in ihr Leben, sondern sie in seins, und das ziemlich überraschend. Ihr Auftreten diesem Mann gegenüber zeigt bereits die ganze Chuzpe, die ihr zu eigen ist und die sie berühmt und auch berüchtigt machen wird. Karl Walter ist 43, Schweizer, Autor von Kriminal- und historischen Romanen mit mittelmäßigem Erfolg. Und ein ehemaliger Liebhaber ihrer Mutter Lucie, zu dem diese noch immer freundschaftlichen, wenn auch nicht sehr engen Kontakt hält.
Anita findet Walters Adresse Unter den Linden heraus und begibt sich zu ihm. Die beiden kennen sich flüchtig, das letzte Mal, dass sie sich gesehen haben, liegt zwei Jahre zurück. Damals war Anita noch ein Mädchen, ohne Reiz für einen älteren Mann. Doch inzwischen ist sie sechzehn, ihr Körper hat sich verändert, ihre Augen sind groß und unergründlich, die Haut weiß, wie es dem Geschmack der Zeit entspricht. Und sie legt einen atemberaubenden Charme an den Tag.
Älter muss der Mann sein, der sie begleiten beziehungsweise bewundern darf. Vielleicht reizt sie gerade der Altersunterschied, vielleicht die Tatsache, dass Walter zwar keine echte Berühmtheit ist, aber mit einigen Theaterstücken doch Erfolge auf den Bühnen errungen hat, die ihm einen Namen und Beziehungen und auch Geld verschaffen. Vielleicht liegt in ihrem forschen Vorgehen auch eine Art Machtstreben – sie, das junge Mädchen, verführt und dominiert den deutlich älteren Mann, der zudem bei Frauen größere Erfolge feiern soll als im Theater.
Leo Lanias Schilderung dieses Besuchs von Anita Berber bei Karl Walter kann eigentlich nur die Auskunft seines Schriftstellerkollegen zugrunde liegen, der ihm seine Verwirrung, seine Überrumpelung offenbart hat. Um eine Überrumpelung handelt es sich allemal. Wenige Tage vor ihrer Premiere im Blüthner-Saal klingelt sie an der Wohnungstür des verblüfften Walter, der sie mit den Worten begrüßt: »Grüß dich Gott, wie geht es der Mama?« Nach kurzem Geplänkel fragt er sie nach dem Zweck ihres Besuchs. Darauf die sechzehnjährige Anita, während sie einen Faden vom Ärmel ihres Kostüms schnippt, bestimmt und sachlich: »Ich möchte Sie besitzen.« Walter verblüffen nicht nur diese Worte, sondern auch die absolute Selbstsicherheit, mit der sie das Mädchen ausspricht. »Was – möchten Sie?«
»Sie gefallen mir. Ich bin im Ballett jetzt, müssen Sie wissen, und nicht wahr, ohne Verhältnis – aber es ist nicht deswegen, weil Sie berühmt sind – es ist unerlässlich, nicht wahr …« Die Frage, die Walter daraufhin stellt, wirkt angesichts der Tatsache, dass die beiden sich seit Jahren nicht gesehen haben und sich nur flüchtig kennen, absurd wie die ganze Szene: »Lieben Sie mich denn?« Von dieser Frage scheint sich Anita regelrecht gekränkt zu fühlen. Sie antwortet: »Das weiß ich doch noch nicht.« Und fügt hinzu: »Nun müssen Sie mich küssen!«
Karl Walter beginnt das Gespräch unheimlich zu werden. Aber es fasziniert ihn zugleich und zieht ihn an. Von seinem inneren Zwiespalt scheint Anita nichts zu bemerken. Sie gibt ihm einen Kuss, ganz sachlich und so, als ob sie den nächsten Punkt ihres Plans abhake. Und verführt ihn, als wenn sie seit vielen Jahren nichts anderes getan hätte. Sie lässt alle Hüllen fallen, legt sich ausgestreckt auf sein Bett – und hat spätestens in diesem Augenblick gewonnen. Walter ist hoffnungslos in ihrem Netz gefangen.
Selbst wenn Karl Walter bis dahin im Kopf gehabt hat, wie jung Anita ist, dass er sie eigentlich nicht kennt, dass sie die Tochter einer ehemaligen Geliebten ist, so spricht für ihn in diesem Augenblick nichts mehr dafür, sich Anitas Verführung – oder ist es ein Angriff? – zu verweigern. Wie auch, setzt sie doch alle ihre Reize ein, und das auffallend gekonnt für eine Sechzehnjährige. Walter verfällt der fast dreißig Jahre Jüngeren. Er weiß, dass falsch ist, was er tut, aber er kann sich nicht wehren. Anita wirkt teilnahmslos, während er mit ihr schläft, aber sie hat ihr Ziel erreicht: Sie »besitzt« ihr Opfer. Neben ihrem schlanken jungen Körper ist ihre Unbekümmertheit gepaart mit dieser überwältigenden Dreistigkeit ihre schärfste Waffe. Gefühle spielen dabei kaum eine Rolle. Nein, sie spielen gar keine Rolle.
Als sie an diesem Februarnachmittag mit Karl Walter schläft, ist es ihr erstes Mal. Eigentlich ein Augenblick, der Bedeutung haben sollte. Doch Anita Berber setzt dieses erste Mal zum Erreichen eines bestimmten Ziels ein. Sie gibt sich dem Mann hin und bindet ihn so an sich. Das war ihr Plan, und diesen Plan hat sie umgesetzt. Ihr Körper ist ihre Waffe, ihr kindlich-unschuldiges Gemüt und ihre zielorientierte Abgeklärtheit machen sie unbesiegbar. Viele werden sich später fragen, woher diese Abgeklärtheit kommt, diese Gefühllosigkeit. Auch Karl Walter gelingt es nicht, hinter ihre Fassade zu blicken. Er weiß nur eins: Er ist ihr innerhalb kurzer Zeit verfallen. Natürlich verspricht er ihr, zur Premiere zu kommen.