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"Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?" Es ist einer der berühmtesten ersten Sätze der deutschen Literatur. Goethe sagt in Dichtung und Wahrheit über die wenigen Zeilen in der Genesis: Höchst anmutig ist diese natürliche Erzählung, nur erscheint sie zu kurz; man fühlt sich berufen, sie ins Einzelne auszumalen. Thomas Mann malte 16 Jahre lang an den 4 Bänden und 2000 Seiten. Er wollte dem Missbrauch von Mythen ein Werk entgegenstellen, das eine humanistische Brücke zwischen Frühgeschichte und Gegenwart schlägt. Der Autor, geboren in einem kleinen Dorf am Rhein, das Karl der Große von seiner Ingelheimer Residenz aus gegründet hatte und das in Bingen am Rhein aufgegangen ist, widmet sich nach 30 Wanderjahren bei einer Computerfirma, vom Leiter eines Rechenzentrums bis zur Europazentrale, dem Thema, das ihn seit der Jugend als ein roter Faden begleitet: Die Weltliteratur.
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Seitenzahl: 280
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Vorspiel: Höllenfahrt
Jaakob und seine 12 Söhne
Karte von Kanaan
ERSTER BAND. DIE GESCHICHTEN JAAKOBS
Erstes Hauptstück
:
Am Brunnen
Ischtar
Der Vater
Der Mann Jebsche
Der Angeber
Der Name
Vom äffischen Ägypterland
Die Prüfung
Vom Öl, vom Wein und von der Feige
Zwiegesang
Zweites Hauptstück
:
Jaajob und Esau
Mondgrammatik
Wer Jaakob war
Eliphas
Die Haupterhebung
Esau
Drittes Hauptstück
:
Die Geschichte Dina‘s
Das Mägdlein
Beset
Die Zurechtweisung
Der Vertrag
Jaakob wohnt vor Schekem
Die Weinlese
Die Bedingung
Die Entführung
Die Nachahmung
Das Gemetzel
Viertes Hauptstück
:
Die Flucht
Urgeblök
Der Rote
Von Jitzchaks Blindheit
Der große Jokus
Jaakob muss reisen
Jaakob muss weinen
Jaakob kommt zu Laban
Der Erdenkloß
Das Nachtmahl
Jaakob und Laban treffen ein Abkommen
Fünftes Hauptstück
:
In Labans Diensten
Wie lange Jaakob bei Laban blieb
Jaakob und Laban befestigen ihren Vertrag
Von Jaakobs Anwartschaft
Jaakob tut einen Fund
Jaakob freit um Rahel
Von langer Wartezeit
Von Labans Zunahme
Sechstes Hauptstück
:
Die Schwestern
Der Üble
Jaakobs Hochzeit
Von Gottes Eifersucht
Von Rahels Verwirrung
Die Dudaim
Siebentes Hauptstück
:
Rahel
Das Öl-Orakel
Die Geburt
Die Gesprenkelten
Der Diebstahl
Die Verfolgung
Benoni
ZWEITER BAND. DER JUNGE JOSEPH
Überblick und Stammbaum
Erstes Hauptstück
:
Thot
Von der Schönheit
Der Hirte
Der Unterricht
Von Körper und Geist
Zweites Hauptstück
:
Abraham
Vom ältesten Knechte
Wie Abraham Gott entdeckte
Der Herr der Boten
Drittes Hauptstück
:
Joseph und Benjamin
Der Adonishain
Der Himmelstraum
Viertes Hauptstück
:
Der Träumer
Das bunte Kleid
Der Geläufige
Von Rubens Erschecken
Die Garben
Die Beratung
Sonne, Mond und Sterne
Fünftes Hauptstück
:
Die Fahrt zu den Brüdern
Die Zumutung
Joseph fährt nach Schekem
Der Mann auf dem Felde
Von Lamech und seiner Strieme
Joseph wird in den Brunnen geworfen
Joseph schreit aus der Grube
In der Höhle
Sechstes Hauptstück
:
Der Stein vor der Höhle
Die Ismaeliter
Von Rubens Anschlägen
Der Verkauf
Ruben kommt zur Höhle
Der Eidschwur
Siebentes Hauptstück
:
Der Zerrissene
Jaakob trägt Leid um Joseph
Die Versuchung Jaakobs
Die Gewöhnung
DRITTER BAND. JOSEPH IN ÄGYPTEN
Die Ereignisse in Genesis 39
Die Hauptpersonen des 3. Bandes
Erstes Hauptstück
:
Die Reise hinab
Vom Schweigen der Toten
Zum Herrn
Nachtgespräch
Die Anfechtung
Ein Wiedersehen
Die Feste Zel
Zweites Hauptstück
:
Der Eintritt in Scheol
Joseph erblickt das Land Gosen und Per-Sopd
Die Katzenstadt
Das lehrhafte On
Joseph bei den Pyramiden
Das Haus des Gewickelten
Drittes Hauptstück
:
Die Ankunft
Stromfahrt
Joseph zieht durch Wêse
Joseph kommt vor
Peteprê‘
s Haus
Die Zwege
Mont-kaw
Potifar
Joseph wird zum andermal verkauft und wirft sich aufs Angesicht
Viertes Hauptstück
:
Der Höchste
Wie lange Joseph bei Potifar blieb
Im Lande der Enkel
Der Höfling
Der Auftrag
Huij und Tuij
Joseph erwägt die Dinge
Joseph redet vor Potifar
Joseph schließ einen Bund
Fünftes Hauptstück
:
Der Gesegnete
Joseph tut Leib- und Lesedienst
Joseph wächst wie an einer Quelle
Amun blickt scheel auf Joseph
Beknechons
Joseph wird zusehends zum Ägypter
Bericht von Mont-kaws bescheidenem Sterben
Sechstes Hauptstück
:
Die Berührte
Das Wort der Verkennung
Die Öffnung der Augen
Die Gatten
Dreifacher Austausch
In Schlangennot
Das erste Jahr
Das zweite Jahr
Von Josephs Keuschheit
Siebentes Hauptstück
:
Die Grube
Süße Billetts
Die schmerzliche Zunge (Spiel und Nachspiel)
Dûdu’s
Klage
Die Bedrohung
Die Damengesellschaft
Die Hündin
Der Neujahrstag
Das leere Haus
Das Antlitz des Vaters
Das Gericht
VIERTER BAND. JOSEPH DER ERNÄHRER
Die Geschichte im 40.-50 Kapitel Genesis
Vorspiel in den Oberen Rängen
Erstes Hauptstück
:
Die andere Grube
Joseph kennt seine Tränen
Der Amtmann über das Gefängnis
Von Güte und Klugheit
Die Herren
Vom stechenden Wurm
Zweites Hauptstück
:
Die Berufung
Neb-nef-nezem
Der Eilbote
Von Licht und Schwärze
Die Träume des Pharao
Drittes Hauptstück
:
Die kretische Laube
Die Einführung
Das Kind der Höhle
Pharao weissagt
Ich glaub‘ nicht dran
Allzu selig
Der verständige und weise Mann
Viertes Hauptstück
:
Die Zeit der Erlaubnisse
Sieben oder fünf
Die Vergoldung
Der versunkene Schatz
Herr über Ägypterland
Urim und Tummim
Das Mädchen
Joseph macht Hochzeit
Trübungen
Fünftes Hauptstück
:
Thamar
Der Vierte
Astaroth
Thamar erlernt die Welt
Die Entschlossene
Nicht durch uns!
Die Schafschur
Sechstes Hauptstück
:
Das heilige Spiel
Von den wässrigen Dingen
Joseph lebt gerne
Sie kommen
Das Verhör
„Es wird gefordert“
Das Geld in den Säcken
Die Unvollzähligen
Jaakob ringt am Jabbok
Der silberne Becher
Myrtenduft oder das Mahl mit den Brüdern
Der verschlossene Schrei
Bei Benjamin!
Ich bin’s
Zanket nicht!
Pharao schreibt an Joseph
Wie fangen wir’s an
Die Verkündigung
Siebentes Hauptstück
:
Der Wiedererstattete
Ich will hin und ihn sehen
Ihrer siebzig
Traget ihn!
Jaakob lehrt und träumt
Von absprechender Liebe
Die Bewirtung
Jaakob steht vor Pharao
Vom schelmischen Diener
Nach dem Gehorsam
Ephraim und Menasse
Die Sterbeversammlung
Nun wickeln sie Jaakob
Der Gewaltige Zug
Genesis, 1. Buch Mose Kap. 37-50.
Jaakob, Sohn von Isaak, Enkel von Abraham, einer der „Erzväter“ der Israeliten, bevorzugt unter seinen 12 Söhnen Joseph. In einem hochmütigen Traum erlebt Joseph seine Allmacht, speziell, dass Eltern und Brüder sich ehrfürchtig vor ihm niederwerfen. Er erzählt den Traum und zieht sich damit den Hass seiner Brüder zu. Sie versuchen, ihn in einer Zisterne zu ertränken. Es misslingt und sie verkaufen ihn als Sklaven an eine vorbeiziehende Karawane midianitischer Händler.
Die Kaufleute bringen Joseph nach Ägypten und verkaufen ihn an Potiphar, den Obersten der Leibwache des ägyptischen Pharao. Weil Joseph gottesfürchtig ist, schenkt Gott ihm Gelingen in allem was er tut. Er erwirbt sich Wohlwollen und Vertrauen seines Herrn und wird dessen Verwalter.
Das Weib des Potiphar begehrt den schönen jungen Mann. Weil er ihre Verführung zurückweist, bezichtigt sie ihn der versuchten Vergewaltigung. Joseph wird ins Gefängnis geworfen. Dort kann er als Traumdeuter dem mitgefangenen Obermundschenk des Pharao seine Begnadigung voraussagen.
Nach zwei Jahren hat auch der Pharao rätselhafte Träume und der Obermundschenk empfiehlt, Joseph zur Deutung aus dem Gefängnis zu holen. Der kann mit Gottes Hilfe die Träume erklären: sieben Jahren des Überflusses folgen sieben Jahre der Hungersnot. Er erhält Vollmachten, die Krise zu bewältigen, und heiratet Asenat, die Tochter des Hohepriesters von On.1
Nach den 7 fetten Jahren weitet sich die Hungersnot auf Palästina aus. Josephs Brüder ziehen zum Getreidekauf nach Ägypten, wo auf Josephs Rat Vorratsspeicher angelegt worden sind. Die Brüder erkennen ihn nicht. Dieser prüft sie mit erfundenem Spionagevorwurf und erkennt durch ihr Verhalten, dass sie sich geändert haben: sie stoßen nicht mehr einen einzelnen (der als Pfand eingekerkerte Benjamin) aus ihrer Gemeinschaft aus. Darauf gibt Joseph sich zu erkennen und fordert die Brüder auf, den Vater und die Großfamilie nach Ägypten zu holen. Die Hungersnot eskaliert, aber Joseph kann mit drastischen Maßnahmen das Problem bewältigen und wird dafür von den Ägyptern gefeiert.
Jaakob stirbt nach einem Aufenthalt von 17 Jahren in Ägypten. Kurz vor seinem Tod segnet er seine Söhne und Enkel. Auf seinen Wunsch wird er einbalsamiert, nach Kanaan zurückgeführt und in der Grabstätte von Abraham, Sara, Isaak, Rebekka und seiner ersten Frau Lea bestattet.
Die Josephgeschichte im Koran
Sure 12.
Sure 12 ist kürzer als der biblische Text. Ausführlich erzählt wird von der Eifersucht der Brüder auf Joseph und ihrem Versuch, ihn im Brunnen zu ertränken. Außerdem Josephs Erlebnisse in Ägypten, die Verführungsgeschichte mit Potiphars Frau, und der Bittgang der Brüder nach Ägypten während der Hungersnot. Die Geschichte erhält einen lehrhaften Aspekt
Thomas Mann: Joseph und seine Brüder
Sechzehn Jahre lang hat sich Thomas Mann mit der Forschung zum Alten Testament und mit der Ägyptologie beschäftigt. Er will zeigen, dass im religiösen Mythos die Bilder aus der Vergangenheit auch für die Gegenwart lebendig bleiben.
„Sie müssen bedenken, dass es ein rechtes Wagnis für mich ist, mich auf die Welt des Religiösen einzulassen, die ich eigentlich und persönlich nur in Form der schlichtesten Verehrung des Unerforschlichen kenne.“
Es ist 1925. Gerade gab es zu seinem 50. Geburtstag in München und Wien Festveranstaltungen. Mit den Buddenbrooks, Tod in Venedig und Zauberberg ist er der erfolgreichste deutsche Dichter. Der Nobelpreis wird ihm erst in 4 Jahren verliehen werden und bis zur Ausbürgerung durch die Nationalsozialisten und dem dann 16 Jahre währenden Exil sind es noch acht Jahre. In München lebt er in einer Villa am Englischen Garten – und lässt sich geistig auf eines seiner großen Abenteuer ein, das ihn durch viele Jahre im Exil begleiten wird.
Er beginnt mit Vorarbeiten für den Joseph-Roman. „Ich las die Schöpfungsgeschichte, las die Geschichten Abrahams, des unruhevollen, des zu neuen Ufern der Gotteserkenntnis getriebenen Wanderers, las die Geschichte Josephs und seiner Brüder, diese Perle des Alten Testaments, die auch im Koran berichtet wird, aber in der Bibel ihre menschlich schönste, wenn auch allzu lakonisch-knappe Form gefunden hat.“
Es ist die Geschichte von Joseph, Jaakobs geliebtem Sohn, den seine Brüder seiner Selbstherrlichkeit wegen in einen Brunnen werfen.
Joseph wird gerettet und nach Ägypten gebracht, gelangt dort als Traumdeuter und Wirtschaftsminister des Pharao zu Ruhm und Ehre und versöhnt sich am Ende mit seinen Brüdern.
Das als Novelle geplante Werk nimmt immer gewaltigere Ausmaße an und Thomas Mann schreibt 16 Jahre lang an den vier Bänden mit fast zweitausend Seiten.
Es wird nicht allein die Lebensgeschichte von Joseph, seinen Brüdern, ihrem Vater Jaakob und dessen Frauen Lea und Rahel. Thomas Mann erzählt nichts Geringeres als „Die Entdeckung Gottes“. Es geht ihm dabei immer um die Frage: Gibt es einen Gott, gibt es das Göttliche? Oder ist Gott nichts anderes als eine Fantasie des Menschen, die es ihm ermöglicht, die Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten des Lebens zu ertragen, weil er die Verantwortung dafür diesem Wesen zuschreiben kann? „Abraham entdeckte Gott und machte einen Bund mit ihm, dass sie heilig würden – einer im anderen“ sagt Joseph von seinem Vorfahren Abraham und erklärt auf diese Weise dem ägyptischen Pharao das Wesen Gottes. Joseph fühlt sich als Kind dieses Gottes im Himmel, während der Pharao noch auf den Gott am Himmel schwört.
Für die Beschäftigung mit der Joseph-Geschichte studiert Thomas Mann die Forschung des Alten Testaments und der Ägyptologie, die archaische Lebensform der biblischen, orientalischen und ägyptischen Antike. Er führt die Leser tief in die Vergangenheit, geht Geschlecht um Geschlecht zurück – „nach jeder Düne erscheint eine neue Düne.“
Vorspiel: Höllenfahrt
Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen.
Mit dem berühmten ersten Satz beginnt nicht die Handlung – der Gedanke leitet ein „Vorspiel“ ein, in dem die zentralen Motive des Romans hochverdichtet anklingen. Eine schwierige „Höllenfahrt“.
Thomas Mann steigt als Tiefenforscher hinab in den „Brunnen der Vergangenheit“. Scheinbar wie Jesus im apostolischen Glaubensbekenntnis, wie Dante ins Inferno, wie die sumerische Göttin Ischtar ins „Land der Wiederkehr“, Orpheus zu Euridike, Odysseus ins Reich der Schatten, wie Herakles …
Doch es ist kein Abstieg in die Hölle oder in ein Schattenreich. Der „Brunnen der Vergangenheit“ ist der Ursprung der Menschheitsgeschichte, und der Tiefenforscher sucht deren Ur-Anfang. Aber auch vor jedem Anfang muss noch etwas gewesen sein. Der Brunnen der Geschichte ist bodenlos – „unergründlich“.
Hier entwickelt der Tiefenforscher seine Theorie der Geschichte: Nicht linear in der heilsgeschichtlichen Linie wie die Bibel – beginnend mit der Vertreibung aus dem Paradies – sondern zyklisch, als Wiederholung des immer Gleichen, dessen Anfang zeitlich und örtlich nicht fixierbar ist. Wo immer man auch beginnt, immer steht die Frage, was vor diesem „Beginn“ gewesen ist. Je tiefer man schürft, je weiter hinab in die Unterwelt des Vergangenen man dringt und tastet, die Anfangsgründe sind von keinem forschenden Senkblei auszuloten. Die Suche nach dem Anfang des Menschlichen, seiner Geschichte, seiner Gesittung, gleicht für den Forschenden dem „foppenden Spiel“ mit scheinbaren Endzielen, hinter denen sich immer ein nächstes scheinbares Endziel zeigt.
Die „Höllenfahrt“ – der forschende Abstieg in den Brunnen der Vergangenheit, gleicht einer Dünenlandschaft: hinter jeder Düne, die der Wanderer bewältigt hat, sieht er die neue Düne …
Ein Vergleich von Gründungslegenden der alten Kulturen zeigt häufig sich ähnelnde Erzählungen.
In dem biblischen Bericht von der Geburt Mose ist das gleiche Motiv der Aussetzung und Errettung eines auserwählten Kindes zu erkennen, wie in allen Mythologien des Altertums, wo sie oft mit einem kultischen Vergehen oder mit einem Unheilsorakel in Verbindung stehen. Im Fall von Mose geschieht die Rettung im Rahmen der vom Pharao befohlenen Tötung der männlichen Kinder der Israeliten.2 Von einem Unheilsorakel in Verbindung mit der Geburt Mose berichten das „Targum Pseudo Jonathan“3 und der römisch-jüdische Historiker Flavius Josephus im 1. Jh. n. Chr. Ebenso kann in der Mose-Legende eine Nachbildung aus assyrischen Texten des 8. Jh. v. Chr. vermutet werden, die von der Geburt und Rettung des Sargon von Akkad berichten: der Begründer der mesopotamischen Akkadzeit um 2000 v. Chr. wurde wie Mose in einem wasserdichten Röhrichtkästchen aus dem Fluss geborgen. Ähnliche Rettungslegenden berichten von dem Perserkönig Kyros (um 500 v. Chr.) und den Rom-Gründern Romulus und Remus, die in einem Weidenkorb im Tiber ausgesetzt wurden, weil ihre Mutter, eine zur Keuschheit verpflichtete Vestalin, von dem Kriegsgott Mars vergewaltigt wurde. Und es gibt Analogien zu der altägyptischen Horus-Legende aus dem Osiris-Mythos.
Wo liegt der Ursprung dieser Gründungslegenden? hinter jeder Düne wird eine andere sichtbar.
Die Sintflut ist kein original biblisches Ereignis. In China gab es bereits 1.300 v. Chr. eine gewaltige Überflutung des Hoang-Ho. Und auch das war keine erste Sintflut; tausend Jahre vorher gab es eine große Flut, deren „Noah“ Yau hieß. Es geht immer weiter zurück: Das Gilgamesch-Epos4 kann bis in die 2. Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. und noch weiter zurück bis in die Epoche des Etana-Mythos5 im 24. Jh. v. Chr. verfolgt werden. Ein Fragment beschreibt eine von den Göttern veranlasste Überflutung der Erde und die Geschichte der Arche: Der babylonische „Noah“ Uta-napischti überlebt die Flut und erlangt Unsterblichkeit. Um 150 v.Chr. ging der Mythos dann in die Bibel ein.6
Im Brunnen der Vergangenheit liegen aber vor der Keilschrift noch die mündlichen Dünen, und die „Höllenfahrt“ in die Tiefe kann das Flut-Erlebnis auf immer fernere Zeiten der Menschheitsgeschichte zurück verfolgen. Besonders gründlich glaubt man zu sein, wenn man als letztes und wahres Original das Versinken des Landes Atlantis in den Meeresfluten bezeichnet, wovon die grauenvolle Kunde in alle einst von dorther besiedelten Gegenden gedrungen sei und sich als wandelbare Überlieferung für immer im Gedächtnis der Menschen befestigt habe. Doch auch Atlantis wäre wieder nur ein scheinbarer Uranfang. Eine chaldäische Berechnung zählt zwischen der „ersten Sintflut“ und der ersten geschichtlichen Dynastie des Zweistromlandes 39.180 Jahre. Dann wäre der Atlantis-Untergang im Blickwinkel der Erd- und Menschheitsgeschichte eine „sehr junge“ Katastrophe und nicht die „erste Sintflut“.7
Ähnlich dem Sintflut-Mythos entwickelte sich der Mythos vom Turmbau zu Babel.
Es gab den Sonnentempel von Babylon zu Ehren von Marduk, der höchsten babylonischen Gottheit, aus dem 6. Jh. v. Chr., der den Babyloniern als Zentrum der Welt galt. Neben dem Tempel stand der eigentliche Tempel-Turm, der „Zikkurat“8, ein gestufter Tempelturm, auf den die biblische Überlieferung des Turmbaus zu Babel zurückgeht.
Aber es war nicht die „erste Zikkurat“. In dem über tausend Jahre älteren Gilgamesch-Epos beschreibt „Noah“ Uta-napischti den Berg, an dem seine Arche gestrandet ist und an dem er sein Dankopfer darbringt, als „Zikkurat aus Fels“. Es spiegelt den Kult, mit dem auf den babylonischen Tempeltürmen alljährlich die Wiedergeburt der Welt gefeiert wurde, die nach der „Großen Flut“ neu erstand.
Als „Großer Turm“ galt um 2.600 v. Chr. (2000 Jahre vor Marduks Sonnentempel) die Stufenpyramide des Pharao Djoser in Sakkara, auf die in Gizeh die Weltwunder folgten.
Die Suche nach Sintflut und biblischem Turm der Sprachverwirrung ist eine Höllenfahrt in die unergründliche Tiefe des Brunnens der Vergangenheit.
Als das Alte Testament die Geschichte vom Turmbau zu Babel integrierte, hatte man die zweieinhalbtausend Jahre ältere Stufenpyramide in Sakkara vor Augen, das Modell des babylonischen Zikkurat. In der Sprachverwirrung spiegelt sich die Problematik der langen Bauzeit und fremdländischen Turmbauer.9
Der Abstieg in den Brunnen der Vergangenheit muss irgendwann zum ersten Menschen führen, zu Adam. Wo aber lag das Paradies? Der Garten Eden im Osten? Der Ort der Ruhe und des Glückes, die Heimat des Menschen, wo er vom schlimmen Baume gekostet und von wo er vertrieben worden war.
Der junge Joseph „weiß“ es aus der Erzählung seines Vaters, und reagiert belustigt auf „unwissende“ Wüstensöhne, die sich nichts Himmlischeres vorstellen können, als ihr zwischen Bergen, Obstgärten und Seen eingebettetes „Paradies“ Damaskus.
Er zuckt höflich die Achseln, wenn die in Ägypten lebenden Hebräer den Nil für Mitte und Nabel der Welt und das ehemalige Paradies halten, oder wenn die Sumerer ihre Königsstadt Sinear „Pforte Gottes“ nennen. Joseph weiß es wahrer und genauer aus der Erzählung seines Vaters – und die „Höllenfahrt“ berichtet vorausgreifend von Ereignissen, die in den ersten beiden Bänden des Romans rückschauend eingestreut werden:
Einst war Josephs Vater Jaakob auf der Flucht vor seinem Zwillingsbruder Esau, den er um den Erstgeburtssegen betrogen hatte, nach Charran10 zu Laban geflohen, dem Schwager seines Vaters.11Unterwegs war er ganz unwissend auf die wirkliche Pforte des Himmels, den wahren Weltnabel gestoßen: die Hügelstätte Luz12 mit ihrem heiligen Steinkreise, die er dann Beth-El, Haus Gottes geheißen hatte, weil ihm hier die schauerlich größte Offenbarung seines Lebens zuteil geworden:“ sein Traumgesicht von der Himmelsleiter.13 Hier liegt „das Mutterband Himmel und Erde“, das Paradies.
Hinter der „Düne“ von Luz vermutete die theologische Wissenschaft lange das wahre Paradies in dem Genesis 10, 10 erwähnten Sinear, der Bezeichnung des Zweistromlandes. Dort ist die Ortsbeschreibung des Paradieses explizit: Von Eden ging ein Strom aus, der sich in vier Weltwasser teilte: den Pison, Gihon, Euphrat und Hiddekel. Die Auslegung versteht den Pison („durch das Inderland“) als Ganges, den Gihon („durchs Mohrenland“) als Nil, den „pfeilschnellen Hiddekel“ in Assyrien als Tigris. Für Pison und Hiddekel gibt es auch die Deutungen Araxes, der ins Kaspische, und Halys, der ins Schwarze Meer fließt. Aber alle liegen nicht eng genug in Babylonien zusammen, um aus einem Strom hervorzugehen. Nur der Euphrat ist eindeutig - und dessen beide Quellflüsse entspringen im Taurusgebirge.
Mythische und wissenschaftliche Erklärungen haben für den Tiefenforscher nur die schon vertraute Kulissenwirkung … von Vorlagerungen, die jetzt allerdings nicht mehr irdische Ereignisse wie Sintflut oder Turmbau erklärt, sondern über Irdisches hinaus ins Spirituelle lockt, wodurch der Brunnenschlund der Menschheit hier seine ganze Tiefe erweist, die keine zu messende Tiefe ist, – eine Bodenlosigkeit vielmehr, für die der Begriff Tiefe nicht mehr anwendbar ist.
Die Höllenfahrt des Tiefenforschers Thomas Mann in den Brunnen der Vergangenheit, zum Ursprung der Menschheitsgeschichte, kann nie auf den Boden dieses Brunnens gelangen. Es geht hinab, tief hinab … in den nie erloteten Brunnenschlund der Vergangenheit. Denn eine Menschheitsgeschichte beginnt mit dem ersten Menschen – und der Weg zu diesem Adam führt in das Paradies, das seinerseits „unergründlich“ ist. Die Suche nach dem Beginn alles Vergangenen kann nicht biblisch linear von Stufe zu Stufe zurück führen zu einem Ur-Beginn nach dem Nichts.
Soweit „Menschheitsgeschichte“ zu erschließen ist, haben sich die Menschen Erklärungen für Ereignisse in Mythen geschaffen, die sich seit „bodenloser“ Zeit so oder ähnlich wiederholen. Wo immer ein Mann seinen Bruder tötet, wird es zur Erinnerung an eine ewige Geschichte Kain und Abel. „Sintflut“ wurde sprichwörtlich. Das christliche Bild Gottesmutter mit dem Jesuskind erscheint vor Jahrtausenden im Alten Ägypten als Göttin Isis und Horusknabe.
Menschheitsgeschichte – Vergangenes – wird wieder Gegenwart im Fest – im Mythos.14
Denn das Wesen des Lebens ist Gegenwart, und nur in mythischer Weise stellt sein Geheimnis sich in den Zeitformen der Vergangenheit und der Zukunft dar.
In der Erzählung, im Mythos, wird altes Geschehen der Vergangenheit entrissen; es wird zeitlos. Jede Weihnacht wieder wird das welterrettende Wiegenkind zur Erde geboren, das bestimmt ist, zu leiden, zu sterben, aufzufahren.
Der Mythos macht „Es war“ zu einem „Es ist“.
Die Höllenfahrt in die Vergangenheit im Vorspiel des Joseph-Romans täuscht höchst geschickt wissenschaftlichen Anspruch vor. Aber in den Gründungslegenden der alten Kulturen ist grandioser Humor verborgen, und die biblische Überlieferung wird in typisch Thomas Mannscher Ironie bespiegelt.
„Erfinder“ der Ironie ist Sokrates. Das altgriechische εἰρωνεία (eironeia) heißt wörtlich „Verstellung, Vortäuschung“. Hinter dem Verständnis einer Sache, einer Vorstellung, eines Vorgangs versteckt sich eine andere Wahrheit, als es nach dem Buchstaben verstanden wird.
Schon der Beginn des Romans musste verdächtig erscheinen: „Höllenfahrt“. Es wird eine ganz andere „Fahrt“, als es der Leser erwartet.
„Der Zauberer“, (wie er in der Familie nach seiner Novelle Mario und der Zauberer genannt wurde), sagt es selbst: Die Suche nach dem Anfang des Menschlichen gleicht für den Forschenden dem „foppenden Spiel“ mit scheinbaren Endzielen.
Das gilt auch für den „forschenden“ Leser. Er muss das „foppende“ Spiel mitspielen und durchschauen.
1On: Wichtiges Sonnenheiligtum der Pharaonen bereits vor 3.000 v. Chr. Heutiger Name Heliopolis (griech. Sonnenstadt)
2 zweites Buch Mose, Exodus.
3Targum Pseudo Jonathan: Übersetzung der jüdischen Thora aus dem Hebräischen ins Aramäische.
4 Abb. Gilgamesch-Epos, Bibliothek des Assurbanipal in Ninive. Tafel 11: Sintflut-Erzählung. (Foto Fae).
5Etana: sumerisch-mittelassyrische Königsliste; nennt den ersten irdischen König nach der „Großen Flut“, der die 1. Dynastie von Kisch begründete.
6 Gen. 7, 10-24 und 8, 1-14. Das Alte Testament entstand zwischen 250 und 100 v.Chr.
7Platon erzählt am Ende des Dialogs Kritias den „Mythos von Atlantis“ als Untergang „vor 10.000 Jahren“. (myrioi) hat altgriechisch die Doppelbedeutung 10.000 und unendlich. Es ist ein Mythos.
8Zikkurat: .babylonisch: hoch aufragend oder Himmelshügel.
9 Die genaue Bauzeit der Pyramiden ist nicht bekannt. Es gibt Steinmetz-Zeichen (auch mit Jahreszahlen): „Wir haben jetzt 23 Jahre an dieser Pyramide gebaut“. Man rechnet bis zu 30 Jahre.
10Charran, heute Harran: türkische Provinz in Südostanatolien an der Grenze zu Syrien. Dort hatte sich der Erzvater Abraham einige Jahre aufgehalten und „Seelen gesammelt“, ehe er nach Kanaan weiter zog. (Genesis 11,31). Sein Enkel Jaakob flieht vor Esau nach Harran zu Laban.
11 Isaak (mit Rebekka): Vater von Jaakob. – Laban (Bruder von Rebekka) ist Schwager von Jaakobs Vater.
12 1. Band, 2. Hauptstück: Die Haupterhebung.
13Himmelsleiter oder Jakobsleiter, Genesis 28,11 (2. Hauptstück: Die Haupterhebung). Verbindung zwischen Erde und Himmel. Jaakob sieht Engel Gottes auf- und niedersteigen, oben steht der Herr selbst, der sich ihm als Gott Abrahams und Isaaks vorstellt und die Land- und Nachkommenverheißung erneuert. Jakob nennt den Platz „Beth El“ (Haus Gottes). – „Leiter“ ist nicht die einzig mögliche Übersetzung. Das hebräische Wort kann auch Treppe oder Rampe bedeuten. Bildvorstellung der Erzählung ist wahrscheinlich die Tempeltreppe eines altorientalischen Zikkurat (Stufentempel). Das erklärt, warum Jakob das wahre Haus Gottes gefunden zu haben glaubte.
14 altgriechisch (Mythos): „Geschichte, Erzählung“.
Jaakob
Hauptperson im ersten der vier Bücher.
Vater Josephs. Er symbolisiert das Gotteswort und steht damit im Gegensatz zu Religion, Gesellschaft und Tradition Ägyptens. Als Joseph am ägyptischen Königshof von Mut-em-enet, der Frau eines hohen Würdenträgers verführt werden soll, erscheint er vor Josephs „geistigen Auge“ und bewahrt ihn vor der Verführung. (3. Band).
Lea, Jaacobs erste Frau
Rahel, Jaakobs zweite Frau
Beide sind Töchter von Laban, dem Bruder von Jaakobs Mutter Rebekka. Die ältere Lea ist die Pflicht, Rahel ist die Geliebte und Erwählte, für die Jaakob in Bildern aus Salomons Hohelied der Liebe schwärmt, und der Thomas Mann Züge seiner Ehefrau Katja gibt.
Im Gegensatz zur lieblichen Rahel ist die ältere Lea hässlich und schielt. Sie wird Jaakob unwissentlich von ihrem Vater Laban in der Hochzeitsnacht an Stelle Rahels untergeschoben. Auf Jaakobs Beschwerde über den Betrug erhält er auch die jüngere Rahel dazu als „Doppelhochzeit“.
Lea ist außerordentlich fruchtbar. Sie schenkt Jaakob vier Söhne, in ihrer zweiten Fruchtbarkeitsperiode noch einmal zwei. Rahel dagegen wird erst nach Leas zehn Söhnen schwanger mit Joseph, neun Jahre später mit Benjamin, bei dessen Geburt sie stirbt.
Beide Frauen sind – wie der Verlust seines bevorzugten Sohnes Joseph – für Jaakob eine Prüfung, sich aus selbstgefälliger Bevorzugung zu lösen für die Pflicht. Am Ende seines Lebens verlangt er, nicht in Rahels Grab, sondern im Erbbegräbnis neben Lea bestattet zu werden.
12 Söhne Jaakobs – in der Reihenfolge ihrer Geburt:
Mutter
Lea
, Jaakobs erste Frau
Ruben, Simeon, Levi, Juda.
Mutter
Bilha
, Magd von Jaakobs zweiter Frau Rahel:
Dan, Naphtali.
Mutter
Silpa
, Magd von Jaakobs erster Frau Lea
Gad, Asser.
Mutter
Lea
, Jaakobs erste Frau
Isaakhar, Sebulun.
Mutter
Rahel
, Jaakobs zweite Frau
Joseph, Benjamin.
Außer 12 Söhnen 1 Tochter Dina (Mutter Lea).
Die zwölf Söhne sind die Stammväter der zwölf Stämme Israels.
Leas 10 Söhne erachten es als Ehre, „von Wort und Weisheit“ nichts zu verstehen. Sie versinnbildlichen Natur, Körper, das Leben.
Rahels Sohn Joseph verkörpert den Geist.
Ruben „verscherzt“ sein Erstgeburtsrecht, weil er mit Jaakobs Nebenfrau, der Magd Bilha, „gescherzt“ hat (wie der naive Knabe Joseph dem Vater verrät). Er bewundert und liebt Joseph, und will ihn sogar aus dem Brunnen retten.
Simeon und Levi sind verantwortlich für das Blutbad in Sichem (Schekem).15
Judaleidet unter der Geißel der Liebesgöttin Ischtar und kann später leicht von seiner als Hure verkleideten Schwiegertochter Thamar verführt werden,
Dan, „Schlange“ genannt, erfindet die Lüge, der verkaufte Joseph sei von einem wilden Tier zerrissen worden.
Naphtali, „der Geläufige“, ist ständig ruhelos unterwegs.
Gad, der Stämmige, und Ascher, der Vielfraß.
Nach Geburt der einzigen Tochter Dina bringt Lea „in ihrer zweiten Fruchtbarkeitsperiode“ noch zwei Söhne zur Welt:
Issakhar, der „knochige Esel“
Sebulun, der für Schiffe schwärmt.
Joseph ist Jaakobs 11. Sohn, erster mit der geliebten Rahel, sein „Dumuzi“16, der „echte“ Sohn. Benjamin, ist der 12, bei dessen Geburt Rahel stirbt.
Joseph ist anmutig mit der Lieblichkeit der Mutter, feinsinnig und gewitzt, auch raffiniert und hochmütig, „Götterliebling“ (nach eigener und Jaakobs Meinung); die Leute finden ihn „zum Vergaffen schön“. Der Erzähler sagt, es gäbe genügend Anlässe, ihn einen „unausstehlichen Bengel“ zu nennen. Er lässt keine Gelegenheit aus, seinen Brüdern mit echten und gelegentlich auch erfundenen Geschichten beim Vater zu schaden; Jaakob bevorzugt ihn in hohem Maße vor seinen anderen Söhnen.
Beides macht Joseph seinen Brüdern verhasst. Während sie hart auf dem Felde arbeiten, erzählt er den unverschämten Traum, sie alle hätten das Korn in Garben gebunden und ihre Garben hätten sich im Kreis vor der seinigen „verneigt“. Naiv hochmütig steigert er ihre Wut ins Unerträgliche, wenn er einen zweiten Traum erzählt, Sonne, Mond und Sterne hätten sich vor ihm verneigt. Sie verprügeln ihn und werfen ihn nackt in einen Brunnen.
Die Joseph-Figur hat vielfältige Bezüge. Thomas Mann selbst hat später autobiografische Hinweise gegeben auf „melancholisch psychologisierende Gefühle“ einer „verklungenen Zeit“, die ihn in Joseph „vertraut und lebenstraurig“ ansprachen.
Die faszinierend anmutige, reine Ausstrahlung von Josephs vielbeschworener „Schönheit“ erinnert an den jungen Tadzio im Tod in Venedig. Es ist ein phantasieerzeugtes Sehnsuchtsbild des Begehrens, das der Dichter sich wahrscheinlich lebenslang versagt hat.
Zur Joseph-Figur gibt es vielfältige mythologische Verbindungen:
er ist der schöne babylonische
Tammuz
17
im Adonishain
18
;
er ist der (nach den Erzählungen der Brüder angeblich) vom wilden Tier Zerrissene
19
wie der von seine Bruder Seth zerstückelte
Osiris
;
er wird in Ägypten von Mut-em-enet (Potiphars Weib) bestürmt
20
wie
Gilgamesch
von der mesopotamischen Liebesgöttin Ischtar;
er steht wie
Ödipus
vor der (ägyptischen) Sphinx;
… und er ist
Christus-Figur
, als „Lamm“ geboren von der ‚Jungfrau‘ Rahel; er fährt in die Grube und sagt
„mich dürstet“
; neben der leeren Grube, über der der
Stein weggewälzt
ist, sitzt eine
Engelsfigur
, die vom
Weizenkorn
spricht;
„Joseph ist auferstanden“ sagen die Brüder dem Vater, als sie ihn in Ägypten gefunden haben.
15 1. Band, 3. Hauptstück, Die Geschichte Dina’s.
16Dumuzi: sumerischer Hirtengott; der Name bedeutet „rechtmäßiger Sohn“.
17Tammuz: babylonischer und assyrischer Hirtengott, gilt als der Gemahl oder Geliebte von Ištar, der Göttin des sexuellen Begehrens und Kriegsgottheit. (1. Band, 3. Hauptstück).
18 2. Band, 3. Hauptstück.
19 2. Band, 7. Hauptstück
20 3. Band, 6. Hauptstück.
Titelfigur der vier Bände ist Joseph. Aber der ganze 1. Band gilt der Geschichte (den Geschichten) seines Vaters Jaakob. Es ist die Vorgeschichte zu Josephs Leben und in Rückblenden die Geschichte der Vorgänger Jaakobs: Großvater Abraham und Vater Isaak.
Außerdem wird erzählt, wie Jaakob sich den Erstgeburtssegen erschlich, dann bei seinem Onkel Laban arbeitete und schließlich zwei von dessen Töchtern (zuerst die ältere Lea, dann die eigentlich begehrte Rahel) heiratete.
Erzählt wird auch, dass Jaakob von Lea, Rahel und zwei Mägden als Nebenfrauen 12 Söhne bekommt, und den erst spät von Rahel geborenen Joseph am liebsten hat. Die Bevorzugung erzeugt bei den Brüdern tiefe Abneigung gegenüber Joseph.
Wegen Jaakobs einziger Tochter (Dina) richten zwei Söhne Leas (Schimeon und Levi) ein Blutbad unter den Bewohnern von Sichem an. Jaakob muss mit der ganzen Familie fliehen, was für die hochschwangere Rahel bei der Geburt ihres zweiten Sohnes Benjamin den Tod auf der Flucht und Bestattung in der Fremde bedeutet.
Die Ereignisse werden nicht chronologisch erzählt. In sprunghafter Reihenfolge sind Rückblenden, Vorverweise und Erzählungen Jaakobs als Zeitsprünge in die Handlung eingespiegelt. Der Roman wird quasi ständig aktualisiert und wirkt teilweise wie ein Drama.
Ischtar
Es war Jenseits der Hügel im Norden von Hebron21 so mondhell, dass man Geschriebenes hätte lesen können… und das Laubwerk einer bejahrten und mächtigen Terebinthe,22die hier einzeln stand, schimmerte versponnen.
Fast monoton wirkt der Anfang der „Geschichten Jaakobs“. In dem scheinbar belanglosen Satz von Thomas Mannscher Länge steckt die Ironie in allen Details. Der Leser weiß noch nicht, dass Hebron der Ort ist, an dem Jaakob bei seinem Vater Isaak und Großvater Abraham begraben werden wird.23 Mit Jaakobs Tod, seiner Einbalsamierung und Überführung in das Erbbegräbnis Abrahams im Lande Kanaan wird der Roman nach 2000 Seiten enden. Es ist ein heiliger Ort, und der Anfang schlägt den Bogen zum Ende.
Dieser theologisch bedeutsame Rahmen ist verbunden mit einem anzüglichen Zitat aus der Oper Der Rosenkavalier von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss.24 (Der Wagnerianer kannte auch Strauss und den Kollegen Hofmannsthal).
Charakterisiert wird die Örtlichkeit durch eine Terebinthe. Da der Baum im „Taurat“25 erwähnt ist, wird er auch „Bibel-Baum“ genannt. „Der schöne Baum war heilig.“ Wer an seinem Stamm einschlief, erhielt im Traum „Verkündigungen“; bei Brandopfern wies der Rauch die Zukunft so sicher wie der Vogelflug, und selbst „Himmelszeichen“ waren nicht selten. Über diesem Orakelbaum erstrahlt die Planetengöttin Ischtar.26 – Ein heiliger – heidnischer Ort.
Ruhm und Gegenwart
„Augen gab es hier“, die interessiert und verständig den Himmel beobachten. Sie gehörten einem Jüngling, der nahe dem heiligen Baum am Brunnen sitzt. Er hat sein Oberkleid abgelegt nd sich offenbar kultisch gewaschen und gesalbt. Um den Hals trägt er ein Amulett, auf dem Kopf einen Myrtenkranz. Andächtig schaut er auf zum Mond und breitet die Handflächen auseinander.
Der Jüngling ist ausnehmend schön; die Legende wird seinen „Strahlenkranz der Schönheit“ preisen, vor der Sonne und Mond verblassten. „Ein solcher Ruhm ist übermütig und maßlos“, sagt der Tiefenforscher, weil ihn spätere Zeiten nicht überprüfen können. Überhaupt scheint die Nase etwas zu dick, der Mund gewölbt. Aber selbst in einer Aura „hochmütiger Sinnlichkeit“ wirkt er liebenswürdig noch in seinen Fehlern. In halblautem Singsang murmelt er gebetsartig babylonische Mondnamen. Schultern, Brust und Nacken führen rotierende Bewegungen aus. Seine Hände zittern und er verdreht die Augen; Der junge Mondnarr scheint sich in einer bedenklichen Ekstase zu befinden.
Der Vater
„Joseph“ heißt der Jüngling. Dreimal ruft ihn Vater Jaakob beim Namen. Auf einen Stab gestützt nähert sich „Esau‘s vorgezogener Zwillingsbruder“27 dem Lieblingssohn, der fast nackt unter dem Orakelbaum am Brunnen sitzt und die Gestirne anbetet. Tadelnd staunt er: „Es sitzt das Kind an der Tiefe?“ und rügt: „Decke deine Blöße“.
Der Gott Abrahams und Jaakobs lebt nicht wie der babylonische in Natur und Gestirnen; der monotheistische Gott ist Geist. Joseph sitzt am Brunnen und Jaakob nennt es „die Tiefe“. Aber es ist kein „Brunnen der Vergangenheit“. (Ironie ist nicht eindeutig. Josephs Brunnen bietet ein Wasser der Reinigung, und es wird im Roman noch andere Brunnen geben.)
Der Mann Jebsche