Sherlock Holmes - Arthur Conan Doyle - E-Book

Sherlock Holmes E-Book

Arthur Conan Doyle

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Beschreibung

Der genialste Privatdetektiv der Weltliteratur ermittelt weiter – zum Vergnügen aller Leserinnen und Leser

Kein perfider Plan ist so wohl ersonnen und keine Untat so perfekt ausgeführt, als dass Sherlock Holmes dem Übeltäter nicht auf die Schliche käme. Mag ein Verbrechen auch als ein unlösbares Rätsel erscheinen, mag die englische Polizei mit ihren herkömmlichen Ermittlungsmethoden noch so sehr im Dunkeln tappen, der scharfsinnigen Beobachtungs- und Kombinationsgabe des genialen Meisterdetektivs entgeht nicht die kleinste Kleinigkeit. Und von Fall zu Fall sieht Dr. Watson, sein Freund und Assistent – und wir mit ihm –, staunend zu, wenn Sherlock Holmes den wahren Tathergang in einer dramatischen Schlussszene auflöst und den Verbrecher überführt.

Die weltberühmten Sherlock-Holmes-Geschichten amüsieren seit Generationen und zeichnen obendrein ein faszinierendes Abbild der britischen Gesellschaft an der Wende zum 20. Jahrhundert: mit ihren schirmschwingenden Gentlemen, ihren Lords und Snobs, Abenteurern und Straßenjungen. Arthur Conan Doyle schuf mit seinem unfehlbar kombinierenden Privatdetektiv eine Ikone der Weltliteratur.

PENGUIN EDITION. Zeitlos. Kultig. Bunt.

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Seitenzahl: 264

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Große Emotionen, große Dramen, große Abenteuer – von Austen bis Fitzgerald, von Flaubert bis Zweig. Ein Bücherregal ohne Klassiker ist wie eine Welt ohne Farbe.

Arthur Conan Doyle (1859–1930) war Arzt im südenglischen Southsea. 1887 erfand er die Figur des genial-exzentrischen Ermittlers Sherlock Holmes, der allein mithilfe seines überragenden Intellekts, durch genaue Beobachtung und logisches Kombinieren seine Fälle löst. Ab 1891 erschienen die Abenteuer des Meisterdetektivs als Serie im Stand Magazine, erlaubten es Doyle, fortan als freier Schriftsteller in London zu leben.

«Auch mehr als ein Jahrhundert nach ihrer Entstehung sind diese Holmes-Geschichten allerfeinste Kriminalunterhaltung.» Mannheimer Morgen

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Arthur Conan Doyle

SHERLOCK HOLMES

Erzählungen

Aus dem Englischen übersetzt von Trude Fein

Mit einem Nachwort von Andreas Fischer

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Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 1981/2024 der deutschsprachigen Ausgabe

by Manesse Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Regg Media in Adaption der traditionellen

Penguin-Classics-Triband-Optik aus England

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-32101-7V001

www.penguin-verlag.de

EIN SKANDAL IN BÖHMEN

1

Für Sherlock Holmes ist sie immer nur die Frau. Ich habe selten gehört, dass er sie mit einem anderen Namen bezeichnet hätte. In seinen Augen überstrahlt und überragt sie alle anderen Vertreterinnen ihres Geschlechts. Nicht, dass er für Irene Adler irgendetwas wie Liebe empfunden hätte. Seinem kalten, präzisen, bewundernswert ausgeglichenen Geist waren alle Gefühlsregungen und besonders diese fremd. Er war meiner Meinung nach die vollkommenste Denk- und Beobachtungsmaschine, die die Welt je gesehen hat, aber als Liebhaber wäre er falsch am Platz gewesen. Von den zarteren Gefühlen sprach er einzig mit Spott und Hohn. Für den Beobachter wären sie sehr zu begrüßen – großartig geeignet zur Entschleierung der menschlichen Beweggründe und Handlungen. Aber sie in seinen eigenen, aufs Höchste verfeinerten Geist einzulassen, das hätte für den analytisch geschulten Denker bedeutet, einen verwirrenden Faktor anzunehmen, der alle seine Denkresultate möglicherweise infrage gestellt hätte; Sand in einem Präzisionsinstrument oder ein Sprung in einer seiner haarscharfen Vergrößerungslinsen hätte nicht störender wirken können als eine heftige Gemütsbewegung in einer Natur wie der seinen. Trotzdem gab es für ihn «die einzige Frau», und diese Frau war die verstorbene Irene Adler, zweifelhaften und fragwürdigen Angedenkens.

Ich hatte in der letzten Zeit wenig von Holmes gesehen. Meine Heirat hatte bewirkt, dass wir uns sacht auseinanderlebten. Mein vollkommenes häusliches Glück und die neuartigen Interessen eines Mannes, der sich zum ersten Mal als Haupt eines eigenen Hausstandes sieht, nahmen mich ganz in Anspruch, während Holmes, dessen Bohemienseele jede Form von Gemeinschaft zutiefst verhasst war, weiterhin, unter seinen alten Schmökern vergraben, in unserer Junggesellenwohnung in der Baker Street hauste und von einer Woche zur anderen zwischen Kokain und Ehrgeiz, zwischen der einschläfernden Droge und der aufpeitschenden Energie seiner kühnen Natur hin und her getrieben wurde. Nach wie vor fesselte ihn vor allem die Erforschung von Verbrechen, und er verwandte seine gewaltigen Geisteskräfte und außerordentliche Beobachtungsgabe darauf, die Anhaltspunkte zu verfolgen und die Geheimnisse aufzuklären, die von der regulären Polizei als aussichtslos aufgegeben wurden. Von Zeit zu Zeit kam mir irgendein vager Bericht von seinem Tun und Treiben zu Ohren: seine Berufung nach Odessa im Mordfall Trepow, die Aufklärung der sensationellen Tragödie der Brüder Atkinson in Trincomalec und schließlich die delikate Mission, die er für die holländische Königsfamilie so diskret und erfolgreich ausgeführt hatte. Doch über diese Nachrichten hinaus, die ich mit sämtlichen Lesern der Tagespresse teilte, hörte ich wenig von meinem früheren Freund und Gefährten.

Als ich eines Abends – es war der 20. März 1888 – von einem Patientenbesuch zurückkehrte (denn ich hatte meine privatärztliche Praxis wieder aufgenommen), führte mich mein Weg zufällig durch die Baker Street, und als ich an der vertrauten Tür vorbeikam, deren Bild in meiner Erinnerung mit der Zeit meines Werbens und den düsteren Ereignissen der «Studie in Scharlachrot» untrennbar verknüpft war, überkam mich der heftige Wunsch, Holmes wiederzusehen und zu erfahren, womit er jetzt gerade seinen hervorragenden Verstand beschäftigte. Seine Wohnung war hell erleuchtet, und während ich dastand und hinaufschaute, sah ich seine hohe, schlanke Gestalt zweimal wie einen Schattenriss hinter dem leichten Vorhang erscheinen. Er ging mit raschen, lebhaften Schritten, den Kopf auf die Brust gesenkt und die Hände auf dem Rücken verschränkt, im Zimmer auf und ab. Seine Haltung und seine Bewegungen verkündeten mir, der ich jede seiner Stimmungen und Gewohnheiten kannte, ihre eigene Geschichte. Er war wieder an der Arbeit. Er war aus seinen von der Droge gezeugten Träumen erwacht und hatte sich auf die Fährte eines neuen Rätsels gestürzt. Ich zog an der Klingel und wurde in das Zimmer geleitet, das ich früher mit ihm geteilt hatte.

Holmes zeigte sich nicht überschwänglich – das lag nicht in seiner Art; aber ich glaube, er freute sich, mich zu sehen. Fast wortlos, aber mit liebevollem Blick, wies er mich in die Richtung eines Fauteuils, warf mir sein Zigarrenetui zu und zeigte auf das Likörschränkchen und eine Siphonflasche im Winkel. Dann blieb er vor dem Kamin stehen und musterte mich mit dem ihm eigentümlichen, nach innen gekehrten Blick.

«Der Ehestand bekommt dir», bemerkte er. «Watson, du musst, seit wir uns zuletzt sahen, mindestens siebeneinhalb Pfund zugenommen haben.»

«Sieben», entgegnete ich.

«Ich hätte es ein bisschen höher geschätzt, Watson – gerade nur eine Kleinigkeit mehr. Und du dokterst wieder, wie ich sehe. Du hattest mir ja gar nicht gesagt, dass du deine Praxis wieder aufnehmen wolltest.»

«Woher weißt du es dann?»

«Ich sehe es, ich ziehe meine Schlüsse. Woher weiß ich, dass du vor kurzer Zeit stark verregnet worden bist und dass du ein sehr ungeschicktes und nachlässiges Dienstmädchen hast?»

«Mein lieber Holmes, das geht zu weit!», rief ich. «Vor ein paar Hundert Jahren hätte man dich gewiss als Hexenmeister verbrannt! Es stimmt, dass ich Donnerstag aufs Land hinausmusste und völlig aufgeweicht nach Hause kam, aber da ich mich seither immerhin umgezogen habe, begreife ich nicht, woraus du es ersiehst. Was unsere Mary Jane betrifft, ist sie unverbesserlich, und meine Frau hat ihr bereits gekündigt, aber auch da ist mir nicht klar, woran du es merkst.»

Er rieb leise lachend seine langen, nervösen Hände.

«Nichts könnte einfacher sein», sagte er. «Meine Augen sagen mir, dass dein linker Schuh an der Innenseite, gerade wo die Flamme sie beleuchtet, sechs beinahe parallele Schnittspuren zeigt. Offenkundig hat jemand auf höchst nachlässige Weise mit einem Messer am Rand der Sohle herumgekratzt, um den Schmutz zu entfernen. Daher meine doppelte Schlussfolgerung, dass du erstens bei besonders garstigem Wetter unterwegs warst und zweitens ein besonders schlimmes Muster des Londoner schuheaufschlitzenden Dienstbotenstandes in deinem Haus beherbergst. Und was deine Praxis betrifft – wenn ein Herr meine Wohnung betritt, der nach Jodoform riecht, einen schwarzen Silbernitratfleck auf dem rechten Zeigefinger hat und dessen Zylinderhut seitlich ausgebaucht ist, damit man sieht, wo er sein Stethoskop verwahrt –, müsste ich wahrhaftig sehr dumm sein, um in ihm nicht sofort einen aktiven Vertreter des Ärztestandes zu erkennen.»

Die Leichtigkeit, mit der er seine logischen Schlussfolgerungen erklärte, brachte mich zum Lachen. «Wenn ich dich so räsonieren höre», bemerkte ich, «scheint mir das Rätsel immer so lächerlich einfach, dass ich es selber hätte lösen können; dabei stehe ich auf jeder neuen Stufe deiner Deduktion ratlos da, bis du mir dein Vorgehen erklärt hast. Schließlich sollten meine Augen ebenso gut sehen wie die deinen.»

«Das tun sie auch», erwiderte er, während er sich mit einer Zigarette im Fauteuil niederließ. «Du siehst, aber du beobachtest nicht. Der Unterschied ist klar. Du hast doch zum Beispiel oft die Stufen gesehen, die vom Hausflur in diese Wohnung führen?»

«Gewiss.»

«Wie oft wohl?»

«Viele hundert Mal, möchte ich meinen.»

«Und wie viele Stufen sind es?»

«Wie viele? Keine Ahnung!»

«Eben! Du hast sie gesehen, aber nicht beobachtet. Genau, was ich sage. Ich hingegen weiß, dass es siebzehn Stufen sind, weil ich sie nicht nur gesehen, sondern auch beobachtet habe. Übrigens, da du dich für diese kleinen Probleme interessierst und sogar so freundlich warst, ein paar von meinen unbedeutenden Erlebnissen aufzuzeichnen, könnte dich vielleicht dies hier interessieren.» Er warf mir einen kleinen Briefbogen aus starkem, rosa getöntem Büttenpapier zu, der offen auf dem Tisch lag. «Das ist mit der letzten Post gekommen», sagte er. «Bitte lies es mir vor.»

Die Notiz war undatiert und trug weder Unterschrift noch Anrede. Sie lautete folgendermaßen:

«Heute Abend, Viertel vor acht, wird ein Herr Sie aufsuchen, um Sie in einer Angelegenheit von außerordentlicher Tragweite zu konsultieren. Die Dienste, die Sie in jüngster Zeit einem der europäischen Königshäuser leisteten, haben gezeigt, dass man Sie unbesorgt mit Aufträgen von nicht zu überbietender Bedeutung betrauen kann. Dieses Zeugnis über Sie wurde uns von allen Seiten bestätigt. Seien Sie zur angegebenen Stunde zu Hause und nehmen Sie es nicht übel, dass Ihr Besucher eine Maske tragen wird.»

«Das klingt wahrhaftig geheimnisvoll genug!» rief ich. «Was, glaubst du, kann es bedeuten?»

«Ich weiß noch nichts Näheres. Es ist der größte Fehler, Theorien aufzustellen, bevor man genauere Angaben hat, denn dann beginnt man unmerklich die Tatsachen nach den Theorien zurechtzubiegen. Aber sieh den Zettel selbst an. Was schließt du daraus?»

Ich prüfte sorgfältig die Schrift und das Papier.

«Der Schreiber ist offensichtlich ein wohlhabender Mann», begann ich, im Bemühen, die Gedankengänge meines Freundes nachzuahmen. «Dieses Papier muss mindestens zweieinhalb Shilling pro Paket kosten. Es ist auffallend stark und steif.»

«Auffallend ist das richtige Wort», bemerkte Holmes. «Das ist kein englisches Papier. Halt es einmal gegen das Licht.»

Ich gehorchte und sah das Wasserzeichen: ein großes E mit einem kleinen g, ein P und ein G mit einem kleinen t.

«Nun, was bedeutet das?», fragte Holmes.

«Es ist zweifellos der Name des Herstellers oder vielmehr sein Monogramm.»

«Keineswegs. Das G mit dem kleinen t dahinter steht für das deutsche Wort ‹Gesellschaft›. Das ist eine allgemein übliche Abkürzung wie das englische ‹Co.›. P bedeutet natürlich ‹Papier›. Aber jetzt Eg. Werfen wir einen Blick auf das europäische Ortsverzeichnis.» Er nahm einen mächtigen braunen Wälzer vom Bücherregal. «Eglow, Eglonitz – da haben wir’s, Egria. Es liegt in einem deutschsprachigen Land – in Böhmen, nicht weit von Karlsbad. Hier steht es: ‹Bekannt als Todesstätte Wallensteins und durch seine zahlreichen Glas- und Papierfabriken.› Haha, mein Lieber! Was schließt du jetzt daraus?» Seine Augen funkelten, und er paffte aus seiner Zigarette eine große, blaue, triumphierende Wolke zur Decke empor.

«Das Papier wurde in Böhmen erzeugt», sagte ich.

«Genau. Und der Mann, der den Zettel geschrieben hat, ist ein Deutscher. Das merkt man an der Satzstellung. Ein Franzose oder ein Russe hätte anders geschrieben. Wir müssen also bloß noch erfahren, was dieser Deutsche will, der auf böhmischem Papier schreibt und es vorzieht, eine Maske zu tragen. Und wenn ich nicht irre, naht er bereits, um alle unsere Zweifel zu lösen.»

Noch während er sprach, war unten vor dem Haus das scharfe Geräusch von Pferdehufen und knirschenden Wagenrädern zu vernehmen, gefolgt von einem heftigen Klingelzug. Holmes stieß einen leisen Pfiff aus.

«Ein Zweiergespann, nach dem Klang zu schließen. Ja», fuhr er mit einem Blick durchs Fenster fort, «ein hübscher kleiner Brougham und zwei Prachtpferde. Einhundertfünfzig Guineen das Stück. In dem Fall steckt Geld, Watson, auch wenn sonst nichts darin steckt.»

«Dann gehe ich jetzt lieber, Holmes.»

«Keineswegs, Doktor, bleib nur schön sitzen. Ich bin ohne meinen Boswell verloren. Übrigens verspricht die Geschichte interessant zu werden, und es wäre schade, wenn du sie versäumst.»

«Aber dein Klient …»

«Lass nur. Deine Hilfe wird mir vielleicht nützlich sein – und ihm auch. Da ist er schon. Also nehmen Sie wieder Platz, Herr Doktor, und beehren Sie uns mit Ihrer Aufmerksamkeit.»

Der langsame, schwere Schritt, der auf der Treppe und im Gang zu hören gewesen, kam unmittelbar vor der Zimmertür zum Stillstand. Dann erscholl ein lautes, gebieterisches Klopfen.

«Herein!», rief Holmes.

Ein Mann von hoher Gestalt und herkulischem Körperbau trat ein. Er musste nahezu zwei Meter groß sein und war so reich gekleidet, dass es in England schon beinahe als geschmacklos gelten konnte. Sein doppelreihiger Rock war an den Ärmeln und Aufschlägen verschwenderisch mit breiten Astrachanstreifen verbrämt, während der nachtblaue Umhang, der um seine Schultern hing, mit feuerroter Seide gefüttert und am Hals mit einer Brosche, die aus einem einzigen flammenden Beryll bestand, zusammengehalten war. Die bis über die Wade reichenden Stiefel, deren Rand gleichfalls einen üppigen Pelzbesatz trug, vervollständigten den Eindruck barbarischen Reichtums, den seine ganze Erscheinung hervorrief. Er hielt einen breitkrempigen Hut in der Hand, doch der obere Teil seines Gesichts war von einer schwarzen Maske verborgen, die bis über die Backenknochen reichte; seine erhobene Hand wies darauf hin, dass er sie eben erst aufgesetzt oder zurechtgerückt hatte. Der untere Teil seiner Züge ließ auf einen Mann von starkem Charakter schließen: die volle, hängende Unterlippe und das lange, eckige Kinn zeugten für eine bis zum Starrsinn gehende Willenskraft.

«Sie haben meinen Brief erhalten?», fragte er mit tiefer, rauer Stimme und einem ausgeprägten deutschen Akzent. «Ich habe meinen Besuch angekündigt.» Dabei blickte er von einem zum anderen, da er offenbar nicht wusste, an wen er sich wenden sollte.

«Bitte nehmen Sie Platz», sagte Holmes. «Dies ist mein Freund und Kollege, Dr. Watson, der so freundlich ist, mir gelegentlich bei meinen Untersuchungen behilflich zu sein. Mit wem habe ich die Ehre?»

«Sie können mich Graf von Kramm nennen, aus Böhmen. Ich nehme an, dass Ihr Freund hier ein Mann von Ehre und Diskretion ist, dem man eine Angelegenheit von größter Tragweite anvertrauen kann, sonst würde ich es weit lieber vorziehen, mit Ihnen allein zu sprechen.»

Ich erhob mich, um zu gehen, doch Holmes packte mich am Arm und drückte mich wieder auf meinen Stuhl. «Wir beide oder keiner von uns», sagte er. «Sie können vor dem Herrn sprechen, als wären Sie mit mir allein.»

Der Graf zuckte die mächtigen Schultern. «Dann muss ich damit beginnen, Sie beide für die Dauer von zwei Jahren zu absoluter Geheimhaltung zu verpflichten. Nach diesem Zeitpunkt wird die Sache nicht mehr von Bedeutung sein. Gegenwärtig kann man ohne Übertreibung sagen, dass sie dem Verlauf der europäischen Geschichte eine andere Wendung geben könnte.»

«Ich verspreche es», sagte Holmes.

«Und ich auch.»

«Sie werden meine Maske entschuldigen», fuhr der sonderbare Besucher fort. «Die hohe Persönlichkeit, in deren Auftrag ich stehe, wünscht, dass sein Mittelsmann Ihnen unbekannt bleibt. Ich kann ebenso gut gleich gestehen, dass der Name, mit dem ich mich soeben vorstellte, nicht genau der meine ist.»

«Das war mir bewusst», warf Holmes trocken ein.

«Die Umstände dieses Falls sind äußerst heikel, und es muss jede nur erdenkliche Vorsicht geübt werden, um einer Situation vorzubeugen, die einen ungeheuren Skandal auslösen und eines der regierenden europäischen Fürstenhäuser ernstlich kompromittieren könnte. Um offen zu reden, betrifft die Sache die Dynastie Ormstein, das böhmische Königshaus.»

«Auch das wusste ich», murmelte Holmes, während er sich in seinen Fauteuil zurücklehnte und die Augen schloss.

Unser Besucher blickte einigermaßen überrascht auf die lässig hingerekelte Gestalt des Mannes, den man ihm zweifellos als den schärfsten logischen Denker und den tatkräftigsten Agenten Europas geschildert hatte. Holmes schlug langsam wieder die Augen auf und warf seinem Klienten einen ungeduldigen Blick zu.

«Wenn Ihre Majestät geruhen wollten, Ihren Fall darzulegen, wäre ich eher imstande, Sie zu beraten», bemerkte er.

Der Mann sprang von seinem Stuhl auf und durchmaß in unbezwinglicher Aufregung das Zimmer. Dann riss er mit einer Gebärde der Verzweiflung die Maske herunter und schleuderte sie zu Boden. «Sie haben es erraten, ich bin der König!», schrie er. «Warum sollte ich es zu verbergen suchen?»

«Das frage ich mich auch», versetzte Holmes. «Ihre Majestät hatte noch nicht den Mund aufgetan, als ich schon wusste, dass Wilhelm Gottsreich Sigismund von Ormstein, Großherzog von Cassel-Felstein und Erbkönig von Böhmen, vor mir steht.»

«Aber Sie verstehen doch», rief der sonderbare Besucher, während er sich wieder hinsetzte und mit der Hand über seine hohe weiße Stirn strich, «Sie verstehen doch sicherlich, dass ich nicht gewohnt bin, solche Geschäfte in eigener Person zu erledigen. Die Sache ist aber so delikat, dass ich sie keinem Mittelsmann anvertrauen kann, ohne mich in seine Macht zu begeben. Ich bin inkognito von Prag hierhergereist, mit dem einzigen Zweck, Sie zu konsultieren.»

«Dann konsultieren Sie mich bitte.» Und Holmes schloss aufs Neue die Augen.

«Kurz gesagt, verhält es sich folgendermaßen: Anlässlich eines längeren Besuchs in Warschau vor etwa fünf Jahren lernte ich die bekannte Abenteurerin Irene Adler kennen. Der Name ist Ihnen zweifellos nicht fremd.»

«Willst du bitte in meinem Index nachsehen, Watson», murmelte Holmes, ohne die Augen aufzuschlagen. Seit vielen Jahren pflegte er alle Notizen über Menschen und Ereignisse nach einem übersichtlichen System abzulegen, sodass es schwer war, eine Person oder einen Gegenstand zu nennen, worüber er nicht augenblicklich Auskunft einholen konnte. Ich fand Irene Adler zwischen einem hebräischen Rabbiner und einem Stabsoffizier, der eine Monografie über Tiefseefische verfasst hatte.

«Lass mich sehen», sagte Holmes. «Hm … Geboren in New Jersey, 1858. Opernsängerin – hm! Altstimme. Mailänder Scala – hm, hm! Primadonna an der Kaiserlichen Oper in Warschau – ha! Von der Bühne zurückgezogen – ha! Gegenwärtiger Wohnsitz London – genau! Soviel ich verstehe, haben sich Majestät mit der jungen Dame eingelassen und ihr ein paar kompromittierende Briefe geschrieben, die Sie jetzt zurückzuerlangen wünschen.»

«Genau! Aber wie …»

«Wurde eine heimliche Trauung vollzogen?»

«Nein.»

«Es existieren keinerlei amtliche Papiere oder Dokumente?»

«Nein.»

«Dann vermag ich Ihrer Majestät nicht zu folgen. Sogar wenn die junge Dame die besagten Briefe zu Erpressungs- oder sonstigen Zwecken zu veröffentlichen suchte – wie sollte sie beweisen, dass sie echt sind?»

«Sie sind in meiner Handschrift geschrieben.»

«Ach was! Das kann eine Fälschung sein.»

«Auf meinem privaten Briefpapier.»

«Gestohlen.»

«Mein persönliches Siegel.»

«Nachgemacht.»

«Meine Fotografie.»

«Gekauft.»

«Wir sind aber beide darauf zu sehen.»

«O weh! Das ist schlimm. Da haben Majestät tatsächlich eine Unvorsichtigkeit begangen.»

«Es war glatter Wahnsinn!»

«Sie haben sich schwer kompromittiert.»

«Ich war damals Kronprinz und sehr jung. Ich bin jetzt erst dreißig.»

«Sie müssen das Bild zurückerlangen, Majestät.»

«Wir haben es vergeblich versucht.»

«Sie müssen Geld hinlegen, Majestät. Es muss gekauft werden.»

«Sie will nicht verkaufen.»

«Dann muss man es stehlen.»

«Es wurden fünf Versuche unternommen. Zweimal haben Einbrecher in meinem Sold ihr Haus geplündert. Einmal haben wir ihr Reisegepäck umgeleitet, zweimal wurde sie auf der Straße überfallen. Alles ohne Erfolg.»

«Man hat keine Hinweise gefunden?»

«Absolut nichts.»

Holmes lachte. «Ein ganz nettes kleines Problem!»

«Für mich ist es sehr ernst», versetzte der König vorwurfsvoll.

«Allerdings. Und was gedenkt sie mit der Fotografie anzufangen?»

«Mich zugrunde zu richten!»

«Wieso?»

«Ich stehe im Begriff zu heiraten.»

«Ja, das habe ich gehört, Majestät.»

«Meine Braut ist die zweite Tochter des Königs von Skandinavien, Prinzessin Clotilde Lothman von Sachsen-Meiningen. Sie wissen vielleicht, welch strenge Grundsätze in dieser königlichen Familie herrschen, und meine Braut selbst ist der Inbegriff seelischer Zartheit. Der Schatten eines Zweifels an meinem Lebenswandel würde meiner Verlobung ein Ende machen.»

«Und Irene Adler …»

«Droht, die Fotografie meiner Braut zu schicken, und das wird sie auch tun. Ich weiß, dass sie es tun wird. Sie kennen sie nicht: eine Seele von Stahl, das Gesicht der allerschönsten Frau und der Charakter des kühnsten Mannes der Welt. Es gibt nichts, was sie nicht tun würde, um zu verhindern, dass ich eine andere heirate. Absolut nichts.»

«Sind Sie sicher, dass sie das Bild noch nicht abgesandt hat, Majestät?»

«Ganz sicher.»

«Wieso?»

«Weil sie gesagt hat, sie würde es an dem Tage tun, an dem die Verlobung öffentlich verkündet wird. Das soll nächsten Montag geschehen.»

«Ach, dann haben wir ja noch drei Tage Zeit», sagte Holmes gähnend. «Das ist günstig, weil ich gegenwärtig noch ein, zwei andere wichtige Angelegenheiten zu erledigen habe. Majestät werden doch vorläufig in London bleiben?»

«Gewiss. Sie finden mich im Langham Hotel, unter dem Namen Graf von Kramm.»

«Dann werde ich Ihnen ein paar Worte schreiben, um Sie von unseren Fortschritten zu unterrichten.»

«Bitte tun Sie das. Ich bin in größter Spannung.»

«Und was die Kosten betrifft …»

«Sie haben carte blanche.»

«Unbeschränkt?»

«Ich würde eine Provinz meines Königreichs darum geben, mir das Bild zu verschaffen.»

«Die augenblicklichen Spesen …»

Der König zog einen schweren Wildlederbeutel unter seinem Rock hervor und stellte ihn auf den Tisch.

«Hier sind dreihundert Pfund Sterling in Gold und siebenhundert in Banknoten», sagte er.

Holmes kritzelte eine Quittung auf ein Blatt aus seinem Notizbuch, das er ihm überreichte.

«Jetzt noch die Adresse von Mademoiselle.»

«Briony Lodge, Serpentine Avenue, St. John’s Wood.»

Holmes notierte es. «Eine letzte Frage», sagte er. «Ist die Fotografie im Kabinettsformat?»

«Jawohl.»

«Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht, Majestät, und hoffe, dass wir bald gute Nachrichten für Sie haben werden. – Gute Nacht, Watson», wiederholte er, während die Räder des königlichen Broughams die Straße hinunterrollten. «Wenn du so freundlich bist, morgen um drei Uhr nachmittags vorbeizukommen, würde ich diese Kleinigkeit gern mit dir besprechen.»

2

Am nächsten Tag stellte ich mich pünktlich um drei in der Baker Street ein, doch Holmes war noch nicht da. Die Vermieterin berichtete mir, dass er das Haus kurz nach acht Uhr morgens verlassen hatte. Ich setzte mich ans Feuer, mit der Absicht, auf ihn zu warten, wie lange es auch dauern mochte. Ich war an dem neuen Fall bereits stark interessiert. Obwohl er keine der seltsamen und furchtbaren Eigentümlichkeiten aufwies, die für die beiden hier bereits aufgezeichneten Verbrechen typisch waren, schien er doch durch seine besondere Natur wie auch durch die hohe Stellung des Klienten bemerkenswert. Übrigens lag, ganz abgesehen vom Charakter der einzelnen Fälle, die mein Freund jeweils untersuchte, etwas so Faszinierendes in seiner meisterhaften Erfassung der Situation und kühnen Logik, dass es mir ein Vergnügen war, seine Arbeitsmethoden zu beobachten und die raschen, subtilen Schlüsse zu verfolgen, mit deren Hilfe er die verwickeltsten Rätsel entwirrte. Ich war dermaßen an seinen unweigerlichen Erfolg gewöhnt, dass die Möglichkeit eines Fehlschlags mir gar nicht mehr in den Sinn kam.

Es war nicht weit von vier, als die Tür aufgerissen wurde und ein stark angeheiterter Reitknecht mit ungekämmtem Haar und Backenbärtchen, gerötetem Gesicht und unreputierlichen Kleidern ins Zimmer trat. So gut ich auch die verblüffende Verkleidungskunst meines Freundes kannte, musste ich doch dreimal hinsehen, bevor ich seiner Identität ganz sicher war. Er verschwand mit einem kurzen Kopfnicken im Schlafzimmer, um nach fünf Minuten, respektabel wie eh und je, in seinem korrekten Tweedanzug wieder zu erscheinen. Die Hände in den Taschen, ließ er sich mit ausgestreckten Beinen vor dem Feuer nieder und lachte ein paar Minuten lang aus voller Seele.

«So etwas!», rief er, vor Lachen fast erstickend. Dann lachte er weiter, bis er ganz matt und erschöpft in seinem Stuhl lag.

«Was ist denn los?»

«Es ist gar zu komisch. Wetten, dass du nicht erraten kannst, wie ich den Vormittag verbracht habe und womit es geendet hat?»

«Ich nehme an, du hast die Gewohnheiten und vielleicht das Haus von Miss Irene Adler einer näheren Beobachtung unterzogen?»

«Richtig, aber die Fortsetzung der Geschichte war ziemlich ungewöhnlich. Ich will sie dir erzählen. Also heute früh, kurz nach acht, verließ ich das Haus in der Rolle eines arbeitslosen Stallknechts. Unter Leuten, die mit Pferden zu tun haben, herrscht eine ganz wunderbare Sympathie und Brüderlichkeit. Du brauchst dich nur als einer der Ihren zu erkennen zu geben, dann erfährst du alles, was es zu erfahren gibt. Briony Lodge war bald gefunden – ein Bijou von einer Villa, ein Stockwerk hoch. Hinter dem Haus liegt ein Garten, aber die Vorderfront geht unmittelbar auf die Straße hinaus. Sicherheitsschloss an der Eingangstür. Rechts ein großer Salon, reizend eingerichtet, mit hohen, beinahe bis zum Fußboden reichenden Fenstern und den absurden englischen Fensterriegeln, die jedes Kind von außen öffnen kann. Auf der Rückseite nichts Besonderes, bis darauf, dass das Treppenfenster vom Dach der Wagenremise aus zu erreichen ist. Ich ging rundherum und sah mir alles aus der Nähe an, ohne aber etwas Interessantes zu entdecken.

Dann bummelte ich die Straße hinunter und fand, wie ich es erwartet hatte, in dem schmalen Gässchen, das an der hinteren Gartenmauer entlangläuft, einen Reitstall. Ich half den Reitknechten ein bisschen beim Striegeln und erhielt dafür Twopence, ein Glas Ale and Porter, zwei Pfeifen Tabak und massenhaft Informationen über Miss Adler, ganz zu schweigen von einem halben Dutzend anderer Leute aus der Nachbarschaft, deren Lebensgeschichte ich zu hören bekam, obwohl sie mich nicht im Geringsten interessiert.»

«Und was ist mit Irene Adler?»

«Ach, die hat sämtlichen Männern der Umgegend den Kopf verdreht. Das süßeste Geschöpf in Weiberröcken, dem man auf dieser Erde begegnen kann, das behaupten die Serpentine-Stallknechte einstimmig. Manchmal tritt sie in einem Konzert auf, doch im Allgemeinen lebt sie sehr zurückgezogen, fährt täglich um fünf Uhr nachmittags aus und kommt Punkt sieben heim. Zu anderen Tageszeiten pflegt sie fast nie auszugehen. Sieht bloß einen männlichen Besucher bei sich, aber den sehr oft. Er ist dunkel, stattlich und hochelegant, kommt jeden Tag mindestens einmal, häufig zweimal. Mr. Godfrey Norton, Inner Temple. Das, mein lieber Watson, sind die Vorteile, wenn man sich von Kutschern informieren lässt. Sie hatten ihn Dutzende Male von der Serpentine Avenue in seine Wohnung gefahren und wussten alles über ihn. Nachdem ich mir das, was sie zu berichten hatten, angehört hatte, schlenderte ich wieder in der Nachbarschaft der Villa herum und legte mir meine Schlachtpläne zurecht.

Dieser Godfrey Norton war offenkundig ein wichtiger Faktor in dem Fall. Ein Rechtsanwalt. Das klang ominös. Was für eine Beziehung bestand zwischen ihnen, und was war der Zweck seiner häufigen Besuche? War sie seine Klientin, seine Freundin oder seine Mätresse? Im ersten Fall hatte sie ihm vermutlich das Bild in Verwahrung gegeben, im letzten war das wenig wahrscheinlich. Von der Antwort auf diese Frage hing es ab, ob ich meine Tätigkeit in der Nähe der Briony Lodge fortsetzen oder mich eher der Wohnung des Gentleman im Temple widmen sollte. Ein heikler Punkt, der das Feld meiner Untersuchung ausdehnte. Ich fürchte, ich langweile dich mit diesen Details, mein lieber Watson, aber ich muss dir meine kleinen Schwierigkeiten begreiflich machen, sonst kannst du die Situation nicht verstehen.»

«Ich höre mit der größten Aufmerksamkeit zu», versicherte ich.

«Ich war noch dabei, die Sache nach allen Seiten hin zu erwägen, als eine Mietdroschke vor der Villa vorfuhr, der ein Herr entstieg. Er sah bemerkenswert gut aus – brünett, Adlernase, buschiger dunkler Schnurrbart –, ganz offenkundig der Mann, von dem ich gehört hatte. Er schien in höchster Eile zu sein, befahl dem Kutscher mit lauter Stimme, zu warten, und stürmte an dem Stubenmädchen, das ihm die Tür öffnete, vorbei wie ein Mann, der sich ganz daheim fühlt.

Er blieb etwa eine halbe Stunde im Haus. Durch die Salonfenster erhaschte ich ab und zu einen Blick, wie er unter lebhaftem Reden und Gestikulieren aufgeregt auf und ab lief. Von ihr konnte ich nichts sehen. Schließlich kam er wieder heraus, anscheinend in noch größerer Hast als früher. Als er in den Wagen sprang, zog er eine goldene Uhr aus der Tasche und sah sie besorgt an. ‹Fahren Sie wie der Teufel!›, schrie er dem Kutscher zu. ‹Zuerst zu Gross & Hankey in der Regent Street und dann zur St. Monica Church, Edgware Road. Eine halbe Guinee, wenn Sie’s in zwanzig Minuten schaffen!›

Sie fuhren los, und ich überlegte gerade, ob ich folgen sollte, als ein hübscher kleiner Landauer aus der Seitengasse auftauchte, der Kutscher mit halb zugeknöpftem Rock und der Krawatte unter dem Ohr, während die Enden und Schlaufen des Zaumzeugs wild und unordentlich aus den Schnallen herausstanden. Er hielt noch kaum, als sie aus dem Haus stürzte und in den Wagen sprang. Ich erhaschte gerade nur einen Blick auf sie, aber sie ist eine entzückende Frau mit einem Gesicht, für das ein Mann wohl in den Tod gehen könnte.

‹Zur St. Monica Church, Georges!›, rief sie dem Kutscher zu. ‹Und einen halben Sovereign, wenn Sie’s in zwanzig Minuten schaffen!›

Das konnte ich mir nicht entgehen lassen, Watson. Ich fragte mich gerade, ob ich hinten auf den Landauer aufspringen oder einen kleinen Dauerlauf veranstalten sollte, als eine Mietdroschke des Weges kam. Der Kutscher zog ein Gesicht, als er den schäbigen Fahrgast sah, doch ich sprang hinein, bevor er etwas sagen konnte. ‹Zur St. Monica Church!›, rief ich. ‹Und einen halben Sovereign, wenn Sie’s in zwanzig Minuten schaffen!› Es fehlten noch fünfundzwanzig Minuten bis zwei, und natürlich war es klar wie der Tag, was da im Winde lag.

Mein Kutscher machte seine Sache gut. Ich glaube, ich bin nie im Leben schneller gefahren, aber die anderen waren vor mir da. Als ich ausstieg, sah ich die Droschke und den Landauer mit dampfenden Pferden vor dem Kirchentor stehen. Ich bezahlte und eilte in die Kirche. Drinnen war keine Seele, außer den beiden, denen ich gefolgt war, und einem Pfarrer im Chorrock, der Einwände zu machen schien. Sie standen alle drei dicht gedrängt vor dem Altar und verhandelten etwas. Ich schlenderte durch den Seitengang, wie ein müßiger Spaziergänger, der im Vorbeigehen in eine Kirche eintritt. Zu meinem Erstaunen wandten sich die drei plötzlich nach mir um, und dann kam Godfrey Norton, so schnell er konnte, auf mich zugelaufen.

‹Gott sei Dank!›, rief er. ‹Sie tun es! Kommen Sie schnell!›

‹Was’n los?›, fragte ich.

‹Kommen Sie, guter Mann, schnell! Nur drei Minuten, sonst ist es nicht gesetzlich!›

Ich wurde zum Altar hingezogen, und eh ich recht wusste, wie mir war, hörte ich mich Antworten nachmurmeln, die mir ins Ohr geflüstert wurden, für Dinge bürgen, von denen ich keine Ahnung hatte, und allgemein mithelfen, die ledige Jungfrau Irene Adler und den unvermählten Junggesellen Godfrey Norton unlösbar aneinanderzubinden, bis dass der Tod sie scheiden würde. Es war im Handumdrehen getan, dann dankte mir der Herr von links und die Dame von rechts, während der Pfarrer vor mir mich strahlend anlächelte. Nie im Leben habe ich mich in einer absurderen Lage befunden! Es war die Erinnerung daran, die mich jetzt eben zum Lachen brachte. Soviel ich verstand, gab es irgendeinen Formfehler in ihrer Heiratslizenz, und der Pfarrer hatte sich nachdrücklich geweigert, sie ohne einen Zeugen zu trauen; mein Auftreten im kritischen Augenblick rettete den Bräutigam vor der peinlichen Situation, sich draußen auf der Straße nach einem Trauzeugen umsehen zu müssen. Die Braut schenkte mir einen Sovereign, den ich zur Erinnerung an diesen Tag an meiner Uhrkette zu tragen gedenke.»

«Das ist tatsächlich eine unerwartete Wendung!», rief ich. «Wie ging es weiter?»

«Ja, ich fand meine Pläne ernstlich gefährdet. Es sah aus, als wollte das junge Paar unverzüglich abreisen, und das hätte außerordentlich energische und prompte Maßnahmen meinerseits erfordert. Zu meiner Erleichterung trennten sie sich aber vor dem Kirchentor. Er fuhr zum Temple zurück und sie nach Hause. ‹Ich werde heut um fünf im Park sein, wie immer›, sagte sie ihm beim Abschied. Mehr hörte ich nicht. Sie fuhren in verschiedene Richtungen, und ich eilte davon, meine eigenen Maßnahmen zu treffen.»

«Und die bestehen …?»

«Aus kaltem Braten und einem Glas Bier», erwiderte er, während er klingelte. «Ich hatte zu viel zu tun, um ans Essen zu denken, und werde heute Abend vermutlich noch mehr zu tun haben. Dazu brauche ich übrigens deine Mitarbeit, mein lieber Watson.»

«Es wird mir ein Vergnügen sein.»

«Es macht dir doch nichts aus, gegen das Gesetz zu verstoßen?»

«Nicht das Geringste.»

«Allenfalls eine Verhaftung zu riskieren?»

«Nicht im Dienst einer guten Sache.»

«Oh, die Sache ist ausgezeichnet!»

«Dann stehe ich dir zur Verfügung.»

«Ich wusste, dass ich auf dich zählen könnte.»

«Also, was habe ich zu tun?»