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Die Mehrzahl der sexuell übergriffigen Verhaltensweisen von Jugendlichen ist nicht primär sexuell motiviert. Diese Erkenntnis eröffnet neue Horizonte für die Arbeit mit sexuell devianten Jugendlichen. An die Stelle von psychoedukativen Bemühungen tritt in diesem Buch eine psychotherapeutisch orientierte Vorgehensweise. Sie verbessert nachhaltig die Beziehungsfähigkeit und damit die Prognose der Jugendlichen. Thomas Gruber gehört zu den Pionieren dieses Ansatzes und hat maßgeblich an der Entwicklung des "Viersener Modells" zur Therapie von jugendlichen Sexualstraftätern mitgewirkt. Er liefert zahlreiche, teilweise überraschende Lösungsansätze aus dem umfangreichen Methodeninventar der systemischen Einzel- und Gruppenberatung. Als erfahrener Praktiker behält der Autor immer die Integration hilfreicher Angebote aus anderen Therapieschulen im Blick. Zahlreiche Fallbeispiele machen das therapeutische Konzept leicht nachvollziehbar.
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Seitenzahl: 230
Störungen
systemisch
behandeln
Störungen systemisch behandeln
Band 11
Herausgegeben von
Hans Lieb und Wilhelm Rotthaus
Thomas Gruber
2018
Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:
Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)
Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)
Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)
Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)
Dr. Barbara Heitger (Wien)
Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)
Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)
Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)
Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)
Dr. Roswita Königswieser (Wien)
Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)
Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)
Tom Levold (Köln)
Dr. Kurt Ludewig (Münster)
Dr. Burkhard Peter (München)
Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)
Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)
Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)
Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)
Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)
Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)
Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)
Jakob R. Schneider (München)
Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)
Dr. Therese Steiner (Embrach)
Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)
Karsten Trebesch (Berlin)
Bernhard Trenkle (Rottweil)
Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)
Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)
Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)
Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)
Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)
Reihe »Störungen systemisch behandeln«, Band 11
hrsg. von Hans Lieb und Wilhelm Rotthaus
Reihendesign: Uwe Göbel
Umschlag und Satz: Heinrich Eiermann
Printed in Germany
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Erste Auflage, 2018
ISBN 978-3-8497-0218-2 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8497-8120-0 (ePUB)
ISBN 978-3-8497-8119-4 (PDF)
© 2018 Carl-Auer-Systeme Verlag
und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg
Alle Rechte vorbehalten
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Vorwort der Herausgeber
Vorwort
1.Einleitung
Zur Bedeutung des Problems
2.Klinisches Erscheinungsbild
2.1Vom Phänomen zur Diagnose (und zurück)
2.2Beschreibung
Fall I: Pädosexuelle Interessen
Fall II: Bindungsstörung mit Enthemmung
Fall III: Sexuelle Reifungskrise
Fall IV: Fetischismus
Fall V: Emotional instabile Persönlichkeit
Fall VI: Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen
Fall VII: Mittelgradige depressive Episode
2.3Differenzialdiagnosen
2.4Komorbidität
2.5Epidemiologie
2.6Verlauf
2.7Diagnostische Verfahren
3Erklärungsmodelle
3.1Psychodynamische Erklärungs- und Therapieansätze
3.2Verhaltenstherapeutische Erklärungs- und Therapieansätze
3.3Andere Erklärungs- und Therapieansätze
3.4Systemische Erklärungs- und Therapieansätze
3.5Ambulant oder stationär?
4Therapeutisches Vorgehen
4.1Therapeutische Haltung und störungsspezifische Grundideen
4.1.1Orientierung am Auftrag
4.1.2Allparteilichkeit
4.1.3Die Jugendlichen und ihre Familienmitglieder als Experten
4.1.4Zukunftsorientierung
4.1.5Ressourcenorientierung
4.1.6Störungsspezifische Grundideen
4.2Einzel- versus Gruppentherapie
4.2.1Systemische Gruppentherapie
4.2.2Systemische Einzeltherapie
4.3Therapeutische Methoden
4.3.1Dekonstruktion der Funktion des Symptoms
4.3.2Lösungsorientiertes Arbeiten
4.3.3Familienskulptur
4.3.4Externalisierung des Symptoms
4.3.5Arbeit mit Metaphern
4.3.6Biografiearbeit
4.3.7Systemische Fragetechniken
4.3.8Milieutherapeutische Ansätze im Rahmen stationärer Therapie
4.3.9Therapeutische Rituale
4.3.10Systemische Arbeit mit dem Bezugssystem der Jugendlichen
4.4Unterstützende Maßnahmen
4.5Medikamentöse Therapie
4.6Rückfallprophylaxe
5Fallbeispiel: Tobias
6Stand der Forschung
Literatur
Über den Autor
Ursprünglich ein querdenkendes Außenseiterkonzept, hat sich der systemische Ansatz heute in vielen Bereichen der Therapie und der Beratung theoretisch wie praktisch etabliert. Auch Vertreter anderer Schulen bereichert er mittlerweile in ihrer Arbeit. Die Etablierung eines Paradigmas birgt für dieses selbst aber auch Risiken, weil sie stets mit der Verfestigung von Denk- und Handlungsgewohnheiten einhergeht. Die Reihe Störungen systemisch behandeln stellt sich vor diesem Hintergrund zwei Herausforderungen: Nichtsystemischen Behandlern und Vertretern anderer Therapierichtungen soll sie komprimiert und praxisorientiert vorstellen, was die systemische Welt im Hinblick auf bestimmte Störungsbilder zu bieten hat. Innerhalb der Systemtherapie steht sie für eine neue Phase im Umgang mit dem Konzept von »Störung« und »Krankheit«.
Historisch gesehen war einer ersten Phase mit erfolgreichen Konzepten zu Krankheitsbildern wie Schizophrenie, Essstörungen, psychosomatischen Krankheiten und affektiven Störungen eine zweite Phase gefolgt, die geprägt war von einem gezielten Verzicht oder einer definitiven Ablehnung aller Formen störungsspezifischer Codierungen. In jüngerer Zeit wenden sich manche Vertreter der systemischen Welt wieder störungsspezifischen Konzepten und Fragen zu – und werden von anderen dafür deutlich attackiert. Diese neue Welle ist bedingt durch die Anerkennung der Systemtherapie als wissenschaftliches Heilverfahren, durch den Antrag auf deren sozialrechtliche Anerkennung und nicht zuletzt dadurch, dass viele im klinischen Sektor systemisch arbeitende Kollegen täglich gezwungen sind, sich zu störungsspezifischen Konzepten zu positionieren.
Die systemische Welt hat hierzu einiges anzubieten. Die Reihe Störungen systemisch behandeln will zeigen, dass und wie die Systemtheorie mit traditionellen diagnostischen Kategorien bezeichnete Phänomene ebenso gut und oft besser beschreiben, erklären und mit hoher praktischer Effizienz behandeln kann. Sie verfolgt dabei zwei Ziele: Zum einen soll systemisch arbeitenden Kollegen das große Spektrum theoretisch fundierter und praktikabler systemischer Lösungen für einzelne Störungen zugänglich gemacht werden – ohne das Risiko, die eigene systemische Identität zu verlieren, im besten Fall sogar mit dem Ergebnis einer gestärkten systemischen Identität. Gleichzeitig soll nicht-systemischen Behandlern und Vertretern anderer Schulen das umfangreiche systemische Material an Erklärungen, Behandlungskonzepten und praktischen Tools zu verschiedenen Störungsbildern auf kompakte und nachvollziehbare Weise vermittelt werden.
Verlag, Herausgeber und Autoren bemühen sich, einerseits eine für alle Bände gleiche Gliederung einzuhalten und andererseits kreativen systemischen Querdenkern die Freiheit des Gestaltens zu lassen.
An die Stelle der Abgrenzung und der Konkurrenz zwischen den verschiedenen Therapieschulen ist heute der Austausch zwischen ihnen getreten. Die Reihe »Störungen systemisch behandeln« versteht sich als ein Beitrag zu diesem Dialog.
Dr. Hans Lieb, Dr. Wilhelm Rotthaus
Nach mehr als 30 Jahren Zusammenarbeit mit sexuell devianten Jungen habe ich mich im vorliegenden Buch abschließend mit dieser Lebensphase beschäftigt. Meine Kooperationspartner während dieser Zeit waren: Justiz (Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Polizei), Jugendämter, sehr verschiedene Bezugssysteme der Jungen, wie z. B. Eltern oder Familien in unterschiedlichen Konstellationen und zahlreiche Jugendhilfeeinrichtungen sowie zusätzlich Haftanstalten, Krankenkassen, Veranstalter entsprechender Tagungen oder Fortbildungen, Medien (Presse, Rundfunk, Fernsehen) und zahllose interessierte Menschen, die im Gerhard-Bosch-Haus1 hospitiert haben. Jenseits aller Erfahrungen mit diesen Kooperationspartnern bleibt mir die direkte therapeutische Zusammenarbeit mit den Jungen als bereichernde und kostbare (Lern-)Erfahrung in Erinnerung. Diesen Aspekt der Arbeit in der LVR-Klinik Viersen habe ich nach meinem Ausscheiden vermisst. Ließen mich doch im Rahmen dieser Zusammenarbeit die Jungen an sehr unterschiedlichen, aber immer sehr berührenden Erfahrungen teilhaben. Ich durfte auch fast durchweg ihre Bedürftigkeit kennenlernen, sich auf Beziehungen zu Erwachsenen einzulassen, auch wenn dies zu Beginn einer Zusammenarbeit von ihnen oft geleugnet wurde.
Ich habe von diesen Jungen unglaublich viel gelernt: Sie haben mir gezeigt, wie Menschen, mit den denkbar ungünstigsten Voraussetzungen ausgestattet, bei geeigneter Unterstützung (wenn sie als Personen respektiert und wertgeschätzt werden) trotzdem Entwicklungen nehmen können, die vor der Zusammenarbeit mit ihnen unvorstellbar gewesen wären.
Das Konzept des Gerhard-Bosch-Hauses ist in wichtigen Bestandteilen ebenfalls den Jungen zu verdanken: Die Erwachsenen mussten allerdings gut zuhören und hinsehen, um zu verstehen, welche Schlüsse sie aus dem Verhalten der Jungen, ihren Bemerkungen, Reaktionen und Bewertungen der Zusammenarbeit ziehen mussten. Ein Blick auf die Jungen, der nicht nur auf die sexuellen Übergriffe fokussiert, sondern sie als Klienten psychotherapeutischer Arbeit unter besonderen Bedingungen ins Auge fasst und der ihrer besonderen Entwicklungsphase (Pubertät) Rechnung trägt – ein solcher Blick auf die Jungen war immer lohnenswert und Voraussetzung für den Erfolg dieser Arbeit.
Thomas GruberMönchengladbach, im Januar 2017
Noch bis 1990 befanden sich Ansätze zur therapeutischen Arbeit mit sexuell devianten Jugendlichen eher in den Kinderschuhen. Es existierten einige einzeltherapeutische Vorgehensweisen, die jedoch noch nicht spezialisiert und auf Gruppen, sondern auf den Einzelfall bezogen waren. Solche auf den Einzelfall bezogenen Ansätze gab es z. B. in der kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik in Viersen (Alves 1990).
In den Niederlanden entwickelte sich etwa zeitgleich ein eher verhaltenstherapeutisch-kognitiv orientiertes Konzept (Bullens 1993), das sich an Erwachsene als Zielgruppe wandte, erstmalig aber den speziellen gesellschaftlichen Kontext dieser Arbeit berücksichtigte; so wurde dem erhöhten gesellschaftlichen Interesse an erneuten sexuellen Übergriffen der Klienten Rechnung getragen, das oft instabile Arbeitsbündnis berücksichtigt und als Konsequenz daraus die Vor- und Nachteile eines noch zu etablierenden oder bereits existierenden juristischen Kontextes der therapeutischen Arbeit diskutiert.
Etwa zeitgleich wurde die im Vorwort erwähnte therapeutische Arbeit mit sexuell devianten Jungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Viersen (heute LVR-Klinik Viersen) im Rahmen von personellen und institutionellen Umstrukturierungen systematisch zu dem jetzt als »Viersener Modell« bekannten Vorgehen (Gruber 1995; Rotthaus u. Gruber 2005) weiterentwickelt.
Im stationären klinischen Bereich etablierte sich im weiteren Verlauf dann auch im Westfälischen Institut für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hamm ein ähnliches Vorgehen, das leider inzwischen eingestellt wurde. Zudem begannen zahlreiche Jugendhilfeeinrichtungen, auf der Suche nach Spezialisierungsmöglichkeiten Konzepte zur Betreuung sexuell devianter Jungen zu entwickeln. Diese Konzepte waren und sind deutlich durch modulare Stufen und durch einen eher pädagogischen Fokus gekennzeichnet.
Ebenfalls wurden z. B. in Nordrhein-Westfalen auf Initiative des Ministeriums für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter Beratungsstellen initiiert, die in Ergänzung zu bereits bestehenden ambulanten Angeboten in Bochum, Münster und Gelsenkirchen eine bessere ambulante Versorgung dieser Zielgruppe ermöglichen sollten (Gruber 2004).
Sexuell deviante Jungen geraten in der Regel nur dann in den Fokus der Öffentlichkeit, wenn sie durch (spektakuläre) Übergriffe das Interesse auf sich ziehen. Dieses dann entstehende öffentliche Interesse mag aber auch der Grund sein, warum z. B. im klinischen Bereich eine weitere Spezialisierung z. B. für die Arbeit mit sexuell devianten Kindern nach wie vor nicht existiert: Die Gefahr, bei erfolgloser therapeutischer Arbeit selbst zum Adressaten aufgeregten öffentlichen Interesses und u. U. juristischer Ermittlungen zu werden, schreckt vermutlich viele Kliniken ab.
Sexuell deviante Jungen leiden in der Regel nicht in eindeutiger Weise unter den von ihnen begangenen sexuellen Übergriffen. Häufig befinden sie sich vor einer Aufdeckung der oft sehr zahlreichen Übergriffe vielmehr in einem Konflikt, der einerseits durch die Attraktivität der übergriffigen Handlungen und andererseits das »schlechte Gewissen«, d. h. die negativen emotionalen Anteile dieser Handlungen, gekennzeichnet ist. Oft wird die Aufdeckung dann als Erleichterung erlebt, weil dadurch dieser Konflikt ohne eigenes Zutun aufgelöst wird. Das Leiden am Konflikt ist damit meist – wenn es zu angemessener Reaktion des Lebensumfeldes kommt und so weitere Übergriffe vermieden werden – beendet.
Einschränkungen für die Lebensperspektive der betroffenen Jungen ergeben sich meist längerfristig: Werden die sexuellen Übergriffe erst später aufgedeckt, besteht die Möglichkeit weiterer Straftaten im Erwachsenenalter mit einer ungleich schwerer wiegenden Verfolgung nach dem Erwachsenenstrafrecht. Werden die Jugendlichen angezeigt (über die Sinnhaftigkeit einer Anzeige soll später diskutiert werden), besteht die Möglichkeit, dass sie durch Einträge ins Führungszeugnis in der beruflichen Laufbahn eingeschränkt sind. Ohne Anzeige schwebt allerdings aufgrund der sehr langen Verjährungsfristen von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (sie verjähren z. B. aktuell erst zehn Jahre nach dem 18. Geburtstag der Opfer) oft für Jahrzehnte das Damoklesschwert einer später einsetzenden Strafverfolgung über den Tätern.
Betrachtet man die motivationalen Hintergründe der sexuellen Übergriffe, werden weitere, ebenfalls sehr drastische Einschränkungen in der Entwicklung einer zufriedenstellenden Lebensperspektive der Jugendlichen deutlich: So ist etwa ein primär pädosexuell orientierter Junge ohne entsprechende therapeutische Unterstützung vermutlich lebenslänglich nicht nur mit dem Problem konfrontiert, eine für ihn befriedigende Sexualität nur leben zu können, indem er Kinder schädigt (durch Handlungen an Kindern oder auch den Konsum kinderpornografischen Materials im Internet); ihm droht darüber hinaus die Gefahr, inhaftiert oder forensisch untergebracht zu werden. Der Erwerb der Fähigkeit zum Verzicht auf pädosexuelle Handlungen hingegen bedarf in der Regel intensiver therapeutischer Arbeit, damit die Betroffenen Kontrollstrategien erwerben und alternative Vorgehensweisen erlernen, d. h., legale sexuell befriedigende Handlungen wählen können.
Auch Jugendliche, die sexuelle Übergriffe aus einer starken nichtsexuellen Motivation heraus begehen, um z. B. eigene Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Wertlosigkeit zu kompensieren, werden ohne therapeutische Unterstützung nicht in der Lage sein, zukünftige Beziehungen ohne Unterwerfung oder Abwertung anderer Menschen zu gestalten.
Frühzeitig einsetzende therapeutische Arbeit hat präventiven Charakter: Sie kann einen Beitrag dazu leisten, zukünftige sexuelle Übergriffe zu vermeiden. Allerdings kann diese richtige und gesellschaftlich wichtige Beschreibung der Ausgangslage nicht allein die konkrete therapeutische Arbeit mit sexuell devianten Jungen begründen. Es ist vielmehr notwendig, mit den Jugendlichen und ihren Bezugssystemen gemeinsam im Einzelfall über den Auslöser »Aufdeckung sexueller Übergriffe« und das Anliegen »Der Jugendliche soll nie wieder sexuelle Übergriffe begehen« hinaus Arbeitsaufträge zu erarbeiten, die die Ziele und Interessen der Jugendlichen verfolgen.
Auf die dabei immer bestehenden und entstehenden komplizierten Auftragskonstellationen (Aufträge seitens der Gesellschaft, der Justiz, der Eltern und nicht zuletzt der Jugendlichen selbst) soll später ausführlich eingegangen werden.
Ein weiterer Aspekt, der die Bedeutung der Arbeit mit Jugendlichen nach der Begehung sexueller Übergriffe aufzeigt und ebenfalls auf ihren präventiven Charakter verweist, besteht in der möglichen Weitergabe eigener sexuell übergriffiger Erfahrungen an andere Menschen. Die Frage, wie viele Jugendliche, die sexuelle Übergriffe begangen haben, selbst Opfer von sexuellen Übergriffen waren, wird intensiv diskutiert. Die Zahlen hierzu schwanken erheblich. Elsner und König (2010) haben in ihrer Metastudie Studien mit insgesamt 271 sexuell übergriffigen Kindern ausgewertet. Die Werte für sexuelle Missbrauchserfahrungen schwanken dabei von 59 % bis 96,5 % und für Gewalterfahrungen von 19 % bis 60,8 %.
Kendall-Tackett, Williams u. Finkelhor (2005, S. 182) beschreiben, dass zwei symptomatische Kernbereiche als Folgen sexueller Übergriffe gesehen werden können: Der eine wird mit »Sexualisierung« bei Kindern und der andere mit dem Auftreten von »posttraumatischen Belastungssymptomen (PTBS)« umschrieben. Unter Sexualisierung verstehen die Autoren »sexualisiertes Spiel mit Puppen, Einführen von Gegenständen in den After und die Vagina, exzessives und öffentliches Masturbieren, verführerisches Verhalten, Ersuchen um sexuelle Stimulation von Erwachsenen oder anderen Kindern und altersunangemessenes Wissen« (ebd.).
Die Folgen sexueller Übergriffe für die Opfer werden im Übrigen mit den Folgen körperlicher Misshandlungen in Verbindung gebracht. So werden Letzteren dieselben Auswirkungen zugeschrieben wie sexuellen Übergriffen. Eine hohe Übereinstimmung bezüglich des Vorkommens von sexuellem Missbrauch und körperlicher Misshandlung im Kindesalter wird festgestellt und formuliert: Sexueller Missbrauch sollte nicht isoliert, sondern in unmittelbarem Zusammenhang mit körperlichen Misshandlungen gesehen werden (Richter-Appelt 2005). Das bedeutet, dass auch körperliche Misshandlung alleine ein möglicher Bedingungsfaktor für die Entstehung sexueller Devianz ist.
Zusammengefasst bedeutet dies, dass die Bedeutung des Problems »sexuelle Übergriffe« auch darin besteht, dass in vielen Fällen (s. o.) Erfahrungen, die als Opfer in der Kindheit gemacht wurden, später als Täter weitergegeben werden. Erfahrungen von sexueller und körperlicher Misshandlung können Hintergrundfaktoren für Auffälligkeiten sein, die sich dann möglicherweise in Täterverhalten äußern. Effektive therapeutische Arbeit bietet deshalb die Chance zu Veränderungen, die es den Tätern ermöglichen, über die Verhinderung weiterer sexueller Übergriffe zukünftig ohne die Perspektive »Bestrafung« und mit größerer Zufriedenheit zu leben und zudem weitere Opfer von sexuellen Übergriffen und somit weitere mögliche Täter zu verhindern. Dies lässt sich auch dadurch belegen, dass, wie in 2.5 zur Epidemiologie zusammengefasst dargestellt ist, eine große Zahl erwachsener Täter bereits als Jugendliche beginnen, sexuelle Übergriffe auszuführen. Setzt man also bei dieser Altersgruppe an, besteht die Chance, spätere sexuelle Übergriffe zu verhindern. Deegener (1999) verweist auf Untersuchungen, die belegen, dass 30–50 % der erwachsenen Sexualstraftäter bereits als Jugendliche sexuell übergriffig waren.
Für den größten Teil der phänomenologisch beschreibbaren sexuell devianten Verhaltensweisen gibt es keinen direkten Zusammenhang mit Beschreibungen der ICD-10 (vgl. Schmidt u. Poustka 2017). Ausgenommen sind hier primär pädophile Interessen, Fetischismus, Voyeurismus, Frotteurismus, Exhibitionismus und Sadomasochismus. Die mit diesen phänomenologischen Beschreibungen einhergehenden Diagnosen werden unter der Kategorie »Störungen der Sexualpräferenz« in der ICD-10 zusammengefasst, sollten per definitionem allerdings erst nach dem 18. Lebensjahr, d. h. erst an Heranwachsende vergeben werden.
Der phänomenologisch häufigste Anteil sexuell devianten Verhaltens lässt sich jedoch als »sexuell übergriffiges Verhalten zum Nachteil von Kindern« beschreiben. Das heißt: Die Opfer sind im Vergleich zu dem die Handlungen ausführenden Jugendlichen altersmäßig deutlich unterlegen. Dabei handelt es sich in der allergrößten Anzahl der Fälle nicht um Handlungen, die vor allem primär sexuell motiviert sind, sondern es bestehen auch unterschiedliche nichtsexuelle Motivationslagen.
Im Bereich der nichtsexuellen Motivationslagen können im Wesentlichen zwei grobe Richtungen unterschieden werden:
Die übergriffigen Jugendlichen nutzen die sexuellen Übergriffe als Experiment, um die eigene (angenommene oder vermutete) sexuelle Orientierung herauszufinden oder zu testen. Häufig handelt es sich dabei um Jungen, die bei sich homosexuelle Interessen verspüren, sie aber ablehnen und versuchen, sich durch Übergriffe auf jüngere Jungen diese Ablehnung zu bestätigen. Der Effekt zu entdecken, dass diese Handlungen als erregend und sexuell befriedigend erlebt werden, führt dann häufig zu ihrer Wiederholung (zu dem Zweck, dieses Ergebnis zu widerlegen) und nicht zu einer Akzeptanz vorliegender homosexueller Interessen.
Die übergriffigen Jugendlichen haben in ihrer Lebensgeschichte ausgeprägte Erlebnisse von sexueller und körperlicher Gewalt oder starke Ablehnung und Vernachlässigung erfahren, oder sie haben massive körperliche oder sexuelle Gewalt in den ihnen nahestehenden Bezugssystemen (z. B. gewalttätige Handlungen gegen die Mutter) erlebt. Sie führen sexuelle Handlungen aus, um damit andere, meist vorher als sicher unterlegen eingeschätzte Menschen – d. h. meist Kinder – zu demütigen oder zu kränken. Diese »Unterwerfung« verschafft den Jugendlichen dann ein Gefühl der Dominanz und Stärke, führt insgesamt zu einer Selbstaufwertung (Bentovim 1995). Da dieses Gefühl einerseits »genossen wird«, andererseits aber oft durch baldige Zweifel, Schuldgefühle und oder »schlechtes Gewissen« beeinträchtigt wird, werden die übergriffigen Handlungen wiederholt. Dieser Kreislauf führt dann unter Umständen zu sehr großen Zahlen an Übergriffen.
Unspezifisch sexuell motiviert sind dagegen Übergriffe von Jugendlichen, die eher als sozial ungeschickt beschrieben werden können. Es handelt sich um Jugendliche – häufig durch ausgeprägte Intelligenzdefizite gekennzeichnet –, die nach Alter und Entwicklungsstand unterlegene Kinder als Opfer wählen. Sie genießen die sexuelle Handlung. Diese Täter erleben ihre Opfer oft zudem als freundlich, zugewandt und kontaktoffen. Diese Erfahrung führt dann ebenfalls zu einer emotional erlebten Aufwertung des Selbst.
Des Weiteren werden unterlegene Kinder oder Jugendliche – oft wahllos beiderlei Geschlechts –, aber auch Tiere als »Ersatzobjekte« benutzt mit dem Ziel, sexuelle Befriedigung zu erlangen. Diese realen Objekte der sexuellen Handlungen werden dann durch die »Täter« in ihrer Fantasie durch Vorstellungen von Handlungen an und mit den Personen ergänzt, die eigentlich sexuelles Interesse erregen. So ist es möglich, dass sexuell übergriffiges Verhalten an Jungen im Grundschulalter ausgeübt wird, dass die sexuellen Interessen sich aber eigentlich auf gleichaltrige Mädchen richten und die Fantasien während des Übergriffs sich dann auf solche gleichaltrigen und als attraktiv erlebten Mädchen richten.
Eine mögliche Klassifikation sexueller Devianz bietet Deegener (1996). Er unterscheidet nach Nichols und Molinder (1984):
1.Sexuelle Devianz als Sexualverhalten, für das ein juristisches, gesellschaftliches und klinisches Interesse besteht. Es werden 4 Kategorien unterschieden: a) sexueller Missbrauch von Kindern, b) Vergewaltigung, c) Exhibitionismus und d) Sexualmord.
2.Atypisches Sexualverhalten, für das ein primär gesellschaftliches und klinisches, möglicherweise aber kaum juristisches Interesse besteht. Hierzu zählen die Autoren: a) Voyeurismus, b) obszöne Telefonanrufe, c) Fesselung und Züchtigung, d) Sadismus, e) Transvestismus, f) Transsexualität. Ob juristisches Interesse besteht, hängt hier vor allem vom Einverständnis des Objektes der sexuellen Handlungen ab.
3.Sexualverhalten, für das ein gesellschaftliches Interesse bestehen mag und klinisches Interesse nur dann vorliegt, wenn der Klient selbst darüber besorgt ist. Hierzu zählen: a) Homosexualität und b) sexuelle Dysfunktionen.
An dieser Stelle wird deutlich, dass die Bewertung »sexuell abweichenden Verhaltens« immer auch eine Frage gesellschaftlicher Normierung ist: So war Homosexualität bis zur endgültigen Abschaffung des § 175 StGB im Jahr 1994 in der Bundesrepublik Deutschland strafbar. In der Nachkriegszeit wurden bei strenger Anwendung dieses Paragrafen zahlreiche Männer zu Gefängnisstrafen verurteilt.
Eine weitere Beschreibungsmöglichkeit stammt von Groth und Loredo (1981). Frei übersetzt, lässt sie sich folgendermaßen darstellen:
•Altersbeziehung zwischen Täter und Opfer
Je größer die Altersdiskrepanz zwischen den beteiligten Personen ist, desto unangemessener ist die sexuelle Aktivität. Große Altersunterschiede zuungunsten der Opfer können auf Schwierigkeiten des Täters hinweisen, mit Gleichaltrigen Kontakte einzugehen und zu gestalten.
•Soziale Beziehung zwischen Opfer und Täter
Die Extreme dieses Kontinuums beziehen sich auf »völlig unbekannt« einerseits und »Mitglied derselben Kernfamilie« andererseits. Sexuelle Übergriffe auf völlig unbekannte Opfer oder auf Opfer in der eigenen Kernfamilie können auf extrem impulsives und weitgehend ungeplantes Vorgehen oder auf sehr gut geplantes Vorgehen unter Ausnutzung der meist intensiven Beziehung innerhalb einer Kernfamilie hinweisen. Die Bedeutung anonymer sexueller Kontakte ist zu untersuchen.
•Art der sexuellen Verhaltensweisen
Befinden sich die betreffenden Verhaltensweisen in Übereinstimmung mit dem Entwicklungsstand eines Täters? Zeigen sie mehr Kenntnisse und Erfahrungen, als z. B. in der entsprechenden Altersgruppe erwartet werden kann? Gibt es symbolische oder ritualisierte Verhaltenselemente, die auf das Vorliegen nichtsexueller Bedürfnisse hinweisen?
•Durchführung der sexuellen Kontakte
Alle sexuellen Handlungen, die nicht auf gegenseitigem Einverständnis, auf Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit beruhen, müssen als Angriffe gewertet werden. In extremen Formen können die sexuellen Handlungen zur Demütigung, Verletzung oder Bestrafung eingesetzt werden. Welche Rolle spielt körperliche Gewalt?
•Intensität und Häufigkeit der sexuellen Aktivität
Wie oft, wie lange schon, wie ausschließlich fand die sexuelle Aktivität statt? Gibt es zwanghafte Züge? Gibt es hinsichtlich der Intensität und Häufigkeit Hinweise auf eine Steigerung der sexuellen Aktivität? Steigerungen können auf zugrunde liegende psychische Dekompensationen, d. h. zunehmende psychische Schwierigkeiten, beim Täter hinweisen.
•Sexuelle Fantasien vor oder während der sexuellen Aktivität
Fantasien (z. B. bei der Selbstbefriedigung) können Aufschlüsse über die tatsächlichen sexuellen Interessen eines Täters liefern und sind deshalb wichtige Hinweise für eine diagnostische Einschätzung (u. a. für ein mögliches Steigerungspotenzial der sexuellen Aktivität).
•Spezielle Besonderheiten der Opfer
Gibt es spezielle Charakteristika oder Qualitäten der Opfer, die für den Täter bedeutungsvoll sind? (Sie können Hinweise auf Fixierungen, andere Auffälligkeiten und zugrunde liegende Bedürfnisse des Täters geben.)
Diese Beschreibung ist praxisnah und umfassend und erlaubt dem mit sexuell übergriffigen Jugendlichen Befassten eine Darstellung des sexuell übergriffigen Verhaltens in wichtigen Aspekten.
Die »sexuelle Reifungskrise«, im ICD-10 unter F66.0 aufgeführt, erfüllt am ehesten die Merkmale einer Diagnose, die zur Entwicklungsphase meist noch pubertierender Jugendlicher passt. Es wird hier ausdrücklich (durch den Begriff »Krise«) das Vorübergehende dieser diagnostischen Zuordnung betont. Diese Diagnose bedeutet letztendlich, dass die betroffene Person unter einer Unsicherheit hinsichtlich ihrer Geschlechtsidentität oder der sexuellen Orientierung leidet, was zu Ängsten oder Depressionen führen kann. Diese Beschreibung findet sich quasi als »Hintergrundbild« in einer ganzen Reihe nachfolgend zu schildernder diagnostischer Zuordnungen.
Bei Heranwachsenden nach Vollendung des 18. Lebensjahres ist die Diagnose »Pädophilie« (ICD-10, F65.4) zu vergeben, wenn diese Jugendlichen sexuelle Erregung durch Kinder, meist im Vorschulalter mit meist auch eindeutig zu bestimmenden körperlichen Merkmalen, empfinden. Dabei ist die Unterscheidung in »primär« oder ausschließlich pädophil und in »sekundär«, d. h. auch pädophil, sinnvoll. Es wird dann auch von einer pädophilen »Hauptströmung« oder »Nebenströmung« gesprochen. Gemeint ist, dass es Jugendliche mit ausschließlich pädophilen Interessen gibt, dass aber auch beobachtbar ist, dass Jugendliche neben fixiertem pädophilen Interesse z. B. heterosexuelles Interesse an gleichaltrigen Mädchen haben.
Besonders zu berücksichtigen ist im diagnostischen Prozess, dass es für die betroffenen Jugendlichen äußerst tabuisiert und schambesetzt ist, solche Interessen an Kindern zuzugeben. Dies gelingt ihnen in der Regel nur im Rahmen einer längeren therapeutischen Zusammenarbeit. Und auch dann benötigt der betroffene Junge noch sehr viel Mut, um über diese Fantasien offen und ehrlich zu sprechen und sich einzugestehen, dass er über solche sexuellen Interessen verfügt. (Dies gilt im Übrigen auch oder immer noch für das Eingeständnis eigener homosexueller Interessen bei den entsprechenden Jungen.) Ohne Offenheit z. B. bezüglich der Fantasien eines Jungen bei der Selbstbefriedigung ist aber eine diagnostische Einschätzung seiner sexuellen Interessen nicht möglich.
Ein weiteres Phänomen, das sich mit der Diagnose »sexuelle Reifungskrise« umschreiben lässt, erschwert ebenfalls die Feststellung fixierter pädophiler Interessen: Für die hier zur Diskussion stehende Lebensphase ist es geradezu typisch, dass die eigene sexuelle Orientierung erlebt, gefühlt und somit gefunden werden muss. Diese Auseinandersetzung mit sich selbst führt bei vielen Jungen schon bei der Beobachtung geringer Abweichungen von der heterosexuellen Norm zu großer Verunsicherung. Gebräuchlich ist hier der Begriff »Identitätskonfusion«, der aus der Arbeit mit Jugendlichen kommt, die homosexuelle Jugendliche im Rahmen ihres »Coming-out-Prozesses« begleitet. Diese Identitätskonfusion konkretisiert sich dann in eher unspezifischen Auffälligkeiten: in nachlassenden Schulleistungen, unkonzentriertem Verhalten, Problemen in den Beziehungen zu (gleichgeschlechtlichen) Gleichaltrigen, Stimmungsschwankungen usw. Sie kann aber auch zu den bereits weiter oben beschriebenen sexuellen Übergriffen führen, in deren Rahmen die eigene sexuelle Orientierung (hetero- oder homosexuell, an Gleichaltrigen interessiert oder pädophil) »getestet« wird, meist mit dem Wunsch, sie möge heterosexuell sein und nicht von der gesellschaftlichen Norm abweichen.
Der Diagnose »Fetischismus« (ICD-10, F 65.0) zuzuordnende Handlungen finden sich bei den Jugendlichen in den unterschiedlichsten Ausprägungen. Sexuelle Erregung durch die Benutzung von Damenslips als erregendem Objekt bei der Selbstbefriedigung stellt dabei die häufigste Variante dar. Hinzu kommen sexuelle Erregung durch nackte Füße von Frauen (seltener von Jungen) oder durch Schuhe. Zu den delinquenten sexuellen Handlungen unter der einschlägigen Rubrik »Störungen der Sexualpräferenz« gehören auch obszöne Telefonanrufe und, in Menschenansammlungen, das Pressen des Körpers an andere Menschen zur sexuellen Stimulation.
»Exhibitionismus« (ICD-10, F 65.2) als Diagnose wird in der Regel bei Jungen erst vergeben, wenn diese Verhaltenstendenz als die »Hauptströmung« sexuellen Interesses angenommen werden kann. Hierzu ist wiederum eine intensive Beschäftigung mit den die Selbstbefriedigung der betreffenden Jungen begleitenden Fantasien notwendig. Man geht davon aus, dass bei Jungen, die in ihren Fantasien sexuelle Handlungen mit gleichaltrigen Partnern imaginieren, die exhibitionistischen Handlungen noch als »puberales Suchverhalten« beschrieben werden können (Lempp 1983, S. 260). Tauchen in den entsprechenden Fantasien bereits exhibitionistische Handlungen auf, dann würde man von einer Hauptströmung sprechen. Die Diagnose wäre dann gerechtfertigt.
Bei jüngeren sexuell auffälligen Jungen wird die Diagnose »Bindungsstörung mit Enthemmung« (ICD-10, F 94.2) zu vergeben sein, wenn der immer sehr starke nichtsexuelle Hintergrund der sexuellen Übergriffe sich durch eine große Zahl dieser Übergriffe und eine große Wahllosigkeit in Bezug auf die körperlichen Merkmale der Opfer auszeichnet. Häufig gesellt sich dann eine große Kränkbarkeit der Jungen hinzu: Sie fühlen sich schnell und oft »vorauseilend« von Gleichaltrigen gekränkt und agieren dann ihrerseits sehr provokant und abwertend. Eine Kompensationsstrategie dieses mit dem Erleben der Kränkung verbundenen Gefühls der Abwertung besteht dann auch darin, allgemein schwächere Menschen (das sind in der Regel Kinder, aber auch intelligenzgeminderte jüngere, gleichaltrige oder ältere Menschen) durch sexuelle Handlungen zu demütigen.
Die Diagnose »emotional instabile Persönlichkeit«, Typ »Borderline« (ICD-10, F 60.31)- kann wiederum nur bei bereits 18-jährigen Jugendlichen verwendet werden. Allerdings umfasst sie eine große Anzahl von Auffälligkeiten, die als Voraussetzung für sexuelle Übergriffe infrage kommen: Zuallererst ist hier die oft enorme Kränkbarkeit der Jungen zu nennen. Wie bereits bei den Jüngeren (siehe Bindungsstörung mit Enthemmung) beschrieben, versuchen die mit dieser Diagnose in Verbindung zu bringenden Jugendlichen jede Form der Selbstwertkränkung durch (oft vorauseilende) Kränkungen und Abwertungen des Gegenübers zu vereiteln oder zu beantworten. Aus beiden Möglichkeiten, Kränkung zu vermeiden, erwachsen dann meist heftige Konflikte mit anderen Jugendlichen oder mit Erwachsenen, die oft mit einer »Niederlage« der Betroffenen enden. Dies wird erneut als Kränkung verstanden, und die Jugendlichen versuchen dann, die damit verbundenen Gefühle wiederum zu kompensieren; sexuelle Übergriffe stellen dann – häufig vor dem Hintergrund eigener erlebter Missbrauchs- oder Gewalterfahrungen – das Mittel der Wahl dar: Sie sind geeignet, andere effektiv und stark zu demütigen und zu kränken.
Die Hilflosigkeits- und Ohnmachtsgefühle des so unterworfenen Gegenübers ermöglichen dem Täter die Erfahrung von Macht- und Dominanzgefühlen, die das Selbstwertgefühl stärken. Eine besondere Variante wahrgenommener oder angenommener Kränkung besteht bei Jungen, denen dieses Störungsbild zugeschrieben wird, darin, dass sie die Ablehnung von intensiver Beziehung – das Gefühl, von einer bestimmten Person nicht geliebt zu werden – als starke Kränkung empfinden. Aus diesem Gefühl kann dann einerseits teils massiv ausgeprägtes selbstverletzendes Verhalten, andererseits aber auch wiederum als Kompensationsstrategie die Idee zu sexuellen Übergriffen entstehen.
»Störungen des Sozialverhaltens und der Emotionen« (ICD-10, F 92.8) sind in der kinder- und jugendpsychiatrischen Diagnostik eher