Proust - Hanskarl Kölsch - E-Book

Proust E-Book

Hanskarl Kölsch

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Beschreibung

Prousts À la recherche du temps perdu ist längst ein Mythos der Moderne. Mit über 5.000 Seiten in 7 Bänden gilt es als das bedeutendste erzählende Werk des 20. Jahrhunderts. Die großen Themen des epochalen Romans sind + Erinnerung als Voraussetzung, das Leben zu begreifen + der trügerische Zauber der Belle Époque + die Bedeutung der Kunst für das Leben. Der Roman spielt im Frankreich der Jahrhundertwende. Fin des siècle, Belle Époque. Eine mondäne Nobelgesellschaft präsentiert sich in Pariser Salons. Es begegnen sich die Mächte Geld und Schönheit, Politik und Eleganz, Kunst und Haute Volée, Geist und Genuss. Das Leben als Theater auf dem Theater. Ein Epochenroman.

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INHALT

Marcel Proust: Sein Leben

Publikation des Romans

Biografische und zeitgenössische Einflüsse

Komposition und 3 Motivkreise

Die Hauptpersonen des Romans

Die Orte der Handlung

Die 7 Bände

Band 1: Auf dem Weg zu Swann

Du côté de chez Swann

1. Teil:

Combray

2. Teil:

Eine Liebe von Swann

3. Teil:

Ortsnamen. Namen überhaupt

Band 2:

Im Schatten junger Mädchenblüte

À l’ombres des jeunes filles en fleurs

1. Teil:

Im Umkreis von Madame Swann

2. Teil:

Ortsnamen. Die Landschaft

Die Hotelgesellschaft

Die Schar junger Mädchen

Im Atelier des Malers Elstir

Der verweigerte Kuss

Band 3:

Die Welt der Guermantes

Le côté des Guermantes

1. Teil

2. Teil:

Kapitel 1

Kapitel 2

Band 4:

Sodom und Gomorrha

Sodom e Gomorrhe

1. Teil

2. Teil:

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

Band 5:

Die Gefangene

La Prisonnière

1. Tag

2. Tag

3. Tag

Die Ansicht von Delft

4. Tag

5. Tag

6. Tag

7. Tag

Band 6:

Die Flüchtige

La Fugitive. Albertine disparue

4 Etappen des Vergessens

1.

Etappe

2.

Etappe

3.

Etappe

4.

Etappe

Die Situation am Ende der verlorenen und Beginn der wiedergefundenen Zeit

Band 7:

Die wiedergefundene Zeit

Le temps retrouvé

Die Pappelreihen von Claude Monet

Die Matinee bei der Fürstin Guermantes

L'adoration perpetuelle

Le bal de têtes

Theorie des Kunstwerks

Anhang

Der längste Satz des Romans

La phrase la plus longue

Zeittafel

Marcel Proust: Sein Leben

Marcel Proust wird am 10. Juli 1871, im Jahr des Endes des Deutsch-Französischen Krieges, in dem noblen Pariser Stadtviertel (damals noch Vorort) Auteuil in der Rue de la Fontaine1 geboren. Das Haus gehört einem reichen Onkel aus der Bankiersfamilie mütterlicherseits. Einen Monat später zieht die Familie in das 8. Arrondissement2 – eine „erste Adresse“. Zwei Jahre nach Marcel wird Bruder Robert geboren.

Mit 9 Jahren erlebt Marcel seinen ersten Asthmaanfall und reist mit der Großmutter in das kleine Seebad Cabourg. Die Krankheit wird ihn sein ganzes Leben begleiten. Von 1882-1889 besucht er das Lycée Condorcet3, eine von Napoleon gegründete Bildungsanstalt.

Das Gymnasium galt als idealer Übergang in eine der renommierten Pariser Eliteschulen, die als Sprungbrett in hohe Staatsämter dienen. In den letzten beiden Schuljahren wird Prousts schriftstellerische Begabung offenkundig und in der Oberprima erhält er mit 18 Jahren den „Prix d’honneur (Ehrenpreis) de Philosophie“. Er ist jetzt Gast in den Pariser Salons von Mme Geneviève Straus4 und Mme Arman de Caillavet.5

Die Tradition verlangt nach Schulabschluss die freiwillige Meldung zum Militär, wo er in der Ausbildungskompanie unter 64 Rekruten Platz 63 belegt. Nach einem Jahr beendet er das militärische Intermezzo und schreibt sich in die juristische Fakultät der Sorbonne ein, wo ihn Vorlesungen Bergsons,6 mit dem er weitläufig verwandt ist, nachdrücklich beeinflussen.

Mit 21 Jahren beendet er sein Jurastudium ohne Abschluss, erhält aber an der Sorbonne die Licence en Letrres (Magister) in Geisteswissenschaften.

Das Asthma verschlimmert sich. Mehrfach reist er mit der Großmutter zur Kur in Seebäder in der Normandie. Trotz heftiger Erstickungsanfälle verfasst er mehrere Texte. Violante ou la Mondanité (über mondänes Leben) wird 4 Jahre später in sein erstes Buch Les plaisirs et les jours (Freuden und Tage – oder – Tage der Freude) aufgenommen.

Im Salon der Madeleine Lemaire7 lernt Proust eine der schillerndsten Figuren der Pariser Belle Époque kennen: Graf Robert de Montesquiou.8 Er und seine Cousine Comtesse Greffulhe9 wurden unsterblich als Roman-Vorbilder für den Baron Charlus und die Gräfin Guermantes.

Es ist die Zeit des Skandals, der die 3. Republik 13 Jahre lang erschüttert: die Dreyfus-Affäre.10 Proust ist „Dreyfusiard“ (auf dessen Seite). Er engagierte sich öffentlich für das „Manifest der Hundertvier“ (Unterschriften). In der Suche nimmt die Affäre breiten Raum ein: der 3. Und 4. Band (Die Welt der Guermantes und Sodom und Gomorrha) entstehen in den Jahren der Affäre.

Im Salon der Mme Lemaire lernt Proust mit 23 Jahren den gleichaltrigen Komponisten Reynaldo Hahn11 kennen. Nach zwei Jahren einer leidenschaftlichen Beziehung bleiben sie sich nach dem Bruch freundschaftlich verbunden.

Im Folgejahr veröffentlicht Proust eine Reihe von Zeitungsartikeln, darunter in der Serie Figures Parisiennes einen wichtigen Artikel über Camille Saint-Saëns, den Komponisten der Orchestersuite Karneval der Tiere und der Oper Samson und Dalila.12

Dessen Sonate Nr. 1 in d-moll für Violine und Klavier op. 75 dient Proust als Vorlage im Mittelteil des ersten Bandes (Eine Liebe von Swann).13

Proust bewirbt sich erfolgreich als Assistent in der Mazarin-Bibliothek14 – und ebenso erfolgreich beantragt er sofort seine Beurlaubung für ein Jahr. Die (unbezahlte Stelle) bringt berufliches Ansehen in der Gesellschaft; er betrachtet sie als formal und übt die Tätigkeit praktisch nicht aus.

Im Juni 1896 erscheint Prousts erstes Buch Les plaisirs et les jours15 mit Illustrationen der Malerin und Salonière Madeleine Lemaire und einem Vorwort des späteren Literaturnobelpreisträgers Anatole France sowie Liedkompositionen von Reynaldo Hahn, Liebling der Pariser Musikszene. Es ist ein Gesamtkunstwerk aus Illustration, Text und Komposition in luxuriöser Ausstattung.

Die Gedicht- und Novellen-Sammlung Tage der Freuden wird zum Spiegel der Dekadenz der Belle Époque. In einer Kritik macht der Schriftsteller Jean Lorrain16 anzügliche Bemerkungen, und Proust fordert ihn zum Duell mit Pistolen. Nach einer (glaubwürdigen) Anekdote haben beide Duellanten absichtlich vorbeigeschossen.

Im gleichen Jahr beginnt Proust die Arbeit an den Roman Jean Santeuil, der mit 1000 Seiten unvollendet bleibt.17 Es ist ein quasi autobiographisches Buch der Erinnerungen an Prousts Kindheit und Jugend und seine Vision von Kunst. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit nimmt manche Passagen auf. Außerdem ist es der einzige zeitgenössische Roman über die Dreyfus-Affäre. Proust porträtiert die 15 Ratsmitglieder des Schwurgerichts und beschreibt die Debatten. Er analysiert den Prozess tiefgründig psychologisch und deckt den Unterschied zwischen Meinung und Wahrheit in der Berichterstattung auf. Im Prozess um Emile Zola18 steht er auf Seiten von Dreyfus. Der Roman wird zum Zeitdokument.

Von 1899 bis 1903 wird Proust von der Mazarin-Bibliothek weitere vier Mal um ein Jahr beurlaubt. Diese Jahre stehen im Zeichen der Übersetzungen von John Ruskin, dessen Kunst-Enthusiasmus Proust fasziniert.19 Ruskins zentrales Thema war das Evangelium der Schönheit: Verschmelzung von Kunst, Politik und Wirtschaft. Im Mittelpunkt solle der Mensch stehen, handwerkliche Arbeit solle als schöpferischer Wert gelten.

Proust übersetzt (mit tatkräftiger Hilfe seiner Mutter) die englischen Schriften, veröffentlicht mehrere Texte Ruskins und schreibt Artikel über ihn in den wichtigsten Zeitungen.

Die Beschäftigung mit Ruskins Utopie einer neuen Gesellschaft hat Prousts Sinn geschärft für die Realität. Er muss sich fragen, ob aus der offenbaren Décadence der Belle Époque ein neues Menschenbild im Sinne Ruskins erstehen kann. Die Folge: Proust ist 32 Jahre alt, als er sich das ganze Jahr 1903 intensiv nur einem Thema zuwendet: den Pariser Salons.

Der Dichter Proust schreibt Zeitungsartikel unter verschiedenen Pseudonymen. „Dominique“: Un salon historique : le salon de la princesse Mathilde.20 Mehrere Berichte über andere Salons unterzeichnet er als „Horatio“ (Freund des Wahrheitssuchers Hamlet). Im Ganzen ergeben sie ein Sittenbild der Zeit – und sind gleichzeitig Vorstufe zu dem Hauptwerk, das er fünf Jahre später beginnt: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.

Im November trifft die Familie ein harter Schlag: Adrien Proust, der Patriarch, stirbt mit 68 Jahren. Die Familie hat ihr dominantes Oberhaupt verloren.

Der Tod des Vaters lähmt Prousts Schaffenskraft. Im Frühjahr unternimmt er auf der Segelyacht der Familie eines Freundes eine Fahrt entlang der bretonischen Küste. Erst im Sommer beginnt er wieder zu schreiben und veröffentlicht im Figaro einen eindringlichen Artikel: La mort des cathédrales, (Das Sterben der Kathedralen), ein flammender Appell für die notwendige Pflege der Bausubstanz der Kirchen. Ruskins intensiver Kulturkampf wirkt nach. Im gleichen Jahr wird Prousts Übersetzung der Bible of Amiens gedruckt, Ruskins Beschreibung der Kathedrale von Amiens.21

Auch nach dem Tod des Vaters lebt Proust weiter im Elternhaus. Er ist 34 Jahre alt, als die Mutter bei einem gemeinsamen Sommeraufenthalt in Evian am Genfer See ernstlich erkrankt. Er bringt sie nach Paris, und sie stirbt nach 2 Wochen. Es ist der härteste Schicksalsschlag in Prousts Leben. Seine Mutterbindung besaß ein unvorstellbares Maß, das sich in den ersten Kapiteln Auf der Suche nach der verlorenen Zeit nachempfinden lässt.

Der jüngere Bruder Robert arbeitet als Arzt in New York, auch der Onkel stirbt. Proust ist allein und fühlt sein Leben ohne Sinn und Erfolg. Seine Feuilletonartikel im Figaro haben ihn nicht als Schriftsteller etabliert. Er verfällt in Depression und nimmt ein Zimmer im Hôtel des Réservoirs in Versailles, das er fünf Monate lang nicht mehr verlässt.

Im Winter begibt er sich für sechs Wochen in ein Sanatorium bei Paris zur Behandlung seiner Neurasthenie. „Nervenschwäche“ ist die Krankheit, deren Erforschung seinen Vater europaweit berühmt machte.22 Die Therapie im Sanatorium besteht in Isolation und dem Bewusstwerden von „unwillkürlichen Erinnerungen“. Die „Technik“ des sich Erinnerns wird das Thema Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.

Nach dem Sanatoriumsaufenthalt verlässt Proust das Hotel in Versailles und nimmt neue Wohnung in einem herrschaftlichen Haus am Boulevard Haussmann,23 in der nobelsten Lage von Paris. Das Haus gehört einer Tante.

Mit 35 Jahren lebt er erstmals ohne seine Mutter. Sie war ihm durch ihre sehr guten Englisch-Kenntnisse bei den Übersetzungen von Ruskins Schriften eine unschätzbare Hilfe gewesen. Nach ihrem Tod erscheint 1906 noch Sesame and Lilies (Sesam und Lilien): es ist Ruskins historisch bedeutsame Bewertung der Präraffaeliten.24

Das Jahr 1907 markiert einen tiefen Einschnitt in Prousts Privatsphäre. Sein Freund Jaques Bizet, der Sohn des Carmen-Komponisten und der Salonière Geneviève Straus, unterhält in Monaco eine Taxigesellschaft und vermittelt Proust eine Autorundfahrt durch die Normandie. Chauffeur ist der 29-jährige Taxifahrer Alfred Agostinelli, und der 36-jährige Dichter verliebt sich leidenschaftlich in ihn. Agostinelli ist verlobt. Proust engagiert ihn als Sekretär.

Gemeinsam verbringen sie in den nächsten Jahren viel Zeit an der „Blumenküste“ des Ärmelkanals in dem Seebad Cabourg25, wo Proust regelmäßig mit der Mutter im Grand Hotel zur Erholung weilte. Sie unternehmen zahlreiche Ausflüge, die Proust zu den im Figaro erscheinenden „Reiseeindrücken im Automobil“ verarbeitet. Agostinellis Leidenschaft ist das Fliegen, und Proust finanziert ihm den Pilotenschein.

1908 ist Proust 37 Jahre alt und beginnt die Arbeit an seinem Hauptwerk – es wird sein Lebenswerk, das ihn bis zu seinem Tod 1922 beschäftigen wird: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit wird zum Wettlauf gegen die Zeit.

Agostinelli ist als Sekretär eine unverzichtbare Hilfe: er schreibt das Manuskript des Romans auf der Maschine. Aber die Beziehung entwickelt sich für Proust zur Hölle; leidenschaftliche Eifersucht und Trennungensszenen wechseln mit ebenso leidenschaftlichen Versöhnungen. Der kluge und sensible Agostinelli wird Vorbild für die Romanfigur Albertine, und die quälende Beziehung des Protagonisten mit dieser Frau prägt einen großen Teil der zweiten Romanhälfte.

Neben den regelmäßigen Artikeln für den Figaro werden die 3 Teile des 1. Bandes fertiggestellt.

1909: Prousts Freund Reynaldo Hahn liest den 1. Teil des 1. Bandes (Combray), 1910 erhält der junge Adlige Graf George de Lauris,26 mit dem Proust befreundet ist, in Cabourg den Text. 1912: Der Figaro bringt Auszüge von Combray.

1913: Le Temps27 (Die Zeit), wichtigste Tageszeitung der Dritten Republik, kündigt den 1. Band an: Du côté de chez Swann (Auf dem Weg zu Swann – oder – Unterwegs zu Swann – oder – Swanns Welt).

Die Ankündigung informiert nicht darüber, dass es ein von Proust finanzierter Privatdruck ist. Alle Verlage hatten das Manuskript abgelehnt. (André Gide als Lektor bei Gallimard nannte es später den größten Fehler seines Lebens).

Im Figaro rezensiert der Maler und Schriftsteller Lucien Daudet,28 in Le Temps schreibt der spätere Proust-Biograf und Literaturkritiker Paul Souday einen umfangreichen Essay über das Buch. Bereits dieser erste Band (von am Ende sieben) fasziniert die literarische Szene in Frankreich.

1914: Die führende Literaturzeitschrift Nouvelle Revue française29 druckt Auszüge aus Band 2.

Am Tag, an dem Proust Agostinelli schreibt, dass er ihm für 27.000 Francs ein Kleinflugzeug gekauft hat, kommt dieser bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Wie nach dem Tod der Mutter fällt Proust in eine Depression. Glücklicherweise findet er eine Haushälterin, die bis zum Tod seine Manuskripte als Lektorin ordnet.

Einen Monat nach Agostellis Tod bricht der Erste Weltkrieg aus und verhindert die Veröffentlichungen weiterer Auszüge des 2. Bandes.

1916: Während des Krieges kann Proust mit der Nouvelle Revue française den Druck des 2. Bandes vereinbaren. Er erscheint erst nach Kriegsende.

1918: Am 3. November löst der Kieler Matrosenaufstand in Deutschland die Novemberrevolution aus. Kaiser Wilhelm II., der sich seit Ende Oktober im deutschen Hauptquartier im belgischen Spa aufhält, geht in die Niederlande ins Exil, wo ihm Königin Juliane Asyl gewährt und die Auslieferung an die Siegermächte verweigert. In Berlin wird die deutsche Republik ausgerufen – am 11. November ist der Krieg zu Ende.

Bei Gallimard erscheint der 1. Teil des 2. Bandes À l’ombre des jeunes filles en fleurs (Im Schatten junger Mädchenblüte): Madame Swann und ihre Welt.

Im November 1919 erhält Proust für den 2. Band den Prix Goncourt,30 die höchste französische Auszeichnung für Literatur. Doch das Jahr bringt eine unangenehme Veränderung: Prousts Tante verkauft das Haus am Boulevard Hausmann, das in eine Bank umgewandelt wird. Proust zieht in ein Hotel.

Bereits nach den ersten Bänden des in gewaltigem Umfang geplanten Projektes ist der Ruhm groß. 1920 wird Proust Ritter der Ehrenlegion und im gleichen Jahr erscheint der 1. Teil des 3. Bandes Die Welt der Guermantes, im folgenden Jahr der 2. Teil, und außerdem der 1. Teil des 4. Bandes Sodom und Gomorrha.

Im Mai 1921 wird Proust vom Direktor des Pariser Musée du Jeu de Paume durch eine Ausstellung niederländischer Malerei geführt. Während er Die Ansicht von Delft31 von Jan Vermeer betrachtet, erleidet er einen Schwächeanfall.

Nach diesem Ereignis beschreibt er den Tod des Schriftstellers Bergotte, einer für Prousts Kunstverständnis wichtigen Figur des Romans, beim Betrachten des Bildes.32 Die Episode mit dem Blick auf den kleinen gelben Fleck an der Wand in Vermeers Ansicht von Delft ist eine der berühmtesten – und in der Deutung bis heute umstrittensten Stellen – des Werkes. Proust formuliert hier seine Kritik an klassischem Bombast und „Dürre und Sinnlosigkeit einer fiktiven Kunst“.

In den letzten drei Lebensjahren von 1919 bis 1922 verlässt der hochasthmatische Proust kaum mehr sein Hotelzimmer.

Er kann nur noch im Bett arbeiten und diktiert das Manuskript.33

Im März 1922 erscheint der 2. Teil des 4. Bandes Sodom und Gomorrha.

Am 18. November 1922 stirbt Marcel Proust.

Am 22. November wird er mit militärischen Ehren als Ritter der Ehrenlegion auf dem Friedhof Père– Lachaise neben seinen Eltern beigesetzt.

1 Die Rue Jean de La Fontaine erhielt ihren heutigen Namen 1865 zu Ehren des französischen Schriftstellers La Fontaine (1621-1695), der mit seinen berühmten Fabeln zu den großen französischen Klassikern gehört. Sie war (und ist) eine der Nobelstraßen von Paris und eine bevorzugte Adresse der Prominenz von Kunst und Geldadel.

2 Das 8. Pariser Arrondissement de l‘Élysée entstand im Zuge von Haussmanns Stadtplanung einer modernen Hauptstadt. Es grenzt an das 1. Arrondissement (Louvre und Ile de Cité) und wurde zum wirtschaftlichen und politischen Zentrum von Paris. (Noch heute ist es Sitz des Staatspräsidenten, Ministerien, Botschaften, internationale Medienbüros).

3 Das Lycée Condorcet war auch das Sprungbrett für die glanzvolle militärisch-politische Karriere von Ferdinand Walsin-Esterházy, dem eigentlichen Spion in der Dreyfus-Affäre.Condorcet-Methoden (nach Marquis de Condorcet) sind Wahlmethoden, bei denen Kandidaten nach Rang geordnet sind. Anschließend konkurrieren die Kandidaten untereinander, es gibt einen Condorcet-Sieger.

4Geneviève Straus, Tochter des jüdischen Opernkomponisten und renommierten Musikpädagogen Halévy, Ehefrau von dessen Lieblingsschüler Georges Bizet („Carmen“). Nach dessen Tod heiratete sie den Rothschild-Anwalt Émile Straus. In ihrem Salon verkehrten Guy de Maupassant, Montesquiou, Degas, die Familien Rothschild und Richelieu, Prinzessinnen und Gräfinnen (unter ihnen etliche Vorbilder für Prousts Roman). Ihr Sohn Jaques Bizet war ein enger Freund von Proust.

5Leontine Lippmann, durch Heirat Mrs. Arman, als Mme de Arman Caillavet bekannt, führte einen der prominentesten Salons für Literaten, Maler und Politiker. Sie war die Geliebte und Muse von François Anatole Thibault, einem der bedeutendsten französischen Dichter der Zeit und ist im Roman Prousts Modell der Gräfin Verdurin.

6Henri-Louis Bergson, Sohn eines polnisch-jüdischen Komponisten, war ein französischer Philosoph und Nobelpreisträger (Literatur 1927). Mit Nietzsche gilt er als bedeutendster Vertreter der „Lebensphilosophie“ (gegen Positivismus und Neukantianismus). 8

7Madeleine Jeanne Lemaire war eine französische Malerin, die einen literarischen Salon führte. Zu ihren Gästen gehörte neben namhaften Adligen, Politikern und Künstlern auch Marcel Proust, dessen erstes Buch Les plaisirs et les jours (Tage der Freude), in dem er sie als Vorbild für eine seiner Romanfiguren wählte, sie selbst illustrierte.

8Robert de Montesquiou war ein französischer Schriftsteller und Kunstsammler aus hochadliger Familie. Zu seinen Ahnen zählte d’Artagnan, der Musketier Ludwig XIV., Held in „Die drei Musketiere“ von Alexandre Dumas d. Ä. Robert de Montesquiou stand in engem Kontakt mit der Gräfin di Castiglione, der zeitweiligen Mätresse des französischen Kaisers Napoleon III.

9Comtesse Greffulhe war der Mittelpunkt der mondänsten Pariser Salons in Faubourg Saint-Germain. Hier trafen sich Politiker, Diplomaten, Wissenschaftler, Musiker, Dichter, Mitglieder der Hochfinanz und des europäischen Adels. Sie war Mäzenin für Musik, Theater und für das berühmteste Ballettensemble „Ballets Russes“ von Sergei Djagilew. Eine Geliebte ihres Mannes, Mme de la Béraudière, gehört zu den Vorbildern der Romanfigur Odette.

10Dreyfus-Affäre siehe Seite 27 f.

11Reynaldo Hahn war ein französischer Komponist, seine Mutter Venezolanerin spanisch-baskischer Abstammung, der Vater ein aus Hamburg stammender jüdischer Kaufmann, Ingenieur und Erfinder, Freund und Berater des venezolanischen Präsidenten. Nach dessen Amtszeit zog die Familie nach Paris und schuf sich intensive Kontakte zur Gesellschaft. Die musikalische Begabung von Reynaldo brachte ihn mit 13 Jahren ans Pariser Konservatorium, mit seinem Freund Maurice Ravel wurde er Schüler von Jules Massenet. Seine Liederzyklen machten ihn berühmt; in den mondänen Salons sang er sie selbst am Klavier.

12Camille Saint-Saëns (1835-1921) war neben seiner Kompositionstätigkeit ein anerkannter Mathematiker, der auch auf den Gebieten Biologie, Astronomie, Philosophie und Archäologie arbeitete. Franz Liszt war von seinem Orgelspiel begeistert.

13 Die von Proust als Roman-Vorbild vermutete Sonate Nr.1 schrieb Saint-Saens erst, nachdem er mit zwei früheren nicht zufrieden war. Dort hört Swann hört sie flüchtig, „wie man auf der Straße einer schönen Frau flüchtig begegnen kann.“ Später treffen „die kleine Melodie, Zeichen des Glücks“ und die schöne Frau (Odette) im Salon der Mme Verdurin aufeinander. Proust-Forscher vermuten als Vorlage für den Roman-Komponisten Vinteuil statt Saint-Saens die Komponisten César Franck oder Gabriel Fauré oder Claude Debussy – oder (wahrscheinlicher) eine Mischung.

14 Die Bibliothèke Mazarin wurde von dem französischen Kardinal und Politiker Jules Mazarin (1602-1661) gestiftet, der in der Nachfolge Richelieus der mächtigste Minister von Ludwig XIII. und Ludwig XIV. wurde. Nach Ende des Dreißigjährigen Krieges erreichte er im Westfälischen Frieden bedeutende Territorialgewinne für Frankreich, das dadurch zur führenden kontinental-europäischen Macht aufstieg. Prousts Anstellung in dieser Bibliothek hatte nur (allerdings beträchtlichen) Status-Charakter.

15 Die erste deutsche Übersetzung erschien 1926 unter dem Titel „Tage der Freuden“.

16Jean Lorrain schrieb Gedichte, Kurzgeschichten, Romane. Er galt als größter Skandalreporter der Belle Époque und berichtete unter Pseudonym über die Pariser Nachtwelt, trat stets elegant gekleidet auf, mit Rouge und starkem Make-Up, und lebte offen seine Homosexualität. Sein starker Opium- und Äthergenuss waren Stadtgespräch.

17Jean Santeuil (1000 Seiten) war zu Lebzeiten unbekannt und wurde 1952 (Prousts 30. Todesjahr) aufgrund der Fragmente erstmals editiert.

18Emile Zola wurde nach seinem offenen Brief an den Staatspräsidenten „J‘accuse!“ (Ich klage an!) vom Kriegsminister verklagt und in einem politischen Prozess zu Geld- und Gefängnisstrafe verurteilt, der er sich durch Flucht nach London entzog, wo er fast ein Jahr blieb.

19John Ruskin (1819-1900) war Sohn eines reichen englischen Sherry-Importeurs. Er gründete die „St. Georg” Gilde, deren Mitglieder für einen Teil ihres Einkommens Land aufkauften, um Ruskins Ideale zu verwirklichen. Seine Idee einer Sozialreform umfasste Neuerungen wie Denkmalpflege, Gartenstädte, Arbeiterhochschulen. Er lehrte an der Oxford University und schrieb Artikel über Mineralien, Architektur, Kathedralen, Landschaft, Ethik, Geologie, Geschichte, Mythologie, Sozialismus, Theologie, und alle Kunstformen. Speziell setzte er sich für den Maler William Turner ein und kaufte von seinem ererbten Vermögen zahlreiche Gemälde und Aquarelle. Turner benannte Ruskin zu seinem Testamentsvollstrecker des Nachlasses. Ruskin wurde für Proust zu einem Idol, dem er nachstrebte.

20Mathilde Lætitia Wilhelmine Bonaparte, (1820-1904), eine Nichte Napoleons und Tochter dessen jüngsten Bruders Jérôme Bonaparte, war eine begabte Aquarellmalerin. Ab den 1850er Jahren unterhielt sie in ihrem Pariser Hôtel particulier (Stadtpalais wohlhabender Adliger) einen künstlerischen und literarischen Salon.

21Notre Dame d’Amiens besitzt mit über 40 m das höchste Mittelschiffgewölbe aller französischen Kathedralen, berühmte Steinplastiken und eine beeindruckende Westfassade. Seit 1981 ist sie Weltkulturerbe der UNESCO.

22Neurasthenie: In seinem Standartwerk lehrt Vater Adrien Proust: Hauptursache der Depression sind die Belastungen des modernen Lebens. Sie sei „gleichmäßig verteilt unter den zivilisierten Völkern, bei denen der Daseinskampf eine unaufhörliche und übertriebene Exaltation der Funktionen des Nervensystems aufrecht erhalte.“ Geistig Tätige seien stärker gefährdet als Menschen in einfachen Berufen; nicht auf Grund der geistigen Tätigkeit, sondern wegen der moralischen Zwänge. Depression sei keine körperliche Erkrankung und könne psychisch geheilt werden.

23Der Boulevard Haussmann führt mit zweieinhalb Kilometern Länge durch zwei noble Arrondissements, in denen sich die wichtigsten Banken und Kaufhäuser befinden. Er ist nach Georges-Eugène Haussmann benannt, der Paris Mitte des 19. Jh. ein modernes Stadtbild gab.

24Die Präraffaeliten verdankten ihren künstlerischen Erfolg ausnahmslos John Ruskin, der sich außer für Turner nachdrücklich für sie einsetzte. Die Künstlergruppe in Cornwall sah sich vergangener Kunst verpflichtet: Malern des italienischen Trecento (14. Jh. Giotto), Quattrocento (15. Jh. Botticelli) und den deutschen Nazarenern (Erneuerung der Kunst im Geiste des Christentums nach Vorbild der Meister des Mittelalters). John Ruskin pries ihre Darstellung der Natur „ohne Kaschieren und Selektieren“.

25Cabourg bestand als Seebad erst seit 50 Jahren. Ein Pariser Advokat hatte die fixe Idee, das kleine Fischerdorf zu veredeln. Er gründete eine Gesellschaft, die Strände aufkaufte, ein junger Architekt entwarf den Plan einer Stadt Cabourg-les-Bains. Ein Casino aus Holz wurde erbaut und Alleen mit Hunderten von Bäumen angepflanzt. Ein Grand Hotel verlieh dem aus dem Nichts gezauberten Bad exklusives Flair. Proust verbrachte hier jahrelang den Sommer und Herbst. Im Roman wird Cabourg zu Balbec.

26George de Lauris geht in den Roman ein als Robert de Saint-Loup, Neffe der Herzogin von Guermantes. Im Grand Hotel Cabourg hängt neben Zimmer 414 ein Foto von Georges de Lauris als „Souvenir de Marcel Proust“.

27Le Temps wurde nach dem 2. Weltkrieg der Kollaboration verdächtigt und aufgelöst. Le Monde (Die Welt) übernahm die Zeitung mit Erscheinungsformat und Typographie.

28Lucien Daudet litt als Schriftsteller unter der Berühmtheit seines Vaters Adolphe Daudet: „Ich bin der Sohn eines Mannes, dessen Ruhm und Talent über Generationen alle in Schatten stellt.“ – In einer Rezension von Prousts Tage der Freuden hatte der Skandalreporter der Dritten Republik Jean Lorrain eine Affäre von Daudet mit Proust angedeutet, worauf sich Proust mit ihm duellierte.

29 Die Nouvelle Revue française wurde 1909 von André Gide mit anderen Schriftstellern als elitäre literarische Zeitschrift im Verlag Gallimard gegründet. Sie erscheint nach Unterbrechungen in den Kriegsjahren noch heute.

30 Der Prix Goncourt wird jährlich im November von der Académie Goncourt vergeben und soll das beste erzählerische Werk auszeichnen, das im laufenden Jahr in französischer Sprache erschienen ist. Benannt wurde der Preis nach den Schriftsteller-Brüdern Edmond und Jules Goncourt. Edmond de Goncourt legte in seinem Testament 1896 die Gründung einer Académie Goncourt und die Stiftung des Prix Goncourt fest. Obwohl das Preisgeld nur symbolisch 1 Euro beträgt, ist die Verleihung das wichtigste literarische Ereignis in Frankreich.

31Die Ansicht von Delft hängt heute in Den Haag im Mauritshuis Museum. In dem Adelshaus aus dem 17. Jh. ist die Königliche Gemäldegalerie untergebracht, eine weltweit einzigartige Sammlung flämischer und holländischer Meisterwerke aus dem 17. Jh. Eines der berühmtesten dort ausgestellten Gemälde ist Vermeers Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge.

32Bergotte ist Prousts Spiegelbild. Seine Kritik an Ausdruck und Stil im Werk der Romanfigur können als Charakteristika des Proustschen Selbstverständnisses verstanden werden.

33 Seiner (englischen) Sekretärin unterlaufen eigentümliche Fehler. (Statt salade de truffes: „Trüffelsalat“, schreibt sie salade de trèfles: „Kleesalat“).

Publikation des Romans

Band 1 – 4 erschienen zu Lebzeiten.

Band 5 – 7 erschienen posthum in einer noch nicht endgültigen Bearbeitung. Bruder Robert leitete die Edition.

Band 1 Du côté de chez SwannAuf dem Weg zu Swann (1913)

Band 2 À l’ombre des jeunes filles en fleursIm Schatten junger Mädchenblüte (1918)

Band 3 Le côté de GuermantesDie Welt der Guermantes (1920/21)

Band 4 Sodome et GomorrheSodom und Gomorrha (1921/22)

Band 5 La prisonnièreDie Gefangene (1923) (von Proust fertig redigiert)

Band 6 La fugitiveDie Entflohene (1925)

Band 7 Le temps retrouvéDie wiedergefundene Zeit (1927) Dieser letzte Band war vor den anderen Bänden vom Autor fertig gestellt. Proust hatte immer an Anfang und Ende des Romans gleichzeitig bearbeitet.

In Deutschland erschienen erste Einzelübersetzungen 1926-1930.

Die erste Gesamtausgabe (Eva-Rechel-Mertens) 1953-1957.

Die Frankfurter Ausgabe bis 1961 in 7 Bänden.

Die biografischen Einflüsse in den Roman

À la recherche du temps perdu ist das monumentalste Romanwerk des 20. Jahrhunderts – und ein Mythos der Weltliteratur. Der deutsche Text umfasst in der Frankfurter Ausgabe in 7 Bänden über 5000 Seiten. Proust hat mit seinem faszinierenden Erzählwerk den modernen Roman revolutioniert.

Bezugspunkte sind biografische Stationen und Personen und Ereignisse:

Geburtsort

Auteuil

(Spiel-Ort

Illiers-Combray

)

Prousts

Vater

und

Mutter

Prousts

Gesundheit

und

Homosexualität

das

Geburtsjahr 1871

(Kriegsende)

die

Dreyfus-Affäre

die

Pariser Salons

.

Auteuil– der Geburtsort ist das 61. Quartier (Stadtviertel) von Paris. Die Adresse der Familie Proust in der Nähe des Bois de Boulogne liegt in einem der vornehmsten und teuersten Viertel der Hauptstadt. Fünf Jahre vor Marcels Geburt war das Dorf eingemeindet und von dem Stadtplaner Haussmann in die Modernisierung der Metropole einbezogen worden. Bis heute behielt es seinen Charme als Aufenthalt für Maler und Dichter.34

Illiers35– hier schrieb Proust den größten Teil des Romans. Der Ort ist unter dem Namen Combray in den Roman eingegangen und dadurch unsterblich geworden.

Illiers-Combray – Anlässlich des 100. Geburtstags von Proust benannte sich die Stadt 1871 um. Es ist die einzige französische Kommune, die einen aus literarischen Werk hervorgegangenen Namen trägt. Aus Illiers stammte die Familie von Prousts Vater, und nach ihm ist dort eine Straße benannt.

Vater Achille-Adrien Proust – war der Leiter des Pariser Charité-Krankenhauses und wurde für seine Verdienste um die Erforschung der Cholera als Kommandeur der Ehrenlegion ausgezeichnet.

Er war Professor für Gesundheitslehre an der Faculté de médecine de Paris und bis zu seinem Tod (1905) der Generalinspekteur der französischen Gesundheitsbehörden.

Sein Engagement bei internationalen Konferenzen führte zur Gründung des Office International d’Hygiène Publique, einer Vorläuferbehörde der Weltgesundheitsorganisation WHO.

Als Spezialist für ansteckende Krankheiten im Orient bereiste er im Regierungsauftrag den Iran, forderte die Einrichtung eines Seuchenschutzgürtels für Europa und setzte sich für zuverlässige Qualitätssiegel für Fleisch-Importe ein.

Sein Buch Die Behandlung des Neurasthenikers wurde europaweit ein Standardwerk.

Heute wird angenommen, dass seine Darstellung der Neurasthenie36 durch die Krankheit seines Sohnes inspiriert wurde.

Mutter Jeanne – stammte aus einer jüdischen Bankiersfamilie, die aus der Nähe von Stuttgart eingewandert war. Mit zwanzig Jahren verlobte sie sich mit Dr. Adrien Proust. Die schöne Frau sprach mehrere Sprachen, spielte Klavier und liebte Malerei. Ihre eigene Tochterbindung setzte sich fort in der engen Bindung zu ihrem ältesten Sohn Marcel. Der unverheiratete, homoerotische Marcel lebte nach dem Tod des Vaters im Elternhaus, bis die Mutter starb – da war er 35 Jahre alt. Mutter und Sohn verband eine zärtliche Liebe. Die Gewohnheit der mütterlichen Besuche an seinem Bett und der Kult des Gute-Nacht-Kusses nimmt in den ersten Kapiteln des Romans breiten Raum ein. Berühmt ist jene Szene, in der das Kind seinen gewohnten Gutenachtkuss der Mutter einfordert, der, weil Besuch da ist, zunächst verweigert wird. Der Vater, der die Zärtlichkeiten zwischen Mutter und Sohn für übertrieben hält und tadelt, begreift erstmals die tiefe Verstörung des Kindes und schickt die Mutter zu ihm.

Der Ich-Erzähler im Roman: „So wurde zum ersten Mal meine Traurigkeit nicht mehr als etwas Strafbares angesehen, sondern als ein unverschuldetes Übel, das man offiziell als einen nervösen Zustand anerkannte.” (Der Nervenzustand thematisiert Prousts Krankheit neben dem Asthma).

Prousts Briefe an die Mutter belegen, wie sehr er litt, ihrem Wunsch nach „Lebenstüchtigkeit“ nicht zu entsprechen: „Ich würde so gerne und will es ganz und gar, bald mit Dir zur gleichen Zeit aufstehen und in Deiner Nähe meinen Milchkaffee trinken. In dem Gefühl, dass unser Schlaf und unser Wachen sich auf dieselbe Zeit erstreckt, wird für mich so viel Zauber liegen. … Sei tausendmal geküsst.

Prousts Gesundheit – wurde ab dem 9. Lebensjahr von ersten Asthma-Anfällen beeinträchtigt, die das Maß von Erstickungsanfällen annahmen. Sie begleiteten ihn lebenslang und schränkten seine Lebensweise ein. Sie wurden die Ursache seines langsamen Sterbens. Eine beängstigende Sensibilität zeigte sich in seiner ungewöhnlich starken Mutterbindung und depressiven Phasen, die sich nach dem Tod seines homosexuellen Freundes Agostinelli verstärkten.

Er war geradezu das Gegenteil seines zwei Jahre jüngeren Bruders Robert, der lebensfroh und beruflich engagiert wie sein Vater ein bekannter Arzt wurde.

Der Wohlstand der Familie und der gesellschaftliche Status des prominenten Vaters brachten Marcel schon in der Gymnasialzeit mit Intellektuellen der Pariser Oberschicht in Kontakt. Er war ein regelmäßiger Gast in den wichtigsten Pariser Salons, und seine finanzielle Unabhängigkeit ermöglichte ihm ein Leben ausschließlich für sein dichterisches Werk. Nach dem Tod der Eltern zog er sich bei fortschreitender Krankheit aus der Öffentlichkeit in seine Pariser Wohnung zurück und lebte in den letzten Jahren von der Außenwelt isoliert in einem Hotel.

Die Suche nach der verlorenen Zeit wurde für ihn zum Wettlauf gegen die Zeit, den er verlor. Allerdings lag das Manuskript in vielen Heften weit gediehen vor, so dass der Bruder das Werk zum Abschluss bringen konnte.37

Das Geburtsjahr 1871 brachte in Frankreich das Ende des Deutsch-Französischen Krieges und den Pariser Kommune-Aufstand.38 Marcels Mutter führte die bei ihrem Sohn auftretende Neurasthenie auf Belastungen in der Schwangerschaft zurück, die sie zur Zeit der Kommune und der deutschen Belagerung in Paris erlebte.39 Sie floh aus der Hauptstadt zu ihrer Familie nach Auteuil, das damals noch nicht eingemeindet war. Hier wurde Marcel am 10. Juli geboren. Es war eine schwierige, langwierige Geburt.

Die Dreyfus-Affäre nahm 1893 ihren Anfang als Proust 22 Jahre alt war, und der Justizskandal beschäftigte die französische Öffentlichkeit 13 Jahre lang. Für Proust wurde sie zu Hintergrund und Deutung der gesellschaftlichen Situation in der Décadence des Fin de siècle: persönlicher Erfolg oder Misserfolg sind abhängig von politischen Strömungen im Land und den Kontakten zu den maßgeblichen Repräsentanten.

Die Verurteilung des französischen Hauptmanns Alfred Dreyfus durch ein Kriegsgericht in Paris wegen angeblichen Landesverrats zugunsten des Deutschen Kaiserreiches war der Beginn von jahrelangen öffentlichen Auseinandersetzungen und Gerichtsverfahren.

Das Urteil gegen den aus dem Elsass stammenden jüdischen Offizier basierte auf rechtswidrigen Beweisen, und der Justizirrtum weitete sich zu einem Frankreich erschütternden Skandal aus. Höchste Kreise im Militär versuchten, die Verurteilung des tatsächlichen Verräters zu verhinderten; antisemitische, monarchistische, klerikale Medien und Politiker hetzten gegen den jüdischen Hauptmann.

Emile Zola prangerte das Fehlurteil an in seinem berühmt gewordenen Artikel J’accuse …“! (Ich klage an …!) und musste aus dem Land fliehen, um einer Haftstrafe zu entgehen.

In einem zweiten Prozess wurde Dreyfus erneut verurteilt und wenige Wochen später begnadigt. Ein gleichzeitig erlassenes Amnestiegesetz sollte Straffreiheit für alle im Zusammenhang mit der Affäre begangenen Rechtsbrüche garantieren.

Dreyfus wurde rehabilitiert, wieder in die Armee aufgenommen und zum Ritter der französischen Ehrenlegion ernannt.

34Honorè de Balzac, Meister des französischen Realismus, lebte hier vorübergehend hochverschuldet versteckt vor Gläubigern und blieb in den romantisch verwinkelten Gassen des Dorfes unerkannt.

35Illiers: Stadt an der Loire, 3.500 Einwohner, 25 km von Chartres.

36Neurasthenie (Nervenschwäche) ist eine psychische Störung, die in der psychotherapeutischen Praxis differenziert wird: Depression oder Burn-Out (Erschöpfungsdepression, reizbare Schwäche). Ende des 19. und Anfang des 20. Jh., in der Belle Époque, gehörte sie zu den Modekrankheiten einer gehobenen Gesellschaftsschicht. (siehe auch FN 21).

37 Posthume Ausgaben sind keine Seltenheit. – Von Shakespeares 38 Dramen wurden nur 20 zu Lebzeiten gedruckt. Die übrigen (zum Teil späten wie Macbeth) wurden aus Raubdrucken und Rollentexten rekonstruiert. – Von Homers Ilias und O2dyysse stammen die ersten Handschriften aus dem Mittelalter.

38Die Pariser Kommune bezeichnet den während des Deutsch-Französischen Krieges gebildeten revolutionären Stadtrat, der gegen den Willen der konservativen Zentralregierung versuchte, Paris nach sozialistischen Vorstellungen zu verwalten. Sie bestand von März bis Mai 1871 und gilt als Beispiel für die „Diktatur des Proletariats“ und Vorbild der Rätedemokratie.

39 Andreas Isenschmid (Proust Bildband): „Das Gerücht wird auch durch Wiederholung in verschiedenen Biografien nicht wahrer.“

Komposition und 3 Motivkreise

Marcel Proust begann sein Hauptwerk 1908 mit 37 Jahren. Er arbeitete 14 Jahre lang daran bis zu seinem Todestag 1922. Umfang, Erzählform und Inhalt des monumentalen Romans wecken die Vorstellung einer kontinuierlich und in unendlich vielen Details ausufernden Lebensbeschreibung, die ein Ziel und Ende zwangsläufig nur durch den Tod des Erzählers finden kann, und die deshalb fragmentarisch bleiben müsste. Aber trotz seines in der Weltliteratur einmaligen Umfangs ist der Roman als Ganzes konzipiert.

Er beginnt mit der Erinnerung an die Kindheit des Zehnjährigen und erzählt in den folgenden Bänden von der Mutlosigkeit und Bedrückung des Erwachsenen, der an seinem Talent zweifelt und sich nie in einem Roman verwirklichen zu können glaubt.

Er endet nach 5000 Seiten im 7. Band positiv in der wiedergefundenenZeit. Der Protagonist kann damit beginnen, sein Leben aufzuschreiben.

Der Roman ist die Biografie des Romans.

Die Qualität dieses singulären Werkes liegt nicht in einer unendlich erscheinenden Vielfalt fortlaufend erzählter Details, sondern in einer kaum wahrnehmbaren Entsprechung seiner Teile – also in seiner Gesamtkonzeption.

Innerhalb dieser Leitlinie entwickeln sich die spezifischen Symmetrien des Gesamtwerkes. Das war nur möglich, weil Proust an dem Beginn und dem Ende des Romans immer wieder gleichzeitig arbeitete. Das ist schwer vorstellbar bei einem so umfangreichen Werk, aber es wird zur Lesehilfe für das Verständnis.

3 Motive dominieren den Roman:

Das Leben

– Erinnerung als Voraussetzung und Grundlage, das eigene Leben zu begreifen.

Die Epoche

– Der dekadente Zauber der Belle Époque als eine mondäne Salon-Gesellschaft.

Die Kunst

- Die Bedeutung der Kunst für das Leben.

1. Motivkreis: Erinnerung