Shaframs Vermächtnis - Alexander Lenz - E-Book

Shaframs Vermächtnis E-Book

Alexander Lenz

0,0

Beschreibung

Im Königreich Katsul, in dem altehrwürdige Traditionen hochgehalten werden, wird der Königssohn Sikris zum neuen Herrscher gekrönt. Die Shaframkultisten, eine religiöse Gruppe, die den heiligen Shafram verehrt, sehen darin ein Problem, da der junge König Veränderungen anstrebt. Es entbrennt ein Konflikt zwischen Tradition und Moderne. Die Bauerntochter Shaannaa, die den Thronfolger auf die Missstände, unter dem das Bauernvolk leidet, aufklären möchte, spielt dabei nichtsahnend eine tragende Rolle und gerät mit ihrer Freundin Anna zwischen die Fronten. Die Situation wird für Sikris zunehmend bedrohlicher und die Ereignisse spitzen sich mehr und mehr zu...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 520

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



»Lasse das heilige Licht durch dich hindurch scheinen,

dann wird dich die ewige Glückseligkeit erreichen können.«

Shafram

Inhaltsverzeichnis

Ein geeintes Königreich

Der erste Morgen

Familienhof

Der Druhmbaflüsterer

Auf zu neuen Ufern

Zweiter Amtstag

Offenbarungen

Neue Prioritäten

Zeitenwende

Im Bund der Ehe

Spion wider Willen

Erkenntnisse

Das Glaubensbekenntnis

Tagebucheinträge

Das Spiel mit dem Feuer

Wollust

Geschäftsreise

Die Büchse der Pandora

Das heilige Licht

Erwachen

Hilflosigkeit

Die Dunkelheit

Ein Wiedersehen

Wiedersehen macht Freude

Dunkle Kräfte

Schattengestalt

Mit fremden Zungen

Im Auge des Wirbelsturms

Gewölbegurgler

Urteilsvollstreckung

Die Antisphärisierung

Auge um Auge, Zahn um Zahn

Der Allmächtige & der Grünäugige

Das Abenddinner

Der Treueschwur

Vorwort

Willkommen liebe Leser und Leserinnen. Euch erwartet eine spannende und aufregende Reise in meine Fantasie. Ein weiteres Kapitel des Spira Universums wurde aufgeschlagen. Die Geschichte spielt im gleichen Sonnensystem wie mein erster Roman »Widerstand auf Civitas«. Von Werk zu Werk erweitert sich die Spirawelt und kleine Parallelen zeichnen sich mit der Zeit ab. Dabei achte ich stets darauf, dass jede dieser Geschichten für sich gelesen werden kann. Ich hatte selbst keine Ahnung, worauf ich mich hier eingelassen habe, doch das Ergebnis meines Unterbewusstseins hat mich sehr erstaunt. Am Anfang weiß ich nie, wohin mich meine Reise führt, wann und wie sie endet. Ich lasse meist die Geschichte für sich sprechen und folge ihr. Höre, fühle und sehe sie. Es führte mich in eine Welt voller Geheimnisse, Mythen und Traditionen. Die Figuren sind mir im Laufe des Schreibprozesses sehr ans Herz gewachsen. Jede von ihnen hat ihre speziellen Eigenheiten, die mir ein Schmunzeln bereitet haben. Ich bin mir sicher, dass jeder seinen Liebling in diesem Buch finden wird. Wie beim ersten Mal habe ich auch die Gestaltung und das Buchlayout selbst in die Hand genommen. In allen Bereichen bin ich routinierter und habe mehr an Erfahrung gewonnen. Ich wünsche euch nun viel Spaß mit den kommenden Seiten und würde mich über ein Feedback freuen. Möge Shafram euch leiten!

Prolog

Katsul, im Jahre 162 des Shaframs

Büsche raschelten und Äste knacksten, während die beiden Vollmonde Ifrit und Tigris die stürmische Nacht erhellten. Ein schnelles Atmen war zu vernehmen. »Schnappt sie euch«, rief jemand aus der Ferne. Geschwind streifte sie durch das Gebüsch, um die eigene Haut zu retten. Ihre Sandalen litten bereits wegen der Hetzjagd. Eine Geächtete, die schon das ganze Leben auf der Flucht war, rannte wieder einmal um ihr Leben. Die Arme und Beine waren von den peitschenden Zweigen blutig gerissen worden und brannten vor Schmerz. Sie blieb nah am Gebüsch, damit die Gardisten des katsulanischen Königreiches sie nicht so leicht entdecken würden. Das pochende Herz in ihrer Brust hämmerte unablässig bis in ihre Halsschlagader hinauf. Wie lange würde sie die Tortur durch das dichte Geäst noch durchhalten? Zumindest war nun das Klappern der Rüstungen außer Hörweite, dennoch behielt sie die Geschwindigkeit bei und bahnte sich den Weg weiter durch die Böschung. Die zerrissenen Lumpen und die neuen Abschürfungen auf ihrer Haut waren der kleinste Preis, den sie dafür zahlen musste, falls sie ihnen entkommen sollte. Es sah gut aus für sie und sie beschloss, ein wenig langsamer zu laufen. Nunmehr war sie in der Lage, den Ästen und Zweigen auszuweichen oder sogar von sich wegzudrängen, um so zeitgleich das Rascheln durch die Büsche abzumildern. Sie hatte es geschafft. Der Baum zu ihrer Rechten kam ihr gerade sehr gelegen, um etwas Kraft zu sammeln, und sie ließ sich verausgabt zu Boden fallen. Mit angewinkelten Knien, die Arme auf diesen liegend und den Kopf nach unten hängend, schnappte sie nach Luft. Als sie glaubte sicher zu sein, richtete sie ihren Blick nach vorn auf eine Lichtung, die durch die Doppelvollmondnacht eine magische Atmosphäre erzeugte. Eine Nacht, in der der Kontakt zu den Geisterwesen und Dämonen extrem ausgeprägt war. Die Alchimistin spürte an dieser Stelle besonders viel Aktivität und verstärkte dieses Gefühl, indem sie aus der Gürtelschnur eine Phiole griff und einen großen Schluck von ihrem Gebräu nahm. Wenige Sekunden später erschien in ihrem schummrigen Sichtfeld eine Schleiergestalt. Sie strahlte eine abgrundtief böse Präsenz aus. Ein Dämon.

»Sterbliche, ich sehe, dass du seit deiner Geburt um dein Leben bangst. Ich kann dich von deiner Last befreien«, sagte er hauchend.

»Nein, Daeva, ich will leben!«

»Das wirst du, und zwar für immer«

»Wie kann ich die Unsterblichkeit erlangen?«

»Indem du mit mir ein Bündnis eingehst. Ich schenke dir das ewige Leben, und auch dein äußeres Erscheinungsbild als Geächtete kannst du jederzeit nach Belieben ändern. Im Gegenzug verlange ich, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, dass du mich beschwörst und mir eine sterbliche Hülle deiner Wahl zu Verfügung stellst.«

»Einverstanden, deine Bedingung soll mir recht sein. Ich bin es leid, ein Leben als Ausgestoßene führen zu müssen.« Die Alchimistin streckte ihren Arm in Richtung des Nebels aus und konnte beobachten, wie der Dunst sich zu langen Krallen formte und letztendlich ihre Hand ergriff.

1

Ein geeintes Königreich

Jahr 1243 des Shaframs

Die Krönungszeremonie wurde begleitet von langsamen und tiefen Trommelschlägen, die Krönung des neuen Königs war fast vollendet. Das buntgemischte Volk stand draußen auf dem geschmückten Hofpalast und die orangefarbenen Fahnen mit dem Wappen des Königshauses flatterten im Wind. Während der Krönung durfte kein Wort miteinander ausgetauscht werden. Hin und wieder drang ein leises Getuschel aus den Massen hervor. Einige Repräsentanten anderer Adelshäuser waren unter den Ehrengästen vertreten. Würdenträger und die Ältesten der Shaframkultisten umkreisten die Teilnehmer der Zeremonie. Der geistliche Granvisir Asulo Phados vereidigte den nachfolgenden Herrscher von Katsul. »Regiere mit Ehrfurcht und dem Bewusstsein des heiligen Kodex des allmächtigen Shaframs. Mögest du dein Volk in die ewige Glückseligkeit führen. Vom Anbeginn deiner Herrschaft bis zum letzten Atemzug deines Seins«, sprach der geistliche Granvisir in seinem edlen Stoffgewand zum neuen König. Der siebenundzwanzigjährige Sikris wirkte teilnahmslos. Es zählte in dieser Dynastie zum guten Ton, keine Emotionen zu zeigen. Insbesondere für alle, die im Palast tätig waren. Sikris' schwere Krone aus dem cyanfarbenen Edelmetall Gundi bereitete dem jungen Herrscher ungewohnte Nackenschmerzen. Das Zepter, welches ebenfalls aus dem prächtigen Gundi bestand, war reich mit unzähligen Edelsteinen bestückt. Oben auf der Spitze dieser edlen Machtinsignie saß der Kopf eines Reptils. Sein königliches Stoffgewand wirkte mit dem mehrlagigen und hochwertigen Schnitt sehr majestätisch. Sikris' lange hellbraunen Haare hatten eine aufwendige geflochtene Frisur und an seinen grünen Augen erkannte man die königliche Blutlinie. Sikris kniete vor dem Granvisir nieder. »Wie einst mein Vater werde ich mithilfe des allmächtigen Shaframs mein Volk in die ewige Glückseligkeit führen.«

Granvisir Asulo Phados schlug Sikris mit dem Streitkolben von Katsul endlich zum König. Die Anwesenden des Hofpalastes hielten in diesem ehrwürdigen Moment den Atem an. Asulo Phados legte den Streitkolben von Katsul behutsam zurück auf die Kissenablage. Sikris war sich nicht bewusst, dass alle auf ihn warteten.

Seine Zwillingsschwester Amani stand mit verschränkten Armen hinter ihm und beugte sich zu ihm herüber. »Du musst dich jetzt vor deinem Volk erheben«, erinnerte sie ihren Bruder im Flüsterton. Behaglich richtete sich der neue König von Katsul auf. Die Untertanen in ihren zeremoniellen Gewändern knieten vor ihm nieder, als Sikris sich zu seinem Volk herumdrehte. Der letzte Trommelschlag versiegte, die Menge rief synchron und monoton: »Lang lebe König Zaro! Lang lebe König Zaro!« Die Krönungszeremonie war nun vollendet. Von diesem Moment an durfte das Volk ihrem neuen Herrscher zujubeln. Sikris vernahm zwischen den Menschenmassen ein gewaltiges Beben. Es war das Geräusch eines Druhmbas, ein heiliges Tier der Shaframkultisten. Ein ausgewachsener Druhmba brachte gut und gerne zwanzig Tonnen Lebendgewicht auf die Waage. Das Volk teilte sich auf, um einen Korridor für das gewaltige Wesen freizumachen. Der vierbeinige Dickhäuter setzte träge ein Bein vor das andere. Sein gewaltiges Aussehen flößte jedem Respekt ein. Die hohe Stirn des Tieres war das Hauptmerkmal sowie sein massives Hinterteil. Schritt für Schritt wurde das dumpfe, bebende Geräusch zwischen den jubelnden Leuten lauter. Druhmbas waren sehr feinfühlige Wesen. Obwohl das feierwütige Volk außer sich vor Freude war, spürte der Vierbeiner, dass keine Gefahr von den Menschenmassen ausging. Der Druhmba war mit kostbarem Schmuck verziert. Er blieb vor Sikris stehen und sank vorsichtig zu Boden, indem er die Kniegelenke seiner mächtigen Beine anwinkelte. Auf dem Rücken des Tieres befand sich eine prunkvolle Sänfte, die eigens für die Krönungszeremonie aufwändig hergerichtet worden war. Das Türchen der Sänfte stand offen. Drei Steigbügel führten hinauf.

Granvisir Asulo Phados hielt seinen ausgestreckten Arm in Richtung des Druhmbas. Sein langer orangefarbener Ärmel hing herunter. »Eure königliche Hoheit, Sie dürfen nun mit dem zeremoniellen Werdegang fortfahren«, sagte der Granvisir. Sikris hob sein üppiges Gewand an und stieg die Bügel zur Sänfte hinauf. Bevor er sich auf seinen Sänftenthron setzte, winkte er seinem Volk zu. Der Dickhäuter richtete sich auf. Sikris Zaro plumpste auf den gepolsterten Thron und musste sich krampfhaft festhalten, um nicht aus der Sänfte zu fallen. Er fing an zu schwitzen. Nachdem der Druhmba zur vollen Größe emporstieg, setzte sich das eindrucksvolle Wesen in Bewegung. Die Tierbändiger der Menagerie gaben dem Tier kurze und präzise Kommandos. Daraufhin drehte sich der Druhmba gemächlich um seine eigene Achse und der königliche Zug begann, sich durch die Straßen von Katsul zu bewegen. Hoch oben in der Sänfte bot sich Sikris ein fantastischer Blick auf seine Untertanen. Er wurde von den schwenkenden Fahnenträgern und den rhythmischen Klängen der musizierenden Palastkapelle begleitet. Die Paukenschläge der großen vier Trommeln dominierten alle anderen Begleitinstrumente. Sikris' Zwillingsschwester Amani, Granvisir Phados und einige Würdenträger folgten ihm. Der zeremonielle Zug durchquerte das riesige, versteinerte und jahrtausendealte Tor von Katsul. Die Straßen waren brechend voll, jeder wollte einen Blick auf den neuen König erhaschen.

Sikris Zaro war offiziell König von Katsul und Stellvertreter des allmächtigen Shaframs. Er war somit Nachfolger der schon seit tausend Jahren anhaltenden Dynastie. Die grünäugigen Mitglieder der Königsfamilie waren allesamt Gelehrte. Sie wurden in vielen verschiedenen Dingen unterwiesen. Alchimie, Kampfkunst, Meditation, Kalligraphie, Liebeskunst, Landwirtschaft und Kriegstaktik waren nur einige der Lehren. Aber das Allumfassende war der Kodex des Shaframkults, danach richteten sich alle. Wer auch immer die heiligen Schriften in Frage stellte, dessen Seele war verdammt bis in alle Ewigkeiten.

2

Der erste Morgen

Auf dem Balkon seines Gemachs stand Sikris. Er hatte noch sein weißes, langes Nachtgewand an und trug seine Arme auf dem Rücken. Der Tag erwachte und die Sonne tauchte vor ihm am Horizont von Katsul auf. Ein Raumjäger, der ein antikes Design hatte, zischte über das gebogene Tor hinweg. Nun musste Sikris den Pflichten eines Königs nachkommen, die Zeiten des Ausschlafens waren vorbei. Er hatte von einem Tag zum anderen einen vollen Terminkalender. »Schade, dass Mutter am Tag meiner Krönungszeremonie nicht anwesend war«, sagte er mit Bedauern und konnte vom Balkon aus noch Reste der gestrigen Feier ausmachen, die von einigen Mitarbeitern des Palastes zusammengefegt wurden. Der Hofpalast war großzügig angelegt, der Bodenbelag war mit hellen Kacheln gepflastert. In der Mitte des Hofs war ein imposanter Zierbrunnen mit einem langen Becken platziert. Im Zentrum des Zierbrunnens befand sich eine eindrucksvolle Statue des allmächtigen Shaframs. Seine Majestät atmete tief ein und begab sich anschließend in sein Schlafgemach. Es war hauptsächlich weinrot gehalten. Das Licht drang nur sehr spärlich von draußen herein. Vorne rechts vor dem gemütlichen Himmelbett befand sich an der Wand ein Kamin mit einem goldenen Sims. Auf der gegenüberliegenden Seite stand sein großer, schmuckvoll verzierter Spiegel.

Sikris' Konkubine Valisy betrachtete ihn von seinem Bett aus. Sie trug ebenfalls ihr weißes Nachtkleid. »Jetzt wo du König bist, hast du überhaupt noch Augen für mich?«

Sikris schaute Valisy liebevoll an. »Es wird sich vieles ändern, das ist gewiss. Doch meine Liebe zu dir bleibt ein Glaubensbekenntnis.« Sikris wusste, was sie gern hörte. Das hatte man ihm von klein auf beigebracht, besondere Dinge in besonderen Momenten zum Ausdruck zu bringen. Nur seine eigene Meinung blieb meist unter Verschluss.

»Deine Poesie der Liebe ist immer wieder eine Versuchung wert, Sikris«, sagte Valisy bewundernd, während seine Majestät sich vor ihr umzog.

»Allerdings erwartet auch dich eine Prüfung. Ich werde bald heiraten, eine passende adelige Gemahlin wird derzeit auf ganz Horus gesucht.«

»Hätte ich mir denken können, dass es früher oder später so eintrifft«, antwortete sie schnippisch und strich sich durch ihr pechschwarzes, geglättetes Haar.

Sikris richtete vor dem Spiegel penibel seine dunkelgraue königliche Robe. Sie war im Gegensatz zu seinem zeremoniellen Gewand viel beweglicher und ein wenig schlichter gehalten. »Diese Eventualität hatten wir doch besprochen, meine Dorianblüte.«

»Ich weiß nicht, ob ich dieses Opfer vollbringen kann«, sagte sie.

»Seit Generationen haben sich etliche Konkubinen dieser Prüfung stellen müssen. Der Großteil hat sie bestanden, andere mussten dafür mit ihrem Leben bezahlen und dieses schwere Schicksal möchte ich uns beiden ersparen«, erwiderte er emotionslos und knöpfte seine Robe zu. »Ich bin jetzt rechtmäßiger Herrscher der Katsulaner«, sagte er und begab sich zu den riesigen Doppeltüren aus reinstem, cyanfarbenen Gundi, die gleich darauf ihre Pforten öffneten. Er ging über die langen, orangefarbenen Läufer durch die Korridore des königlichen Palastes hinaus.

Sein langjähriger Freund und jetziger Berater Romo kam mit einem Datenorganizer aus einem der vielen Zimmer spaziert und passte sein Schritttempo Sikris' an. »Guten Morgen, Eure Hoheit.«

»Ich bitte dich, ich bin weiterhin Sikris für dich. Was steht heute an meinem ersten Tag an?«, erkundigte er sich.

»Du hast exakt fünfzehn Minuten Zeit zum Frühstücken. Danach begibst du dich zum Kaitagaretrainer Kafir für deine tägliche Einheit. Im Anschluss geht es zur Alchimistin Helga.«

»Tätigkeiten, die ich ein Jahrzehnt zuvor tat, erscheinen mir als neu gekröntem Herrscher nicht gerade sinnvoll«, sagte Sikris leicht gekränkt.

»Erinnere dich an die heiligen Schriftrollen des Shaframs. Nur ein gebildeter König erweist sich als würdig genug«, zitierte Romo.

»Und sein Berater wohl auch«, flachste Sikris ohne eine Gefühlsregung.

»Wir sehen uns später, ich werde mich derweil umhören und Ausschau nach deiner künftigen Gemahlin halten«, sagte Romo und verschwand in den vielen Korridoren des Palastes. Sikris kannte Romo seit sie noch gemeinsam im Sandkasten mit ihren Schaufeln Berge mit Sand aufschütteten und sich dabei vorstellten, wie sie riesige Paläste erbauten.

Sikris betrat den prunkvollen Speisesaal. Durch die hohen aneinandergereihten Fenster wurde der Saal gut ausgeleuchtet. Der lange Tisch war nur von einer Seite gedeckt und die Sonnenstrahlen funkelten auf das frische Obst. Seine Schwester Amani saß bereits zu Tisch. Ihre blonden Haare waren mit Blumen bestickt und ein rotes Band hielt ihre Frisur zusammen. »Guten Morgen, Eure königliche Hoheit«, sagte sie mit ironischem Unterton.

»Ich sollte mich besser schnell daran gewöhnen«, murmelte er. Ab dem heutigen Tage mit Hoheit angesprochen zu werden, fühlte sich für ihn äußerst befremdlich an. Sikris nahm gegenüber von Amani Platz. Er schnappte sich mit der Gundigabel zwei Früchte aus der Glasschale und legte sie auf seinen verschnörkelten Teller. Es wurde viel Wert auf Etikette gelegt, somit aß er die Früchte kultiviert mit Messer und Gabel.

»Sikris, was denkst du über Valisys Absichten? Ist sie dir gegenüber loyal genug oder wird sie deiner künftigen Gemahlin das Herz herausreißen?«

»Ich denke nicht, dass von ihr eine potentielle Gefahr ausgeht. Aber ich wüsste nicht, weshalb es meine Schwester etwas anbelangen sollte.«

»Ganz einfach, wir wären vielleicht nicht geboren, hätte Vater seine damalige Konkubine nicht davon abgehalten, Mutter einen Dolch in den Bauch zu stechen«, erinnerte Amani.

»Das ist mir durchaus bewusst, Amani.« Sikris hatte mit seiner Schwester ein sehr gutes Verhältnis. Er konnte ihr wichtige Angelegenheiten anvertrauten. Dennoch konnte es Sikris auf den Tod nicht ausstehen, wenn sie ihn jedes Mal an unangenehme Dinge erinnerte, die ihm bereits klar waren. Zumindest hatte Amani ihre Rechthaberei vor einigen Jahren abgelegt, sonst hätte sie ihm in seinem neuen Amt vermutlich im Weg gestanden. Granvisir Phados betrat den Speisesaal. Der lange Kaftan und seine Kappe bestanden aus den Orangetönen der heiligen Shaframkultisten. Asulo Phados' langer weißer Ziegenbart untermalte sein hohes Alter. Sikris konnte das Alter des Granvisirs nicht schätzen. Asulo hatte schon immer gleich für ihn ausgesehen. Ein Granvisir war der höchste unter den geistlichen Rängen und er war zudem mit dem König gleichgestellt. Sein Wort hatte Gewicht. »Eure Eminenz«, sagte Sikris. »Welches Belangen führt Sie denn zu mir?«

»Eure Majestät, Sie werden sich schnell an meine Anwesenheit gewöhnen müssen«, erwiderte der Granvisir mit seiner langsamen und gebrechlichen Stimme. Sie klang unharmonisch und wirkte leicht beängstigend. »Auf mein Anraten hin empfehle ich Ihnen die nächsten Tage gemeinsam mit uns Kultisten in der Saf'iskirche einen Shaframdienst abzuhalten.«

»Ich werde da sein, wenn ich meine Position als König Zaro gefestigt habe, Eure Eminenz.«

»Guten Tag, Eure Hoheit«, verabschiedete sich der Granvisir und schlurfte aus dem Speisesaal.

»Sikris, ich weiß, dass du nicht besonders viel von dem Shaframkult hältst. Aber den Granvisir sollte man nicht enttäuschen«, ermahnte Amani.

Sikris schluckte das letzte Stück der kostbaren Frucht hinunter und stand von seinem Platz auf. »Keine Sorge Schwester, ich werde die Traditionen bewahren.«

***

Auf dem grün angelegten Garten hinter dem Palast nahm Sikris die waffenlose Grundstellung des Kaitagare ein. Er trug ein edles Trainingsoutfit. Der Kaitagaretrainer Kafir stand ihm nur mit Fäusten gegenüber. Er war im mittleren Alter, glattrasiert und hatte eine Kurzhaarfrisur. »Du fühlst dich beraubt und stehst deinem Feind waffenlos von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Wie gehst du vor?«

Sikris antwortete nicht, stattdessen leitete er einen Angriff ein. Er schlug mit der rechten Faust in Richtung Kafirs Gesicht, der Trainer wich mit seinem Kopf aus, während er die Hände hinter dem Rücken versteckt hielt. Sikris führte drei weitere Schläge auf gleicher Höhe aus, denen Kafir ohne Probleme auswich. Beim fünften Schlag packte Kafir das königliche Handgelenk und versetzte Sikris einen Tritt in die Wade, der daraufhin auf die frisch gemähte Wiese fiel. Das duftende Gras stieg ihm in die Nase.

»Zuerst solltest du den Feind auf dem Schlachtfeld einschätzen, bevor du blind angreifst, junger König. Steh auf und probier's nochmal.«

Sikris nahm abermals die Grundstellung ein. Er versuchte es mit einer Kombination aus Schlägen und Tritten. Es sah um einiges selbstsicherer aus, doch Kafir durchschaute den König, packte ihn erneut am Handgelenk und gab ihm mit der Handkante eine Schelle auf seinen Nacken. Im Anschluss zerrte der Trainer Sikris auf die gegenüberliegende Seite und trat ihn zärtlich in den Bauch. Sikris plumpste auf die Wiese.

»Steh auf und probier's nochmal.«

So langsam reichte es dem jungen König. Sikris hoffte inständig, dass kein anderer Bediensteter seines Palasts zusah, wie er vorgeführt wurde. Er griff an und variierte die nächste Kombination mit einigen Drehungen. Kafir musste sich nun wehren und blockte mit etwas Mühe die Schläge und Tritte ab. Im nächsten Moment verspürte Sikris einen kurzen Schmerz in seinem Rücken und plumpste mit dem Gesicht ins duftende Gras.

»Na geht doch, Eure Hoheit.«

Sikris stand auf und klopfte sich den überschüssigen Dreck von seinen Kleidern. »Ich könnte dich für die Aktion köpfen lassen«, sagte er mit minimaler Ironie, die nur Kafir deuten konnte.

»Ich verstehe«, grinste Kafir. »Dann ist unser Training für

heute beendet und du kannst dein entehrtes Selbstbild verarbeiten.« Wortlos gingen beide zusammen von der Trainingswiese in Richtung der Palastsauna. Dabei kamen sie an etlichen perfekt geschnittenen Hecken und wunderschönen Blumenbeeten vorbei. Sikris wollte auf dem Weg vom Trainingsgelände zur Sauna nie angesprochen werden. Kafir respektierte dies.

Der heiße Dampf quoll bereits aus der tunnelartigen Unterführung der Sauna. Sie stapften hindurch. Sikris vernahm den angenehmen Duft der Kräuter, der mit dem Wasserdampf einher ging. Nur ganz bestimmte Kräuter durften für die Aufgüsse benutzt werden. Pflanzen, die von Shaframmönchen angebaut wurden und deren Wirkung angenehm und beruhigend waren, galten zum Saunieren als Shaframi. Nachdem die beiden aus ihrer Kleidung geschlüpft und nur mit einem orangefarbenen Handtuch um die Hüften bedeckt waren, betraten sie die große, dampfende Palastsauna. In der Mitte des Raums befand sich eine kreisrund eingebettete Vertiefung mit Sitzmöglichkeiten an den Rändern.

Sikris' Berater Romo saß bereits vor Ort und empfing die beiden. »Eure Hoheit... ähm Sikris, es gibt eine kleine Änderung bezüglich deiner Terminplanung«, sagte er, als Sikris und Kafir sich zu ihm gesellten. »Die Alchimistin weiß schon Bescheid, dass du später vorbeischaust.«

»Welche Dringlichkeit erwartet mich?«, fragte Sikris.

»Alucat Suri, der Architekt unserer heiligen Stadt, hat einige Fragen an dich. Er erwartet dich im Thronsaal.«

»Teil ihm mit, König Zaro ist in Kürze da.« Sikris wollte in Ruhe zu Ende schwitzen, bevor er sich in die Arbeit stürzte. »Lass mich bitte mit Kafir alleine.« Romo ging stillschweigend seiner Wege.

Kafir blickte zu Sikris. »Der Berater des Königs scheint mir ein wenig anhänglich.«

»Im Gegensatz zu ihm hatte mein Vater mich auf meine Rolle gründlich vorbereitet, Romo benötigt lediglich mehr Zeit. Dieser Umstand, von mir Befehle entgegen zu nehmen, ist ihm noch fremd.«

»Sikris, du darfst keinesfalls außer Acht lassen, dass du neben Asulo Phados, das mächtigste Amt innehast. Ich als dein langjähriger Begleiter und Vertrauter gebe dir einen wichtigen Rat. Pass gut auf, wem du dich anvertraust. Verräter lauern überall. Einschließlich Personen, bei denen du es nie für möglich halten würdest.«

»Ich verstehe durchaus deine Sorge, sie ist vollkommen berechtigt. Wie ich schon sagte, mein Vater hat mich viele Sachen gelehrt.«

Kafir legte die Hand auf Sikris' Schulter und schaute ihm besorgt in seine smaragdgrünen Augen. »Sei bitte trotzdem wachsam, junger König.«

Sikris nickte anerkennend und begab sich unter seine königliche Duschkabine, sie wurde von zwei Gardisten seiner Leibgarde bewacht. Äußerlich blieben die Rüstungen der Gardisten seit tausend Jahren unverändert, so verlangten es die heiligen Schriftrollen des Shaframs. Es hatte fast ein Jahrhundert lang gedauert, die Shaframkultisten davon zu überzeugen, die alten schutzlosen Rüstungen zu modifizieren. Sie waren gegen die Energiewaffen ihrer Widersacher nicht mehr gewappnet. König Saf'is Zaro, der damalige regierende Herrscher, traf mit dem Granvisir schlussendlich eine Vereinbarung. Solange durch die Modifikationen das traditionelle Erscheinungsbild bewahrt blieb, wäre es noch Shaframi.

Das eiskalte Wasser prasselte wie ein Sturzbach auf Sikris' Schädeldecke, der stechende Schmerz war kaum auszuhalten. Er überlagerte damit die Trauer, die er jedes Mal verspürte, wenn er alleine war. Mit physischem Leid wusste er umzugehen, doch das seelische löste in ihm ein Gefühl von Hilflosigkeit aus. Als Sikris zu unterkühlen drohte, schaltete er die Dusche ab. Das Geräusch der letzten Wassertropfen verhallte und er bemerkte, wie einsam er in diesem Moment war.

***

Alucat Suri, der Architekt der Stadt, erwartete Sikris in seinem Thronsaal. Der eindrucksvolle Raum war das Aushängeschild der Königsfamilie der Zarodynastie. Der kantige Thron wurde aus dem bernsteinfarbenen Edelstein Galan gemeißelt und glänzend geschliffen, der Rest des Saals wies eine ähnliche Farbgebung auf. Ein Läufer schmückte zusätzlich den Gang zum Thron aus. Sikris stolzierte mit einer Schar von Beratern und dem Granvisir, mit seinen zwei Shaframkultisten im Schlepptau, in den edlen Thronsaal. Der Architekt nahm eine etwas steifere Haltung ein. »Eure königliche Hoheit, mein ausdrückliches Beileid für das plötzliche Dahinscheiden unseres geliebten Königs.«

Sikris wusste, dass der Schmerz des Architekten mindestens genauso tief sitzen musste, schließlich war sein Vater für Alucat wie ein Bruder. »Sprecht, was habt Ihr für ein Anliegen?«, fragte er mit unterkühlter Stimme, was ihm sonderlich schwerfiel, aber Sikris hatte nicht vor, an seinem ersten Tag in der Anwesenheit des Granvisirs emotional zu wirken. Denn das wäre in dieser Dynastie ein Zeichen von schwacher Führung, und außerdem hätte sein Vater es auch nicht für gutgeheißen.

»Ich bitte Euch um eine persönliche Anhörung«, erwiderte Alucat und sein linkes Auge zuckte leicht, als er seinen Satz beendete. Das tat es meist, wenn ihm etwas auf der Seele lag.

Sikris dachte kurz nach und drehte sich zu seinen Beratern um. »Kommt seinem Wunsch nach und lasst mich mit dem Architekten allein.«

»Lassen Sie das nicht zur Gewohnheit werden, Eure Hoheit«, sagte der Granvisir und verließ, bis auf zwei Gardisten, mit den Beratern den Thronsaal.

»Wie kommt der alte Mann auf diese Aussage?«, ging es Sikris durch den Kopf.

Alucat gestikulierte in seinem weinroten Kaftan sanft mit den Händen. »Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet habe.«

»Alucat, ich entgegne Ihnen mit dem gleichen Respekt und Vertrauen, wie es einst mein Vater tat.«

»Ich danke Ihnen zutiefst, Eure Hoheit.«

»Sagt, weshalb ich Sie anhören soll?«

»Der Bau der neuen Shaframkathedrale verschafft mir Kopfzerbrechen, die gewaltige Kuppel ist viel zu schwer für die gesamte Statik. Ich stehe im Konflikt mit dem Shaframi. Einerseits muss die Kuppel ohne Stützbalken auskommen und andererseits darf ich keine Energiefelder benutzen, so wie jeder der Architekten außerhalb der Stadtmauern von Katsul.«

Sikris legte die Stirn in Falten. »Jetzt verstehe ich allerdings, weshalb Sie nach einer persönlichen Anhörung verlangten. Von mir aus gibt es kein Problem, Ihnen Energiefelder zu gestatten. Mir ist durchaus bewusst, dass der Granvisir es niemals erlauben würde. Ich werde darüber nachdenken.«

»Ich danke vielmals, Eure Majestät.«

»Treffen Sie mich morgen früh um acht Uhr im Garten des Palastes. Bis dahin werde ich eine Lösung gefunden haben. Shafram möge uns beistehen.«

»Wie Ihr wünscht.« Alucat verbeugte sich vor dem König und verließ den Thronsaal. Anschließend setzte sich Sikris auf seinen mächtigen Thron und dachte noch ein wenig über die Sachlage nach. Im Shaframi leben bedeutete auch, die Gestalt der heiligen Stadt in ihrer antiken Bauweise nicht zu verändern, und das schätzte Sikris an Katsul. Nichtsdestotrotz würde er sich auch mit Technologie behelfen, wenn es sein musste, aber das war leider untersagt. Kurze Zeit später betrat auch schon Romo den Saal.

»Sikris, ist dir klar, dass deine Entscheidung, die Shaframkultisten auszuschließen, als Affront gewertet wird!?«, sagte er aufgebracht.

»Ich bin lediglich auf die Bedürfnisse eines aufrichtigen Bürgers eingegangen«, erwiderte Sikris gelassen.

»Das mag sein, dabei solltest du aber nicht vergessen, den Granvisir und die Kultisten mit einzubeziehen.«

»Vielleicht solltest du auch nicht vergessen, mir als deinem Freund und König mehr Vertrauen zu schenken.« Romo wirkte verärgert, sein Blick verriet es Sikris deutlich.

Romo beruhigte sich allmählich wieder. »Alchimistin Helga erwartet dich«, sagte er und suchte das Weite.

Sikris fragte sich, weshalb Romo so aufgebracht war. Sicherlich wollte er ihn nur darauf hinweisen, die Shaframkultisten nicht zu verärgern. Aber Sikris hatte Romo zum persönlichen Berater ernannt, weil er ihm genügend Vertrauen entgegenbrachte, welches jetzt leicht zu bröckeln anfing. Sikris erkannte seinen Freund nicht wieder. Er entschied sich kurzerhand, seine Schwester um Rat zu fragen.

***

Sikris überquerte, begleitet von vier Gardisten, den Hof und verließ durch das jahrtausendealte Tor den Palast. Er musste sich noch ein wenig daran gewöhnen, ständig von seiner Leibgarde umgeben zu sein. Für das Volk war es verboten, den König zu stören, wenn er durch die Straßen von Katsul streifte. Ohne angesprochen zu werden entdeckte Sikris in einer Querstraße seine Zwillingsschwester Amani, wie sie sich mit dem allgemeinen Fußvolk unterhielt und sich deren Probleme anhörte.

»Krados Ventura hat meine Frau ausgespannt. Da fing der Ärger erst so richtig an. Prinzessin Amani, was soll ich denn tun, wie soll ich das nur meinem Sohn erklären?«, erläuterte ein verzweifelter Bürger.

»Ich kann, wenn Sie möchten, gerne mit Ihrer Frau sprechen«, schlug Amani vor.

»Das wäre sehr gnädig von Ihnen, Prinzessin«, bedankte sich der Mann.

Als Amani im Begriff war zu gehen, bemerkte sie ihren Bruder. »Sikris, wieso bist du nicht im Palast?«, wunderte sie sich.

»Schwester, ich erbitte dich um dein Wort.«

»Du wirkst besorgt, das erkenne ich in deinen königlichen Augen. Wollen wir nicht im Garten des Palastes darüber sprechen, wo uns niemand belauschen kann?«

»Dies sollten wir tun.«

Zurück im Garten des Palastes, wo die Geschwister ihr Gespräch ungestört fortsetzen konnten, band Amani einen Blumenstrauß zusammen. »Wo drückt denn dein königlicher Schuh?«

»Ich verstehe langsam, weshalb Vater und Mutter uns so akribisch auf unsere künftigen Rollen vorbereitet haben.«

»Gut, dass es dir schon am ersten Tag klar wird. Unsere Eltern haben allem Anschein nach ja vieles richtig gemacht.«

»Romo verhält sich im Moment mir gegenüber äußerst... nun ja... sagen wir mal absonderlich. Sein Vertrauen zu mir, welches er mir viele Jahre entgegenbrachte, ist irgendwie erloschen.«

Bedächtig, mit viel Sorgfalt und Präzision tauschte Amani einige Blumen ihres Straußes aus. »Hast du dir Gedanken gemacht, ob er vielleicht doch nicht der Richtige für das Amt des Beraters ist?«

»Dies hatte ich in der Tat noch nicht in Betracht gezogen, Amani. Ich werde Romo im Auge behalten und das gründlich durchdenken, bevor ich ihm sein Amt entziehe. Meine Befürchtung jedoch ist, dass Romo die Entmachtung als Zerwürfnis auffasst.«

»Höre auf dein Herz und Bauchgefühl, ein guter Berater, dem der König blind vertrauen kann, ist essenziell. Die Vergangenheit erbrachte uns mehrfach den Beweis. Jede Entscheidung, die du als regierender König künftig treffen wirst, wird natürlich Folgen nach sich ziehen«, sagte Amani, während sie die längeren Stiele des kunstvollen Blumenstraußes mit der Gartenschere abknipste.

»Meiner Ansicht nach wäre meine Schwester die richtige Wahl als persönliche Beraterin«, meinte Sikris.

»Du weißt ganz genau, dass die Traditionen es strikt untersagen.«

Sikris Gesichtszüge verkrampften sich. »Darüber wollte ich ebenfalls sprechen. Ich traf eben im Thronsaal eine Entscheidung, bei der ich den Granvisir und die Kultisten auf Wunsch einer persönlichen Anhörung des Architekten ausgeschlossen habe.«

»Mmhh...« Amani verstummte kurzzeitig.

»Schwester, ich kenne diesen Blick.«

»Ich denke, du hast das Richtige getan, indem du auf den Wunsch eines einzelnen Bediensteten eingegangen bist. Es ist definitiv ein Ritt auf Messers Schneide. Dennoch bist du der König und musst einen gefestigten Standpunkt vertreten. Aber du solltest dabei bedenken, die Traditionen zu bewahren, sonst ereilt uns wieder die Zersplitterung und ich will nicht wissen, welche Auswirkungen das mit sich bringen wird.«

»Danke Amani, ich weiß deine Offenherzigkeit sehr zu schätzen.«

»Du bist jederzeit willkommen, besonders jetzt, wo wir unsere Eltern nicht mehr um Rat fragen können. Sikris, egal welche Entscheidungen du auch treffen wirst, du kannst auf mich zählen«, versprach Amani.

3

Familienhof

In den trockenen und heißen Sommermonaten hatten die Bauern es schwer, die Landwirtschaft aufrechtzuerhalten, da es schon seit Wochen nicht mehr geregnet hatte. So schlimm wie in diesem Jahr war die Dürre lange nicht gewesen, selbst die Tiere nagten am Hungertod und drohten zu verdursten. Irgendwo auf dem Land nahe der heiligen Stadt Katsul trug Shaannaa links und rechts die schweren Wassereimer, die bis obenhin befüllt worden waren, schwappend zum Trog der Krendos und stürzte das Trinkwasser hinein. Die Wiederkäuer nahmen das Plätschern wahr und wackelten daraufhin mit ihren dreiecksspitzigen Ohren. Shaannaa kümmerte sich auf dem Familienhof am liebsten um die Rinder, sie hatte immer das Gefühl gehabt, in ihr tiefstes Inneres blicken zu können wie kein anderer. Es dauerte nicht lange und die Krendos umzingelten die junge Frau. »Hey! Beruhigt euch, keiner von euch kommt zu kurz. Frieda, du brauchst gar nicht so zu schmollen.« Die Tiere drängelten und schubsten, Shaannaa musste sich geschlagen geben. »Sind wir auf dem alljährlichen Jahrmarkt von Katsul?!«, beschwerte sie sich und richtete die lockigen schwarzen Haare, die ihr bis zu den Schultern reichten. Ihr dunkler Teint war das Sinnbild des fleißig arbeitenden Volkes. Das Landgut der Familie Raar reichte aus, um eines von den fünf Vierteln der heiligen Stadt zu versorgen. Shaannaa begab sich zum Haus ihrer Familie.

Ihr Vater stand davor und hatte einen grimmigen Gesichtsausdruck aufgelegt. »Wie oft habe ich gesagt, dass du sparsam mit dem Wasser umgehen sollst. Nimm gefälligst das Kochwasser!«, schimpfte er.

Shaanaas frohe Laune, den Krendos endlich wieder sauberes Wasser zum Trinken zu spendieren, löste sich in Luft auf und ihre Körperhaltung wandelte sich in Beklommenheit. »Ja, Vater«, sagte sie verschüchtert.

»Wo ist eigentlich dein Taugenichts von Freund, sollte er nicht längst von der Ernte zurück sein?«

»Er ist bestimmt schon auf dem Rückweg«, beschwichtigte Shaannaa ihren Vater.

»Nimm ihn nicht auch noch in Schutz, diesen Nichtsnutz.« Ihr Vater hatte zum Teil recht, Orlati war nicht gerade der Zuverlässigste, den sich Shaannaa als Freund wünschen konnte. Aber im Gegensatz zu ihrem Vater respektierte und liebte Orlati dessen Tochter. »Komm jetzt ins Haus, das Essen wird kalt!«, blaffte er und ging hinein. In sich gekehrt folgte Shaannaa ihrem Vater. Das Haus hatte schon bessere Tage gesehen, es wirkte heruntergekommen, aber die Wohnung war aufgeräumt. Der große Esstisch wies an einigen Stellen Gebrauchsspuren und Absplitterungen auf. Shaannaa überkam eine leichte Übelkeit, als sie die Schüssel mit dem wiederkehrenden Eintopf erblickte. Es lag nicht unbedingt an dem Geschmack des Gerichts, vielmehr war es die Eintönigkeit, die der Eintopf mit sich brachte. Ihrer Familie standen nicht genügend finanzielle Mittel und Zeit zur Verfügung, um ihren Kindern eine abwechslungsreiche und vollwertige Mahlzeit zu bieten. Shaannaa hatte das Gefühl, dass niemand ihrer Familienmitglieder sich jemals trauen würde, ein schlechtes Wort über den Eintopf zu verlieren. Immerhin war der wässrige und geschmacklose Gemüseeintopf schnell gekocht und machte alle restlos satt. Im Anschluss zog Shaannaa den klapprigen Stuhl an den Esstisch, setzte sich und schaute in die fast vollzählige Runde. Ihre jüngeren Brüder Tali und Kleo saßen ihr gegenüber, während ihre Eltern an den Stirnseiten des Tisches Platz genommen hatten. Tali war der jüngste, seine immer noch verspielte Art trieb ihren Vater manchmal zur Weißglut. Einmal sagte er zu ihrem Bruder: »Neun Jahre, aber du verhältst dich immer noch wie frisch aus dem Leib deiner Mutter!« Seitdem sprach Tali kein einziges Wort mehr mit ihm. Kleo hingegen erfüllte genau die Ansprüche des Vaters, zumindest widersprach er nicht und folgte den Anweisungen, die ihm erteilt wurden. Ihre Mutter war zwar anwesend, aber sie hielt sich wie immer aus allem heraus. Shaannaa blickte auf den leeren Stuhl links neben ihr. »Orlati wird bestimmt gleich auftauchen«, dachte sie. Die Stimmung war kälter als der teilnahmslose Blick ihrer Mutter. Ihr Vater nahm sich zwei große Kellen aus dem heißen Topf, der in der Mitte des großen Esstischs stand, und befüllte seine Schale. Shaanaas Familienmitglieder besaßen alle eine gewisse Leere in ihren Gesichtern, wenn sie gemeinsam speisten. Shaannaa ertrug die Stille nicht, die jedes Mal am Abendbrotstisch herrschte, und versuchte deshalb, die Stimmung ein wenig aufzulockern. »Habt ihr die Krönungszeremonie mitbekommen? Der junge Prinz wurde endlich gekrönt«, sagte Shaannaa freudig.

Tali machte ebenfalls einen freudigen Eindruck, als seine Schwester die Zeremonie erwähnte. »Ich hab gestern das Feuerwerk gesehen. Es war toll.«

»Und? Was wird sich schon ändern für uns? Nichts! Wir erledigen weiterhin die Drecksarbeit und als Dank werden wir nur mit ein paar Pimperlingen abgespeist. Esst lieber euren Eintopf und lasst die Tagträumerei!« Ihr Vater vernichtete jede noch so kleine Freude, die den Kindern noch blieb. Shaannaa hasste es, wenn er das tat. »Wir leben hier viel zu weit draußen, wie soll der König denn überhaupt von uns wissen?«

Die Halsvenen ihres Vaters traten zum Vorschein. »Niemand dieser feinen Herrschaften interessiert sich für uns, genauso wenig wird es seine neue Majestät tun. Wir bezahlen weiterhin viel zu hohe Steuern, obwohl die Dürre uns schon an den Rand des Wahnsinns treibt. Unterstützung ist einfach nicht in Sicht.«

Shaannaa hatte von ihrem Freund gelernt, dass man vieles erreichen konnte, wenn man mit Freundlichkeit und Einfühlungsvermögen an die Leute herantrat. »Er ist ein viel beschäftigter Mann. Ich werde ihm von uns erzählen und dann wird alles wieder wie früher.«

Ihr Vater haute auf den Tisch, dass es nur so wackelte. »Es reicht, junge Dame! Ich dulde so ein Unsinn nicht! Scher dich aus meinem Haus und komme erst wieder, wenn du klar bei Verstand bist!« Er zeigte zur Tür. Er hatte wieder mal keine Lust, mit seiner Tochter zu diskutieren und jagte Shaannaa erneut aus dem Elternhaus.

Shaannaa stand von ihrem Stuhl auf und lief wütend hinaus. »Wenn er nicht so ein Sturkopf wäre, dann hätten wir einen Funken Hoffnung auf eine bessere Zukunft.« Sie schlurfte mit hängendem Kopf am ausgetrockneten Baum vor der Hütte vorbei. Weit und breit sah man nur die ebenen, ausgedörrten und umzäunten Ackerflächen. Aufgrund des Hitzeflimmerns schimmerten vereinzelte Hütten am Horizont hervor. Shaannaa erblickte aus der Ferne ihren Freund Orlati, der ihr mit einer Schwebekiste voller Jolatrauben entgegenkam und lief auf ihn zu. Wie immer hingen Orlatis verzottelte, hellbraune Haare im Gesicht, somit bemerkte er seine Freundin erst, als sie direkt vor ihm stand. »Orlati, mein Vater hat mich wieder mal vor die Tür gesetzt«, sagte sie verärgert.

»Der hat sie nicht alle«, erwiderte Orlati mit seiner typisch trägen Stimme.

»Ich meinte zu ihm, wenn der König von uns wüsste, würde er uns bestimmt helfen.«

»Shaannaa, wie kommst du darauf, dass der König uns helfen könnte?«

»Na überlege doch mal, wie beschäftigt er sein muss. Außerdem ist er ein Gelehrter.«

»Wenn du das sagst«, stimmte Orlati ihr zu. »Und wie stellst du dir das vor?«

»Ich spreche ihn einfach an.«

»Okay«, sagte er treudoof.

»Ich breche morgen früh auf. Ich kann doch auf dich zählen?«

»Und dein Vater?«, stellte er die Gegenfrage.

»Der kann mir im Moment gestohlen bleiben.« Ihr Vater spielte ihr wieder einmal übel mit. Als Kind hatte sie selten Streit mit ihm. Ob er oder sie sich im Laufe ihres Erwachsenwerdens so stark verändert hatten, konnte Shaannaa nicht sagen, jedenfalls häuften sich die Streitereien zwischen den beiden. Zum Glück konnte sie sich jederzeit an Orlati wenden, wenn der Haussegen erneut in Schieflage geraten war. »Ich helfe dir die Jolatrauben zu entladen.«

***

Als eine kleine Echse über ihren Arm flitzte, erwachte Shaannaa aus ihrem Schlaf. Sie lag auf der Seite unter einem Fell. Wenn Shaannaa zuhause unerwünscht war, übernachtete sie mit Orlati unter freiem Himmel. Die Glut ihrer Feuerstelle war bereits erloschen und die Sonne würde jede Minute den Tag begrüßen. Sitzend streckte Shaannaa ihre Arme aus, fing erst einmal an laut zu gähnen und rieb sich anschließend die verschlafenen Augen wach. Sie rüttelte Orlati an der Schulter. Mit einem Brummen signalisierte er Shaannaa, weiter schlafen zu wollen. »Orlati, komm wach auf. Der Tag bricht an. Man erwartet uns im Palast«, sagte sie putzmunter und Orlati rollte daraufhin zur anderen Seite. »Der König wartet ungern.«

»Geh... ruhig schon mal... vor«, erwiderte er verschlafen.

»Nein, du wolltest mich doch begleiten.« Shaannaa wollte sich diesmal nicht so leicht geschlagen geben und nahm mit ihren hohlen Händen vorsichtig die Eidechse auf. Shaannaa platzierte sie vorsichtig in einem seiner Hosenbeine, dieEchse schien sich unwohl zu fühlen und versuchte so schnell wie möglich, wieder den Ausgang zu finden.

Orlati zappelte wild um sich. »AAHH, VERDAMMT. DAS KITZELT.« Schließlich befreite sich das Reptil aus dem anderen Hosenbein selbst.

»Wie sieht es jetzt aus?«

»Ja, ja. Ich komme ja schon.« Im Anschluss stand er widerwillig auf.

Sie hielt ihren Arm und zeigte in eine bestimmte Richtung.

»Da drüben am Horizont ist das bewachte Stadttor. In ungefähr einer Stunde sind wir dort.« Shaannaa ließ sich nicht mehr davon abbringen und Orlati folgte ihr träge durch das trockene Ackerland. Die Temperaturen waren zu früher Stunde noch sehr erträglich, deshalb wählte Shaannaa diesen Zeitpunkt, denn sie wusste, dass Orlati in der prallen Sonne keinen Meter vorankommen würde. Sie marschierte zielorientiert in Richtung der Stadtmauern und das Einzige was neben Orlatis leisem Stöhnen aus dem Hintergrund zu hören war, war der feine Kies des staubtrockenen Bodens, der unter den Sohlen ihrer Sandalen knirschte. Shaannaa überlegte kurzzeitig, ob sie einen Blick nach hinten zu Orlati riskieren sollte, aber vermutlich würde er sie dann nur zu einer Pause überreden, die er dann überzog und dann wäre nicht mehr die Müdigkeit sein ärgster Feind, sondern die Hitze der Sonne. Der Drang nach ihm zu sehen verpuffte, als eine kühle Brise ihre Beine streichelte. Sie ging davon aus, dass der Wind und der Fußmarsch Orlatis Müdigkeit schon vertreiben würden. Sie empfand die Luft als sehr angenehm und befüllte ihre Lungen mit einem kräftigen Atemzug, sodass sie die Gerüche und die Atmosphäre des Morgengrauens besser in sich aufnehmen konnte. Den Dünger ignorierte sie und konzentrierte sich nur auf die frische Brise, die ihr um die Nase wehte. Ihren Blick richtete Shaannaa weiterhin nach vorn. Bis auf die weitläufigen Ackerflächen gab es in der Dämmerung nicht viel zu sehen.

Im Morgengrauen erstrahlte das prächtige und massive Stadttor von Katsul in vollem Glanz. Shaannaa wurde jedes Mal in dessen Bann gezogen. Bisher war sie immer nur daran vorbeigelaufen. Doch dies sollte sich am heutigen Tage ändern, versprach sie sich.

Zwei Gardisten, die mit Energiespeeren bewaffnet waren, nahmen Haltung an. Sie trugen einen goldenen Helm, der bis über ihre Wangen reichte, und dazu einen knallroten gepanzerten Torso mit einem goldenen Umhang. Die Gardisten überkreuzten die knisternden Waffen und versperrten somit das Stadttor. »Das einfache Bauernvolk ist in der heiligen Stadt unerwünscht«, sprach einer von beiden.

Orlati berührte die Schulter seiner Freundin. »Wir gehen besser wieder nachhause«, flüsterte er.

»Ich möchte den König sprechen!«, sagte Shaannaa selbstsicher.

»Unmöglich. Seine Majestät hat keine Zeit für ein Bauernmädchen, geht wieder.«

Shaannaa musste resignieren, es gab kein Vorbeikommen. Die beiden machten kehrt. »Das habe ich mir wahrlich anders vorgestellt«, seufzte sie.

»Vielleicht besser so, als aufgespießt zu werden.«

»Mit leeren Händen will ich nicht nachhause zurück. Ich werde mir etwas einfallen lassen.«

Nach gut zehn Minuten Fußweg kam ihnen eine Gruppe von fünf Mönchen entgegen. »Orlati, mir kommt eine Idee.«

»Und mir schwant Übles«, befürchtete er.

Shaannaa erhöhte ihren Laufschritt und sprach die Mönche höflich an. »Ich brauche dringend Ihre Hilfe.«

Die Geistlichen stoppten und der Älteste von ihnen antwortete: »Shafram sprach. Sollte eine verlorene Seele um Beihilfe erbitten, mögest du sie retten und in die ewige Glückseligkeit führen. Im Namen des allmächtigen Shaframs, welches Schicksal hat dich ereilt, Tochter?«

»Ich habe ein wichtiges Anliegen an den König.«

»Sag Kind, bist du gläubig?«

Shaannaa hatte mit dieser Frage nicht gerechnet und musste kurz darüber nachdenken. Aber sie wollte um alles in der Welt die heilige Stadt betreten. »Ja, bin ich.«

»Nur wenn du Shaframi lebst und die heiligen Schriften des Shaframs verinnerlichst, wird der Allmächtige deinem Wunsch nachkommen. Drum frage ich dich, Mädchen. Möchtest du unserem Glauben beitreten?«

»Ich möchte euch beitreten«, machte sie es kurzerhand offiziell.

»So sei es«, besiegelte der Mönch.

»Shaannaa!?«, warnte Orlati. »Was tust du da?

»Das einzig Richtige, Orlati.«

Der Mönch in seinem orangefarbenen Kaftan setzte fort. »Der allmächtige Shafram gewährt einen Tag gründliche Bedachtsamkeit. Am selbigen Orte kehrst du ein und teilst uns die endgültige Entscheidung mit. Shafram möge dir beistehen.« Mit diesen letzten Worten setzten sich die Mönche wieder in Bewegung.

Orlati schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Bist du von allen guten Geistern verlassen? Weißt du eigentlich, was du da gerade getan hast, Shaannaa?«

Sie zuckte unschuldig mit den Schultern. »Ich habe uns den Zutritt zur heiligen Stadt verschafft, Dummerchen.«

»Die schlimmsten Geschichten werden denen nachgesagt, sie töten für ihren Glauben.«

»Geschichten müssen nicht immer der Wahrheit entsprechen«, tat sie seine Befürchtungen ab.

»Dein Vater wird außer sich vor Wut sein, wenn er erfährt, dass seine Tochter Kultistin des Shaframglaubens wird«, sagte Orlati besorgt.

»Wenn du nicht wieder alles ausplauderst, wird er es nie erfahren.«

»Und was soll ich ihm sagen, falls er nach dir fragt?«

»Komm doch morgen einfach mit.«

Orlati schien sich mit ihrem Vorschlag sehr unwohl zu fühlen und begann sich am Ohr zu kratzen. »Dann müsste ich nicht dem Zorn deines Vaters ausgesetzt sein.«

»Davon rede ich doch, Dummerchen«, stellte Shaannaa klar.

»Und was machen wir in der Zwischenzeit?«

»Na, wir helfen meinem Vater bei der Ernte, was glaubst du denn? Ich warne dich, sollte das Ganze durch deine Nervosität auffliegen, dann Gnade dir der allmächtige Shafram!«

***

Der einzige Weg für das Bauernvolk, die heilige Stadt zu betreten, war es, entweder dem Militär oder den Kultisten des Shaframs beizutreten. Egal für welche von den Möglichkeiten sich Shaannaa auch entschieden hätte, in beiden Fällen hätte es ihr Vater keinesfalls erlaubt. Aber es wurde Zeit, dass sich etwas änderte. Shaannaa wollte, dass ihre Familie wieder ein glücklicheres Leben bekäme. Nachdem Shaannaa und Orlati auf den Gutshof zurückkehrten, wollten sie sich wieder an die Arbeit machen. Sie standen vor der Hütte.

»Ich miste den Stall aus und du erntest die Jolatrauben«, sagte Shaannaa.

»Beim nächsten Mal will ich den Stall ausmisten.«

»Es wird vorerst kein nächstes Mal geben, Orlati«, machte sie ihm deutlich.

»Menno!«, beklagte Orlati träge und schlenderte schwermütig zum Jolatraubenfeld.

Die Krendos blökten bereits aus dem Stall, als sich Shaannaa schnellen Fußes zu ihnen bewegte. Sie schnappte sich vor der Scheune die Mistgabel und spazierte frohen Mutes in den Stall. Der Stall besaß keine Gittergehege, somit konnten die Tiere frei umherlaufen. Die Herde bestand aus drei Dutzend Rindern, fünf davon waren zwei Monate alte Kälber. An der hinteren Ecke der Scheune begann Shaannaa mit dem Ausmisten der Stallung. Einige wenige Krendos leisteten ihr Gesellschaft, während sie das dreckige Heu mit der Mistgabel in eine Schwebekiste transportierte. »Ich bin gespannt, endlich die heilige Stadt betreten zu dürfen. Orlati hatte ja schließlich auch den Wunsch. Die Kultisten sind ja nur unsere Eintrittskarte, nicht mehr und nicht weniger. Orlati wird das schon noch verstehen.« Ein Wimmern erregte Shaanaas Aufmerksamkeit. Sie legte die Mistgabel zur Seite und begab sich auf die Suche nach dem todunglücklichen Gejammer. In einer Ecke zwischen zwei Heuballen entdeckte sie ihren neunjährigen Bruder Tali. Es war jedes Mal herzzerreißend, wenn ihren Brüdern die Tränen kullerten. Shaannaa kniete sich vor ihm hin. »Hey Tali, was bedrückt dich?«

»Vater ist immer so gemein. Ich wollte nur mit den Krendos spielen«, schluchzte Tali.

Shaannaa setzte sich neben ihn und legte ihren Arm fürsorglich um seine Schulter. »Vater hat im Moment viele Sorgen. Ich verspreche dir, sobald ich dem König von uns erzähle, wird alles besser.«

Tali wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und zog die Nase hoch. »Ja?«

»Aber so was von, Brüderchen. Spiel ruhig mit den Krendos, während ich weiter den Stall ausmiste. Bleib aber in meiner Nähe, okay?«

»Danke, Shaannaa.« Tali löste sich von ihr und stand auf. Anschließend streichelte er ein Kalb und Shaannaa machte sich wieder an die Arbeit. In ihr stiegen Gewissensbisse auf. Ihr wurde langsam bewusst, dass sie Tali und Kleo der Tyrannei ihres Vaters aussetzte und ihre beiden Brüder mit hoher Wahrscheinlichkeit noch mehr Arbeit verrichten mussten, wenn sie fortging. »Ohne mich wird hier vieles anders laufen, da bin ich mir sicher. Der König muss von uns erfahren. Eine andere Möglichkeit sehe ich zurzeit nicht.«

Nach nicht einmal zwanzig Minuten, in denen sich Tali gerade so beruhigt hatte, stand ihr Vater vor der Scheune. »Da ist ja die ungezogene Tochter. Bist du wieder klar bei Verstand?«

»Ja, Vater. Ich habe mein Fehlverhalten erkannt und entschuldige mich«, sagte sie und meinte es dabei nicht wirklich ernst.

»Wenigstens ist ein Familienmitglied vernünftig genug. Hast du Tali gesehen?«

Shaannaa ging davon aus, dass ihr Bruder sich vor dem Vater versteckte und antwortete: »Nein Vater, habe ich nicht.« Gleich verschwand er darauf. Shaannaa wartete einen kleinen Moment. »Tali, du kannst wieder herauskommen.«

***

Kurz vor Tagesanbruch schlich Shaannaa unbemerkt aus ihrem Elternhaus und begab sich an den Ort, an dem sie auf die Mönche getroffen war. Ihr Entschluss, sich den Shaframkultisten anzuschließen, um die heilige Stadt zu betreten, stand endgültig fest. Sie hatte sich auch nicht die Mühe gemacht, gründlich darüber nachzudenken, so wie es der alte Mönch ihr geraten hatte. Die Geschichten, die über die Shaframkultisten unter den Bauern kursierten, wollte Shaannaa nicht so recht glauben. Das Haus würde gleich aus ihrem Sichtfeld verschwinden, sie entfernte sich mehr und mehr. Einsam und mutterseelenallein stapfte sie über den staubtrockenen Weg in Richtung des Stadttors, als die ersten Sonnenstrahlen auf ihre Stirn trafen. Sie fragte sich, ob Orlati es schaffen würde, rechtzeitig am vereinbarten Ort zu erscheinen, denn der einstündige Weg verlangte ihm einiges ab. Den Erntesammeltransporter, der jeden Morgen die heilige Stadt belieferte, konnten die beiden nicht in Anspruch nehmen. Shaannaa versuchte den langweiligen Fußmarsch zu überbrücken, in dem sie das Lichtspiel der Sonne beobachtete, wie diese die wüstenähnliche Ackerlandschaft langsam mit ihren glitzernden Strahlen bedeckte. Daraufhin nutzte sie ihre Vorstellungskraft und malte sich aus, dass das Licht der Sonne eine heilende Wirkung besaß und dem ausgetrockneten Boden ein neues fruchtbares Leben schenkte. Gräser, Wiesen und Blumen, die das ganze Gebiet mit den prächtigsten Farben ausschmückten, und Insekten, die sich darin tummelten, mischten sich in ihren Gedanken zu einem bunten Reigen. Es blieb nur bei einem Wunschdenken. Als sie ungewollt blinzeln musste, war alles mit einem Mal verschwunden. Zurück blieb die triste Einöde, die Shaannaa tagtäglich zu Gesicht bekam.

Immer noch keine Spur von Orlati. »Wo steckt die Schlafmütze wieder?« Am Wegesrand links von ihr, im kniehohen, vertrockneten Gras, hörte Shaannaa es rascheln. Ein einzelner Arm ragte aus der Wiese.

»Hier«, brummte Orlatis Stimme.

»Du bist vor mir da? Ich erlebe das nur abends, wenn du zu Bett gehst. Warum liegst du da überhaupt drin?«

Unbeholfen und langsam rappelte sich Orlati aus dem ausgedörrten Gras auf. »Es hat sich irgendwie angeboten«, sagte er monoton.

»Wie auch immer. Ich frage lieber nicht weiter nach. Aber ich schätze sehr, dass ich auf dich zählen kann.« Shaannaa küsste ihn. »Nicht mehr lange und wir können bald die heilige Stadt betreten. Ist das nicht toll?«

»Mir gefällt jedoch nicht, dass wir dazu Anhänger des Shaframglaubens werden«, erwiderte er besorgt.

»Wir treten ihnen ja nur bei, um Katsul zu betreten und anschließend mit dem König zu sprechen. Danach steigen wir ja sofort wieder aus.« Gemeinsam und Hand in Hand pilgerten sie weiter in Richtung Stadttor. Nach einer Weile erkannten sie aus der Ferne vier Shaframkultisten, die sich ihnen in ihren orangefarbenen Stoffgewändern näherten. »Dann wird es wohl ernst«, sagte Orlati.

»Ich hoffe, die Farbe steht mir.« Beide machten einen sehr nachdenklichen Eindruck. Orlati hatte einen sorgenvollen Blick aufgelegt und zog die Brauen hoch. Und in Shaannaas Augen war ihre Unsicherheit abzulesen, da sie nicht wusste, was gleich passieren würde.

Schließlich standen die Kultisten direkt vor ihnen. »Seid Ihr die Bauerntochter, die die heiligen Schriften studieren und Kultistnovizin werden möchte?«

»Ja, die bin ich. Shaannaa Raar«, erwiderte sie frei heraus.

»Novizin Shaannaa, wir heißen dich als Schwester in unserem Zirkel des Shaframs willkommen. Ich bin Bruder Namex.« Namex musterte Orlati sorgfältig. »Wer ist dein Begleiter, Schwester?«

»Das ist mein Freund Orlati, er möchte ebenfalls ein Kultistnovize werden.«

»Solltet ihr eine sexuelle Beziehung führen, müsst ihr sie auf der Stelle beenden!« Das Liebespaar löste ihre Hände. »Wir Shaframkultisten leben im Zölibat.«

Shaannaa hörte dieses Wort zum ersten Mal, aber was ihr Sexualleben anging, war Orlati für sie nie ein geeigneter Partner gewesen. Somit stellte es für Shaannaa kein weiteres Problem dar. »Das kann ich verstehen«, sagte sie. Orlati hingegen schaute nicht gerade begeistert.

»Dann folgt uns ins Shaframkloster«, wies der Mönch sie an und holte aus seinem Stoffgewand zwei Kopfbedeckungen hervor. »Vorher bitte ich euch die Kultistenkappen aufzusetzen, damit die Stadttorwachen euch identifizieren können.« Die Kappen waren orangefarben und in der Form einem Kegelstumpf nachempfunden. Beide setzten sie auf.

Shaannaa und Orlati folgten schweigend den Mönchen zum Stadttor von Katsul. Wenig später öffnete sich das gewaltige und massive Tor. Shaannaa kannte nur die moderne Bauweise der Stadt Aton, in der ihr Onkel lebte. Doch dieses Leben konnte sich keiner der Bauern leisten, außerdem waren sie dort ebenso unerwünscht wie in der heiligen Stadt. Umso mehr war sie über das altertümliche Erscheinungsbild von Katsul überrascht.

4

Der Druhmbaflüsterer

»Und nun, junger König, fehlt nur noch das Doriankraut«, hallte Helgas dünne Stimme durch die uralten Katakomben tief unten im Palast.

Sikris sah die alte Frau in dem schwachen Schein der Kerzen nur schemenhaft. Sie fand sich in dem dunklen Gewölbe besser zurecht als die meisten Anderen. Sikris fügte das Doriankraut zu den anderen Zutaten im Mörser hinzu, während ihm die blinde Alchimistin das Gefühl gab, trotzdem akribisch auf seine Finger zu schauen.

»Zerreibe die Köstlichkeiten mit dem Stößel solange, bis dir die herrliche Mixtur in die Nase steigt. Solltest du es übertreiben, kann es tödliche Konsequenzen haben, verstanden?«

Seine Majestät wusste sehr wohl, dass Helga ihm damit zu verstehen gab, wie schnell man das Serum in ein Gift verwandeln konnte. Das Wissen der Alchimisten war nur den Herrschern von Katsul vorbehalten. Alchimisten scherten sich nicht um die heiligen Schriften des Shaframs. Sie mussten für die Leidenschaft ihrer Mixturen gewisse Regeln brechen. Sikris' Vater weihte ihn vor wenigen Jahren in ein Geheimnis ein. Die Aufgabe der Alchimisten hatte schon immer darin bestanden, die Könige darin zu unterweisen, wie sie ihre potentiellen Verräter oder Feinde unauffällig vergiften konnten. Im Gegenzug denunzierte der König die Alchimisten nicht bei den Kultisten. Ein Bündnis, welches über Generationen hinweg geschmiedet worden war.

»Sehr gut, das müsste genügen«, sagte Helga und griff nach einem antiken Buch, platzierte es mit ihren schrumpeligen Händen vor Sikris und schlug das zerfledderte Nachschlagewerk auf. Sie deutete mit ihrem Finger auf eine bestimmte Zeile. »Lies die Worte mit Bedacht und präge sie dir gut ein, junger König.«

Er begann, die Worte über seine Lippen zu bewegen. »Kondi Nami Ra!« Den vorletzten Buchstaben rollte er mit besonders viel Liebe aus.

»Besser hätte man es nicht vollbringen können. Und jetzt gibst du die zerkleinerten Köstlichkeiten in das bauchige Gefäß mit der rosafarbenen Flüssigkeit.« Sikris kippte die Zutaten behutsam aus dem Mörser in den Bottich. »Das Zischen verrät dir deinen Erfolg.«

Sikris beugte sich zum Bottich nach vorn und hielt seinen Kopf schräg. »Ich höre nichts«, stellte er fest.

»Kakerlakendreck, das sollte so nicht sein.«

»Kläre mich auf Helga, was habe ich falsch gemacht?«, bat er sie.

»Nichts, junger König. Genau darin liegt ja das Problem. Irgendetwas scheint dich aus dem Gleichgewicht gebracht zu haben. Mich dünkt, dich beschäftigt etwas.«

»Wie kommen Sie darauf, Helga?«, wunderte sich seine Majestät.

»Ich fühle deine Besorgnis, aber ich kann dich beruhigen. Viele Nachfahren deiner königlichen Blutlinie gerieten ins Ungleichgewicht und ruinierten die Mixturen.«

»Ich bin begeistert, wie Sie mich beruhigen«, sagte Sikris und verdrehte seine smaragdgrünen Augen.

»Es ging bisher immer vorüber. Kläre deine persönlichen Dinge und komme mit dir wieder ins Reine, dann sehen wir weiter.«

Sikris machte sich wieder auf den Weg und folgte den Kerzen, die ihn aus der Unterwelt führten. »Was konnte sie nur damit gemeint haben? Von welchem Ungleichgewicht sprach die Alchimistin? Es könnte vieles gemeint sein.«

***

Die Tierbändiger der Menagerie teilten Sikris mit, dass aus unerklärlichen Gründen eines der Druhmbas seit Tagen unter wahnsinnigen Schmerzen litt. Besserung schien einfach nicht in Sicht. Die Bändiger empfahlen ihm, das Tier von seinem Leid zu erlösen, bevor es noch ein großes Unheil anrichtete und Menschenleben in Gefahr kämen. Seine Majestät wollte sich selbst ein Bild davon machen. Er begab sich auf die Südseite des Palastes in Richtung der umzäunten Menagerie, die sich hinter dem opulenten Garten befand. Der Eingang wurde getrennt durch ein vergittertes, großes Tor aus Gundi, welches wie aus einem Guss mit filigranen und rankenartigen Verzierungen und kleinen Blumen ausgeschmückt worden war. Sikris' Großvater Saf'is Zaro hatte vor sechzig Jahren seinen Traum einer eigenen Menagerie verwirklicht. Viele Tierarten aus ganz Horus beherbergten die Gehege, das Hauptaugenmerk wurde dabei auf die Raubtiere gelegt. Das Areal umfasste die doppelte Größe des Palastes, was auch daran lag, dass für die Tierbändiger eine geräumige und prunkvolle Unterkunft zu Verfügung gestellt wurde. Nur den besten Tierbändigern des ganzen Landes wurde diese Ehre zuteil. Die Gardisten nahmen Haltung an, als Sikris unbegleitet durch das drei Meter hohe Tor hindurch stolzierte. Er überquerte den schmalen, hell gepflasterten Weg, der den Anfang eines Rundgangs bildete. Die rundlichen goldenen Gehege am Wegesrand waren unterschiedlich groß und die vergitterten Dächer wurden mit Kuppeln besonders gut in Szene gesetzt. Sikris vernahm das verstörte Brüllen des Druhmbas, welches durch die Anlage hallte. Es ging in seiner Lautstärke über die gewohnt harmonischen Gesänge weit hinaus. Das Tier vermischte die schrillen Töne mit einem tiefen Gebrüll, das die umliegenden Tiere in den Gehegen aufschrecken ließ. Sikris' Eingeweide krampften sich zusammen, derart furchterregende Geräusche hatte er von Druhmbas noch nie zuvor gehört, und er lief weiter den Weg entlang. Links neben der Unterkunft der Tierbändiger befand sich das Gehege der Druhmbas, doch Sikris stellte schnell fest, dass das Brüllen von der Rückseite des Gebäudes herstammte. Über eine kleine Abzweigung des Rundganges, an einem Pavillon vorbei, gelangte er zum hinteren Teil der Unterkunft. In einem separat verstärkten Gittergehege sah Sikris, wie die Bändiger das angekettete und zwei tonnenschwere Tier vergebens zu beruhigen versuchten. Der Leiter der Tierbändiger kam in seinem weißen Overall auf Sikris zugestürmt.

»Eure Majestät, wir können ihn einfach nicht mehr beruhigen. Es ist an der Zeit, ihn von seinem Leid zu erlösen.«

Sikris streichelte nachdenklich sein Kinn. »Wann hat das Tier das letzte Mal abgeführt? Sein Bauch erscheint mir größer als gewöhnlich«, stellte er fest.

»Vor circa drei Tagen.«

»Was genau gebt ihr ihm zu fressen?«

»Das Gleiche, was wir allen Druhmbas geben, Früchte, Trockenobst und begrünte Zweige«, erwiderte der Tierbändiger.

»Ich vermute, Verstopfungen könnten ihn heimsuchen. Ich habe auch schon eine Idee, wie ich das Problem beseitige. Geben Sie mir einen Moment, ich bin gleich wieder da.«

»Ja, eure Hoheit.«

Die Zeit drängte. Laut Sikris' Einschätzung würde der Druhmba in wenigen Stunden vor Schmerzen Amok laufen. Er musste das unbedingt noch verhindern und rannte so schnell er nur konnte zurück zum Palast. Sein Vater hatte als Kind einen Amoklauf eines solchen tonnenschweren Kolosses selbst miterlebt. Erzählungen zufolge mussten damals viele Bürger mit ihrem Leben bezahlen, als sie unfreiwillig dem gewaltigen Tier in die Quere kamen. Die Soldaten mussten den Druhmba schlussendlich töten, um der Todesschneise, welche das Tier hinterlassen hatte, ein Ende zu bereiten. Sikris rauschte im Garten an einer kleinen Gruppe von Shaframkultisten vorbei. Sie schauten, als ob sie noch nie in ihrem Leben einen Monarchen rennen gesehen hätten. Sikris tippelte die Treppenstufen hinunter zu den Katakomben, wo es schlagartig dunkel wurde. Seine Pupillen hatten sich an die Lichtverhältnisse noch nicht angepasst und er erkannte nicht einmal die Kerzen. Er stieß sich seinen Kopf an einem Rohr und war darauf kurzzeitig benommen. Die Leichtfüßigkeit wurde zum bleischweren Unterfangen. Sikris wurde zum Passagier einer Achterbahnfahrt der Schwerelosigkeit, bei der sich alles drehte. Er musste stehenbleiben und hielt im darauffolgenden Moment seine flache Hand auf die Stirn. Ihm brummte der Schädel. Nach einer endlosen Minute flaute das Schwindelgefühl ab, doch die Kopfschmerzen hielten weiter an. Zumindest konnte er seinen Weg fortsetzen. Mit langsamen Schritten stieg er tiefer in die Unterwelt hinab.

Die dünne Stimme der Alchimistin echote aus der Dunkelheit. »Junger König, geht es dir gut? Ich habe das Donnern eines Rohrs vernommen. Mich dünkt, du hast jede Menge Kopfarbeit geleistet.«

»So kann man mein Unvermögen allerdings auch beschreiben, aber mir geht es prächtig. Helga, ich kann Sie nirgendwo ausfindig machen.«

»Wo bleibt dein Scharfsinn, junger König? Womöglich war das Rohr doch stärker als dein Kopf.« Helga gab ein leises Lachen von sich und trat anschließend in den Schein der Kerzen.

»Ich benötige ihre Hilfe. Eines der Druhmbas wird sich jeden Moment von den Ketten lösen und Amok laufen. Meine Vermutung ist, dass Verstopfungen die tatsächliche Ursache des Problems sein könnten. Haben Sie eine Mixtur, die dem Tier helfen könnte?«

»Willst du unser generationenübergreifendes Bündnis in Gefahr bringen? Du musst dir etwas anderes überlegen, junger König«, sagte sie mit spitzer Zunge.

»Wollen Sie, dass ich das Tier sterben lasse?«

»Nein. Aber deine Intelligenz wird dir nicht im Wege stehen. Du findest schon eine Lösung.«

Von Helga konnte er keine Hilfe erwarten, so viel stand fest. »Meine Kopfschmerzen sind gravierender als ich erwartet hätte. Haben Sie etwas damit ich meine Arbeit wieder aufnehmen kann?«

»Bin ich deine örtliche Apotheke? Na gut«, sagte Helga und schleppte sich zum Alchimistentisch. Sie nahm aus einer Tonschale zwei kleinere Zweige, die vertrocknete Blätter trugen. »Kaue diese Blätter mit Bedacht. Konsultiere beim nächsten Mal deinen Leibarzt und jetzt lass mich bitte in Ruhe meine neue Mixtur brauen.«

Sikris riss zwei Blätter vom Zweig ab und stopfte sie sich in den Mund. Den Rest steckte er in seine edle Stoffhosentasche und machte sich durch das Gewölbe auf den Weg zurück zur Menagerie. »Wie kann ich nur dem Druhmba ohne Helgas Unterstützung helfen? Mir muss dringend etwas einfallen.« Kauend und in Gedanken versunken trottete er durch die Dunkelheit, während die Blätter nach kurzer Zeit anfingen ihre Wirkung zu entfalten. Die akuten Kopfschmerzen waren verflogen. Sikris' Sichtfeld vergrößerte sich und als er aus der Dunkelheit stieg, bemerkte er, dass die leichte Kurzsichtigkeit, unter der er litt, ebenfalls verschwunden war. Gestochen scharf konnte er auch die bunten Schmetterlinge am anderen Ende des Gartens erkennen. »Was in Shaframs Namen ist denn hier los? Sind das etwa Helgas Blätter?«

Auf dem Weg zur Menagerie kam ihm eine Idee, wie er dem aufgebrachten Tier helfen könnte. Das Brüllen wurde lauter, als er erneut die Abzweigung nahm, die ihn zum hinteren Teil des Gebäudes führte.

Ein Mitarbeiter eilte zu ihm. »Eure Majestät, wir müssen das Tier sofort einschläfern!«

Sikris antwortete nicht darauf, stattdessen krempelte er seine königlichen Ärmel hoch und sagte: »Gebt mir einen Wasserschlauch, ich geh jetzt da rein!«

Dem Tierbändiger blieb förmlich die Spucke weg. »Das könnte Sie Ihr Leben kosten.«