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Hanskarl Kölsch

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Beschreibung

Das Klinggedicht (lateinisch sonare: klingen) - ein Liebeslied - erlebte um 1350 mit Petrarcas Zyklus Il Canzoniere einen Höhepunkt. In den folgenden Jahrhunderten wurden Sonette Mode. Junge Männer schenkten ihrer Angebeteten keine Blumen; sie schenkten ihr ein Sonett, und der Kitsch feierte Triumphe. 200 Jahre nach Petrarca wird Shakespeares Zyklus der 154 Sonette ein Höhepunkt der Dichtkunst. Kein lyrisches Werk der Weltliteratur ist häufiger ins Deutsche übersetzt. Es sind nur scheinbar Liebesgedichte an einen Freund und an eine untreue Geliebte. Als zentrale Gestalt des Zyklus zeigt der Ich-Erzähler ein Seelendrama. Dies insbesondere, da alle Personen vielfältig sinnbildlich verstanden werden können. Es ist eine Kulturgeschichte und Sittengeschichte. Existentielle Fragen stehen auf dem Prüfstand.

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Seitenzahl: 211

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Für Helga

Inhaltsverzeichnis

Who is who

Die beiden Kunstepen

Venus und Adonis

Der Raub der Lukrezia

Der Dramatiker wird Dichter

Die Sonette

Die Widmung

Exkurs: Oscar Wilde

Die vier Personen der Sonette

Der Zyklus

Sonett 1 bis 17

Exkurs: Zeugung des Neuen

Sonett 18 bis 26

Handlungsverlauf oder Reflektionen

Sonett 27 bis 77

Der Dichter-Rivale

Sonett 78 bis 116

Abschluss der Jugend-Sonette

Sonett 117 bis 126

Die Dark-Lady-Sonette 127 bis 152

Essay: Das Motiv der Blindheit in der Literatur

Die beiden Epigramme

Die Sonette: Letzte Worte

Shakespeare, Church of the Holy Trinity, Stratford upon Avon

William Who?

Achtunddreißig Tragödien und Komödien – fast alle weltberühmt – schrieb der Mann vom River Avon. Aber nur Hamlet wurde in den vergangenen 400 Jahren so häufig und widersprüchlich in der Sekundärliteratur diskutiert wie sein Zyklus der 154 Sonette.1

In Stratford upon Avon, einem Städtchen mit Fachwerkhäusern, 100 Meilen nordwestlich von London, in der Mitte zwischen Oxford und Birmingham gelegen, wurde William Shakespeare am 26. April 1564 getauft. Sein wahrscheinlicher Geburtstag, der 23. April, ist das Datum, an dem er 1616 am Geburtsort verstorben ist.2

Seit dem 14. Jahrhundert war die Gegend am Rande der Cotswolds Zentrum der Schafzucht – so vermutet die Tradition Shakespeares Vater als Wollhändler; ebenso ‚sicher‘ gilt Handschuhmacher oder Bürgermeister. Über William selbst ist nicht einmal bekannt, welche Schule er in dem Städtchen besuchte. Gesichert ist nur: mit 18 Jahren heiratete er die 8 Jahre ältere Anne Hathaway, wenige Monate später wurde eine Tochter geboren, zwei Jahre später kamen Zwillinge zur Welt. Darauf verließ er die Familie und ging (wahrscheinlich) zu einer Wandertruppe, dann als Schauspieler nach London. Es folgen „Shakespeares dunkle Jahre“.

Das biografische Dunkel führt noch heute zu skurrilen Verschwörungstheorien, ob ein ungebildeter Mann aus der Provinz der Autor von Hamlet und Romeo und Julia sein kann.

Was für ein Mensch war der Dichter dieser Dramen, die seit 400 Jahren ununterbrochene Wirkung zeigen, in allen Epochen von Renaissance bis Moderne immer neu rezipiert werden, deren Schöpfer als Kulturheros und Identitätsstifter der englischsprachigen Welt Werte und Sprache geprägt hat wie kein anderer und von allen Kulturnationen als zeitloser Klassiker erkannt wird.

Die Theorien sind uferlos. Eine Nachkommin des Philosophen und Staatsmanns Francis Bacon behauptete 1856, ihr Ahn habe die Dramen unter dem Pseudonym Shakespeare gedichtet. Spekulationen der Gelehrten reichen bis zu einer Kammerfrau der Königin Elisabeth. Die Romantik des 19. Jahrhunderts entschlüsselte den Dichter aus seinem Werk: wenn er glücklich war, schrieb er Komödien, war er depressiv, Tragödien. Er war Alkoholiker, Homosexueller, und alles, was die Fantasie ermöglicht, wenn es keine Fakten gibt. Dass er seiner Frau Anne im Testament (nur) das „second bed“ vermachte, erzeugte in den USA eine Literaturgattung, die erforschte, welche Xanthippe diese Frau gewesen sein muss – bis klar wurde, dass das Ehebett der Witwe sowieso gehörte und im Testament nicht erwähnt wird. Der französische Shakespeare-Biograph Jean Paris meint spöttisch: „Jedermann weiß ja, dass die Ilias von Salomo, die Odyssee von Nausikaa verfasst worden ist und die Lustspiele des Terenz, Vergils Aeneis, die Oden des Horaz von mittelalterlichen Mönchen stammen ... Corneille hat die Stücke Molières, Molière die Fabeln La Fontaines geschrieben.“

Jedem Buch aus Oxford folgt ein Buch aus Cambridge und umgekehrt. Eine Mainzer Professorin entdeckte zweibändig: Shakespeare war ein katholischer Spion am Hofe von Elisabeth I. und ‚beweist‘ es mit Zitaten („mein Mund schweigt“) aus den Dramen.

Eine BBC-Serie enthüllt, der Dichter sei von Finanzbehörden verfolgt worden und belegt es mit voluminöser Dokumentation über Steuersünder der Shakespeare-Zeit – doch dessen Name erscheint nirgends. Ein Graf von Oxford geistert als Autor durch die winterlichen dritten Fernsehprogramme, und am 6.10.2005 meldete die Süddeutsche Zeitung: Forscher behaupten: Falstaff schrieb Shakespeares Dramen. (Vielleicht schrieb Mephisto den Faust). Der prominente Anglist Stephen Greenblatt suggeriert in seinem Buch Will in the World wissenschaftliche Forschungsergebnisse, und auf den etwa 500 Seiten gibt es kaum einen Absatz ohne könnte, vielleicht, wäre, warum nicht… Origineller ist Dietrich Neuhaus, der dem Leser schmunzelnd die Wahl erlaubt zwischen „Fakten und Fiktionen“, wenn der Dichter seine Anne und die Kinder verlässt und mit einer anderen Anne nach London wandert, wo er seine Tragödien schreibt und Anne II die Komödien.3 G. B. Shaw wird der Aphorismus zugeschrieben, (der sich auch in Ulysses von Joyce findet), Shakespeare habe nie gelebt; seine Dramen stammen von einem anderen Dichter gleichen Namens.

Die London-Jahre sind Shakespeares „dunkle Jahre“. Aber es gibt das Werk, und ein Konkurrent verifizierte den Autor, der sich schon mit 28 Jahren den Neid anderer Dramatiker verdient hatte. Robert Greene verfasste 1592 ein Pamphlet über den Rivalen:4 „Es gibt eine Emporkömmlingskrähe (an upstart crow), die sich mit unseren Federn schmückt und sich mit einem Tigerherz in Schauspielerhaut (a tigers hart wrapt in a Players hyde) einbildet … der einzige Szenenerschütterer im ganzen Land zu sein (the only Shake-scene in a country)“.

Robert Greene zitiert Henry VI., 3. Teil: „O tiger's heart wrapped in a woman's hide” (O Tigerherz in einer Weiberhaut), und bestätigt Shakespeares Autorenschaft an der Henry VI.-Trilogie. „The only Shake-scene” ist die erste Erwähnung Shakespeares als Theaterautor, und Heinrich VI. ist das Frühwerk, mit dem er quasi über Nacht die Herzen der Briten erobert hatte.

Nach dem Hundertjährigen Krieg mit Frankreich und den 30jährigen Rosenkriegen hatte die Renaissance mit 100 Jahren Verspätung den Kanal überquert, und die englische Nation suchte nach dem Mittelalter eine neue Identität. Sie fand sie in Shakespeares Historiendramen. Zwar hatte Heinrich VI. nach dem Verlust Frankreichs auch die blutigen Rosenkriege zu verantworten – aber Shakespeares Königsdramen schufen ein historisches Bewusstsein. Zehntausende haben geweint, als Talbot auf der Bühne fiel.5

Als quasi 4. Teil der Henry-Trilogie wird Richard III. ein Sensationserfolg, und auch die folgenden Stücke, darunter Romeo and Juliet und A Midsummer Night‘s Dream, begeistern.

Vier Jahre nach Greenes Spott wird Shakespeare zum einzigen Mal in London fassbar: Er erhält ein Familienwappen (den Speer). Der Status Gentleman bedeutet immensen sozialen Aufstieg. Auch jetzt erfahren wir nichts über ihn. Alles Private bleibt weiterhin im Dunkel.

Nach seinem letzten Drama The Tempest (Der Sturm) verlässt er 1611 das Globe-Theater als Co-Direktor und geht zurück an seinen Geburtsort Stratford upon Avon. Von den letzten fünf Lebensjahren kennen wir nur den Geschäftsmann. Er erwarb das zweitgrößte Haus der Stadt, den Herrensitz New Place, und eine 43 Hektar große Ackerfläche nebst Wald und Nutzungsrechten. Im gleichen Jahr kaufte er gegenüber seinem Herrensitz ein weiteres Haus mit Grundstück und erwarb das Recht an Einkünften aus mehreren Pachtverträgen.

An dem vermuteten Geburtstag 23. April starb er 1616 im Alter von 52 Jahren an seinem Geburtsort, 10 Tage nach seinem Dichterkollegen Miguel de Cervantes. Im Chorraum der Holy Trinity Church ist er beigesetzt.

GOOD FREND FOR JESUS SAKE FORBEARE,

TO DIGG THE DVST ENCLOASED HEARE.

BLESTE BE THE MAN THAT SPARES THES STONES,

AND CVRST BE HE THAT MOVES MY BONES6

Fazit: Der bedeutendste Theaterdichter der Welt schrieb 38 Dramen, von denen etwa die Hälfte (darunter so bedeutende wie Macbeth) erst 7 Jahre nach seinem Tod erstmals (in der „First Folio“) gedruckt wurden. Außer 7 Autogrammen unter Kaufverträge und das Testament gibt es keine handschriftlichen Dokumente. Fehlende Stücke wurden aus Regietexten und Raubdrucken für die First Folio rekonstruiert. Es wird vermutet, dass sie zu etwa 90% original sind.

Eine Datierung der Dramen ist aus Sekundärquellen möglich: Julius Caesar: Aufzeichnung eines Schweizer Arztes. Macbeth: Gerichtsprozess ‚Gunpowder plot‘. King Lear: Mondfinsternis. Dazu andere Quellen oder Eintragungen im Stationers register, der Anmeldeliste neuer Theaterstücke.

Die Entstehungsgeschichte könnte wichtig sein zur Deutung der Sonette, denn Shakespeare dichtete den Zyklus zwischen den einzelnen Dramen in mehreren Phasen und es gab einzelne Veröffentlichungen.

Nach dem großen Erfolg der frühen Königsdramen Heinrich VI. 1-3 und Richard III. schrieb Shakespeare die Tragödie Titus Andronicus, danach vier Komödien und dann zunächst keine weiteren Dramen mehr. Denn: ein Theaterautor war nicht als Dichter anerkannt; Theater galt als Unterhaltung, Dramen waren Trivialliteratur, und wenn sie überhaupt gedruckt wurden, dann nur im Quarto-Format.

Deshalb wandte Shakespeare sich einer seit 30 Jahren populären Gattung zu: das Ovid'sche Kunstepos, ein Gedicht in vielen Versen über eine Geschichte aus den Metamorphosen oder Fasti des römischen Dichters Ovid.7 Es wurde die Vorstufe der Sonette.

1 Während es in England kaum ein wichtigeres literarisches Thema gibt, bietet Deutschland eine Vielzahl Übersetzungen, aber nahezu keine Deutungen der Sonette.

2 Sterbedatum 3. Mai bezieht sich auf den Wechsel vom julianischen zum gregorianischen Kalender.

3 Dietrich Neuhaus: Shakespeares dunkle Jahre – Fakten und Fiktionen.

4 Groats-Worth of Wit: (etwa „Grütze-werte Witze“).

5Henry VI, 1: Talbot: englischer Held, Gegner von Jeanne d’Arc.

6Guter Freund, um Jesu Willen grabe nicht / im Staube, der hier eingeschlossen liegt. / Gesegnet sei, wer schonet diese Steine, / verflucht sei, wer bewegt meine Gebeine.

7Ovid, 43 v.Chr. – 17 n.Chr.

Die beiden Kunstepen

Venus and Adonis – The Rape of Lucrece

Bis Shakespeare nach dem letzten Drama The Tempest die Feder aus der Hand legt, ist er immer wieder auf der Suche nach dem Neuen. Jedes Meisterwerk ist Ende und Anfang einer neuen Ausdrucksform. Richard III., eine der meistgespielten und populärsten Tragödien, ist ein Frühwerk, und auf den gruseligen Titus Andronicus folgt zunächst keine weitere Tragödie mehr …

Bei Ovid wählt er zwei Geschichten, die in der Aufklärungs-Phase einer verspäteten Renaissance mit ihrer extremen Bandbreite der erotischen Themen vor allem die Jugend ins Herz treffen. In Venus und Adonis ein selbstbewusstes und verführerisches Frauenbild – in der Schändung der Lucretia die Vergewaltigung einer tugendhaften Frau.

Venus und Adonis

Eine reife Frau, die Göttin der Liebe und Schönheit, versucht einen jungen Mann zu betören. Sie ist „krank vor Begehren“. Die aggressive Verführungsszene der Frau ist skandalös. Sie präsentiert die Schönheiten ihres Körpers und argumentiert, wenn Adonis mehr an der Jagd interessiert sei als an der Liebe, dann solle er ihren Körper jagen. Sein Hengst reißt sich los; es ereignet sich eine derbe, lustvolle Begegnung zwischen Hengst und Stute. Adonis wird wütend, aber Venus erklärt, das Pferd sei vernünftiger als sein Herr, weil es der Natur folgt. Es entwickelt sich ein rhetorisch geschliffenes Streitgespräch über „Liebe und Lust“. Am nächsten Tag wird Adonis auf der Jagd von den Hauern eines Ebers durchbohrt. Die Göttin der Liebe verflucht die Liebe, auf dass sie immer schrecklich ende. An der Stelle des Unglücks wächst das rot-weiße Adonis-Röslein.

Die Schändung der Lucretia

Die Gegenseite eines Keuschheits-Wettbewerbs: Nicht die Frau will den Mann verführen – der Mann begehrt die tugendhafte Lucretia und droht mit Vergewaltigung. Sie bleibt nicht stumm und wehrlos; rhetorisch fast übertrieben gewandt entfaltet sie die ganze Problematik der Tat. Doch Schönheit gepaart mit Keuschheit erregen die Lust. Tarquinius droht ihr, sie und einen Sklaven zu ermorden und beide Leichen in einer Lage zu präsentieren, als habe sie Ehebruch begangen. Um dieser Schande nicht ausgeliefert zu sein, lässt Lucretia die Vergewaltigung (the Rape) über sich ergehen. Auch das ist ihr Tod – aber sie vollzieht ihn selbst; im Vollbesitz ihrer Ehre tötet sie sich.

Das Original in Ovids Fasti („Kalender“. Die Feste des Kaiserreiches) beschreibt ein Ereignis aus dem 6. Jh. v.Chr.: Ein Sohn des römischen Kaisers vergewaltigte eine verheiratete Römerin. Das löste einen Aufstand gegen die Monarchie aus und die Königsgegner stürzten das Regime. Die Vertreibung der Königsfamilie war der Beginn der Idee einer Römischen Republik.

Für Shakespeare ist der hochpolitische Aspekt Ovids unwichtig. Es geht um die Stellung der Frau und um die Liebe.8

Beide Kunstepen demonstrieren Extreme: die sexuelle Gleichberechtigung der Frau in Gestalt der Liebesgöttin Venus – die seelische Zerstörung der Frau in Gestalt der tugendhaften Lukretia.

8 Das historische Ereignis 2000 Jahre vor Shakespeare verarbeitet 150 Jahre nach ihm Lessing in der Tragödie Emilia Galotti.

Die Problematik ist in Lessings Drama der Aufklärung so aktuell wie bei Ovid und Shakespeare. Der Anspruch des feudalen Adels stößt auf den Selbstverwirklichungsanspruch der Frau.

Die Sonette

Endgültiger Schritt zur Etablierung als Dichter wurde der Sonett-Zyklus. Diese 154 Gedichte sprengen die Tradition nicht weniger als die beiden Kunstepen. Sie reichen von Ehebruch und Befürwortung der freien Liebe bis zu Ekel vor der Sexualität. Das war neu, und es ist nicht verwunderlich, dass diese Gedichte zu den rätselhaftesten und umstrittensten Werken Shakespeares zählen. Einige Sonette wurden vorab gedruckt, die Gesamtausgabe 1609 ist Shakespeares Opus Summum. In Deutschland liefert fast jeder renommierte Schriftsteller eine Übersetzung, aber Deutungen sucht man vergebens. Auch nach 400 Jahren sind noch viele Fragen ungeklärt – die Entstehungsgeschichte, die historischen Zusammenhänge und die Intention des Werkes.

Da Shakespeare den Zyklus nicht zusammenhängend gedichtet hat, ist die Datierung der einzelnen Sonette unklar. Hinweise auf zeitgenössische oder biografische Zusammenhänge sind umstritten oder hypothetisch.

Heute ist die überwiegende Meinung der Forschung: ein erster Teil des Zyklus entstand 1593 gemeinsam mit den Kunstepen Venus and Adonis und The Rape of Lucrece (Shakespeare 29 Jahre alt) als „Befreiungsschlag“ vom Theater auf dem Weg zur Akzeptanz als Dichter.

Sieben Jahre später gibt es 1600 im Stationers Register eine Eintragung: Sonette von W.S. Wahrscheinlich sind wieder einzelne gedruckt worden.

1603 wurden die Theater während einer Epidemie zwei Jahre geschlossen und es gab keinen Bedarf an neuen Dramen. Es lag nahe, den Zyklus weiterzuführen.

Vieles ist nachvollziehbar, aber alles ist spekulativ. Nur der Druck des vollständigen Zyklus 1609 (7 Jahre vor Shakespeares Tod) ist gesichert.

250 Jahre vor Shakespeare hatte Petrarca den Sonett-Zyklus Il Canzoniere (Der Sänger) publiziert, der einige Jahrzehnte vor Shakespeares Geburt ins Englische übersetzt wurde, und sofort kamen Sonette in Mode. Junge Männer schenkten ihrer Angebeteten keine Blumen; sie schenkten ihr ein Sonett. In der Sonett-Flut feierte der Kitsch Triumphe. 1609 kommt mit Shakespeares Sonetten die Sensation. Sie sind heute in fast alle Sprachen übersetzt; mehrfach in Latein, auch in Esperanto und in die Science-Fiction-Sprache der TV Serie Star Trek. Sie wurden vielfach als Lied vertont, in Theaterszenen und Balletten eingebunden und spielen in über 60 Filmen mit. Bei der Internet-Abfrage Shakespeare Sonnets liefert google.co.uk über 5 Millionen Ergebnisse.

In der deutschen Literatur haben die Sonette durch Übersetzungen eine enorme Wirkungsgeschichte. Kein Werk der Weltliteratur (außer einzelnen Bibeltexten) wurde häufiger ins Deutsche übersetzt. Derzeit sind über 80 Übersetzungen des ganzen Zyklus und zahllose Einzelübersetzungen publiziert. Von dem populärsten Sonett Nr. 18 (Shall I compare you with a summer’s day) gibt es über 200 deutsche Versionen – von Stefan George bis Paul Celan. Aber schrieb der Theatermagier wirklich 154 „Liebesgedichte“? Was ist die Botschaft?

Shakespeare ist heute der meistgespielte Dramatiker der Welt und der berühmteste Theatermonolog „to be or not to be“ fasziniert mit zahllosen Interpretationen. Doch man kann skeptisch sein, ob die Zeitgenossen den Mann aus Stratford als den genialen Dramatiker erkannt und überliefert hätten, wenn er nicht durch die Sonette zum „Dichter“ geworden wäre. Sein Globe-Theater lag auf der rechten Seite der Themse, im Viertel der Piraten und Prostituierten. Es war nicht das Publikum, der Nachwelt einen Theatermacher als Genie zu vererben.

Shakespeares Sonette erfüllen die Petrarca-Tradition mit neuem Lebenssinn. Sie überwinden die Dekadenz einer zeitgenössischen Mode und sie kennzeichnen in England den Beginn der Neuzeit.

Durch den Hundertjährigen Krieg gegen Frankreich und die anschließenden Rosenkriege waren nicht nur Wirtschaft und Bevölkerung Englands ausgeblutet; auch die Kultur lag am Boden. Und der Kanal tat ein Übriges, dass die Renaissance erst auf der Insel ankam, als ihr Höhepunkt auf dem Kontinent schon seit einem Jahrhundert überschritten war. Michelangelo starb in Shakespeares Geburtsjahr, Cosimo de‘ Medici (genannt il Vecchio ‚der Alte‘) genau hundert Jahre früher.

Es ist „englische Renaissance“, als Shakespeares Nation im 16. Jahrhundert die Herausbildung einer neuen Individualisierung erlebt. Der Lebensentwurf soll nicht mehr von der Kirche vorgeschrieben sein. Auch in die Dichtung kommt ein neuer, zynischer, sarkastischer, „aufgeklärter“ Ton.

Die Liebesbeziehung wird problematisiert. Petrarcas Klischee einer Liebe, die sich erschöpft in anbetungsvoller Verehrung des Liebhabers zur kühlen, unnahbaren, tugendhaften und allem Erotischen feindlichen Frau gilt nicht mehr. Männer und Frauen erleben ein anderes Rollenbild. Neue Metaphern und Bilder spiegeln eine realistische Welt: Liebesleid und Liebesfreud.

Bis ins 19. Jahrhundert wurden Shakespeares Sonette als private Äußerungen des Autors verstanden. Dass er sich im ersten Teil des Zyklus an einen schönen jungen Mann wendet, schien auf eine homoerotische Beziehung zu deuten und entfachte einen leidenschaftlichen Forscherstreit mit harten Fronten: die einen lehnten den Dichter als unmoralisch ab, andere suchten enthusiastisch nach Rechtfertigungen.

Es war sehr lange ein aufregendes literarisches Problem: Der Kultur-Heros der Neuzeit, das überlebensgroße Vorbild, der Identitätsstifter für Ethik und Sprache der englischen Nation, sollte schwul sein? Homosexualität unter Erwachsenen war im Viktorianischen 19. Jh. ein Verbrechen. 1895 fand der Prozess gegen Oscar Wilde statt. Der gefeierte Lyriker, Romanautor, Dramatiker und Liebling der Gesellschaft verstand Shakespeares Sonette als Bekenntnisse eines Homosexuellen und er verteidigte sich damit vor Gericht. Das Urteil war Zuchthaus und Zwangsarbeit.

Viele nannten es unerträglich, dass ein älterer Mann 126 von 154 Liebesgedichten an einen schönen Jüngling richtet. Das Problem schien lösbar, wenn die Gedichte als „Jugendsünde“ früh datiert wurden. Aber: zwar war ein Teil der Sonette früh gedruckt worden, doch der ganze Zyklus erweist sich inhaltlich als ein komplexes Kunstwerk, das vom Dichter sehr sorgfältig editiert wurde. Die Sonette sind von höchster Qualität und dichterischer Reife. Als Zyklus ein Spätwerk.

Auf den ersten Blick scheint es, der Zyklus bestünde aus zwei Komplexen: der erste Teil richtet sich an einen jungen Mann, der zweite an eine reife Frau. Aber der Zyklus kann nicht geteilt werden. Die Sonette spiegeln alle Probleme, die in den Dramen thematisiert sind. Als „Liebeslieder“ sind sie nur die andere Form, in der sich hinter der erotischen Thematik die Zeitkritik an Kultur, Sitte, Politik und Gesellschaft verbirgt.

Es ist nicht mehr Petrarcas Welt. Nach dem Mittelalter rückt die selbstbewusste Renaissance die Rhetorik als geistige Auseinandersetzung vor die Philosophie und Theologie. Und die kunstvollste Form der Rhetorik ist die Dichtung. Sie ist der Schauplatz für die Diskussion über die Zeichen der Zeit.

Die Widmung

Zwei Jahre bevor Shakespeare sich vom Globe Theater zurückzog an seinen Geburtsort, veröffentlichte 1609 der renommierte Verleger Thomas Thorpe: SHAKES-SPEARES SONNETS Never before Imprinted. Und schon mit der Widmung beginnen die Probleme:

To the only begetter of these ensuing sonnets Mr. W. H. All happiness and that eternity promised by our ever-living poet wisheth the well-wishing adventurer in setting forth. T.T.9

Der enigmatische Satz, nach Art einer römischen Weiheinschrift abgefasst und charakteristisch für Thorpes (T. T.) extravaganten Stil, hat eine ausgedehntere Diskussion ausgelöst als irgendein anderer Ausspruch über Shakespeare.10

Die rätselhafte Widmung lässt die Shakespeare-Forschung kapitulieren vor der Fülle von Spekulationen über den Widmungsträger. Wer ist „Mr. W.H.“ und wer ist der „begetter“ (Erzeuger, Besorger, Autor, Inspirator). Die Widmung scheint auszusagen: Der mutige Verleger wünscht dem Dichter ewigen Ruhm. Vermutet wurde für W. H. „William Himself“ , bzw. William SHakespeare, dessen erster Buchstabe verschwindet, um das Rätsel zu steigern. Aber widmet der Verleger dem Dichter?

Wird der „begetter“ als „Beschaffer“ verstanden, hat Verleger Thomas Thorpe dem befreundeten Kollegen Wilhelm Hall für die Überlassung dieses wertvollen Manuskriptes gedankt.

Ist dagegen „begetter“ der „Inspirator“, dann gilt die Widmung dem Adressaten der Sonette, dem „schönen blonden Jüngling“, Protagonist der ersten 126 von 154 Sonetten – dann wären ihm auch die letzten Sonette an die „Dark Lady“ gewidmet, was wenig Sinn macht. Und: Ist er eine historische Person oder eine Kunstfigur? Darüber ist der Gelehrtenstreit immer noch offen.

Die Forschung favorisiert Henry Wriothesley, den Earl of Southampton und William Herbert, den Graf von Pembroke.

Für den Earl of Southampton spricht Shakespeares Widmung der Kunstepen; gegen ihn spricht die Umstellung der Initialen. Für den Graf von Pembroke spricht, dass ihm die 7 Jahre nach Shakespeares Tod gedruckte erste Gesamtausgabe First Folio vom Verleger gewidmet wurde. Wahrscheinlich hat er sie finanziell gefördert. Southampton wird sich seine Widmungen zu beiden Kunstepen ebenfalls „verdient“ haben.

Die ersten 17 Sonette sollen einen Jüngling zur Heirat motivieren, damit er sein edles Wesen fortzeugen kann. In der Tat sollte Southampton 1594 verheiratet werden und weigerte sich. Er ließ sich auf eine Verlobung ein, beendete sie bald wieder und musste 5.000 Pfund Schadenersatz leisten. Dokumentiert ist auch seine Affäre mit einer Hofdame der Königin. Als sie schwanger wurde, musste er sie heiraten. Die Affäre führte zu einer dramatischen Verstimmung mit seinem Vormund Lord Burleigh, Lordschatzmeister und wichtigsten Ratgeber der Königin. (Als solcher ist er in Schillers Maria Stuart verewigt).

Auch der zweite von der Forschung favorisierte W. H. war heiratsunwillig. Drei Mal ab 1595 (zur gleichen Zeit wie Southampton) verweigerte Earl of Pembroke eine standesgemäße Hochzeit. Er hatte zahlreiche Affären, eine Heirat lehnte er grundsätzlich ab. Zum Skandal führte seine Affäre mit Mary Fytton, einer Hofdame der Königin: die Lady wurde schwanger und W. H. kam mehrere Monate ins Gefängnis. Lange galt Mary Fytton als Vorbild für die „Dark Lady“ der letzten Sonette, bis ihr Porträt entdeckt wurde – sie war blond.

Beide Earls wären prominente Kandidaten, sie zur Ehe zu animieren. Aber wenn die ersten 17 Sonette zur Zeit der Kunstepen 1593 entstanden, war Pembroke 13 Jahre alt, Southampton war 20 Jahre alt. Die Entscheidung für einen der beiden zwingt daher zu unterschiedlichen Entstehungszeiten: die Southamptonites verstehen die Sonette als Frühwerk, für die Pembrokites entstanden sie entsprechend später.

Unter den anderen Bewerbern mit den Initialen W. H. gibt es noch einen „nicht hochgeborenen Boy“, einen Neffen Shakespeares und seinen Schwager, den Bruder seiner Frau Anne Hathaway, die ein Forscher 1986 als die „Dark Lady“ enttarnen wollte. Schon 1973 hatte eine Neuerscheinung getitelt: „The problems solved.“ Aber die „Dark Lady“ ist nicht weniger geheimnisvoll als der W. H. des ersten Teils und wird noch lange Stoff bieten für „historische Romane“.

Wenn in 400 Jahren kein anderer Ausspruch über Shakespeare eine ausgedehntere Diskussion ausgelöst hat – dann hat der Herausgeber mit seiner rätselhaften Widmung sein Ziel erreicht: die literarische Welt sucht weiter nach einem historischen Jüngling und einer historischen Dark Lady, um Klarheit zu gewinnen über die Biografie eines immer rätselhaft gebliebenen Autors.

Shakespeares Dichtungen sind keine Personalakten historischer Personen. Er erschafft literarische Figuren für seine Ideen. So gilt Richard III. als der schrecklichste Schurke der Theatergeschichte. Historisch ist er es nicht. Doch Shakespeares regierende Königin Elisabeth war Tochter Heinrich VIII. und Enkelin Heinrich VII. Es war ihr Großvater, der Richard III. in der Schlacht besiegte und die Königsherrschaft von den York für die Tudor Dynastie eroberte. Der Gute und der Böse waren dem Dichter vorgegeben, und dessen Drama Richard III. überlagert heute die historische Forschung.

Shakespeares Sonette spiegeln nicht seine Biografie. Der historische blonde Jüngling und die historische schwarzhaarige Lady werden nie gefunden werden – es gibt sie nicht. Sie sind Kunstfiguren für die Botschaften des Dichters. Shakespeares Londoner „dunkle Jahre“ mit den Gestalten seiner Dichtung zu entschlüsseln war ein romantischer Irrtum des 19. Jahrhunderts.

Petrarca hat Laura, die er in seinen Sonetten anbetet, ein einziges Mal gesehen. Dante erhebt in seiner Commedia eine Beatrice im Paradiso zur Allegorie der Philosophie. Auch „Das Ewig-Weibliche“ in Faust ist keine Person.

Hamlet fordert von der Schauspielergruppe am Hof, sie müssten „der Natur den Spiegel vorhalten, der Tugend ihre Züge zeigen, dem Verächtlichen sein eigenes Abbild, und dem ganzen Zeitalter seine Gestalt.“11 Die berühmte Szene gilt als definitive, vom Dichter formulierte Theatertheorie. Literatur ist kein Geschichtsbuch und keine ‚Natur‘. Sie spiegelt Natur und Leben in der Kunst. Die Sonette („Liebesgedichte“) sind nur die Form für den Spiegel.

9 „Dem alleinigen Schöpfer der folgenden Sonette Herrn W.H. wünscht der wohlmeinende Abenteurer, vorwärts stürmend, alles Glück und Unsterblichkeit unserem für immer unvergessenen Dichter. T.T.“ (Übersetzung Dr. Heli Aurich).

10 Prof. Ina Schabert: Shakespeare Handbuch.

11Hamlet, III, 2: to hold, as it were, the mirror up to nature; to show virtue her own feature, scorn her own image, and the very age and body of the time his form and pressure.

Exkurs: Die Oscar-Wilde-Lösung

Eine Pointe auf der Suche nach historischen Vorbildern der Sonette lieferte vor 70 Jahren die Entdeckung eines Essays von Oscar Wilde (1856-1900). Das Manuskript war ihm gestohlen worden, nach dem Ersten Weltkrieg in den Vereinigten Staaten aufgetaucht, und bald erneut wieder verschollen: The Portrait of Mr. W. H. (Das Bildnis des Herrn W. H.).12

Wilde nannte das Essay sein „frühes Meisterwerk“. Es muss vor seinem einzigen Roman The Picture of Dorian Gray (Das Bildnis des Dorian Gray) entstanden sein, dessen Skandal Anlass für den Unzucht-Prozess und die Verurteilung wurde. Die beiden Titel ähneln sich auffallend. Themen des Dorian Grey sind Moralität von Sinnlichkeit in der Viktorianer-Epoche. Eine interessante Verbindung zu seiner Theorie über „W. H.“.

Von der langen Liste der Entschlüsselungsversuche übernimmt Oscar Wilde die Version, der Jüngling heiße William Hughes. „Ich entzifferte die Geschichte eines Lebens, das einst mein eigenes war.“ Er ändert William in das vertraulichere Willie und stellt die Theorie auf, Hughes sei einer jener jungen Schauspieler, die zur Zeit Shakespeares Frauen- und Mädchenrollen spielten13Diese Jungen waren das zarte Rohr, durch das unsere Poeten ihre süßesten Weisen anstimmten und denen unsere englische Renaissance etwas vom Geheimnis ihrer Freude verdankte.

Zur Erhärtung der Theorie ändert er die Reihenfolge der Sonette und erreicht auf diese Weise eine plausible Handlung, die er als „Drama in vier Akten" bezeichnet.