Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Magie, Mystik, Eros - eine kurze Geschichte der Sexualmagie
Bevor es losgeht: Gefahren und Voraussetzungen
Das Geister- und das Energiemodell: Grundlagen der Sexualmagie
Tabu Sexualität - die stressfreie Erschließung und Nutzung der eigenen Sexualkraft
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Vorwort
Die Geschichte der praktischen Magie reicht zwar weit in die Urzeit der menschlichen Entwicklung zurück, doch hat es lange gebraucht, bis sie sich in verschiedene Unterdisziplinen verästelte, um schließlich in bisweilen weit auseinander liegende Kategorien eingeteilt zu werden.
Auch die Sexualmagie stellt eine solche Unterdisziplin des Gesamtkomplexes »Magie« dar, wiewohl vielleicht ihre geheimnisvollste und umstrittenste. Erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert findet der Begriff »Sexualmagie« seine erste öffentliche Erwähnung, und wenn sie seitdem auch häufig das Interesse vor allem der Sensationsmedien erfuhr, blieben genaue Einzelheiten, Techniken, Gebräuche und die diesen zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten und Symbolstrukturen meist im Verborgenen.
Das vorliegende Werk erschien in einer ersten Fassung unter dem Titel Handbuch der Sexualmagie. Praktische Wege zum eingeweihten Umgang mit den Kräften des Sexus im Jahr 1986. Die Veröffentlichung war damals von einigen technischen Schwierigkeiten begleitet. Hinzu kam eine aktuelle Buchmarktsituation, die einer groß angelegten Verbreitung magischer Literatur nicht eben förderlich war. So erreichte die Ausgabe im deutschen Sprachraum nur einen vergleichsweise winzigen Leserkreis, ganz im Gegensatz zum Ausland, wo sie im angelsächsischen Raum seit Jahren ihre Interessenten findet. Es liegt sogar eine japanische Ausgabe vor, und erst vor Kurzem erschien es in russischer Sprache.
Für die vorliegende Ausgabe wurde das ursprüngliche Werk vollständig überarbeitet, umstrukturiert, neu gegliedert und in einigen Punkten erweitert. Zwar bleiben die Grundprinzipien der Magie stets dieselben, doch war es schon immer oberste Aufgabe magischer Autoren, als Kinder ihrer Zeit auch die Sprache ihrer Zeit zu sprechen, um den zeitgenössischen Magieinteressenten eine an sich zwar uralte, dennoch aber immer wieder frische und aufs Neue zu entdeckende Kunst und Wissenschaft nahezubringen. Nach immerhin 21 Jahren schien es daher geboten, auch sprachlich einiges auf den neuesten Stand zu bringen.
So bleibt zu wünschen, dass die vorliegende Ausgabe einen möglichst großen Kreis interessierter Leser im deutschsprachigen Raum findet, die dazu bereit sind, dieses so faszinierende wie wirkungsvolle Spezialgebiet der praktischen Magie kennenzulernen, es zu erkunden und durch eigene Forschung weiterzuentwickeln.
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Magie, Mystik, Eros - eine kurze Geschichte der Sexualmagie
Es gilt als sicher, dass es bereits in der Vorzeit sexualmagische Kulte und Praktiken gegeben hat, von denen wir freilich wenig Gesichertes wissen. Sehr wahrscheinlich waren diese Kulte dem ähnlich, was wir noch heute in schamanischen Gesellschaften etwa im Amazonasbecken, auf Papua-Neuguinea oder in manchen Teilen der Arktis und des Inneren Asiens beobachten können. Die schamanischen Fruchtbarkeitskulte der Frühgeschichte bedienten sich häufig stark sexualisierter Figuren und Gestalten, man denke etwa an die steinzeitlichen Frauengestalten mit ihren üppigen Brüsten und Gesäßkonturen, an sakrale Darstellungen von Vagina und Penis usw. Im alten Sumer rankten sich die Sexualkulte vor allem um die Verehrung der Mondgöttin Ishtar (Astarte), und die Chaldäer pflegten eine hoch entwickelte Tempelprostitution, die zumindest in ihren Anfängen rein sakrale und magische Züge gehabt haben dürfte. Im alten Ägypten gab es unter anderem den Isis-Kult und die Phallusverehrung, während Indien und Tibet den Tantrismus und den Kundalini-Yoga entwickelten und im alten China die innere Alchemie des Taoismus (auch »taoistisches Tantra« genannt) vor allem in höfischen Kreisen kultiviert wurde. Im Griechenland Platos wurde der Eros geheiligt, freilich überwiegend der männliche, doch kannten etwa die Demeter-Mysterien auch eine starke Betonung des weiblichen Elements. Das Judentum entwickelte in einigen Zweigen der esoterischen Kabbala sexualmagisches und -mystisches Gedankengut, und es kannte auch einige Sekten, etwa die Sabbatianer, die derlei Lehren in die Praxis umsetzten und pflegten.
Die späthellenistischen Gnostiker, die sich überwiegend mit Judentum und Christentum auseinandersetzten, hatten ihre ausschweifenden Sekten und Sexualkulte (etwa die Ophiten und Simonianer wie überhaupt die gesamte »Barbelo«- oder »Sperma-Gnostik«), die sich auch eingehend mit der Sexualmagie, wie wir sie heute verstehen, beschäftigten.
Auch Weltreligionen wie das Christentum und der Islam wiesen gewisse sexualmystische und -magische Züge auf, man denke etwa an den mittelalterlichen Minnekult oder an manche esoterische Sekte innerhalb des Sufismus. Weitgehend unabhängig davon, gelegentlich mit ihnen aber auch Verbindungen eingehend pflegten bis tief in das Mittelalter des Christentums hinein Anhänger heidnischer Religionen sexualmagische Fruchtbarkeitsriten und -beschwörungen. Dieser Spät- oder Neuschamanismus hat nach dem Zweiten Weltkrieg eine Wiederbelebung durch den von England ausgehenden Wicca- oder Hexenkult erfahren, der zumindest in seinem höheren Einweihungsgrad (dem sogenannten »Großen Ritus«) sexualmagisch und -mystisch geprägt ist.
Der berühmt-berüchtigte Templerorden wurde bei seiner Zerschlagung sexualmagischer Praktiken bezichtigt, doch gab es auch noch andere Richtungen und Sekten innerhalb des mittelalterlichen Christentums, so etwa die »Brüder vom freien Geist« (Begarden, Ortlibianer), die mit derlei Gedankengut wohlvertraut waren. Generell lässt sich allerdings sagen, dass im Christentum die Sexualmagie und -mystik weitgehend sublimiert, also »entschärft« wurde, sei es nun innerhalb der bereits erwähnten Hohen Minne, der allgemeinen Mystik bis zum späteren Pietismus oder auch in der Alchemie. Eine Entwicklung übrigens, für die wir auch in Indien, Tibet und China interessante Parallelen finden sowie im chassidischen Judentum.
Es nimmt nicht weiter wunder, dass die Urkraft Sexualität schon von jeher das Interesse der Menschheit auf sich gelenkt hat. Sie wurde gefürchtet und verehrt, angebetet und verteufelt, gepflegt und unterdrückt - offen und geheim, drastisch und milde. Im Grunde verfahren wir heutzutage mit ihr nicht viel anders, als es unsere Vorfahren vor Tausenden von Jahren taten. Trotz aller Sexualforschung ist die Sexualität für uns ein Mysterium geblieben, ein Buch mit sieben Siegeln, faszinierend und erschreckend zugleich.
Dennoch wäre es falsch, von einer kontinuierlichen Tradition der Sexualmagie zu sprechen. Wiewohl der Glaube daran naheliegt, lässt sich eine solche objektiv und historisch gesichert nicht nachweisen. Vielmehr müssen wir feststellen, dass eine Unmenge an einschlägigem Wissen immer wieder in Vergessenheit geraten ist, um später aufs Neue entdeckt beziehungsweise wiederentdeckt zu werden - immer und immer wieder. Erst seit Ende des 19. Jahrhunderts lässt sich in Europa eine ungebrochene Tradition der Sexualmagie nachweisen, die die heutige Sexualmagie entscheidend geprägt hat. Darauf wollen wir nun unser Augenmerk richten.
Dabei ist es erstaunlich, dass Crowley zu Lebzeiten die innersten Geheimnisse seines Ordens nie wirklich der Öffentlichkeit preisgegeben hat, so ruhm- und skandalsüchtig er auch sonst war. Aber durch die nach seinem Tod veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen und die Entschlüsselung zahlreicher seiner einschlägigen Schriften hat er Entwicklungen angeregt, die später von Autoren wie Kenneth Grant und Francis King lange nach Crowleys Tod ebenso aufgegriffen wurden wie von Louis Culling, Israel Regardie, Michel Bertiaux oder Pete Carroll. Auch das nur wenigen Insidern bekannte Werk The Forbidden Book of Knowledge des Amerikaners Charles Fairfax Thompson lebt davon, und mittlerweile ist die Zahl der einschlägigen Autoren Legion, vor allem im angelsächsischen Bereich. Viele von ihnen kopieren freilich mehr oder weniger geschickt den Altmeister Crowley, der uns in diesem Werk noch öfter begegnen soll, ohne wirklich über ihn hinauszuführen.
In diesem Zusammenhang weniger bekannt ist der Engländer Austin Osman Spare (1886-1956), der die Sexualmagie vor allem durch seine Sigillenmagie und sein Konzept von der »Atavistischen Nostalgie« bereichert hat, womit wir uns noch eingehender befassen werden. Spare war für kurze Zeit auch Mitglied in Crowleys Orden A...A..., der später unter der Ägide des Meisters Therion mit dem O. T. O. fusionierte, ging aber schon bald wieder eigene Wege. Sein Einfluss wird vor allem in der modernen Chaos-Magie deutlich, die seinen Zos-Kia-Kultus innerhalb ihres eigenen Ordens I.O.T. (Illuminates of Thanateros) wiederbelebte und mit zeitgenössischem Gedankengut (Quantenphysik, Existenzialismus, Strukturalismus) »verjüngte«.
In diesem Zusammenhang darf auch die Fraternitas Saturni (F. S.), die sich aus der deutschen Pansophischen Bewegung unter Gregor A. Gregorius (Eugen Grosche) abspaltete und mit ihrem 18. Grad (dem »Gradus Pentalphae«) zumindest die theoretische Sexualmagie pflegte, nicht vergessen werden. Auch dieser Orden wird bei uns gelegentlich in entsprechendem Zusammenhang Erwähnung finden. Gregorius unterhielt freundschaftliche Beziehungen zu Aleister Crowley bis zu dessen Tod. Es lässt sich wohl mit Fug und Recht behaupten, dass die Fraternitas Saturni über lange Zeit hinweg auch das sexualmagische Wissen des O. T. O. bewahrte und pflegte, als sich dieser selbst nach Crowleys Tod in verschiedene Splittergruppen aufteilte. Ein Schicksal freilich, das auch die F. S. immer wieder ereilte, bis sich Anfang der 80er-Jahre eine Stabilisierung und Konsolidierung einstellte. Immerhin bieten die »Sonderdrucke« dieses Ordens wie auch manche Ausgaben seiner internen Schrift »Saturn-Gnosis« manch interessanten Einblick in die ältere Praxis der Sexualmagie.
Dieser kurze Abriss der Geschichte der Sexualmagie mag hier genügen, denn wir wollen uns nicht mit den zahllosen kleinen und kleinsten Gruppen und Grüppchen befassen, die sich ebenfalls mit der Sexualmagie beschäftigten, vom Adonisten-Bund des Ra-Omir Quintscher bis zum Pariser Randolph-Zirkel um Marie de Naglowska. Ohnehin dient dieser Überblick nur dem historisch interessierten Leser, ohne wirklich in die Tiefe führen zu können. Wer sich für diesen Aspekt der Materie interessiert, der sei auf das umfangreiche Literaturverzeichnis im Anhang verwiesen. Vor allem die Werke Evolas, Hembergers und Fricks geben reichen Aufschluss über die geschichtlichen Zusammenhänge der organisierten Sexualmagie vor dem Zweiten Weltkrieg.
Dort, wo wir von diesen Vorgängern bewusst profitiert haben, werden sie in der Regel auch gebührend erwähnt. Doch sollte man sich, wie bereits betont, von der Illusion frei machen, dass es so etwas wie die Geschichte der Sexualmagie gebe. Tatsächlich stellt die Sexualmagie ein ebensolches Chaos dar wie die Geschichte der Sexualität überhaupt.
Im Übrigen nützen derlei Detailuntersuchungen meistens nur dem Historiker und dem Theoretiker, für den Praktiker sind sie nur von untergeordnetem Wert. Dies umso mehr, als die Lektüre früherer Pioniere und Vorkämpfer auf diesem Gebiet oft eine arge Enttäuschung bietet: Nur selten nennen diese Autoren das Kind beim Namen, meistens muss sich der Leser durch ein Gewirr und Gewusel von Anspielungen, Verschlüsselungen und moralischen Ermahnungen kämpfen, bis er zum praktischen Angang findet. Dieser wird dann oft genug enttäuschend flach, ja oberflächlich und irreführend dargestellt. Gerade diesem Mangel aber wollen wir mit unserem Werk abhelfen.
Andererseits hilft uns die historische Einbettung dabei, unseren eigenen Entwicklungsstand genauer und schärfer zu erkennen. Auch der Sexualmagier ist stets Kind seiner Zeit, von ihr ebenso geprägt und abhängig wie von ihr profitierend. Es wäre unlauter, dies zu verschweigen. Nein, es wäre sogar höchst unklug, denn durch ebendiese Erkenntnis gewinnen wir oft eine beträchtliche magische Kraft: Wer die Stärken und Schwächen seiner Epoche kennt, ihre und seine eigenen Vorläufer und Quellen, der kann sich ihrer weitaus wirkungsvoller bedienen als der historisch unbewusste, entwurzelte Mensch, der darauf angewiesen ist, einen großen Teil seiner Energie darauf zu verwenden, seinen eigenen Standpunkt stets aufs Neue zu definieren und, um ein Bild zu gebrauchen, sein Haus immer wieder auf Sand zu bauen, weil er unzählige Male alte Fehler wiederholt. Darüber hinaus spielt dieses Wissen gerade bei der atavistischen Sexualmagie eine herausragende Rolle. Deshalb möchten wir jedem angehenden Sexualmagier empfehlen, sich auch mit der Geschichte sexualmagischen Gedankenund Kulturguts auseinanderzusetzen. Denn das Gestern bestimmt das Heute, und nur wer Gestern und Heute kennt, kann darauf hoffen, das Morgen aus eigener Kraft zu meistern, zu formen und zu prägen. Zwar kennt die Mystik nur das Ewige Jetzt, doch ist sie keineswegs wurzellos, leugnet die Vergangenheit nicht in törichter Kurzsichtigkeit - so wenig wie die Zukunft, die ja »nur« das Jetzt von morgen ist, die Erfüllung und das Ziel zugleich. Erst wer diese Einstellung verinnerlicht hat, vermag das Jetzt auch so weit auszufüllen, dass es Gestern und Morgen miteinbezieht und umspannt, und kann auf derlei Unterscheidungen schließlich verzichten, sie überwinden. Der Orgasmus ist zeitlos. Dennoch hat er seine Geschichte und seine Auswirkungen, ist er unendlich und zeitlich bedingt zugleich.
All dies bedeutet freilich nicht, dass man die Sexualmagie erst nach langem, intensivem Geschichtsstudium betreiben kann und darf. Letztlich zählt nur die persönliche Praxis, doch zu dieser gehört das Vergangene ebenso wie das Zukünftige. Wer glaubt, dass er aus der Geschichte nichts lernen kann und soll, der mag getrost darauf verzichten. Allerdings wird ihm dabei wahrscheinlich manch wertvoller Hinweis auch und gerade für die Praxis seiner Gegenwart entgehen, und manches muss er erst sehr mühsam aufs Neue entdecken und erfinden. Andererseits ist es nicht sinnvoll, wie gebannt auf die Geschichte zu starren, ohne den Bezug zum Heute herzustellen - das wäre das andere Extrem. Sexualmagie findet immer nur heute statt, im Hier und Jetzt und in der körperlichen wie seelischen Praxis. Zwischen diesen entgegengesetzten Einstellungen liegt der goldene Mittelweg des Lernens und Planens, des Empfangens und Erschaffens mithin des Göttlichen/Demiurgischen in der Magie des Sexus. Diesen Pfad wollen wir hier beschreiten.
Bevor es losgeht: Gefahren und Voraussetzungen
Von allen Geheimwissenschaften galt die Sexualmagie jahrhundertelang als die gefährlichste. Wir wissen heute, wie sehr diese Einstellung die Körperfeindlichkeit des damals alles beherrschenden Christentums widerspiegelte. Doch damit ist das Problem leider noch lange nicht vom Tisch, denn es lässt sich nicht leugnen, dass die Sexualmagie tatsächlich auch ihre problematischen, ja durchaus gefährlichen Aspekte hat. Diese liegen allerdings - wie auch bei der Magie ganz allgemein - häufig auf völlig anderen Ebenen, als es oft angenommen wurde. Es soll hier mit einem Vergleich beschrieben werden, auf den wir uns immer wieder beziehen wollen: Die Sexualmagie ist (wie die gesamte Magie auch) nicht gefährlicher und nicht ungefährlicher als etwa das Autofahren. Sie verlangt nach Schulung und Praxis, und sie kennt ihre Regeln und Gesetze. Wer sie betreiben will, muss in entsprechender Verfassung sein und aufmerksam bleiben. Man sollte die Gefahren der Sexualmagie also gewiss nicht bagatellisieren, sie aber auch nicht überbetonen, denn damit wäre niemandem gedient - dem Menschen selbst am allerwenigsten. Im Übrigen ist es eine zwar bedauerliche, aber nicht zu leugnende Tatsache, dass jene Menschen, die am lautstärksten vor den Gefahren der Sexualmagie zu warnen pflegen, in der Regel auch sexuell am verklemmtesten sind und über keinerlei praktische Erfahrungen mit der Sexualmagie verfügen.
Wenn man die Fahrschule besucht, um das Autofahren zu lernen, wird man in der Regel nicht erst stundenlang mit Schilderungen von Unfällen und Gefahren im Stra-ßenverkehr verschreckt. Eine vernünftige Führerscheinausbildung wird im Laufe der Praxis zwar auf reale Gefahren und Risiken hinweisen, den Anfänger aber nicht vorab sinnlos verunsichern. Auf ähnliche Weise wollen wir hier auf die tatsächlichen Gefahren der Sexualmagie auch nicht verfrüht eingehen, sondern sie im Laufe der hier geschilderten und empfohlenen Praxis behandeln, wie es geboten scheint. Stattdessen werden wir uns zunächst einmal mit den Voraussetzungen für die Sexualmagie beschäftigen, wie wir sie verstehen.
Grundsätzlich ist die Sexualmagie für Mann und Frau möglich. Wir werden auf die durchaus existierenden Unterschiede zwischen männlicher und weiblicher Sexualität zwar stets eingehen, wo dies geboten erscheint, aber fürs Erste möge es genügen, dass wir hier keine wertende Unterscheidung zwischen den Geschlechtern machen werden, ja auch nicht machen dürfen, weil dies der ganzen Philosophie der Sexualmagie zuwiderliefe. Denn die Sexualmagie ist nicht in erster Linie für den Mann oder die Frau, für den Asiaten oder den Europäer, den Eingeweihten oder den Unerlösten usw. gedacht, sondern für den Menschen selbst, ohne Ansehen rassischer, konfessioneller, gesellschaftlicher oder geschlechtlicher Unterschiede.
Dennoch war die Sexualmagie noch nie etwas für die große Masse und wird es wahrscheinlich auch niemals sein. Vergessen wir nicht, dass der menschliche Umgang mit der Sexualität, auf den wir noch ausführlicher eingehen werden, von seiner emotionalen Sprengkraft her dem Gebrauch mit einer Handgranate gleichkommt! Keine Kraft, kein Trieb beherrscht uns so vollständig, so scheinbar irrational und so ausschließlich wie die Sexualität, kein Instinkt musste so sehr als Sammelbecken existenzieller Urängste und Unsicherheiten herhalten. Die Sexualmagie aber ist mehr als nur der rituelle Umgang mit Sexualität, sie will zur Überwindung jener Grenzen führen, von denen unsere Sexualität einerseits geprägt ist und die sie uns andererseits sehr oft selbst setzt. Insofern packen wir mit der Sexualmagie tatsächlich ein »heißes Eisen« an.
Wer also Sexualmagie praktizieren will, braucht zunächst einmal Mut - den Mut, auch sexuell über den eigenen Schatten des Gewohnten zu springen, seinen sexuell bedingten Ängsten ins Auge zu blicken und sie zu überwinden, ohne sie jedoch zu verdrängen oder kurzerhand auszumerzen. Diese Bereitschaft (und sie wird im Laufe der Praxis immer wieder auf die Probe gestellt werden!) ist unabdingbar, ohne sie kann die Sexualmagie tatsächlich zu einer wahren seelischen Hölle werden. Das wäre wie ein angehender Autofahrer, der sich weigert, sich im Straßenverkehr dem allgemeinen Tempo des Verkehrsflusses anzupassen, der völlig willkürlich und unberechenbar mal anhält, mal Gas gibt: Er gefährdet damit nur sich selbst und alle anderen. Doch das bedeutet nicht, um im Bild zu bleiben, dass jeder gleich Rennfahrerambitionen entwickeln muss! Die Sexualmagie hat nichts mit Hochleistungssport zu tun. Wenn ein Mensch das Gefühl hat, nun sei es genug, mehr könne er im Augenblick wirklich nicht verkraften, so wäre es der Gipfel der Torheit, seine Entwicklung mit Gewalt forcieren zu wollen.
Andererseits lernt man das Schwimmen nur durch den Sprung ins Wasser, deshalb muss jeder zu seinem eigenen Ausgleich zwischen Härte und Sanftheit gegenüber sich selbst finden. Man darf sich in der Sexualmagie ebenso wenig unter- wie überfordern. Findet man aber in diesem Punkt zum Mittelweg, also zur eigenen Mitte, so stehen einem Tür und Tor zum Erfolg offen.
Zweitens verlangt die Sexualmagie nach Zielbewusstheit. Sie wird, zumindest in der ersten Zeit, nicht allein um ihrer selbst willen ausgeübt. Der eindeutige, einspitzige Willenssatz muss ihr vorausgehen, will man nicht einfach nur einen etwas bizarren Umgang mit Sexualität pflegen, ohne die eigentliche Magie dabei jemals wirklich zu berühren. Doch warum sollte ein Mensch sich für die Sexualmagie entscheiden? Dafür kann es viele verschiedene Gründe geben, von denen einige hier stichwortartig aufgezählt werden sollen: das allgemeine Interesse an einer erweiterten, durch den magischen Umgang mit den Kräften der Seele und des Universums gesteigerten Sexualität; das Interesse an einer besonders wirkungsvollen magischen Technik; Forschergeist; das Verlangen, die eigenen Grenzen auszuweiten; Interesse am bewussten Umgang mit Ängsten und Gefühlen; der Wunsch, die eigene magische Entwicklung zu vervollkommnen und abzurunden; Vergnügen am magischen Umgang mit Sexualität; die intuitive »Baucherkenntnis«, dass dies der eigene Weg ist, usw.
Bevor Sie sich daranmachen, die Sexualmagie zu praktizieren, sollten Sie sich darüber im Klaren sein, warum Sie dies tun wollen. Das hat psychologische wie technische Gründe: Erstens werden Sie sich dadurch, sofern Sie bei der Selbstbetrachtung hinreichend tief in sich hineinblicken, über Ihr eigenes Verhältnis zur Sexualität und zur Magie klar; zweitens können Sie dann mit sichererer Hand jene Untergebiete der Sexualmagie verstärkt bearbeiten, die Ihren Anliegen am meisten entsprechen.
Bitte beachten Sie auch, dass hier keine Vorgaben gemacht werden, welches nun »edle, richtige« und welches »unedle, falsche« Motive für den Umgang mit der Sexualmagie sind! Es geht zunächst nur darum, sich ihrer überhaupt bewusst zu werden. Allerdings möchte ich auch auf Motive hinweisen, die sich erfahrungsgemäß eher problematisch auswirken dürften: Wenn Sie in der Sexualmagie einen Ausgleich, ja einen Ersatz für eine frustrierte Sexualität suchen sollten, dürften Sie einige Schwierigkeiten bekommen. Die Sexualmagie verlangt zwar nicht nach einem Magier, der bereits, jenseits von Gut und Böse, völlig frei von menschlichen Bedürfnissen und Regungen ist, aber sie ist auch kein Ersatz für nicht ausgelebte Sexualität. Wir hoffen, dass im Laufe dieser Ausführungen deutlich wird, dass Sexualmagie nicht dasselbe ist wie Sexualität - ein wichtiger Punkt, der nicht oft genug betont werden kann!
Es soll hier nicht behauptet werden, dass Sie die Finger von der Sexualmagie lassen müssen, wenn Sie in ihr lediglich eine Ersatzbefriedigung suchen oder gar die Möglichkeit, endlich auf »legitime« Weise all das praktizieren zu dürfen, was Sie sich sonst nicht trauen würden (z. B. Gruppensex, Partnertausch, Homosexualität usw.). Auch dies kann eine hinreichende Triebkraft sein, die schließlich zur echten Sexualmagie führt. Doch müssen Sie sich in diesem Fall vor allem und sehr eindringlich mit der vorbereitenden Praxis beschäftigen, der wir noch manche Seite widmen werden. Tun Sie das nämlich nicht, so werden Sie feststellen, dass die Sexualmagie die Sammlung Ihrer Enttäuschungen nur noch um einige weitere, möglicherweise besonders »hässliche« Erfahrungen erweitert, auf die Sie besser verzichtet hätten! Die Sexualmagie arbeitet zwar mit der Lustenergie, aber deshalb bereitet sie keineswegs immer Vergnügen, sondern ist im Gegenteil oft sogar recht anstrengend. Wer an die Sexualmagie Erwartungen stellt, die eigentlich an die Adresse der eigenen sexuellen Verklemmtheit gerichtet werden müssten, dem wird sie den Ball unaufgefordert und gnadenlos wieder zurückspielen.
Anders als das östliche Tantra arbeitet die westliche Sexualmagie sehr betont mit dem männlichen wie weiblichen Orgasmus. Von daher ist die Orgasmusfähigkeit des Praktikanten natürlich auch eine notwendige Voraussetzung für das Ausüben dieser Kunst. Dies gilt zumindest für körperlich-sexuell gesunde, also organisch orgasmusfähige Menschen. Wer aus psychosomatischen Ursachen heraus Orgasmusschwierigkeiten hat, dem bleibt der Pfad der Sexualmagie deshalb noch lange nicht verschlossen; er oder sie muss freilich für die sogenannten »höheren« Stufen diese Fähigkeit erst (wieder) erschließen, wozu in diesem Werk auch entsprechende Hinweise gegeben werden. Orgasmusvermeidende Praktiken wie Tantra, Tao Yoga, Carezza usw. haben zwar in der Sexualmagie als Hilfsdisziplinen durchaus ihren Platz, doch verlangen viele sexualmagische Operationen eben unweigerlich nach dem Orgasmus des Magiers oder der Magierin. Allerdings ist damit nicht unbedingt der reine Genitalorgasmus (der sogenannte »Gipfelorgasmus«) gemeint, wie wir ihn gemeinhin kennen. Auch der »Tal«- oder »Ganzkörperorgasmus«, der beim Mann in der Regel ohne Ejakulation verläuft, ist dafür nicht nur voll brauchbar, sondern dem Gipfelorgasmus häufig sogar vorzuziehen. Auch hierauf soll in entsprechendem Zusammenhang noch näher eingegangen werden.
Schließlich sei noch eine weitere Anforderung erwähnt, die für alle Magie gilt: Der Magier muss über eine stabile seelische (»psychische«) Verfassung verfügen. Dieser Punkt ist vielleicht der heikelste von allen, und zwar aus mehreren Gründen: Zum einen ist der Begriff »stabil« unscharf, lässt sich aber leider nicht genauer präzisieren. Wer sich gerade mit Mühe und Not seelisch-psychisch im Leben »über Wasser« hält und ständig Gefahr läuft, von einem psychotischen oder schizoiden Schub in den anderen abzugleiten, der sollte die Finger von jeder Form der Magie lassen. Das kann gar nicht eindringlich genug betont werden!
Der zweite Grund, weshalb der Begriff »stabile seelischpsychische Verfassung« etwas problematisch ist, scheint dieser Forderung eigentlich zu widersprechen: Oft ist es nämlich so, dass es gerade die innerseelischen Spannungen sind, die den Menschen überhaupt erst zur Magie befähigen. Gregorius hat dies einmal an einer astrologischen Symbolik verdeutlicht: Für gewöhnlich sieht kein Astrologe alter Schule Quadraturen, also 90-Grad-Aspekte im Geburtshoroskop, bei Transiten oder Direktionen besonders gern. Sie gelten als problematisch und spannungsreich, ja oft als geradezu katastrophal, auch wenn die moderne, vor allem die tiefenpsychologisch orientierte Astrologie diese Aussage inzwischen sehr stark abgeschwächt und relativiert hat. Gregorius behauptet jedoch sinngemäß, dass ein Magier sich im Prinzip gar nicht genug Quadraturen wünschen kann! Denn diese, so führt er aus, seien »kosmische Einfallswinkel«, Positionen also, die für überindividuelle oder transpersonale, mithin also für magische Kräfte empfänglich machen. In die Sprache der psychologischen Magie übersetzt bedeutet das: Erst die inneren und äußeren Spannungen erschließen uns überhaupt die uns selbst und der Welt innewohnenden magischen Kräfte und machen sie handhabbar. Mit anderen Worten: Wäre der Magier nicht von sich aus bereits ständig in Gefahr, in den sogenannten »Wahnsinn« abzugleiten, könnte er auch nicht über die Kräfte verfügen, die zur Ausübung seines Metiers nötig sind. Insofern stellt die Magie in gewissem Maße sogar eine Form der Therapie geistig-seelischer Störungen dar. Oft wird sie ja auch als eine Art »gesteuerter Schizophrenie« bezeichnet, was vor allem auf die sogenannte »theurgische« und die Besessenheitsmagie zutrifft.
Dies bringt uns endlich zu der Frage, was denn Magie überhaupt sei. Wer sich schon länger mit magischer Literatur beschäftigt hat, dem werden bereits zahlreiche Definitionen der Magie begegnet sein. Wir wollen uns hier auf die folgende beschränken, die eine Abwandlung der altbekannten Formulierung Aleister Crowleys, des Altmeisters der modernen Magie, darstellt: »Magie ist die Kunst und die Wissenschaft, mittels veränderter Bewusstseinszustände Veränderungen auf der stofflichen wie geistigen Ebene herbeizuführen.«
»Mittels veränderter Bewusstseinszustände« - diesen Grundsatz sollten Sie sich genau einprägen. Denn, so formuliert es die Chaos-Magie: »Veränderte Bewusstseinszustände sind der Schlüssel zu magischen Fähigkeiten.« Die für die Magie benötigten Bewusstseinszustände nennen wir hier, ebenfalls in Anlehnung an die Chaos-Magie, »gnostische Trancen« oder, kürzer, »Gnosis«.
Gnosis ist ein späthellenistischer Begriff, der eigentlich so viel wie »intuitives, offenbartes Wissen« bedeutet. Er wird hier in diesem, modernen, Zusammenhang verwendet, weil damit einerseits die intuitive und subjektive Seite des magischen Handelns betont wird und wir es andererseits bei der »gnostischen Trance« mit einer Art »Hyper-Luzidität«, also »Über-Wissen« zu tun haben, einer gesteigerten »Klar«-Sicht, für die es in unserem Sprachschatz keine richtige Entsprechung gibt. Am besten ließe sich dieser Zustand vielleicht noch als eine Mischung zwischen »Offenbarung« und »Hellsichtigkeit« umschreiben.
Die Sexualmagie bezieht einen großen Teil ihrer Mächtigkeit gerade aus der Tatsache, dass die Sexualität ganz allgemein und der Orgasmus im Besonderen uns eine geradezu ideale »natürliche« gnostische Trance für die magische Arbeit bieten. (Crowley nennt dies die »eroto-komatose Luzidität«, also die durch erotische Praktiken herbeigeführte, dem Koma oder der Besinnungslosigkeit ähnliche Hellsichtigkeit.) Dies bedingt, dass wir dabei also weitgehend auf eine oft sehr umständliche meditative und mystische Tranceschulung verzichten können, denn wir bedienen uns von vornherein jener natürlichen Trance, die wir den Orgasmus oder die sexuelle Erregung nennen. Dabei sollte es sich von allein verstehen, dass der Begriff »Trance« hier nicht etwa die hypnotische Volltrance meint, bei der der Klient jegliche Kontrolle über sein eigenes Tun verliert und vom Hypnotiseur beliebig zu manipulieren ist. Die gnostische Trance gleicht der hypnotischen zwar in einigen äußerlichen Merkmalen, doch bleibt die Willens- und Entscheidungsfreiheit des Magiers dabei voll erhalten, auch wenn er sich dabei in einer anderen, oft recht bizarr anmutenden Realität befinden mag.
Die drei Säulen der konventionellen westlichen Magie, wie wir sie heute verstehen, sind Wille, Imagination und gnostische Trance. Letztere haben wir hier als Erstes behandelt, und dies aus gutem Grund: Ohne sie nützen Wille und Imagination allein nämlich so viel wie überhaupt nichts! Andererseits ist diese Erkenntnis, wenngleich sie den alten Meistern z. B. des Mittelalters sicher auf nicht ausgesprochene Weise wohlbekannt war, in der magischen Literatur erst vergleichsweise spät vermittelt worden, nämlich in den 70er- und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Bis dahin galten Wille und Imagination allein für die magische Praxis als völlig ausreichend. Leider bietet uns dies dann eine Magie, die sich vom positiven Denken und anderen, ähnlichen Psychopraktiken von der Grundstruktur her kaum wirklich unterscheidet und entsprechend oft auch nur ähnlich mühsam zu erringende oder gar oberflächliche Ergebnisse erzielt. Gerade durch die recht späte Begegnung mit dem Schamanismus und durch die Entwicklung des auf der zeitgenössischen Chaos-Magie fußenden »Freistilschamanismus« ist uns als Kollektiv richtig bewusst geworden, welche Schlüsselrolle doch der gnostischen Trance bei aller Magie zukommt.
Wille und Imagination entsprechen auch Zielbewusstheit und Visualisationskraft. Diese wurden in der westlichen Tradition stark gepflegt, wohl am umfassendsten und ausgefeiltesten in den Werken Franz Bardons.
Wichtig ist noch - erneut - zu erwähnen, dass sich Sexualmagie und Sexualmystik insofern voneinander unterscheiden, als die Erstere meist zielgerichtet und erfolgsorientiert ist, während die Zweitere in der Regel auf eine Beeinflussung materieller oder psychischer Art verzichtet, um stattdessen vor allem die Erfahrung und die Ekstase (ebenfalls eine Form der gnostischen Trance) in den Vordergrund zu stellen. Wir haben am Schluss dieses Buches auch ein sexualmystisches Ritual angefügt, das zur Abrundung und Ergänzung dient. In Wirklichkeit ist die Trennung Magie/Mystik ab einer gewissen Stufe nämlich nur noch eine künstliche Unterscheidung: Denn schlussendlich werden Magier und Mystiker irgendwann wieder eins, weil sie nämlich beide zur Gottheit werden und schon insofern ihr Schöpfungsrecht wahrnehmen und ausüben, und sei es oft auch nur durch den Verzicht auf seine Ausübung!
Das Geister- und das Energiemodell: Grundlagen der Sexualmagie
Im Laufe der Geschichte hat es immer wieder Versuche gegeben, die Magie in der einen oder anderen Form zu kategorisieren und in Spezialgebiete zu unterteilen. Solche Kategorisierungen sind meist von den Interessen und Absichten geprägt, aus denen heraus sie unternommen werden. So gelangt der Historiker in der Regel zu anderen Einteilungen, als dies der Kulturanthropologe, der Theologe oder der Völkerkundler tut. Dies ist in vielen Wissensbereichen der Fall und somit nichts Ungewöhnliches. Es liegt aber auch in der Natur der Sache, dass der Magier seine Kunst unter anderen Gesichtspunkten betrachten und einordnen wird, als dies die Vertreter anderer Disziplinen tun.
Zum Zwecke eines genaueren Verständnisses der hier vorgestellten Praktiken scheint es sinnvoll, die Magie in folgende teils historische, teils funktionale Abschnitte zu unterteilen.
Da haben wir zunächst einmal das Geistermodell. Es dürfte die historisch älteste Stufe der Magie sein. Wir finden es noch heute in den animistischen Kulten Afrikas sowie zahlreicher »naturnaher« Völker, von der Anthropologie meist mit dem Sammelbegriff »Animismus« bezeichnet. In diesem Verständnismodell wird die Welt im Allgemeinen als gänzlich beseelt begriffen. Es gibt eine diesseitige Seinsebene der sichtbaren und greifbaren Dinge, wie wir sie durch Gebrauch unserer physischen Sinnesorgane kennen. Man bezeichnet sie auch als »Diesseits« oder, schamanisch, als »Mittelwelt«.
Darüber hinaus gibt es jedoch noch weitere Reiche, Ebenen oder »Welten«, die sich der Alltagswahrnehmung meist entziehen. Sie sind ebenfalls bevölkert von Lebewesen, meist »Geister« genannt, die durchaus auch denselben Raum einnehmen können, wie es die physische Welt tut, nur eben unsichtbar, weil eben feinstofflich. Im Geistermodell der Magie werden alle magischen Kräfte, Fähigkeiten und Wirkungen diesem »Jenseits« oder, wiederum schamanisch, der »Unterwelt« (gegebenenfalls auch einer »Oberwelt«) zugeschrieben.
Magier, Zauberer, Schamane usw. (gleich welchen Geschlechts) ist nur jener Mensch, der mit dieser Anderswelt in Kontakt zu treten imstande ist. Dies geschieht durch Trance, Ritual, kultische Handlung jedweder Art, möglicherweise aber auch mithilfe »magischer Orte« (auch: »Orte der Kraft«) und Gegenstände. Aus der Schamanismusforschung kennen wir seit Mircea Eliade den Oberbegriff »archaische Ekstasetechniken«, die zur Herstellung des Kontakts und der Wechselwirkung mit der Geisterwelt dienen.
Der althochdeutsche Begriff hagazussa, von dem sich das neudeutsche »Hexe« ableitet, wird gemeinhin als »Zaunreiterin« übersetzt. Mit diesem »Zaun« (eigentlich »Hag, Gehege«) ist die Grenze der physisch erfassbaren Normalwelt gemeint. Die Hexe ist somit ein Zwischenwesen, das, wiewohl ursprünglich menschlicher Natur, zwischen den beiden Welten hin- und herzuwechseln versteht, also eine Grenzgängerin. Dieses Grenzgängertum bezeichnet noch heute Stellung und Funktion des Magiers, weshalb auch hier im Zusammenhang mit der Sexualmagie immer wieder auf das Überwinden von Grenzen hingewiesen wird.
Spezifisch für das Geistermodell ist freilich die Notwendigkeit, magische Wirkungen unter Zuhilfenahme der Geister und Dämonen zu bewerkstelligen. Wer sich darauf versteht, gilt zwar als Hexe oder Magier, ist aber dennoch nicht selbst Wirkungsgeber, sondern lediglich Herrscher oder Verbündeter der Geister, denen die eigentliche Ausführung magischer Operationen obliegt. Verkürzt gesagt: Im Geistermodell verfügt der Mensch nicht selbst über magische Kräfte, er kann sich lediglich mit jenen Wesen ins Benehmen setzen, denen diese eignen. Nur die Geister vermögen also magische Effekte herbeizuführen, nicht jedoch der Mensch aus eigener Kraft allein.
Im weltweiten Maßstab lässt es sich historisch zwar nicht exakt bestimmen, in der abendländischen Magie jedenfalls beginnt das Energiemodell seinen Siegeszug mit Anton Mesmer im Vorfeld der Französischen Revolution. Tatsächlich ist es jedoch sehr viel älter, wie wir aus den asiatischen Lehren vom Prana und vom Chi sowie vom polynesischen Manas kennen. In seiner reinsten Form verzichtet das Energiemodell gänzlich auf eine Aussage zur Existenz oder Nichtexistenz von Geistern. Die Welt wird als ein Gefüge von Kräften verstanden, die miteinander in Beziehung stehen, sich gegenseitig bestärken, behindern oder auch vernichten können, jedenfalls aber das gesamte Sein ausmachen. Ähnlich wie beim Geistermodell gibt es auch hier unmittelbar wahrzunehmende Kräfte wie etwa Wärme, Kälte, Feuchtigkeit, Trockenheit und andere. (Es versteht sich, dass der Begriff »Kraft« - wie auch die synonyme Bezeichnung »Energie« - hier nicht im rein physikalischen Sinn gebraucht werden.) Andererseits wird aber auch von der Existenz nicht unmittelbar wahrzunehmender, meist als »feinstofflich« bezeichneter Kräfte ausgegangen, die zwar überall vorhanden sind und Wirkung zeitigen, aber nur von einigen wenigen Individuen registriert oder gar manipuliert werden können. Der Umgang mit solchen Kräften kann, wo die Naturbegabung oder Sensitivität fehlt, in der Regel erlernt werden, wofür im Energiemodell der Magie dann auch die entsprechenden Übungen und Praktiken entwickelt wurden. Magier ist hier, wer Zugang zu den feinstofflichen Energien herstellt und diese zu handhaben versteht. Diese Handhabung kann aus Ladung, Lenkung, Steuerung oder Neutralisation bestehen.
Die obige Einteilung soll nicht den Eindruck erwecken, als seien diese Modelle immer scharf und eindeutig voneinander abzugrenzen. Tatsächlich sind Mischformen eher die Regel. So kann ein magisches System beispielsweise durchaus von der Existenz jenseitiger Wesenheiten oder Geister ausgehen, zugleich aber großen Wert auf den Umgang mit magischen Kräften legen, wobei es keine bedeutende Rolle spielt, ob die Geister nun dabei als Quelle ebendieser Energien definiert werden oder ob man sie selbst nur als Ausdrucksformen derselben versteht. Von Nutzen ist diese Modellstruktur freilich für die Praxis, denn sie ermöglicht es dem Magier, seiner Disziplin eine handhabbare Schrittfolge zu verleihen, mithin also eine Ordnung, wie sie der menschlichen Welterfahrung seit Jahrtausenden entspricht.
Der Vollständigkeit halber soll hier noch ein weiteres Modell der Magie erwähnt werden, das - wiederum in seiner reinsten Form - erst Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Erscheinung trat. Die Rede ist vom psychologischen Modell, das vor allem die westliche Magie bis in unsere Tage maßgeblich geprägt hat. Genau genommen handelt es sich hierbei eigentlich nur um eine Art »Zwischenmodell«, da es in der Regel keine Versuche unternimmt, den Mechanismus magischer Effekte stringent zu erklären. Vielmehr wird hier die Praxis der Herbeiführung in den Vordergrund gestellt. Magische Phänomene gelten als Produkt - wenn nicht gar als Projektion - innerseelischer Prozesse. Wir haben dies bereits in der weiter oben behandelten Definition der Magie kennengelernt, als wir die Begriffe »Bewusstsein«, »Trance« und »Gnosis« erörterten. Im psychologischen Modell ist der Magier also ein Mensch, der es versteht, seinen Bewusstseinszustand so gezielt zu beeinflussen oder zu verändern, dass ihm dies die Herbeiführung magischer Wirkungen ermöglicht. Dabei wird wie gesagt nicht weiter erklärt, auf welche Weise genau dieses veränderte Bewusstsein solche Effekte herbeiführt, nur eben dass es dies tut.
Auch das psychologische Modell kommt nur selten in seiner reinen Form vor (so etwa in der noch näher zu behandelnden Sigillenmagie), geht dafür aber meist eine Verbindung mit den beiden anderen Modellen ein. So etwa im Schamanismus: Wenn die Schamanin sich beispielsweise durch entsprechende Techniken oder Substanzen (Trommeln, Rasseln, Rauschdrogen usw.) in einen veränderten Bewusstseinszustand versetzt, um in diesem eine »Reise in die Unterwelt« zu vollziehen, wo sie dann wiederum in Kontakt mit deren Bewohnern (Geister, Krafttiere usw.) tritt, haben wir es mit einer typischen Mischform zu tun.
Die meisten noch heute gängigen Praktiken der konventionellen Magie wurden bereits lange vor dem griechischaristotelischen Denken und dem analytischen Rationalismus entwickelt. Das, was uns heute als wissenschaftliche Absolutheiten vermittelt wird, so etwa das Primat der Widerspruchsfreiheit in der Logik, der scharfen Unterscheidung und Definition von Wirkungsfaktoren usw. wurde vor dem Erreichen dieser Kulturstufe eher intuitiv und durch das »Ungefähre« ausgedrückt. Dem ganzheitlichen oder holistischen Denken ist das Zerlegen in Einzelbestandteile, wie es für die heute vorherrschende analytische Vorgehensweise typisch ist, weitgehend fremd.
Das muss nun nicht bedeuten, dass wir als Menschen unserer Zeit völlig unfähig dazu wären, uns dem Reich der archetypischen, vielleicht sogar vorgeschichtlichen Lebens- und Handlungsweisen zu nähern. Wir sollten diesen fundamentalen Unterschied allerdings stets im Auge behalten, wenn wir es mit Annahmen und Verfahrensweisen zu tun bekommen, die eben stärker mit dieser vorrationalen Welt verwandt sind als mit der uns heute vertrauten rational-analytischen Denkweise.
Wir wollen in diesem Buch möglichst allen diesen Aspekten gerecht werden, wo uns dies zur Entwicklung einer wirksamen, erfolgreichen Sexualmagie geboten scheint.
Tabu Sexualität - die stressfreie Erschließung und Nutzung der eigenen Sexualkraft
Es wurde schon darauf hingewiesen: Die Einstellung zur Sexualität des Menschen bewegte sich im Laufe der Geschichte stets innerhalb zweier Extreme. Entweder man verteufelte das Geschlechtliche als »Satanslust« und als gefährlichen Trieb, der gesellschaftliche Ordnung und Seelenheil bedrohte, oder man »übersakralisierte« es, machte es zu etwas außerordentlich Heiligem und Sakrosanktem. In beiden Fällen war der Effekt in etwa der gleiche: Die Sexualität galt als »unantastbar«, sei es, weil sie den Menschen befleckte, sei es, weil der Mensch in seiner eigenen Unreinheit Gefahr lief, dieses »Himmelsgeschenk« seinerseits zu beschmutzen. Die Folge waren Neurosen und Verdrängungen, Tabus und Verklemmtheiten, die auch heute noch weitgehend unsere Sexualität im Allgemeinen prägen, wenngleich inzwischen oft vielleicht eher unbewusst. Denn obwohl zumindest im Abendland die allgemeine Einstellung zur Sexualität inzwischen nach außen hin liberaler geworden sein mag, wenngleich die Zügel gewiss etwas gelockert wurden, hat sich der Mensch innerlich noch lange nicht zu jener äußeren Freiheit hin entwickelt, sind Eifersuchtsdramen und Entfremdung, Leeregefühl und Impotenz nach wie vor an der Tagesordnung, steigt die Zahl der Triebverbrechen unverändert, findet die Sexualität immer mehr auf der Bildebene der Pornografie statt, also im »Kopf«, anstatt den ganzen Körper des Menschen einzubeziehen. Das Ergebnis ist eine sexuelle Frustration, die den Glauben an die befreiende Wirkung der Sexualität, an ihre Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung des Einzelnen infrage stellt und schließlich in Ekel und Skepsis umschlagen lässt. Das gilt übrigens nicht nur im Westen, diese Misere ist vielmehr weltweit zu beobachten. Gerade die von schwärmerischen Naturen so hoch gepriesenen klassischen Länder »orientalischer Liebeskunst«, etwa Indien, China, der arabisch-islamische Kulturraum usw., kennen heute die größten Tabus und die schärfsten Strafen für jene, die sie übertreten oder brechen. Die Prüderie ist international und keinesfalls nur auf die katholische Kirche und ihre puritanischen Ableger beschränkt.
Auf der Strecke bleibt dabei natürlich der Mensch: Da verfügt er, diese »Krone der Schöpfung«, über eine Energiequelle allererster Güte, über eine Kraft, die das ganze Leben, wie wir es kennen, prägt, durchzieht und überhaupt erst möglich macht, und was tut er damit? Er fürchtet sich vor ihr, er verdrängt sie, lässt ihr allenfalls im verschämten ehelichen oder außerehelichen Kämmerlein oder in der geistlosen Un-Erotik der Peepshows Raum, sich - mit stark gestutzten Flügeln - zu entfalten. Daran ändern auch die gängige Promiskuität und das Gedeihen von Sexclubs und Bordellen nicht viel, im Gegenteil: Derlei Erscheinungen sind ja nun nicht gerade neu, doch dürfte unsere Epoche wahrscheinlich den Vogel in Sachen »lustlose Lust« abschießen. Die Hetzjagd nach der sexuellen Erfüllung geht, trotz Kinsey-Report und Liebeshandbüchern, trotz Sexualtherapien und sexueller Emanzipation, unvermindert weiter, gelegentlich unterbrochen (oder gar noch angestachelt?) von Faktoren wie der jüngsten Herpes- und AIDS-Hysterie und ähnlichen, oft als »Geißeln Gottes« gedeuteten Selbstbestrafungsmechanismen.
Als Charles Darwin seine Evolutionstheorie entwickelte und, etwas verkürzt formuliert, nachzuweisen versuchte, dass der Mensch im Prinzip vom Affen abstammt, ging ein Aufschrei der Empörung durch die europäische Zivilisation. Als Sigmund Freud, ein knappes halbes Jahrhundert später, den Sexualtrieb zum Seelenfaktor Nummer eins erklärte und sich anschickte, den Menschen vor allem als triebgeprägt zu deuten, ja einen Großteil seiner seelischen Störungen auf den falschen Umgang mit diesem Trieb zurückzuführen, war erneut buchstäblich »die Hölle los«. Wieder waren es Kirche und Reaktion, die sich (zum Teil noch bis heute) gegen ein solches Menschenbild stemmten und dagegen Sturm liefen. In beiden Fällen war das Grundmotiv das gleiche: Man weigerte sich, die »Tiernatur« des Menschen anzuerkennen, einmal genetisch (Darwin), einmal sexualistisch (Freud). Gerade im Falle Freuds werden die Unterdrückungsmechanismen besonders deutlich, hatten doch schon die (heidnischen!) altgriechischen Philosophen die Sexualität als »tierischen« Trieb abgestempelt, den es um jeden Preis zu überwinden galt.
Man sollte sich freilich nicht allzu überheblich über derlei Reaktionen mokieren. Dahinter stand immerhin einmal mehr eine Urangst, die Panik nämlich, der ganze mühsame Evolutionsprozess (der ja interessanterweise, zumindest was die kulturell-sittliche Entwicklung und die Heilsgeschichte anbelangt, auch von Darwins Kritikern weitgehend anerkannt wurde) könne gefährdet sein. Sollte denn wirklich nach zigtausendjähriger Entwicklung als Fazit nichts anderes übrig geblieben sein als, dass der Mensch im Grunde doch nur ein Tier sei und gar nicht einmal unbedingt ein viel besseres als die anderen? Wir werden auf diesen Tieraspekt noch zurückkommen, wenn wir uns mit der atavistischen Magie befassen. Hier möge fürs Erste die Feststellung genügen, dass diese entwicklungsgeschichtlichen Ausführungen nötig sind, um uns Klarheit über unsere heutige Position zu verschaffen, um zu erkennen, dass wir auch das weltanschauliche Erbe unserer Vorfahren in uns tragen, nicht nur das genetische.
Denn eines hat sich trotz aller Veränderungen bis in unsere Zeit erhalten: die Angst vor der Sexualität. Nur hat die moderne Psychologie auf mannigfache Weise ihre Schlüsse und Konsequenzen aus dieser »Angstnatur« des Menschen gezogen. Hört man heutige Psychologen über ihre Disziplin sprechen, so fällt auf, dass sie sehr oft ein neues Menschenbild vertreten, das jeder von uns in größerem oder geringerem Ausmaß bereits verinnerlicht hat: die Utopie vom angstfreien Menschen. Schon Freud und Adler wollten den Menschen von seinen Komplexen und Neurosen befreien, Groddek strebte mit seiner Psychosomatik das Gleiche an, und heute sind die Zeitschriften voll von Begriffen wie »angst- und repressionsfreie Pädagogik«, »Befreiung von Sexualängsten«, »zwangsfreie Partnerschaft« usw. Prüfen Sie sich doch einmal selbst: Meinen nicht auch Sie, dass es das Ziel des Menschen sein sollte, möglichst »frei« zu sein, nämlich frei von Ängsten und Zwängen, von Verdrängungen und Hemmungen, von Komplexen und Neurosen, kurz von Zwangsverhalten aller Art?
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eISBN : 978-3-894-80423-7
1. Auflage 2008
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