Sherlock Holmes - Arthur Conan Doyle - E-Book

Sherlock Holmes E-Book

Arthur Conan Doyle

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Beschreibung

Alle Geschichten und Romane - Illustriert und kommentiert Über 400 Zeichnungen Wie kann man Sherlock Holmes nicht kennen? Den berühmtesten Detektiv der Geschichte, der mit seinem messerscharfen Verstand und seiner Ermittlungsart als Vorlage für fast alle kriminalistischen Nachfolger diente. Hier lernen Sie das lesenswerte Original kennen. Dieser Band beinhaltet alle 56 Geschichten und 4 Romane, die Doyle über Sherlock Holmes geschrieben hat. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 3221

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Arthur Conan Doyle

Sherlock Holmes

Alle Geschichten und Romane - Illustriert und kommentiert

Arthur Conan Doyle

Sherlock Holmes

Alle Geschichten und Romane - Illustriert und kommentiert

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]: Jürgen Schulze 4. Auflage, ISBN 978-3-954187-58-4

null-papier.de/angebote

Inhaltsverzeichnis

Vor­wort des Ver­le­gers

Edi­to­ri­sche An­mer­kun­gen

Ar­thur Co­nan Doy­le & Sher­lock Hol­mes

Ro­ma­ne

Eine Stu­die in Schar­lach­rot

Das Zei­chen der Vier

Der Hund von Bas­ker­ville

Das Tal des Grau­ens

Ge­schich­ten

Ein Skan­dal in Böh­men

Der Bund der Rot­haa­ri­gen

Ein Fall ge­schick­ter Täu­schung

Der Mord im Tale von Bos­com­be

Fünf Ap­fel­si­nen­ker­ne

Der Mann mit der Schram­me

Die Ge­schich­te des blau­en Kar­fun­kels

Das ge­spren­kel­te Band

Der Dau­men des In­ge­nieurs

Der ad­li­ge Jung­ge­sel­le

Die Be­ryll-Kro­ne

Die Blut­bu­chen

Sil­ber­strahl

Die Papp­schach­tel

Das gel­be Ge­sicht

Eine son­der­ba­re An­stel­lung

Sein ers­ter Fall

Der Ka­te­chis­mus der Fa­mi­lie Mus­gra­ve

Die Guts­her­ren von Rei­ga­te

Der Krüp­pel

Der Dok­tor und sein Pa­ti­ent

Der grie­chi­sche Dol­met­scher

Der Ma­ri­ne­ver­trag

Sein letz­ter Fall

Im lee­ren Hau­se

Der Bau­meis­ter von Nor­wood

Die tan­zen­den Männ­chen

Die ein­sa­me Rad­fah­re­rin

Die Ent­füh­rung aus der Klos­ter­schu­le

Der schwar­ze Pe­ter

Charles Au­gus­tus Mil­ver­ton

Die sechs Na­po­leon­büs­ten

Die drei Stu­den­ten

Der gol­de­ne Zwi­cker

Der ver­schol­le­ne Three-Quar­ter

Der Mord in Ab­bey Gran­ge

Der zwei­te Blut­fle­cken

Das Ge­heim­nis der Vil­la Wis­te­ria

Der rote Kreis

Das Ver­schwin­den der Lady Fran­ces Car­fax

Die ge­stoh­le­nen Zeich­nun­gen

Der ster­ben­de Sher­lock Hol­mes

Das Aben­teu­er mit dem Teu­fels­fuß

Sei­ne Ab­schieds­vor­stel­lung

Der Ma­za­rin-Stein

Die Thor-Brücke

Der Mann mit dem ge­duck­ten Gang

Der Vam­pir von Sus­sex

Die drei Gar­ri­debs

Der il­lus­t­re Kli­ent

Die Drei Gie­bel

Der er­bleich­te Sol­dat

Des Lö­wen Mäh­ne

Der Far­ben­händ­ler im Ru­he­stand

Die ver­schlei­er­te Mie­te­rin

Shos­com­be Old Place

In­dex

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr Jür­gen Schul­ze

Kri­mis bei Null Pa­pier

Der Frau­en­mör­der

Eine De­tek­ti­vin

Hem­mungs­los

Der Mann, der zu viel wuss­te

Noch mehr De­tek­tiv­ge­schich­ten

Sher­lock Hol­mes – Samm­lung

Eine Kri­mi­nal­ge­schich­te & Das graue Haus in der Rue Ri­che­lieu

Der Dop­pel­mord in der Rue Morgue

In­di­sche Kri­mi­na­ler­zäh­lun­gen

Kri­mi­nal­ge­schich­ten

und wei­te­re …

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Vorwort des Verlegers

Lie­be Le­ser, 5 Jah­re nun schon exis­tiert der Null Pa­pier Ver­lag –– ein Er­folg, auch dank ih­nen. Es ist Zeit, da­von et­was zu­rück­zu­ge­ben; da­her die­se Ju­bi­lä­ums­aus­ga­be der ge­sam­mel­ten Sher­lock-Hol­mes-Wer­ke.

Viel Spaß mit dem be­kann­tes­ten De­tek­tiv der Welt.

Ihr

Jür­gen Schul­ze, re­dak­tion@­null-pa­pier.de

PS. Als Ein-Mann-Ver­le­ger in­ves­tie­re ich in die Qua­li­tät mei­ner Ver­öf­fent­li­chun­gen und nicht in Wer­bung. Wenn Sie mich un­ter­stüt­zen möch­ten, schaf­fen Sie es am bes­ten durch eine po­si­ti­ve Be­wer­tung. Und wenn es mal et­was zu kri­ti­sie­ren gibt, dann schrei­ben Sie mir doch bit­te di­rekt, so er­hal­ten Sie am schnells­ten eine Re­ak­ti­on.

Editorische Anmerkungen

Die­ses Buch ba­siert auf den Er­st­über­set­zun­gen ins Deut­sche. Ich habe be­wusst dar­auf ver­zich­tet, es in die Neue Deut­sche Recht­schrei­bung (von 2006) zu über­tra­gen. Ein »Te­le­gra­phen­amt« wird nicht zum »Te­le­gra­fen­amt«, die »Phan­ta­sie« wird nicht zur »Fan­ta­sie« und das »daß« nicht zum »dass«.

Der Text wur­de nicht ge­än­dert, aber an meh­re­ren Stel­len be­hut­sam an­ge­passt. Ich habe ver­sucht, bei wirk­lich nicht mehr ge­bräuch­li­chen Wör­tern Er­satz zu fin­den. War das nicht mög­lich, muss­te eine er­klä­ren­de Fuß­no­te her­hal­ten.

Ei­ni­ge der Ge­schich­ten wur­den bei der deut­schen Erst­ver­öf­fent­li­chung zu­sätz­lich in eine nicht der Vor­la­ge ent­spre­chen­den Rah­men­hand­lung ge­packt, die im Nach­hin­ein und im Kon­trast zu den an­de­ren Ge­schich­ten ir­ri­tie­rend wirkt. Dies habe ich im Ein­klang mit dem eng­li­schen Ori­gi­nal kor­ri­giert. Dazu muss­ten meh­re­re Pas­sa­gen kom­plett neu über­setzt wer­den.

Die Ge­schich­te »Sei­ne letz­te Vor­stel­lung« ist von mir selbst über­setzt wor­den. Die­se Ge­schich­te ist auch die Ein­zi­ge im Hol­mes-Ka­non, die im Ori­gi­nal in der 3. Per­son er­zählt wird.

Die Ge­schich­te »Die Blut­bu­chen« wur­de ur­sprüng­lich fälsch­li­cher­wei­se eben­falls in die 3. Per­son über­setzt, das habe ich rück­gän­gig ge­macht.

Die Ge­schich­ten sind in der Rei­hen­fol­ge der Ver­öf­fent­li­chung auf­ge­lis­tet und ent­spre­chen nicht der Rei­hen­fol­ge der Hand­lun­gen. Das tut der Le­se­freu­de kei­nen Ab­bruch, da Doy­le dar­auf ge­ach­tet hat, dass für das Ver­ste­hen kein Vor­wis­sen be­nö­tigt wird. Sie dür­fen die Ge­schich­ten also in ih­rer ei­ge­nen Rei­hen­fol­ge le­sen.

Arthur Conan Doyle & Sherlock Holmes

Wo­mög­lich wäre die Li­te­ra­tur heu­te um eine ih­rer schil­lernds­ten De­tek­tiv­ge­stal­ten är­mer, wür­de der am 22. Mai 1859 in Edin­bur­gh ge­bo­re­ne Ar­thur Igna­ti­us Co­nan Doy­le nicht aus­ge­rech­net an der me­di­zi­ni­schen Fa­kul­tät der Uni­ver­si­tät sei­ner Hei­mat­stadt stu­die­ren. Hier näm­lich lehrt der spä­ter als Vor­rei­ter der Fo­ren­sik gel­ten­de Chir­urg Jo­seph Bell. Die Metho­dik des Do­zen­ten, sei­ne Züge und sei­ne ha­ge­re Ge­stalt wird der an­ge­hen­de Au­tor für den der­einst be­rühm­tes­ten De­tek­tiv der Kri­mi­nal­li­te­ra­tur über­neh­men.

Ge­burt und Tod des Hol­mes

Der ers­te Ro­man des seit 1883 in South­sea prak­ti­zie­ren­den Arz­tes teilt das Schick­sal zahl­lo­ser Erst­lin­ge –– er bleibt un­voll­en­det in der Schub­la­de. Erst 1887 be­tritt Sher­lock Hol­mes die Büh­ne, als »Eine Stu­die in Schar­lach­rot« er­scheint. Nach­dem Co­nan Doy­le im Ma­ga­zin The Strand sei­ne Hol­mes-Epi­so­den ver­öf­fent­li­chen darf, ist er als er­folg­rei­cher Au­tor zu be­zeich­nen. The Strand er­öff­net die Rei­he mit »Ein Skan­dal in Böh­men«. Im Jahr 1890 zieht der Schrift­stel­ler nach Lon­don, wo er ein Jahr dar­auf, dank sei­nes li­te­ra­ri­schen Schaf­fens, be­reits sei­ne Fa­mi­lie er­näh­ren kann; seit 1885 ist er mit Loui­se Hawkins ver­hei­ra­tet, die ihm einen Sohn und eine Toch­ter schenkt.

Gin­ge es aus­schließ­lich nach den Le­sern, wäre dem küh­len De­tek­tiv und sei­nem schnauz­bär­ti­gen Mit­be­woh­ner ewi­ges Le­ben be­schie­den. Die Aben­teu­er der bei­den Freun­de neh­men frei­lich, wie ihr Schöp­fer meint, zu viel Zeit in An­spruch; der Au­tor möch­te his­to­ri­sche Ro­ma­ne ver­fas­sen. Des­halb stürzt er 1893 in »Sein letz­ter Fall« so­wohl den De­tek­tiv als auch des­sen Wi­der­sa­cher Mo­ri­ar­ty in die Rei­chen­bach­fäl­le. Die Pro­tes­te der ent­täusch­ten Le­ser­schaft fruch­ten nicht –– Hol­mes ist tot.

Die Wie­der­au­fer­ste­hung des Hol­mes

Ob­wohl sich der Schrift­stel­ler mitt­ler­wei­le der Ver­gan­gen­heit und dem Mys­ti­zis­mus wid­met, bleibt sein In­ter­es­se an Po­li­tik und rea­len Her­aus­for­de­run­gen doch un­ge­bro­chen. Den Zwei­ten Bu­ren­krieg er­lebt Co­nan Doy­le seit 1896 an der Front in Süd­afri­ka. Aus sei­nen Ein­drücken und po­li­ti­schen An­sich­ten re­sul­tie­ren zwei nach 1900 pu­bli­zier­te pro­pa­gan­dis­ti­sche Wer­ke, wo­für ihn Queen Vic­to­ria zum Rit­ter schlägt.

Eben zu je­ner Zeit weilt Sir Ar­thur zur Er­ho­lung in Nor­folk, was Hol­mes zu neu­en Ehren ver­hel­fen wird. Der Li­te­rat hört dort von ei­nem Geis­ter­hund, der in Dart­moor eine Fa­mi­lie ver­fol­gen soll. Um das Mys­te­ri­um auf­zu­klä­ren, re­ani­miert Co­nan Doy­le sei­nen ex­zen­tri­schen Ana­ly­ti­ker: 1903 er­scheint »Der Hund der Bas­ker­vil­les«. Zeit­lich noch vor dem Tod des De­tek­tivs in der Schweiz an­ge­sie­delt, er­fährt das Buch enor­men Zu­spruch, wes­halb der Au­tor das Ge­nie 1905 in »Das lee­re Haus« end­gül­tig wie­der­be­lebt.

Das un­wi­der­ruf­li­che Ende des Hol­mes

Nach dem Tod sei­ner ers­ten Frau im Jahr 1906 und der Hei­rat mit der, wie Co­nan Doy­le glaubt, me­di­al be­gab­ten Jean Le­ckie be­fasst sich der Pri­vat­mann mit Spi­ri­tis­mus. Sein li­te­ra­ri­sches Schaf­fen kon­zen­triert sich zu­neh­mend auf Zu­kunfts­ro­ma­ne, de­ren be­kann­tes­ter Pro­tago­nist der Ex­zen­tri­ker Pro­fes­sor Chal­len­ger ist. Als po­pu­lärs­ter Chal­len­ger-Ro­man gilt die 1912 ver­öf­fent­lich­te und be­reits 1925 ver­film­te Ge­schich­te »Die ver­ges­se­ne Welt«, die Co­nan Doy­le zu ei­nem Witz ver­hilft: Der durch­aus schlitz­oh­ri­ge Schrift­stel­ler zeigt im klei­nen Kreis ei­ner Spi­ri­tis­ten­sit­zung Film­auf­nah­men ver­meint­lich le­ben­der Sau­ri­er, ohne zu er­wäh­nen, dass es sich um Ma­te­ri­al der ers­ten Ro­man­ver­fil­mung han­delt.

Die spä­te Freund­schaft des Li­te­ra­ten mit Hou­di­ni zer­bricht am Spi­ri­tis­mus-Streit, denn der un­char­man­te Zau­ber­künst­ler ent­larvt zahl­rei­che Be­trü­ger, wäh­rend der Schrift­stel­ler von der Exis­tenz des Über­na­tür­li­chen über­zeugt ist. Co­nan Doy­les Geis­ter­glau­be er­hält Auf­trieb, als sein äl­tes­ter Sohn Kings­ley wäh­rend des Ers­ten Welt­kriegs an der Front fällt.

Noch bis 1927 be­dient der Au­tor das Pub­li­kum mit Kurz­ge­schich­ten um Hol­mes und Wat­son; zu­letzt er­scheint »Das Buch der Fäl­le«. Als Sir Ar­thur Co­nan Doy­le am 7. Juli 1930 stirbt, trau­ern Fa­mi­lie und Le­ser­schaft glei­cher­ma­ßen, denn dies­mal ist Hol­mes wirk­lich tot.

Von der Be­deu­tung ei­nes Ge­schöp­fes

Oder viel­mehr ist Hol­mes ein ewi­ger Wie­der­gän­ger, der im Ge­dächt­nis des Pub­li­kums fort­lebt. Nicht we­ni­ge Le­ser hiel­ten und hal­ten den De­tek­tiv für eine exis­ten­te Per­son, was nicht zu­letzt Co­nan Doy­les er­zäh­le­ri­schem Ge­schick und dem Rea­li­täts­be­zug der Ge­schich­ten zu ver­dan­ken sein dürf­te. Tat­säch­lich kam man im 20. Jahr­hun­dert dem Be­dürf­nis nach et­was Hand­fes­tem nach, in­dem ein Haus in der Lon­do­ner Ba­ker Street die Num­mer 221 b er­hielt. Dort be­fin­det sich das Sher­lock-Hol­mes-Mu­se­um.

Co­nan Doy­les zeit­ge­nös­si­scher Schrift­stel­ler­kol­le­ge Gil­bert Keith Che­s­ter­ton, geis­ti­ger Va­ter des kri­mi­na­lis­ti­schen Pa­ter Brown, brach­te das li­te­ra­ri­sche Ver­dienst sei­nes Lands­manns auf den Punkt: Sinn­ge­mäß sag­te er, dass es nie bes­se­re De­tek­tiv­ge­schich­ten ge­ge­ben habe und dass Hol­mes mög­li­cher­wei­se die ein­zi­ge volks­tüm­li­che Le­gen­de der Mo­der­ne sei, de­ren Ur­he­ber man gleich­wohl nie ge­nug ge­dankt habe.

Dass der De­tek­tiv sein sons­ti­ges Schaf­fen der­ma­ßen über­la­gern konn­te, war Co­nan Doy­le selbst nie­mals recht. Er hielt sei­ne his­to­ri­schen, po­li­ti­schen und spä­ter sei­ne mys­ti­zis­tisch-spi­ri­tis­ti­schen Ar­bei­ten für wert­vol­ler, wäh­rend die Kurz­ge­schich­ten dem blo­ßen Brot­er­werb dienten. Ver­mut­lich über­sah er bei der Selb­st­ein­schät­zung sei­ner ver­meint­li­chen Tri­vi­al­li­te­ra­tur de­ren enor­me Wir­kung, die weit über ih­ren ho­hen Un­ter­hal­tungs­wert hin­aus­ging.

So wie Jo­seph Bell, Co­nan Doy­les Do­zent an der Uni­ver­si­tät, durch prä­zi­se Beo­b­ach­tung auf die Er­kran­kun­gen sei­ner Pa­ti­en­ten schlie­ßen konn­te, soll­te Sher­lock Hol­mes an Kri­mi­nal­fäl­le her­an­ge­hen, die so­wohl sei­nen Kli­en­ten als auch der Po­li­zei un­er­klär­lich schie­nen. Bells streng wis­sen­schaft­li­ches Vor­ge­hen stand Pate für De­duk­ti­on und fo­ren­si­sche Metho­dik in den vier Ro­ma­nen und 56 Kurz­ge­schich­ten um den ha­ge­ren Gent­le­man-De­tek­tiv. Pro­fes­sor Bell be­riet die Po­li­zei bei der Ver­bre­chensauf­klä­rung, ohne in den of­fi­zi­el­len Be­rich­ten oder in den Zei­tun­gen er­wähnt wer­den zu wol­len. Die Ähn­lich­keit zu Hol­mes ist au­gen­fäl­lig. Wirk­lich war in den Ge­schich­ten die Fik­ti­on der Rea­li­tät vor­aus, denn wis­sen­schaft­li­che Ar­beits­wei­se, ge­naue Ta­tort­un­ter­su­chung und ana­ly­tisch-ra­tio­na­les Vor­ge­hen wa­ren der Kri­mi­na­lis­tik je­ner Tage neu. Man ur­teil­te nach Au­gen­schein und ent­warf Theo­ri­en, wo­bei die Be­weis­füh­rung nicht er­geb­ni­sof­fen ge­führt wur­de, son­dern le­dig­lich jene Theo­ri­en be­le­gen soll­te. Zwei­fel­los hat die Po­pu­la­ri­tät der Er­leb­nis­se von Hol­mes und Wat­son den Auf­stieg der rea­len Fo­ren­sik in der Ver­bre­chensauf­klä­rung un­ter­stützt.

Ein wei­te­rer in­ter­essan­ter Aspekt der Er­zäh­lun­gen be­trifft Co­nan Doy­les Nei­gung, sei­ne ei­ge­nen An­sich­ten ein­zu­ar­bei­ten. Zwar be­vor­zug­te er zu die­sem Zweck an­de­re Schaf­fens­zwei­ge, aber es fin­den sich ge­sell­schaft­li­che und mo­ra­li­sche Mei­nun­gen, wenn Hol­mes etwa Ver­bre­cher ent­kom­men lässt, weil er meint, dass eine Tat ge­recht ge­we­sen oder je­mand be­reits durch sein Schick­sal ge­nug ge­straft sei. Ge­le­gent­lich ist da­bei fest­zu­stel­len, dass er An­ge­hö­ri­ge nied­ri­ger Stän­de gleich­gül­ti­ger be­han­delt als die Ver­tre­ter der »gu­ten Ge­sell­schaft«.

Fik­ti­ve Bio­gra­fi­en des De­tek­tivs, Büh­nen­stücke, Ver­fil­mun­gen und zahl­lo­se Nach­ah­mun­gen, dar­un­ter nicht sel­ten Sa­ti­ren, von de­nen Co­nan Doy­le mit »Wie Wat­son den Trick lern­te« 1923 selbst eine ver­fass­te, kün­den von der un­ge­bro­che­nen Be­liebt­heit des kri­mi­na­lis­ti­schen Duos, ohne das die Welt­li­te­ra­tur we­ni­ger span­nend wäre.

Romane

Eine Studie in Scharlachrot

»A Stu­dy in Scar­let«, 1887

Ü­ber­set­zung: Mar­ga­re­te Ja­co­bi

Aus Watsons Erinnerungen

Erstes Kapitel –– Sherlock Holmes

Im Jah­re 1878 hat­te ich mein Dok­tor­ex­amen an der Lon­do­ner Uni­ver­si­tät be­stan­den und in Nel­ley den für Mi­li­tärärz­te vor­ge­schrie­be­nen me­di­zi­ni­schen Kur­sus durch­ge­macht. Bald dar­auf ward ich dem fünf­ten Fü­si­lier­re­gi­ment Nor­thum­ber­land zu­ge­teilt, wel­ches da­mals in In­di­en stand. Be­vor ich je­doch an den Ort mei­ner Be­stim­mung ge­lang­te, brach der zwei­te af­gha­ni­sche Krieg aus, und bei mei­ner Lan­dung in Bom­bay er­fuhr ich, mein Re­gi­ment sei be­reits durch die Ge­birgspäs­se mar­schiert und weit in Fein­des­land vor­ge­drun­gen. In Ge­sell­schaft meh­re­rer Of­fi­zie­re, die sich in glei­cher Lage be­fan­den, folg­te ich mei­nem Korps, er­reich­te das­sel­be glück­lich in Kan­da­har und trat in mei­ne neue Stel­lung ein.

Der Feld­zug, in wel­chem an­de­re Ehre und Aus­zeich­nun­gen fan­den, brach­te mir in­des­sen nur Un­glück und Mi­ßer­folg. Gleich in der ers­ten Schlacht zer­schmet­ter­te mir eine Ku­gel das Schul­ter­blatt und ich wäre si­cher­lich den grau­sa­men Gha­zis1 in die Hän­de ge­fal­len, hät­te mich nicht Mur­ray, mein treu­er Bur­sche, rasch auf ein Pack­pferd ge­wor­fen und mit ei­ge­ner Le­bens­ge­fahr mit sich ge­führt, bis wir die bri­ti­sche Schlacht­li­nie er­reich­ten.

Lan­ge lag ich krank, und erst nach­dem ich mit ei­ner großen An­zahl ver­wun­de­ter Of­fi­zie­re in das Ho­spi­tal von Pes­ha­war ge­schafft wor­den war, er­hol­te ich mich all­mäh­lich von den aus­ge­stan­de­nen Lei­den; ich war be­reits wie­der so weit, daß ich in den Kran­ken­sä­len um­her­ge­hen und auf der Ve­ran­da fri­sche Luft schöp­fen durf­te. Da be­fiel mich un­glück­li­cher­wei­se ein Ent­zün­dungs­fie­ber und zwar mit sol­cher Hef­tig­keit, daß man mo­na­te­lang an mei­nem Wie­der­auf­kom­men zwei­fel­te. Als end­lich die Macht der Krank­heit ge­bro­chen war und mein Be­wußt­sein zu­rück­kehr­te, be­fand ich mich in sol­chem Zu­stand der Kraft­lo­sig­keit, daß die Ärz­te be­schlos­sen, mich ohne Zeit­ver­lust wie­der nach Eng­land zu schi­cken. Ei­nen Mo­nat spä­ter lan­de­te ich mit dem Trup­pen­schiff ›Oron­tes‹ in Ports­mouth; mei­ne Ge­sund­heit war völ­lig zer­rüt­tet, doch er­laub­te mir eine für­sorg­li­che Re­gie­rung, wäh­rend der nächs­ten neun Mo­na­te den Ver­such zu ma­chen, sie wie­der­her­zu­stel­len.

Ver­wand­te be­saß ich in Eng­land nicht; ich be­schloß da­her, mich in ei­nem Pri­va­tho­tel ein­zu­quar­tie­ren. Mein täg­li­ches Ein­kom­men be­lief sich auf elf und einen hal­b­en Schil­ling und da ich zu­erst nicht sehr haus­häl­te­risch da­mit um­ging, mach­ten mir mei­ne Finan­zen bald große Sor­ge. Ich sah ein, daß ich ent­we­der aufs Land zie­hen oder mei­ne Le­bens­wei­se in der Haupt­stadt völ­lig än­dern müs­se.

Da ich letz­te­res vor­zog, sah ich mich ge­nö­tigt, das Ho­tel zu ver­las­sen und mir eine an­spruchs­lo­se­re und we­ni­ger kost­spie­li­ge Woh­nung zu su­chen.

Wäh­rend ich noch hier­mit be­schäf­tigt war, be­geg­ne­te ich ei­nes Ta­ges auf der Stra­ße ei­nem mir be­kann­ten Ge­sicht, ein höchst er­freu­li­cher An­blick für einen ein­sa­men Men­schen wie mich in der Rie­sen­stadt Lon­don. Ich hat­te mit dem jun­gen Stam­ford wäh­rend mei­ner Stu­di­en­zeit ver­kehrt, ohne daß wir ein­an­der be­son­ders nahe ge­tre­ten wa­ren, jetzt aber be­grüß­te ich ihn mit Ent­zücken, und auch er schi­en sich über das Wie­der­se­hen zu freu­en. Bald sa­ßen wir in ei­ner na­hen Re­stau­ra­ti­on zu­sam­men bei ei­nem Gla­se Wein und tausch­ten un­se­re Er­leb­nis­se aus.

»Was in al­ler Welt ist denn mit dir ge­sche­hen, Wat­son?«, frag­te Stam­ford ver­wun­dert, »du siehst braun aus wie eine Nuß und bist so dürr wie eine Boh­nen­stan­ge.«

Ich gab ihm einen kur­z­en Abriß mei­ner Aben­teu­er und er hör­te mir teil­neh­mend zu.

»Ar­mer Kerl«, sag­te er mit­lei­dig, »und was ge­denkst du jetzt zu tun?«

»Ich bin auf der Woh­nungs­su­che«, ver­setz­te ich, »es gilt die Auf­ga­be zu lö­sen, mir um bil­li­gen Preis ein be­hag­li­ches Quar­tier zu ver­schaf­fen.«

»Wie son­der­bar«, rief Stam­ford, »du bist der zwei­te Mensch, der heu­te ge­gen mich die­se Äu­ße­rung tut.«

»Und wer war der ers­te?«

»Ein Be­kann­ter von mir, der in dem che­mi­schen La­bo­ra­to­ri­um des Ho­spi­tals ar­bei­tet. Er klag­te mir die­sen Mor­gen sein Leid, daß er nie­mand fin­den kön­ne, um mit ihm ge­mein­sam ein sehr preis­wür­di­ges, hüb­sches Quar­tier zu mie­ten, das für sei­nen Beu­tel al­lein zu kost­spie­lig sei.«

»Mei­ner Treu«, rief ich, »wenn er Lust hat, die Kos­ten der Woh­nung zu tei­len, so bin ich sein Mann. Ich wür­de weit lie­ber mit ei­nem Ge­fähr­ten zu­sam­men­zie­hen, statt ganz al­lein zu hau­sen.«

Stam­ford sah mich über sein Wein­glas hin­weg mit be­deut­sa­men Bli­cken an. »Wer weiß, ob du Sher­lock Hol­mes zum Stu­ben­ge­nos­sen wäh­len wür­dest, wenn du ihn kenn­test«, sag­te er.

»Ist denn ir­gend et­was an ihm aus­zu­set­zen?«

»Das will ich nicht be­haup­ten. Er hat in man­cher Hin­sicht ei­gen­tüm­li­che An­schau­un­gen und schwärmt für die Wis­sen­schaft. Im üb­ri­gen ist er ein höchst an­stän­di­ger Mensch, so­viel ich weiß.«

»Ein Me­di­zi­ner ver­mut­lich?«

»Nein –– ich habe kei­ne Ah­nung, was er ei­gent­lich treibt. In der Ana­to­mie ist er gut be­wan­dert und ein vor­züg­li­cher Che­mi­ker. Aber mei­nes Wis­sens hat er nie re­gel­recht Me­di­zin stu­diert. Er ist über­haupt ziem­lich über­spannt und un­me­tho­disch in sei­nen Stu­di­en, doch be­sitzt er auf ver­schie­de­nen Ge­bie­ten eine Men­ge un­ge­wöhn­li­cher Kennt­nis­se, um die ihn man­cher Pro­fes­sor be­nei­den könn­te.«

»Hast du ihn nie nach sei­nem Be­ruf ge­fragt?«

»Nein –– er ist kein Mensch, der sich leicht aus­fra­gen läßt; doch kann er zu­wei­len sehr mit­teil­sam sein, wenn ihm ge­ra­de da­nach zu Mute ist.«

»Ich möch­te ihn doch ken­nen ler­nen«, sag­te ich, »ein Mensch, der sich mit Vor­lie­be in sei­ne Stu­di­en ver­tieft, wäre für mich der an­ge­nehms­te Ge­fähr­te. Bei mei­nem schwa­chen Ge­sund­heits­zu­stand kann ich we­der Lärm noch Auf­re­gung ver­tra­gen. Ich habe bei­des in Af­gha­nis­tan so reich­lich ge­nos­sen, daß ich für mei­ne Le­bens­zeit ge­nug dar­an habe. Bit­te, sage mir, wo ich dei­nen Freund tref­fen kann.«

»Ver­mut­lich ist er jetzt noch im La­bo­ra­to­ri­um. Manch­mal läßt er sich dort wo­chen­lang nicht se­hen und zu an­de­ren Zei­ten bleibt er wie­der von früh bis spät bei der Ar­beit. Wenn es dir recht ist, su­chen wir ihn zu­sam­men auf.«

Ich wil­lig­te mit Freu­den ein und wir mach­ten uns so­gleich auf den Weg nach dem Ho­spi­tal.

»Du darfst mir aber kei­ne Vor­wür­fe ma­chen, wenn ihr nicht mit­ein­an­der aus­kommt«, sag­te Stam­ford, als wir in die Drosch­ke stie­gen, »ich möch­te dir we­der zu- noch ab­ra­ten.«

»Wenn wir nicht zu ein­an­der pas­sen, kön­nen wir uns ja leicht wie­der tren­nen. Dei­ne Vor­sicht scheint mir fast über­trie­ben, es muß noch et­was an­de­res da­hin­ter ste­cken. Heraus mit der Spra­che, was hast du ge­gen den Men­schen ein­zu­wen­den?«

»Nichts, gar nichts; er ist nur nach mei­nem Ge­schmack sei­ner Wis­sen­schaft all­zu­sehr er­ge­ben. –– Das grenzt schon an Ge­fühl­lo­sig­keit. Ich hal­te es nicht für un­denk­bar, daß er ei­nem gu­ten Freun­de eine Prie­se des neues­ten ve­ge­ta­bi­li­schen Al­ka­lo­ids ein­ge­ben wür­de –– nicht etwa aus Bos­heit, nein, aus For­schungs­trieb –– um die Wir­kung ge­nau zu be­ob­ach­ten. Eben­so gern wür­de er frei­lich die Pro­be an sich sel­ber ma­chen, die Ge­rech­tig­keit muß man ihm wi­der­fah­ren las­sen. Über­haupt ist Klar­heit und Ge­nau­ig­keit des Wis­sens sei­ne größ­te Lei­den­schaft; aber zu wel­chem Zweck er alle sei­ne Stu­di­en be­treibt, weiß der lie­be Him­mel.«

Vor dem Ho­spi­tal an­ge­kom­men, stie­gen wir aus, gin­gen ein Gäß­chen hin­un­ter und tra­ten durch eine Tür in den Ne­ben­flü­gel des weit­läu­fi­gen Ge­bäu­des. Hier war mir al­les wohl be­kannt und ich brauch­te kei­nen Füh­rer mehr. Es ging die kah­le Stein­trep­pe hin­auf, durch den lan­gen, weiß­ge­tünch­ten Kor­ri­dor, mit den Tü­ren auf bei­den Sei­ten, an den sich der nied­ri­ge Bo­gen­gang an­schloß, wel­cher nach dem che­mi­schen La­bo­ra­to­ri­um führ­te.

In dem großen Saal, den wir be­tra­ten, wa­ren sämt­li­che Ti­sche mit Re­tor­ten, Rea­genz­glä­sern und klei­nen Wein­geist­lam­pen be­setzt, wäh­rend rings an den Wän­den und über­haupt, wo­hin man blick­te, Fla­schen von al­len Grö­ßen und For­men um­her­stan­den. Wir dach­ten zu­erst, der Raum sei leer, bis wir an dem an­dern Ende einen jun­gen Mann ge­wahr­ten, der, in sei­ne Beo­b­ach­tun­gen ver­sun­ken, über einen Tisch ge­beugt da­saß. Beim Schall un­se­rer Fuß­trit­te blick­te er von sei­nem Ex­pe­ri­ment auf und sprang mit ei­nem Freu­den­ruf in die Höhe. »Vic­to­ria, Vic­to­ria«, ju­bel­te er, und kam uns, mit der Re­tor­te in der Hand, ent­ge­gen. »Ich habe das Rea­genz ge­fun­den, das sich mit Hä­mo­glo­bin zu ei­nem Nie­der­schlag ver­bin­det und sonst mit kei­nem Stoff.«

Er sah so glück­strah­lend aus, als hät­te er eine Gold­mi­ne ent­deckt.

»Mein Freund, Dok­tor Wat­son –– Herr Sher­lock Hol­mes«, sag­te Stam­ford uns ein­an­der vor­stel­lend.

»Sehr er­freut, Ihre Be­kannt­schaft zu ma­chen«, er­wi­der­te Hol­mes in herz­li­chem Ton und mit kräf­ti­gem Hän­de­druck. »Sie kom­men aus Af­gha­nis­tan, wie ich sehe.«

Ich blick­te ihn ver­wun­dert an. »Wie­so wis­sen Sie denn das?«

»O, das tut nichts zur Sa­che«, rief er, sich ver­gnügt die Hän­de rei­bend, »ich den­ke jetzt nur an Hä­mo­glo­bin. Si­cher­lich wer­den Sie die Trag­wei­te mei­ner Er­fin­dung be­grei­fen.«

»Es mag wohl als che­mi­sches Ex­pe­ri­ment sehr in­ter­essant sein, aber für die Pra­xis ––«

»Gera­de in der Pra­xis ist es von größ­ter Wich­tig­keit für die Ge­richt­sche­mie, weil es dazu dient, das et­wai­ge Vor­han­den­sein von Blut­fle­cken zu be­wei­sen. –– Bit­te, kom­men Sie doch ein­mal her.« In sei­nem Ei­fer er­griff er mei­nen Rock­är­mel und zog mich nach dem Ti­sche hin, an wel­chem er ex­pe­ri­men­tiert hat­te. »Wir müs­sen et­was fri­sches Blut ha­ben«, sag­te er und stach sich mit ei­ner großen Stopf­na­del in den Fin­ger, wor­auf er das her­ab­trop­fen­de Blut in ei­nem Sau­g­röhr­chen auf­fing. »Jetzt mi­sche ich die­se klei­ne Blut­men­ge mit ei­nem Li­ter Was­ser –– das Ver­hält­nis ist etwa wie eins zu ei­ner Mil­li­on –– und die Flüs­sig­keit sieht ganz aus wie rei­nes Was­ser. Trotz­dem wird sich, den­ke ich, die ge­wünsch­te Re­ak­ti­on her­stel­len las­sen.« Er hat­te, wäh­rend er sprach, ei­ni­ge wei­ße Kris­tal­le in das Ge­fäß ge­wor­fen und goß jetzt noch meh­re­re Trop­fen ei­ner durch­sich­ti­gen Flüs­sig­keit hin­zu. So­fort nahm das Was­ser eine dunkle Fär­bung an und ein bräun­li­cher Nie­der­schlag er­schi­en auf dem Bo­den des Gla­ses.

»Se­hen Sie«, rief er und klatsch­te in die Hän­de, wie ein Kind vor Freu­de über ein neu­es Spiel­zeug. »Was sa­gen Sie dazu?«

»Es scheint mir ein sehr ge­lun­ge­nes Ex­pe­ri­ment.«

»Wun­der­voll, wun­der­voll! Die alte Metho­de, die Pro­be mit Gua­ja­cum2 an­zu­stel­len, war sehr um­ständ­lich und un­si­cher, die mi­kro­sko­pi­sche Un­ter­su­chung der Blut­kü­gel­chen aber ist wert­los, so­bald die Fle­cken ein paar Stun­den alt sind. Mei­ne Er­fin­dung wird sich da­ge­gen eben­so gut bei al­tem wie bei fri­schem Blut be­wäh­ren. Wäre sie schon frü­her ge­macht wor­den, so hät­te man Hun­der­te von Ver­bre­chern zur Re­chen­schaft zie­hen kön­nen, die straf­los da­von­ge­kom­men sind.«

»Mei­nen Sie wirk­lich?«

»Ohne Fra­ge. Bei der Kri­mi­nal­jus­tiz dreht sich ja meist al­les um die­sen einen Punkt. Vi­el­leicht Mo­na­te, nach­dem die Mis­se­tat be­gan­gen ist, fällt der Ver­dacht auf einen Men­schen, man un­ter­sucht sei­ne Klei­der und fin­det brau­ne Fle­cke am Rock oder in der Wä­sche. Das kön­nen Blut­spu­ren sein, aber auch Rost­fle­cke, Obst­fle­cke oder Schmutz­fle­cke. Man­cher Sach­ver­stän­di­ge hat sich dar­über schon den Kopf zer­bro­chen und zwar bloß, weil es an ei­ner zu­ver­läs­si­gen Be­weis­me­tho­de fehl­te. Nun man aber das Sher­lock Hol­mes­sche Mit­tel be­sitzt, ist jede Schwie­rig­keit be­sei­tigt.«

Sei­ne Au­gen fun­kel­ten, wäh­rend er sprach, er leg­te die Hand aufs Herz und mach­te eine fei­er­li­che Ver­beu­gung, als sähe er sich im Geist ei­ner Bei­fall klat­schen­den Men­ge ge­gen­über.

»Da kann man Ih­nen ja Glück wün­schen«, sag­te ich, ver­wun­dert über sei­nen Feuerei­fer.

»Hät­te man die Pro­be schon letz­tes Jahr an­stel­len kön­nen«, fuhr er fort, »es wäre dem Ma­son aus Brad­ford si­cher­lich an den Hals ge­gan­gen; auch der be­rüch­tig­te Mül­ler, so­wie Le­fe­vre aus Mont­pel­lier und Sam­son aus New-Or­leans wä­ren über­führt wor­den. Ich könn­te Ih­nen Dut­zen­de von Fäl­len nen­nen, bei de­nen mei­ne Er­fin­dung den Aus­schlag ge­ge­ben hät­te.«

»Sie schei­nen ja ein wan­deln­der Ver­bre­cheral­ma­nach zu sein«, mein­te Stam­ford la­chend, »schrei­ben Sie doch ein Buch über Kri­mi­nal­sta­tis­tik.«

»Das möch­te wohl des Le­sens wert sein«, er­wi­der­te Hol­mes, der sich eben ein Pflas­ter auf den ver­wun­de­ten Fin­ger kleb­te. »Ich muß sehr vor­sich­tig sein«, füg­te er er­klä­rend hin­zu, »denn ich ma­che mir viel mit Gif­ten zu schaf­fen.« Als er die Hand in die Höhe hielt, sah ich, daß sie an vie­len Stel­len be­pflas­tert war und von schar­fen Säu­ren ge­färbt.

»Wir kom­men in Ge­schäf­ten«, sag­te Stam­ford, und schob mir einen drei­bei­ni­gen Sche­mel zum Sit­zen hin, wäh­rend er eben­falls Platz nahm. »Mein Freund hier sucht eine Woh­nung, und da Sie gern mit je­mand zu­sam­men­zie­hen möch­ten, dach­te ich, es wäre Ih­nen viel­leicht bei­den ge­hol­fen.« Sher­lock Hol­mes ging mit Freu­den auf den Vor­schlag ein. »Ich habe ein Auge des Wohl­ge­fal­lens auf ein Quar­tier in der Ba­ker Street ge­wor­fen, das vor­treff­lich für uns pas­sen wür­de«, sag­te er. »Sie ha­ben doch nicht etwa eine Ab­nei­gung ge­gen Ta­baks­dampf?«

»O nein, ich bin selbst ein star­ker Rau­cher.«

»Das trifft sich gut. Fer­ner habe ich häu­fig Che­mi­ka­li­en bei mir her­um­ste­hen, die ich zu mei­nen Ex­pe­ri­men­ten brau­che. Wür­de Sie das be­läs­ti­gen?«

»Durchaus nicht.«

»War­ten Sie –– was habe ich sonst noch für Feh­ler? Manch­mal be­kom­me ich An­fäl­le von Schwer­mut und tue dann ta­ge­lang den Mund nicht auf. Sie müs­sen mir das nicht übel neh­men. Küm­mern Sie sich nur dann gar nicht um mich, und die An­wand­lung wird bald vor­über sein. So –– nun ist die Rei­he an Ih­nen, mir Be­kennt­nis­se zu ma­chen. Wenn zwei Men­schen zu­sam­men le­ben wol­len, ist es gut, wenn sie im vor­aus wis­sen, was sie von ein­an­der zu er­war­ten ha­ben.«

Ich muß­te über die­se Ge­ne­ral­beich­te la­chen. »Ich hal­te mir einen jun­gen Bul­len­bei­ßer«3 ge­stand ich, »und kann kei­nen Lärm ver­tra­gen, weil mei­ne Ner­ven an­ge­grif­fen sind; auch schla­fe ich oft in den Tag hin­ein und bin über­haupt sehr trä­ge. In ge­sun­den Zei­ten fröh­ne ich noch Las­tern an­de­rer Art, aber für jetzt sind dies die haupt­säch­lichs­ten.«

»Wür­den Sie un­ter ›Lär­m‹ auch das Spie­len auf ei­ner Vio­li­ne ver­ste­hen?«, frag­te er be­sorgt.

»Das kommt auf den Mu­si­ker an. Gu­tes Vio­lin­spiel ist ein Ge­nuß für Göt­ter –– aber schlech­tes ––«

»Frei­lich, frei­lich«, rief er ver­gnügt. »Nun, ich den­ke, die Sa­che ist ab­ge­macht –– das heißt, wenn Ih­nen das Quar­tier ge­fällt.«

»Wann kön­nen wir es be­sich­ti­gen?«

»Ho­len Sie mich mor­gen mit­tag hier ab, dann ge­hen wir zu­sam­men hin und brin­gen gleich al­les ins rei­ne.«

»Sehr wohl, also Punkt zwölf Uhr«, sag­te ich, ihm zum Ab­schied die Hand schüt­telnd.

Wir lie­ßen ihn dort bei sei­nen Che­mi­ka­li­en und gin­gen nach mei­nem Ho­tel zu­rück. »Er­klä­ren Sie mir nur«, wand­te ich mich, plötz­lich ste­hend blei­bend, an Stam­ford, »was ihn auf die Idee ge­bracht ha­ben kann, daß ich aus Af­gha­nis­tan kom­me?«

Mein Ge­fähr­te lach­te ge­heim­nis­voll. »Schon man­cher hat gern wis­sen wol­len, wie Sher­lock Hol­mes ge­wis­se Din­ge aus­fin­dig macht. Er be­sitzt eben eine be­son­de­re Gabe.«

»Aha, es steckt ein Rät­sel da­hin­ter«, rief ich be­lus­tigt, »das ist ja höchst in­ter­essant. Ich bin dir sehr ver­bun­den für die neue Be­kannt­schaft. Das bes­te Stu­di­um für den Men­schen bleibt ja doch im­mer der Mensch.«

»Stu­die­re ihn nur«, ent­geg­ne­te Stam­ford. »Du wirst da­bei man­che Nuß zu knacken fin­den. Ich wet­te dar­auf, er kennt dich bald bes­ser als du ihn.«

An der nächs­ten Stra­ßen­e­cke ver­ab­schie­de­ten wir uns und ich schlen­der­te al­lein nach Hau­se.

Zweites Kapitel –– Die Kunst der Schlußfolgerung

Un­se­re ver­ab­re­de­te Be­sich­ti­gung des Quar­tiers in der Ba­ker Street Nr. 221b fand am nächs­ten Tage statt. Es ge­fiel mir au­ßer­or­dent­lich; das große, luf­ti­ge Wohn­zim­mer, wel­ches sich an zwei be­hag­li­che Schlaf­stu­ben an­schloß, war freund­lich mö­bliert und sehr hell, da es sein Licht durch zwei große Fens­ter er­hielt. Un­ter uns bei­de ge­teilt, er­schi­en auch der Preis der Woh­nung so ge­ring, daß wir sie auf der Stel­le mie­te­ten und so­gleich ein­zu­zie­hen be­schlos­sen. Noch am sel­ben Abend ließ ich mei­ne Be­sitz­tü­mer vom Ho­tel hin­über­schaf­fen und Sher­lock Hol­mes folg­te bald dar­auf mit ver­schie­de­nen Kof­fern und Rei­se­ta­schen. In den ers­ten Ta­gen wa­ren wir eif­rig be­schäf­tigt, aus­zu­pa­cken und un­se­re Sa­chen auf das vor­teil­haf­tes­te un­ter­zu­brin­gen. Als dann die Ein­rich­tung fer­tig war, be­gan­nen wir uns in Ruhe an un­se­re neue Um­ge­bung zu ge­wöh­nen.

Hol­mes war ein Mensch, mit dem sich leicht le­ben ließ, von stil­lem We­sen und re­gel­mä­ßig in sei­nen Ge­wohn­hei­ten. Sel­ten blieb er abends nach zehn Uhr auf, und wenn ich mor­gens zum Vor­schein kam, hat­te er im­mer schon ge­früh­stückt und war aus­ge­gan­gen. Den Tag über war er meist im che­mi­schen La­bo­ra­to­ri­um oder im Se­zier­saal, zu­wei­len mach­te er auch wei­te Aus­flü­ge, wel­che ihn bis in die ver­ru­fens­ten Ge­gen­den der Stadt zu füh­ren schie­nen. Sei­ne Tat­kraft war un­ver­wüst­lich, so lan­ge die Ar­beits­wut bei ihm dau­er­te; von Zeit zu Zeit trat je­doch ein Rück­schlag ein, dann lag er den gan­zen Tag im Wohn­zim­mer auf dem Sofa, fast ohne ein Glied zu rüh­ren oder ein Wort zu re­den. Da­bei nah­men sei­ne Au­gen einen so traum­haf­ten, ver­schwom­me­nen Aus­druck an, daß si­cher der Ver­dacht in mir auf­ge­stie­gen wäre, er müs­se ir­gend­ein Be­täu­bungs­mit­tel ge­brau­chen, hät­te nicht sei­ne Mä­ßig­keit und Nüch­tern­heit im ge­wöhn­li­chen Le­ben die­se An­nah­me völ­lig aus­ge­schlos­sen.

Nach den ers­ten Wo­chen un­se­res Bei­sam­men­seins war mein In­ter­es­se für ihn und der Wunsch zu er­grün­den, wel­che Zwe­cke er ei­gent­lich ver­folg­te, in ho­hem Maße ge­stie­gen. Schon sei­ne äu­ße­re Er­schei­nung fiel un­ge­mein auf. Er war über sechs Fuß4 groß und sehr ha­ger; sein scharf­kan­tig vor­ste­hen­des Kinn drück­te Fes­tig­keit des Cha­rak­ters aus, der Blick sei­ner Au­gen war leb­haft und durch­drin­gend, au­ßer in den schon er­wähn­ten Zei­ten völ­li­ger Er­schlaf­fung, und eine spit­ze Ha­bichts­na­se gab sei­nem Ge­sicht et­was Auf­ge­weck­tes und Ent­schlos­se­nes. Die Hän­de schon­te er nicht, sie tru­gen fort­wäh­rend Spu­ren von Tin­ten und Che­mi­ka­li­en, auch hat­te ich oft Ge­le­gen­heit, sei­ne große Ge­schick­lich­keit bei al­len Hand­grif­fen zu be­wun­dern, wenn er mit sei­nen fei­nen phy­si­ka­li­schen In­stru­men­ten ex­pe­ri­men­tier­te.

Kein Wun­der, daß mei­ne Neu­gier in ho­hem Gra­de rege war und ich im­mer wie­der ver­such­te, die stren­ge Zu­rück­hal­tung zu durch­bre­chen, die er in al­lem be­ob­ach­te­te, was ihn selbst be­traf. Das Ge­heim­nis, wel­ches mei­nen Ge­fähr­ten um­gab, be­schäf­tig­te mich um so mehr, als mein ei­ge­nes Le­ben da­mals völ­lig zweck- und ziel­los war und we­ni­ge Zer­streu­un­gen bot. Mein Ge­sund­heits­zu­stand er­laub­te mir nur bei be­son­ders güns­ti­ger Wit­te­rung aus­zu­ge­hen, und Freun­de, die mich hät­ten be­su­chen kön­nen, um et­was Ab­wechs­lung in mein ein­för­mi­ges Da­sein zu brin­gen, be­saß ich nicht.

Daß Hol­mes nicht Me­di­zin stu­die­re, wuß­te ich aus sei­nem ei­ge­nen Mun­de. Auch schi­en er kei­nen be­stimm­ten Kur­sus in ir­gend­ei­ner an­dern Wis­sen­schaft durch­ge­macht zu ha­ben, der ihm auf her­kömm­li­che Wei­se die Ein­gangs­pfor­te in die Ge­lehr­ten­welt ge­öff­net hät­te. Trotz­dem ver­folg­te er ge­wis­se Stu­di­en mit wah­rem Feuerei­fer und be­saß in­ner­halb ih­rer Gren­zen ein so aus­ge­dehn­tes und um­fas­sen­des Wis­sen, daß er mich oft sehr da­durch über­rasch­te. –– War es denk­bar, daß ein Mensch so an­ge­strengt ar­bei­te­te, sich so ge­nau zu un­ter­rich­ten such­te, ohne einen be­stimm­ten Zweck vor Au­gen zu ha­ben? –– Ein plan­lo­ses Stu­di­um ist meist auch ober­fläch­lich, und wer sich den Kopf mit hun­der­ter­lei Ein­zel­hei­ten an­füllt, tut dies schwer­lich ohne einen trif­ti­gen Grund.

Merk­wür­di­ger­wei­se war sei­ne Un­wis­sen­heit auf man­chen Ge­bie­ten eben­so er­staun­lich, als sei­ne Kennt­nis­se in an­de­ren Fä­chern. Von Astro­no­mie und Phi­lo­so­phie z.B. wuß­te er so viel wie gar nichts. Muß­te es mir schon auf­fal­len, als er sag­te, er habe noch nie et­was von Tho­mas Car­ly­le5 ge­le­sen, so er­reich­te mei­ne Ver­wun­de­rung doch den Gip­fel­punkt, als sich zu­fäl­lig her­aus­stell­te, daß er sich über un­ser Son­nen­sys­tem ganz falsche Vor­stel­lun­gen mach­te. Wie in un­se­rem neun­zehn­ten Jahr­hun­dert ir­gend­ein zi­vi­li­sier­tes mensch­li­ches We­sen dar­über im un­kla­ren sein kann, daß die Erde sich um die Son­ne dreht, war mir völ­lig un­be­greif­lich.

»Setzt Sie das in Er­stau­nen?«, frag­te er lä­chelnd. »Nun da Sie es mir ge­sagt ha­ben, wer­de ich su­chen, es so schnell wie mög­lich wie­der zu ver­ges­sen.«

»Es zu ver­ges­sen?!«

»Ja. –– Se­hen Sie, mei­ner An­sicht nach gleicht ein Men­schen­hirn ur­sprüng­lich ei­ner lee­ren Dach­kam­mer, die man nach ei­ge­ner Wahl mit Mö­beln und Gerä­ten aus­stat­ten kann. Nur ein Tor füllt sie mit al­ler­lei Ge­rüm­pel an, wie es ihm ge­ra­de in den Weg kommt und ver­sperrt sich da­mit den Raum, wel­chen er für die Din­ge braucht, die ihm nütz­lich sind. Ein Ver­stän­di­ger gibt wohl acht, was er in sei­ne Hirn­kam­mer ein­schach­telt. Er be­schränkt sich auf die Werk­zeu­ge, de­ren er bei der Ar­beit be­darf, aber von die­sen schafft er sich eine große Aus­wahl an und hält sie in bes­ter Ord­nung. Es ist ein Irr­tum, wenn man denkt, die klei­ne Kam­mer habe dehn­ba­re Wän­de und kön­ne sich nach Be­lie­ben aus­wei­ten. Glau­ben Sie mir, es kommt eine Zeit, da wir für al­les Neu­hin­zu­ge­lern­te et­was von dem ver­ges­sen, was wir frü­her ge­wußt ha­ben. Da­her ist es von höchs­ter Wich­tig­keit, daß un­se­re nütz­li­chen Kennt­nis­se nicht durch un­nüt­zen Bal­last ver­drängt wer­den.«

»Aber das Son­nen­sys­tem ––« warf ich ein.

»Was zum Kuckuck küm­mert mich das?«, un­ter­brach er mich un­ge­dul­dig. »Sie sa­gen, die Erde dreht sich um die Son­ne. Wenn sie sich um den Mond dreh­te, so wür­de das für mei­ne Zwe­cke nicht den ge­rings­ten Un­ter­schied ma­chen.«

Mir schweb­te schon die Fra­ge auf der Zun­ge, was denn ei­gent­lich sei­ne Zwe­cke wä­ren, doch be­hielt ich sie für mich, um ihn nicht zu ver­drie­ßen. Un­ser Ge­spräch gab mir in­des­sen viel zu den­ken, und ich be­gann mei­ne Schlüs­se dar­aus zu zie­hen. Wenn er sich nur Kennt­nis­se an­eig­ne­te, die ihm für sei­ne Ar­beit Nut­zen brach­ten, so muß­te man ja aus den Zwei­gen des Wis­sens, mit de­nen er am ver­trau­tes­ten war, auf den Be­ruf schlie­ßen kön­nen, dem er sich ge­wid­met hat­te. Ich zähl­te mir nun al­les auf, was er mit be­son­de­rer Gründ­lich­keit stu­dier­te, ja, ich mach­te mir ein Ver­zeich­nis von den ein­zel­nen Fä­chern. Lä­chelnd über­las ich, das Schrift­stück noch ein­mal, es lau­te­te:

GEISTIGER HORIZONT UND KENNTNISSE VON SHERLOCK HOLMES.

Li­te­ra­tur –– Null.

Phi­lo­so­phie –– Null.

Astro­no­mie –– Null.

Po­li­tik –– Schwach.

Bo­ta­nik –– Mit Un­ter­schied. Wohl be­wan­dert in al­len ve­ge­ta­bi­li­schen Gif­ten, Bel­la­do­na, Opi­um u. drgl. Ei­gent­li­che Pflan­zen­kun­de –– Null.

Geo­lo­gie –– Viel prak­ti­sche Er­fah­rung, aber nur auf be­schränk­tem Ge­biet. Er un­ter­schei­det sämt­li­che Erd­ar­ten auf den ers­ten Blick. Von Aus­gän­gen zu­rück­ge­kehrt, weiß er nach Stoff und Far­be der Schmutz­fle­cke auf sei­nen be­spritz­ten Bein­klei­dern die Stadt­ge­gend von Lon­don an­zu­ge­ben, aus wel­cher die Fle­cken stam­men.

Che­mie –– Sehr gründ­lich.

Ana­to­mie –– Genau, aber un­me­tho­disch.

Kri­mi­nal­sta­tis­tik –– Er­staun­lich um­fas­send. Er scheint alle Ein­zel­hei­ten je­der Greu­el­tat, die in un­se­rem Jahr­hun­dert ver­übt wor­den ist, zu ken­nen.

Ist ein gu­ter Vio­lin­spie­ler.

Ein ge­wand­ter Bo­xer und Fech­ter.

Ein gründ­li­cher Ken­ner der bri­ti­schen Ge­set­ze.

Wei­ter las ich nicht; ich zer­riß mei­ne Lis­te und warf sie är­ger­lich ins Feu­er, »Wie kann der Mensch be­haup­ten, daß es einen Be­ruf gibt, in dem sich alle die­se ver­schie­den­ar­ti­gen Kennt­nis­se ver­wer­ten und un­ter einen Hut brin­gen las­sen«, rief ich. »Es ist ver­geb­li­che Mühe, dies Rät­sel lö­sen zu wol­len.«

Hol­mes’ Fer­tig­keit auf der Vio­li­ne war groß, aber ganz ei­ge­ner Art, wie al­les bei die­sem un­ge­wöhn­li­chen Men­schen. Ge­le­gent­lich spiel­te er mir wohl des Abends von mei­nen Lieb­lings­stücken vor, was ich ver­lang­te; war er aber sich selbst über­las­sen, so ließ er sel­ten eine be­kann­te Me­lo­die hö­ren. Er lehn­te sich dann in den Arm­stuhl zu­rück, schloß die Au­gen und fuhr me­cha­nisch mit dem Bo­gen über das In­stru­ment, wel­ches auf sei­nen Kni­en lag. Die Töne, die er dann den Sai­ten ent­lock­te, wa­ren stets der Aus­druck sei­ner au­gen­blick­li­chen Emp­fin­dung, bald lei­se und kla­gend, bald hei­ter, bald schwär­me­risch. Ob er da­bei nur den wech­seln­den Lau­nen sei­ner Ein­bil­dung folg­te oder durch die Mu­sik die Ge­dan­ken, wel­che ihn ge­ra­de be­schäf­tig­ten, bes­ser in Fluß brin­gen woll­te, ver­moch­te ich nicht zu sa­gen. Ich hät­te si­cher­lich ge­gen sei­ne herz­zer­rei­ßen­den So­lo­vor­trä­ge Ein­spruch er­ho­ben, al­lein, um mich ei­ni­ger­ma­ßen für die Ge­dulds­pro­be zu ent­schä­di­gen, die er mir auf­er­leg­te, en­dig­te er ge­wöhn­lich da­mit, daß er rasch hin­ter­ein­an­der eine gan­ze Rei­he mei­ner Lieb­lings­me­lo­di­en spiel­te und das ver­söhn­te mich wie­der.

In der ers­ten Wo­che be­ka­men wir kei­nen Be­such, und ich fing schon an zu glau­ben, mein Ge­fähr­te ste­he eben­so al­lein in der Welt, wie ich sel­ber. Bald stell­te sich je­doch her­aus, daß er vie­le Be­kann­te hat­te und zwar in al­len Schich­ten der Ge­sell­schaft. Der klei­ne Mensch mit dem blaß­gel­ben Ge­sicht, der ei­ner Rat­te äh­nel­te und mir als Herr Le­stra­de vor­ge­stellt wur­de, kam im Lauf von acht Ta­gen min­des­tens drei- oder vier­mal. Ei­nes Mor­gens er­schi­en ein ele­gant ge­klei­de­tes jun­ges Mäd­chen, das über eine hal­be Stun­de da­b­lieb. Am Nach­mit­tag des­sel­ben Ta­ges fand sich ein schä­bi­ger Grau­bart ein, der wie ein jü­di­scher Hau­sie­rer aus­sah und hin­ter dem ein häß­li­ches, al­tes Weib her­ein­schlurf­te. Bei ei­ner spä­te­ren Ge­le­gen­heit hat­te ein ehr­wür­di­ger Greis eine län­ge­re Un­ter­re­dung mit Hol­mes und dann wie­der ein Ei­sen­bahn­be­am­ter in Uni­form. Je­des­mal, wenn sich ei­ner die­ser merk­wür­di­gen Be­su­cher ein­stell­te, bat mich Hol­mes, ihm das Wohn­zim­mer zu über­las­sen, und ich zog mich in mei­ne Schlaf­stu­be zu­rück. Er ent­schul­dig­te sich viel­mals, daß er mir die­se Un­be­quem­lich­keit auf­er­le­ge. »Ich muß das Zim­mer als Ge­schäfts­lo­kal be­nüt­zen, die Leu­te sind mei­ne Kli­en­ten.«

Auch die­se Ge­le­gen­heit, mir Auf­schluß über sein Tun zu ver­schaf­fen, ließ ich aus Zart­ge­fühl un­ge­nützt vor­über­ge­hen. Mir wi­der­stand es, ein Ver­trau­en zu er­zwin­gen, das er mir nicht von selbst ent­ge­gen­brach­te, und schließ­lich bil­de­te ich mir ein, er habe einen be­stimm­ten Grund, mir sein Ge­schäft zu ver­heim­li­chen. Daß ich mich hier­in ge­täuscht hat­te, soll­te ich in­des­sen bald er­fah­ren.

Am vier­ten März –– der Tag ist mir im Ge­dächt­nis ge­blie­ben –– war ich frü­her als ge­wöhn­lich auf­ge­stan­den und fand Sher­lock Hol­mes beim Früh­stück. Mein Kaf­fee war noch nicht fer­tig, und är­ger­lich, daß ich war­ten muß­te, nahm ich ein Jour­nal vom Tisch, um mir die Zeit zu ver­trei­ben, wäh­rend mein Ge­fähr­te schwei­gend sei­ne ge­rös­te­ten Brot­schnit­ten ver­zehr­te.

Mein Blick fiel zu­erst auf einen Ar­ti­kel, der mit Blau­stift an­ge­stri­chen und ›Das Buch des Le­bens‹ be­ti­telt war. Der Ver­fas­ser ver­such­te dar­in aus­ein­an­der­zu­set­zen, daß es für einen auf­merk­sa­men Beo­b­ach­ter von Men­schen und Din­gen im all­täg­li­chen Le­ben un­end­lich viel zu ler­nen gäbe, wenn er sich nur ge­wöh­nen woll­te, al­les, was ihm in den Weg käme, ge­nau und ein­ge­hend zu prü­fen. Die Be­weis­füh­rung war kurz und bün­dig, aber die Schluß­fol­ge­run­gen schie­nen mir weit her­ge­holt und un­ge­reimt, das Gan­ze eine Mi­schung von scharf­sin­ni­gen und ab­ge­schmack­ten Be­haup­tun­gen. Ein Mensch, der zu be­ob­ach­ten und zu ana­ly­sie­ren ver­stand, muß­te da­nach be­fä­higt sein, die in­ners­ten Ge­dan­ken ei­nes je­den zu le­sen und zwar mit sol­cher Si­cher­heit, daß es dem Un­ein­ge­weih­ten förm­lich wie Zau­be­rei vor­kam.

»Das Le­ben ist eine große, ge­glie­der­te Ket­te von Ur­sa­chen und Wir­kun­gen«, hieß es wei­ter, »an ei­nem ein­zi­gen Glie­de läßt sich das We­sen des Gan­zen er­ken­nen. Wie jede an­de­re Wis­sen­schaft, so for­dert auch das Stu­di­um der De­duk­ti­on und Ana­ly­se viel Aus­dau­er und Ge­duld; ein kur­z­es Men­schen­da­sein ge­nügt nicht, um es dar­in zur höchs­ten Voll­kom­men­heit zu brin­gen. Der An­fän­ger wird im­mer gut tun, ehe er sich an die Lö­sung ho­her geis­ti­ger und sitt­li­cher Pro­ble­me wagt, wel­che die größ­ten Schwie­rig­kei­ten bie­ten, sich auf ein­fa­che­re Auf­ga­ben zu be­schrän­ken. Zur He­bung möge er zum Bei­spiel bei der flüch­ti­gen Be­geg­nung mit ei­nem Un­be­kann­ten den Ver­such ma­chen, auf den ers­ten Blick die Le­bens­ge­schich­te und Be­rufs­art des Men­schen zu be­stim­men. Das schärft die Beo­b­ach­tungs­ga­be und man lernt da­bei rich­tig se­hen und un­ter­schei­den. An den Fin­ger­nä­geln, dem Rock­är­mel, den Man­schet­ten, den Stie­feln, den Ho­sen­kni­en, der Horn­haut an Dau­men und Zei­ge­fin­ger, dem Ge­sichts­aus­druck und vie­lem an­dern, läßt sich die täg­li­che Be­schäf­ti­gung ei­nes Men­schen deut­lich er­ken­nen. Daß ein ur­teils­fä­hi­ger For­scher, der die ver­schie­de­nen An­zei­chen zu ver­ei­ni­gen weiß, nicht zu ei­nem rich­ti­gen Schluß ge­lan­gen soll­te, ist ein­fach un­denk­bar.«

»Was für ein tö­rich­tes Ge­wäsch«, rief ich, und warf das Jour­nal auf den Tisch, »mei­ner Leb­tag ist mir der­glei­chen nicht vor­ge­kom­men.«

Sher­lock Hol­mes sah mich fra­gend an.

»Sie ha­ben den Ar­ti­kel an­ge­stri­chen«, fuhr ich fort, »und müs­sen ihn also ge­le­sen ha­ben. Daß er ge­schickt ab­ge­faßt ist, will ich nicht be­strei­ten. Mich är­gern aber sol­che wi­der­sin­ni­ge Theo­ri­en, die da­heim im Lehn­stuhl auf­ge­stellt wer­den und dann an der Wirk­lich­keit elend schei­tern. Der Herr Ver­fas­ser soll­te nur ein­mal in ei­nem Ei­sen­bahn­wa­gen drit­ter Klas­se fah­ren und pro­bie­ren, das Ge­schäft ei­nes je­den sei­ner Mit­rei­sen­den an den Fin­gern her­zu­zäh­len. Ich wet­te tau­send ge­gen eins, er wäre dazu nicht im­stan­de.«

»Sie wür­den Ihr Geld ver­lie­ren«, er­wi­der­te Hol­mes ru­hig. »Was üb­ri­gens den Ar­ti­kel be­trifft, so ist er von mir.«

»Von Ih­nen?«

»Ja; ich habe ein be­son­de­res Ta­lent zur Beo­b­ach­tung und Schluß­fol­ge­rung. Die Theo­ri­en, wel­che ich hier aus­ein­an­der­set­ze und die Ih­nen so un­ge­reimt er­schei­nen, fin­den in der Pra­xis ihre vol­le Be­stä­ti­gung, ja, was noch mehr ist –– ich ver­die­ne mir da­mit mein täg­li­ches Brot.«

»Wie ist das mög­lich?«, frag­te ich un­will­kür­lich.

»Mein Hand­werk be­ruht dar­auf. Ich bin be­ra­ten­der De­tek­tiv –– wenn Sie ver­ste­hen, was das heißt –– viel­leicht bin ich der ein­zi­ge mei­ner Art. Es gibt hier in Lon­don De­tek­tivs die Men­ge, wel­che teils im Dienst der Re­gie­rung ste­hen, teils von Pri­vat­per­so­nen ge­braucht wer­den. Wenn die­se Her­ren nicht mehr aus noch ein wis­sen, kom­men sie zu mir, und ich hel­fe ih­nen auf die rich­ti­ge Fähr­te. Sie brin­gen mir das gan­ze Be­weis­ma­te­ri­al, und ich bin meist im­stan­de, ih­nen mit Hil­fe mei­ner Kennt­nis der Ge­schich­te des Ver­bre­chens den rech­ten Weg zu wei­sen. Die Mis­se­ta­ten der Men­schen ha­ben im all­ge­mei­nen eine star­ke Fa­mi­li­en­ähn­lich­keit un­ter­ein­an­der und wenn man alle Ein­zel­hei­ten von tau­send Ver­bre­chen im Kop­fe hat, so müß­te es wun­der­bar zu­ge­hen, ver­möch­te man das tau­send und ers­te nicht zu ent­rät­seln. Le­stra­de ist ein be­kann­ter De­tek­tiv. Er hat sich kürz­lich mit ei­ner Falsch­mün­zer­ge­schich­te her­um­ge­quält und mich des­halb so häu­fig auf­ge­sucht.«

»Und die an­dern Leu­te?«

»Sie ka­men meist auf Ver­an­las­sung von Pri­vat­leu­ten. Je­der von ih­nen hat ir­gend­ei­ne Sor­ge auf dem Her­zen und holt sich Rat bei mir. Sie er­zäh­len mir ihre Ge­schich­te und hö­ren auf mei­ne er­klä­ren­den Be­mer­kun­gen und dann strei­che ich mein Ho­no­rar ein.«

»Kön­nen Sie wirk­lich, wäh­rend Sie ru­hig auf Ihrem Zim­mer blei­ben, die ver­wi­ckel­ten Kno­ten lö­sen, wel­che die an­dern nicht zu ent­wir­ren ver­mö­gen, selbst wenn die­se mit ei­ge­nen Au­gen ge­se­hen ha­ben, wo sich al­les zu­ge­tra­gen hat?«

»Das habe ich oft ge­tan: es ist bei mir eine Art in­ne­rer Ein­ge­bung. Liegt ein be­son­ders schwie­ri­ger Fall vor, so be­se­he ich mir den Schau­platz der Tat wohl auch ein­mal selbst. Ich habe so man­cher­lei Kennt­nis­se, die mir die Ar­beit we­sent­lich er­leich­tern. Mei­ne große Übung in der Schluß­fol­ge­rung, wie sie je­ner Ar­ti­kel dar­legt, ist für mich zum Bei­spiel von ho­hem prak­ti­schem Wert. Mir ist die Beo­b­ach­tung zur zwei­ten Na­tur ge­wor­den. Als ich Ih­nen bei un­se­rer ers­ten Be­geg­nung sag­te, Sie kämen aus Af­gha­nis­tan, schie­nen Sie sich dar­über zu ver­wun­dern.«

»Ir­gend je­mand muß es Ih­nen ge­sagt ha­ben.«

»Be­wah­re; ich wuß­te es ganz von selbst. Da mein Ge­dan­ken­gang meist sehr schnell ist, kom­men mir die Schlüs­se in ih­rer Rei­hen­fol­ge kaum zum Be­wußt­sein. Und doch steht al­les in lo­gi­schem Zu­sam­men­hang. Ich fol­ger­te etwa so: Der Herr sieht aus wie ein Me­di­zi­ner und hat da­bei eine sol­da­ti­sche Hal­tung. Er muß Mi­li­tär­arzt sein. Die dunkle Ge­sichts­far­be hat er nicht von Na­tur, denn am Hand­ge­lenk ist sei­ne Haut weiß, also kommt er ge­ra­des­wegs aus den Tro­pen. Daß er al­ler­lei Be­schwer­den durch­ge­macht hat, zei­gen sei­ne ab­ge­zehr­ten Wan­gen; sein lin­ker Arm muß ver­wun­det ge­we­sen sein, er hält ihn un­na­tür­lich steif. In wel­cher Ge­gend der Tro­pen kann ein eng­li­scher Mi­li­tär­arzt sich Wun­den und Krank­heit ge­holt ha­ben? –– Ver­steht sich in Af­gha­nis­tan. –– In we­ni­ger als ei­ner Se­kun­de war ich zu dem Schluß ge­langt, der Sie in Er­stau­nen setz­te.«

»Wie Sie die Sa­che er­klä­ren, scheint sie sehr ein­fach. In Bü­chern liest man wohl von sol­chen Din­gen, aber daß sie in Wirk­lich­keit vor­kämen, hät­te ich nicht ge­dacht.«

»Wenn es nur noch Ver­bre­chen gäbe, zu de­ren Ent­de­ckung man be­son­de­ren Scharf­sinn braucht«, fuhr Hol­mes miß­mu­tig fort. »Ich weiß, es fehlt mir nicht an Be­ga­bung, um mei­nen Na­men be­rühmt zu ma­chen. Kein Mensch auf Er­den hat je­mals so viel na­tür­li­che An­la­ge für mein Fach be­ses­sen oder ein so tie­fes Stu­di­um dar­auf ver­wen­det. Aber was nützt mir das al­les? Die Mis­se­tä­ter sind sämt­lich sol­che Stüm­per und ihre Zwe­cke so durch­sich­tig, daß der ge­wöhn­li­che Po­li­zei­be­am­te sie mit Leich­tig­keit zu er­grün­den ver­mag.«

Es ver­droß mich, ihn mit sol­cher Selb­st­über­schät­zung re­den zu hö­ren. Um der Un­ter­hal­tung eine an­de­re Wen­dung zu ge­ben, trat ich ans Fens­ter.

»Was mag wohl der Mann da drü­ben su­chen?«, frag­te ich, auf einen ein­fach ge­klei­de­ten, stäm­mi­gen Men­schen deu­tend, wel­cher sämt­li­che Häu­ser­num­mern auf der ge­gen­über­lie­gen­den Stra­ßen­sei­te zu mus­tern schi­en. Er hielt einen großen, blau­en Um­schlag in der Hand und hat­te of­fen­bar eine Bot­schaft aus­zu­rich­ten.

»Sie mei­nen den ver­ab­schie­de­ten Ma­ri­ne­ser­gean­ten?«, frag­te Sher­lock Hol­mes.

Ich mach­te große Au­gen. »Er hat gut mit sei­ner Weis­heit prah­len«, dach­te ich bei mir, »wer will ihm denn be­wei­sen, daß er falsch ge­ra­ten hat?«

In dem Au­gen­blick hat­te der Mann, den wir be­ob­ach­te­ten, un­se­re Num­mer er­blickt, und kam rasch quer über die Stra­ße ge­gan­gen. Gleich dar­auf klopf­te es laut an der Hau­stü­re un­ten, man ver­nahm eine tie­fe Stim­me und dann schwe­re Schrit­te auf der Trep­pe.

Der Mann trat ein.

»Für Herrn Sher­lock Hol­mes«, sag­te er, mei­nem Ge­fähr­ten den Brief ein­hän­di­gend.

Ich er­griff die güns­ti­ge Ge­le­gen­heit, um Hol­mes von sei­ner Ein­bil­dung zu hei­len. An die Mög­lich­keit hat­te er wohl nicht ge­dacht, als er den ra­schen Schuß ins Blaue tat. »Darf ich Sie wohl fra­gen, was Sie für ein Ge­schäft be­trei­ben?«, re­de­te ich den Bo­ten freund­lich an.

»Dienst­mann«, lau­te­te die kur­ze Ant­wort. »Uni­form ge­ra­de beim Schnei­der zum Aus­bes­sern.«

»Und frü­her wa­ren Sie ––« fuhr ich mit ei­nem schlau­en Blick auf Hol­mes fort.

»Ser­geant bei der leich­ten In­fan­te­rie der kö­nig­li­chen Ma­ri­ne. –– Kei­ne Rück­ant­wort? –– Sehr wohl. Zu Be­fehl.«

Er schlug die Fer­sen an­ein­an­der, er­hob die Hand zum mi­li­tä­ri­schen Gruß und fort war er.

Drittes Kapitel –– Brixton Street Nummer drei

Die­ses neue Bei­spiel von der prak­ti­schen An­wend­bar­keit der Theo­ri­en mei­nes Freun­des über­rasch­te mich sehr und flö­ßte mir großen Re­spekt vor sei­ner Beo­b­ach­tungs­ga­be ein. Zwar woll­te mich ein lei­ser Arg­wohn be­schlei­chen, ob die Sa­che nicht doch am Ende ein zwi­schen den bei­den ab­ge­kar­te­tes Spiel sei, aber wel­chen mög­li­chen Zweck hät­te das ha­ben kön­nen? –– Als ich mich nach Hol­mes um­wand­te, hat­te er eben den Brief durch­ge­le­sen und starr­te mit aus­drucks­lo­sem Blick, wie geis­tes­ab­we­send, vor sich hin.

»Wie in al­ler Welt ha­ben Sie denn das wie­der er­ra­ten?«, frag­te ich.

»Er­ra­ten –– was?«, rief er ge­reizt auf­fah­rend.

»Nun, daß der Mann ein ab­ge­dank­ter Ma­ri­ne­ser­geant war.«

»Jetzt ist kei­ne Zeit zu Spie­le­rei­en«, stieß er in rau­hem Ton her­vor, fuhr aber gleich dar­auf lä­chelnd fort: »Ent­schul­di­gen Sie mei­ne Grob­heit, Sie ha­ben mei­nen Ge­dan­ken­gang un­ter­bro­chen; doch, das scha­det viel­leicht nichts. –– Also Sie ha­ben wirk­lich nicht se­hen kön­nen, daß der Mann Ser­geant in der Ma­ri­ne ge­we­sen ist?«

»Wie soll­te ich?«

»Es scheint mir doch sehr ein­fach. Frei­lich ist es nicht leicht zu er­klä­ren, wie ich zur Kennt­nis sol­cher Tat­sa­chen kom­me. Daß zwei­mal zwei vier ist, leuch­tet je­dem ein, for­der­te man Sie aber auf, es zu be­wei­sen, so wür­den Sie es schwie­rig fin­den. Schon über die Stra­ße hat­te ich den blau­en tä­to­wier­ten An­ker auf der Hand des Man­nes ge­se­hen und die See ge­wit­tert; zu­dem be­merk­te ich sei­ne mi­li­tä­ri­sche Hal­tung und das ver­riet mir den Ma­ri­ne­sol­da­ten. Er trug den Kopf hoch und schwang sei­nen Stock mit Selbst­be­wußt­sein und ei­ner ge­wis­sen Be­fehls­ha­ber­mie­ne; da­bei trat er fest und wür­de­voll auf und war ein Mann in mitt­le­ren Jah­ren –– na­tür­lich muß­te er Ser­geant ge­we­sen sein.«

»Wun­der­bar!«, rief ich.

»Höchst all­täg­lich«, ver­setz­te Hol­mes, doch sah ich ihm am Ge­sicht an, daß er sich ge­schmei­chelt fühl­te. »Eben noch be­haup­te­te ich«, fuhr er fort, »es gäbe kei­ne ge­heim­nis­vol­len Ver­bre­chen mehr zu ent­rät­seln. Das scheint ein Irr­tum ge­we­sen zu sein –– hier­nach zu ur­tei­len.« Er schob mir den Brief hin, wel­chen der Dienst­mann ge­bracht hat­te.

»Wie schreck­lich«, rief ich, ihn über­flie­gend.

»Es klingt al­ler­dings et­was un­ge­wöhn­lich; wä­ren Sie so gut, mir den Brief noch ein­mal vor­zu­le­sen?«

Der Brief lau­te­te wie folgt:

»Lie­ber Herr Hol­mes!

Heu­te nacht hat sich in der Brix­ton Street Num­mer 3 ein schlim­mer Fall zu­ge­tra­gen. Un­ser Pos­ten sah dort auf sei­nem Rund­gang ge­gen zwei Uhr einen Licht­schim­mer, und da das Haus un­be­wohnt ist, schöpf­te er Ver­dacht. Er fand die Tür of­fen und in dem un­mö­blier­ten Vor­der­zim­mer den Leich­nam ei­nes gut­ge­klei­de­ten Herrn am Bo­den lie­gen. Enoch J. Dreb­ber, Cle­ve­land, Ohio USA stand auf den Vi­si­ten­kar­ten, die er in sei­ner Brust­ta­sche trug, Eine Berau­bung ist nicht er­folgt und die To­des­ur­sa­che noch un­er­mit­telt, denn es fin­den sich zwar Blut­spu­ren im Zim­mer, aber kei­ne Wun­de an dem To­ten. Wir wis­sen nicht, wie er in das lee­re Haus ge­kom­men sein kann, und die gan­ze An­ge­le­gen­heit ist uns ein Rät­sel.

Wä­ren Sie ge­neigt, vor zwölf Uhr den Schau­platz zu be­sich­ti­gen, so fin­den Sie mich dort. Ich las­se al­les in sta­tu quo bis zu Ih­rer An­kunft. Sind Sie ver­hin­dert zu kom­men, so wer­de ich Ih­nen alle Ein­zel­hei­ten be­rich­ten, und Sie tä­ten mir einen großen Ge­fal­len, wenn Sie mir Ihre An­sicht mit­tei­len woll­ten.

Ihr er­ge­be­ner To­bi­as Gregson.«

»Gregson ist der schlaues­te Fuchs in der gan­zen Po­li­zei­mann­schaft«, be­merk­te mein Freund. »Er und Le­stra­de sind rasch und tat­kräf­tig, aber durch nichts aus dem ein­mal her­ge­brach­ten Glei­se zu brin­gen; da­bei sind sie ein­an­der fort­wäh­rend in den Haa­ren und sind ei­fer­süch­tig wie zwei ge­fei­er­te Ball­schön­hei­ten. Wenn sie etwa bei­de auf die­sel­be Fähr­te kom­men, gibt es einen Haupt­spaß.«

Die be­hag­li­che Ruhe, mit der er sprach, schi­en mir un­be­greif­lich. »Es ist doch si­cher­lich kein Au­gen­blick zu ver­lie­ren«, rief ich, »soll ich Ih­nen eine Drosch­ke ho­len?«

»Noch weiß ich gar nicht, ob ich hin­ge­hen wer­de. Ich habe ge­ra­de einen An­fall von Träg­heit und dann bin ich der fauls­te Kerl un­ter der Son­ne; ein an­der­mal kann ich frei­lich flink ge­nug bei der Hand sein.«

»Aber dies ist doch ge­ra­de ein Fall, wie Sie ihn sich ge­wünscht ha­ben.«

»Ja­wohl; aber was kommt schließ­lich da­bei her­aus, liebs­ter Freund? Ge­län­ge es mir auch, den Kno­ten zu lö­sen, so wür­den doch Gregson, Le­stra­de und Co. sich al­les auf ihr Kon­to schrei­ben. Das hat man da­von, wenn man kein An­ge­stell­ter ist.«

»Aber er bit­tet ja um Ihre Hil­fe.«

»Ja, er weiß, daß ich mehr ver­ste­he als er, und gibt das mir ge­gen­über auch zu; doch wür­de er sich lie­ber die Zun­ge ab­bei­ßen, als vor ei­nem Drit­ten mei­ne Über­le­gen­heit an­zu­er­ken­nen. Wir wol­len uns die Sa­che in­des­sen doch an­se­hen. Ich über­neh­me sie viel­leicht auf ei­ge­ne Faust. Dann kann ich die bei­den we­nigs­tens aus­la­chen, wenn ich auch sonst nichts da­von habe. Also vor­wärts!«

Er fuhr rasch in sei­nen Über­zie­her und ging so ge­schäf­tig hin und her, daß ich wohl sah, die gleich­gül­ti­ge Stim­mung war bei ihm vor­über und sei­ne vol­le Tat­kraft zu­rück­ge­kehrt.

»Wo ist Ihr Hut?«, frag­te er.

»Wün­schen Sie denn, daß ich mit­kom­me?«

»Ja, wenn Sie nichts Bes­se­res vor­ha­ben.«

Schon im nächs­ten Au­gen­blick sa­ßen wir in ei­ner Drosch­ke und fuh­ren mit Win­desei­le nach der Brix­ton Street.

Es war ein be­wölk­ter, neb­li­ger Mor­gen, alle Häu­ser la­gen in einen Schlei­er gehüllt, von der­sel­ben grau­en Schmutz­far­be wie die Stra­ßen. Jetzt ließ die Lau­ne mei­nes Ge­fähr­ten nichts mehr zu wün­schen üb­rig; er sprach mit großer Zun­gen­ge­läu­fig­keit über Cre­mo­ne­ser Gei­gen und den Un­ter­schied zwi­schen ei­ner Ama­ti und ei­ner Stra­di­va­ri­us. Ich ver­hielt mich ziem­lich still; das trü­be Wet­ter und das trau­ri­ge Ge­schäft, wel­ches wir vor­hat­ten, drück­ten auf mein Ge­müt.

»Es scheint, daß Sie sich in Ihren Ge­dan­ken gar nicht mit der Sa­che be­schäf­ti­gen, um die es sich han­delt«, un­ter­brach ich Hol­mes end­lich in sei­nen mu­si­ka­li­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen.

»Noch feh­len mir alle Ein­zel­hei­ten«, er­wi­der­te er, »es ist ein großer Irr­tum, sich eine Theo­rie zu bil­den, ehe man sämt­li­ches Be­weis­ma­te­ri­al in Hän­den hat; das be­ein­flußt das Ur­teil.«

»Sie wer­den bald ge­nug Ge­le­gen­heit be­kom­men, Ihre Beo­b­ach­tun­gen an­zu­stel­len«, sag­te ich, »hier sind wir schon in der Brix­ton Street und das dort muß das Haus sein, wenn ich nicht sehr irre.«

»Kein Zwei­fel. –– Halt, Kut­scher, halt! ––« Wir wa­ren noch eine ziem­li­che Stre­cke ent­fernt, doch be­stand er dar­auf, daß wir aus­stie­gen und das letz­te Ende zu Fuß zu­rück­leg­ten.

Das Haus Num­mer 3 mach­te einen düs­tern, un­heim­li­chen Ein­druck. Es ge­hör­te zu ei­ner Grup­pe von vier Ge­bäu­den, die et­was ab­seits von der Stra­ße la­gen; zwei wa­ren be­wohnt, zwei stan­den leer. An den trü­ben Fens­ter­schei­ben der letz­te­ren fie­len nur hier und da die an­ge­kleb­ten Zet­tel in die Au­gen, auf de­nen ›Zu ver­mie­ten‹ stand. Je­des der Häu­ser hat­te ein klei­nes Vor­gärt­chen, mit we­ni­gen kränk­li­chen Pflan­zen auf den Bee­ten; mit­ten hin­durch führ­te ein schma­ler mit Kies be­streu­ter Pfad von gelb­li­chem Lehm, der durch die Re­gen­güs­se der ver­gan­ge­nen Nacht völ­lig auf­ge­weicht wor­den war. Eine drei Fuß6 hohe Back­stein­mau­er, die ein höl­zer­nes Git­ter trug, bil­de­te die Ein­fas­sung des Gar­tens. Am Git­ter­tor lehn­te ein hand­fes­ter Po­li­zist, von ei­ner Schar Neu­gie­ri­ger um­ringt, die ihre Häl­se reck­ten und sich ver­geb­lich ab­müh­ten, zu se­hen, was drin­nen im Hau­se vor­ging.

Ich hat­te er­war­tet, Sher­lock Hol­mes wür­de sich so­fort hin­ein­be­ge­ben, um sei­ne Un­ter­su­chun­gen zu be­gin­nen. Nichts schi­en ihm je­doch fer­ner zu lie­gen. Mit ei­ner Ge­las­sen­heit, wel­che mir un­ter den ob­wal­ten­den Um­stän­den un­na­tür­lich er­schi­en, schlen­der­te er vor dem Hau­se auf und ab, den Blick bald auf den Bo­den ge­rich­tet, bald in die Luft, bald wie­der nach dem Git­ter­zaun oder den ge­gen­über­lie­gen­den Häu­sern. Nach ei­ner Wei­le be­trat er den Kies­weg, das heißt, er ging auf dem Gras­strei­fen ne­ben dem Pfad, die Au­gen for­schend zur Erde ge­senkt. Zwei­mal blieb er lä­chelnd ste­hen und ein Aus­ruf der Be­frie­di­gung ent­fuhr ihm. Es wa­ren zwar vie­le Fuß­spu­ren in dem nas­sen Lehm­bo­den ein­ge­drückt, sie konn­ten je­doch von den Po­li­zis­ten her­rüh­ren, die ge­kom­men und wie­der ge­gan­gen wa­ren. Wie mein Ge­fähr­te hof­fen konn­te, da noch et­was We­sent­li­ches zu ent­de­cken, be­griff ich nicht; al­lein nach den Pro­ben sei­ner Beo­b­ach­tungs­kunst, die ich schon von ihm er­hal­ten hat­te, muß­te ich mir sa­gen, daß er ohne Zwei­fel vie­les sah, was mir gänz­lich ver­bor­gen blieb.

An der Hau­stü­re kam uns ein großer, blas­ser, flachs­haa­ri­ger Mann mit ei­nem No­tiz­buch ent­ge­gen. Er eil­te auf Hol­mes zu und schüt­tel­te ihm mit großer Wär­me die Hand. »Sehr freund­lich von Ih­nen, daß Sie kom­men«, sag­te er, »al­les ist noch ganz un­be­rührt ge­blie­ben.«

»Nur nicht der Fuß­weg«, er­wi­der­te mein Freund. »Wäre eine Büf­fel­her­de drü­ber­ge­lau­fen, sie hät­te ihn kaum mehr zer­tram­peln kön­nen. Na­tür­lich ha­ben Sie erst ge­naue Beo­b­ach­tun­gen an­ge­stellt, Gregson, be­vor Sie das zulie­ßen.«

»Ich hat­te drin­nen im Haus zu viel zu tun«, sag­te der De­tek­tiv aus­wei­chend. »Mein Kol­le­ge Le­stra­de ist hier; ich dach­te, er wür­de sich dar­um küm­mern.«

Hol­mes zog die Au­gen­brau­en spöt­tisch in die Höhe und sah mich an. »Wo zwei Män­ner wie Sie und Le­stra­de an Ort und Stel­le sind, hat ein Drit­ter nicht mehr viel zu su­chen«, be­merk­te er.

Gregson schmun­zel­te selbst­ge­fäl­lig, und rieb sich die Hän­de. »Wir ha­ben ge­tan, was wir konn­ten; aber es ist ein wun­der­li­cher Fall –– ich ken­ne ja Ihre Vor­lie­be für der­glei­chen.«

»Sind Sie in ei­ner Drosch­ke her­ge­kom­men?«

»Nein, ich nicht.«

»Aber Le­stra­de?«

»Der kam auch zu Fuß.«

»So? –– Dann kön­nen wir wohl das Zim­mer be­se­hen.«

Wie das zu­sam­men­hing, war mir nicht recht er­sicht­lich, auch Gregson mach­te ein ver­wun­der­tes Ge­sicht, wäh­rend er Hol­mes in das Haus folg­te.

Ein sehr stau­bi­ger, ge­diel­ter Kor­ri­dor führ­te nach Kü­che und Spei­se­kam­mer, rechts und links be­fan­den sich noch zwei Tü­ren. Die eine moch­te wohl wo­chen­lang nicht ge­öff­net wor­den sein, die an­de­re führ­te in das Zim­mer, wo die ge­heim­nis­vol­le Mis­se­tat ver­übt wor­den war. Hol­mes trat dort ein, und ich be­glei­te­te ihn, von un­heim­li­chen Ge­füh­len er­grif­fen, wie sie die Ge­gen­wart des To­des uns ein­zu­flö­ßen pflegt. Das große, vier­e­cki­ge Ge­mach sah noch ge­räu­mi­ger aus, weil kei­ne Mö­bel dar­in stan­den. Die grel­le Ta­pe­te an den Wän­den war hie und da mit Schim­mel über­zo­gen, an ei­ni­gen Stel­len hing sie in Fet­zen her­un­ter, so daß der hel­le Kalk­be­wurf zum Vor­schein kam. Der Türe ge­gen­über be­fand sich ein großer, of­fe­ner Ka­min mit ei­nem Ge­sims, an des­sen ei­ner Ecke ein ro­tes Wachs­licht­stümp­chen kleb­te. Das ein­zi­ge Fens­ter, wel­ches den Raum er­hell­te, war mit ei­ner Schmutz­krus­te über­zo­gen, die nur ein mat­tes, un­ge­wis­ses Licht hin­durch­ließ. Die düs­te­re, graue Be­leuch­tung paß­te so recht zu der di­cken Staub­schicht, wel­che auf den Zim­mer­die­len la­ger­te.

Alle die­se Ein­zel­hei­ten fie­len mir je­doch erst spä­ter auf. An­fangs rich­te­te ich mein gan­zes Au­gen­merk auf die leb­lo­se Ge­stalt, wel­che aus­ge­streckt am Bo­den lag, den stie­ren Blick nach der De­cke ge­rich­tet. Es war ein mit­tel­großer Mann von etwa vierund­vier­zig Jah­ren, breit­schul­te­rig, mit krau­sem, schwar­zem Haar und kur­z­em Stop­pel­bart. Sein An­zug be­stand aus Rock und Wes­te von schwe­rem Dop­pel­tuch, hel­len Bein­klei­dern und ta­del­lo­sem Weiß­zeug.7 Auch ge­hör­te ihm wohl der glatt ge­bürs­te­te, hohe Hut, den ich ne­ben ihm sah. Er hat­te die Arme weit von sich ge­streckt, die Fäus­te ge­ballt und die Bei­ne fest über­ein­an­der ge­schla­gen, wahr­schein­lich im To­des­kampf. In sei­nen star­ren Zü­gen lag ein Aus­druck des Ent­set­zens und ei­nes so grim­mi­gen Has­ses, wie ich ihn noch nie zu­vor in ei­nem Men­schen­ant­litz er­blickt zu ha­ben glaub­te. Die­ser bös­ar­ti­ge Zug, dazu die nie­de­re Stirn, die brei­te Stumpf­na­se und das vor­ste­hen­de Kinn, ga­ben dem To­ten ein wi­der­li­ches, tie­ri­sches Aus­se­hen, das durch sei­ne ge­krümm­te, un­na­tür­li­che Lage noch ab­schre­cken­der wur­de. Ich habe den Tod schon in man­cher Ge­stalt ge­se­hen, aber nie hat er mir einen so grau­en­vol­len Ein­druck ge­macht, wie in je­nem öden Hau­se der Lon­do­ner Vor­stadt.

Der De­tek­tiv Le­stra­de hat­te uns an der Stu­ben­tü­re emp­fan­gen. »Der Fall wird Auf­se­hen ma­chen«, sag­te er mit Nach­druck, »ich bin wahr­haf­tig kein Neu­ling mehr, aber et­was Ähn­li­ches habe ich noch nie er­lebt.«

»Wir su­chen ver­geb­lich nach ei­nem Auf­schluß«, fiel Gregson ein.

Sher­lock Hol­mes war ne­ben dem Leich­nam nie­der­ge­kniet, den er ge­nau un­ter­such­te.

»Eine Wun­de ha­ben Sie also nicht ent­deckt?«, frag­te er, auf die zahl­rei­chen Blut­spu­ren am Fuß­bo­den deu­tend.

»Nein, es ist kei­ne zu fin­den«, ver­si­cher­ten bei­de.

»So rührt das Blut also von ei­nem an­dern Men­schen her, von dem Mör­der ver­mut­lich, wenn näm­lich ein Mord ver­übt wor­den ist. Der Fall er­in­nert mich an Van Jan­sens Tod in Ut­recht im Jah­re 1834. Ha­ben Sie den im Ge­dächt­nis, Gregson?«

»Nein, ich weiß nichts da­von.«

»Sie soll­ten die Ge­schich­te nach­le­sen. Es gibt nichts Neu­es un­ter der Son­ne, al­les ist schon da­ge­we­sen.«

Wäh­rend er sprach, fuh­ren sei­ne ge­schick­ten Fin­ger bald hier­hin, bald dort­hin; er drück­te, be­fühl­te, be­tas­te­te alle Glie­der und zwar mit sol­cher Schnel­lig­keit, daß ich kaum be­griff, wie er die ein­zel­nen Er­geb­nis­se sei­ner Un­ter­su­chung auf­zu­fas­sen ver­moch­te. Sein Blick trug da­bei den­sel­ben geis­tes­ab­we­sen­den Aus­druck, den ich schon öf­ter an ihm be­merkt hat­te. Schließ­lich roch er an den Lip­pen des To­ten und be­trach­te­te die Soh­len sei­ner fei­nen Le­ders­tie­fel.

»Liegt er noch ge­nau so, wie man ihn ge­fun­den hat?«, frag­te er.

»Wir ha­ben ihn un­ter­sucht, ohne ihn von der Stel­le zu be­we­gen.«

»Gut, dann las­sen Sie ihn jetzt nur ins Lei­chen­haus schaf­fen. Es ist nichts Tat­säch­li­ches mehr zu er­mit­teln.«

Eine Trag­bah­re stand schon in Be­reit­schaft, und auf Gregsons Ruf ka­men vier sei­ner Leu­te her­bei. Als sie die Lei­che auf­lu­den, um sie fort­zu­tra­gen, fiel ein Ring zu Bo­den und roll­te über die Die­le. Le­stra­de fuhr wie ein Stoß­vo­gel dar­auf zu, hob ihn auf und be­trach­te­te ihn mit ver­blüff­ter Mie­ne.

»Der Trau­ring ei­ner Frau –– wie kommt der hier­her?«, rief er.

Wir starr­ten alle nach dem gol­de­nen Reif auf sei­ner fla­chen Hand; wel­che Braut moch­te den am Fin­ger ge­tra­gen ha­ben?

»Die oh­ne­hin schon ver­wi­ckel­te An­ge­le­gen­heit wird durch die­sen Fund noch schwie­ri­ger«, be­merk­te Gregson.

»Vi­el­leicht ver­ein­facht er sie auch«, äu­ßer­te Hol­mes be­däch­tig. »Je­den­falls nützt es nichts, den Ring noch län­ger an­zu­se­hen; wir wer­den nicht klü­ger da­von. Ha­ben Sie nichts in den Ta­schen ge­fun­den?«

»Im Flur liegt al­les bei­sam­men!«, er­wi­der­te Gregson, »kom­men Sie!« Wir ver­lie­ßen das Zim­mer. »Hier ist der gan­ze In­halt«, fuhr er fort, auf einen Hau­fen ver­schie­de­ner Ge­gen­stän­de deu­tend. »Eine gol­de­ne Uhr No. 97163 von Bar­rand in Lon­don, eine kur­ze Uhr­ket­te von mas­si­vem Gold, ein gol­de­ner Ring mit dem Frei­mau­rer­zei­chen; ein Hun­de­kopf mit Ru­bi­n­au­gen als Vor­steck­na­del; ein Vi­si­ten­kar­ten­täsch­chen von rus­si­schem Le­der, auf den Kar­ten steht Enoch J. Dreb­ber aus Cle­ve­land, das stimmt mit den Zei­chen der Wä­sche über­ein. Kein Por­te­mon­naie, aber lo­ses Geld in der Wes­ten­ta­sche im Be­trag von sie­ben Pfund drei­zehn Schil­ling. Eine Ta­schen­aus­ga­be von Boc­cac­ci­os De­ca­me­ro­ne, auf dem Ti­tel­blatt der Name Jo­seph Stan­ger­son. Zwei Brie­fe, ei­ner an E. J. Dreb­ber, der an­de­re an Jo­seph Stan­ger­son.«

»Wo­hin adres­siert?«

»An die ame­ri­ka­ni­sche Wech­sel­bank. Bei­de Brie­fe kom­men von der Dampf­schiff­ge­sell­schaft Gui­on und be­tref­fen die Ab­fahrt ih­res Damp­fers von Li­ver­pool. Of­fen­bar stand der Un­glück­li­che im Be­griff, nach New York zu­rück­zu­keh­ren.«

»Ha­ben Sie über je­nen Stan­ger­son Er­kun­di­gun­gen ein­ge­zo­gen?«

»Ver­steht sich«, ver­setz­te Gregson, »an sämt­li­che Zei­tun­gen sind An­zei­gen ge­schickt wor­den; auch ist ei­ner mei­ner Leu­te nach der Wech­sel­bank ge­gan­gen, ich er­war­te ihn bald zu­rück.«

»Ha­ben Sie in Cle­ve­land an­ge­fragt?«

»Ja, die De­pe­sche ist heu­te früh ab­ge­gan­gen.«

»Was war der Wort­laut?«

»Wir ga­ben ein­fach die Um­stän­de an und ba­ten um Mit­tei­lung der ein­schlä­gi­gen Tat­sa­chen.«

»Sie ha­ben nicht etwa über einen Punkt, der Ih­nen be­son­ders wich­tig schi­en, ein­ge­hen­de­re Nach­richt ver­langt?«

»Ich habe nach Stan­ger­son ge­fragt.«

»Wei­ter nichts? Liegt nicht eine Tat­sa­che vor, um die sich der gan­ze Fall dreht? Wol­len Sie nicht noch ein­mal te­le­gra­phie­ren?«

»Mei­ne De­pe­sche ent­hielt al­les Er­for­der­li­che«, ver­setz­te Gregson in be­lei­dig­tem Ton.

Sher­lock Hol­mes lach­te in sich hin­ein und woll­te eben noch eine Be­mer­kung ma­chen, als Le­stra­de, der in­zwi­schen im Zim­mer ge­blie­ben war, zu uns in den Flur kam.

»So­eben habe ich eine Ent­de­ckung ge­macht, Gregson«, sag­te er, sich mit selbst­ge­fäl­li­ger Mie­ne die Hän­de rei­bend. »Hät­te ich nicht die Stu­ben­wän­de ge­nau un­ter­sucht, wir wä­ren schwer­lich dar­auf auf­merk­sam ge­wor­den.«

Die Au­gen des klei­nen De­tek­tivs fun­kel­ten vor in­ne­rem Tri­umph, daß er sei­nem Kol­le­gen den Rang ab­ge­lau­fen hat­te. »Kom­men Sie«, sag­te er, in das Zim­mer zu­rück­ei­lend, das uns weit we­ni­ger grau­sig er­schi­en, seit die Lei­che fort­ge­schafft war, »so, jetzt tre­ten Sie dort­hin.«

Er strich ein Schwe­fel­holz an sei­ner Stie­felsoh­le an und hielt es ge­gen die Wand. In ei­ner Ecke war die Ta­pe­te ab­ge­ris­sen und auf dem hel­len Kalk­be­wurf, der dar­un­ter zum Vor­schein kam, stand mit großen, blut­ro­ten Buch­sta­ben das Wort

RACHE

zu le­sen.

»Das hat der Mör­der mit sei­nem ei­ge­nen Blut ge­schrie­ben«, fuhr Le­stra­de fort, »hier auf der Die­le sieht man noch, wo es hin­un­ter­ge­tropft ist. Ei­nen bes­se­ren Be­weis, daß kein Selbst­mord vor­liegt, könn­ten wir gar nicht ha­ben. Se­hen Sie das ab­ge­brann­te Licht auf dem Ka­min­sims? Beim Schei­ne des­sel­ben ist das Wort in die­ser sonst so dun­keln Ecke ge­schrie­ben wor­den!«

»Ich habe noch kei­ne Zeit ge­habt, mich in dem Zim­mer um­zu­se­hen«, sag­te Hol­mes, ein Ver­grö­ße­rungs­glas und ein Zen­ti­me­ter­maß aus der Ta­sche zie­hend. »Sie er­lau­ben mir wohl, das jetzt nach­zu­ho­len.«

Geräusch­los ging er in dem Rau­me hin und her; bald stand er still, bald kau­er­te er am Bo­den, ein­mal leg­te er sich so­gar mit dem Ge­sicht platt auf die Die­le.

Er war so ver­tieft in sei­ne Beo­b­ach­tun­gen, daß er un­se­re An­we­sen­heit ganz ver­ges­sen zu ha­ben schi­en; auch hielt er fort­wäh­rend lei­se Selbst­ge­sprä­che, da­zwi­schen stöhn­te er laut oder pfiff wohl­ge­launt vor sich hin und feu­er­te sich durch er­mu­ti­gen­de Aus­ru­fe zu neu­er Hoff­nung an. Er kam mir vor wie ein ed­ler Jagd­hund, der rück­wärts und vor­wärts durch das Dickicht springt, vor Be­gier­de heult und win­selt und kei­ne Ruhe fin­det, bis er die ver­lo­re­ne Fähr­te wie­der auf­ge­spürt hat. Wohl zwan­zig Mi­nu­ten lang setz­te er sei­ne Un­ter­su­chun­gen fort, maß mit der größ­ten Ge­nau­ig­keit die Ent­fer­nung zwi­schen ver­schie­de­nen Punk­ten am Bo­den, die für mein Auge ganz un­sicht­bar wa­ren und dann die Höhe und Brei­te der Wän­de. Was er da­mit bezweck­te, war mir un­er­klär­lich. An ei­ner Stel­le las er be­hut­sam ein Häuf­chen grau­en Stau­bes von der Erde auf und ver­wahr­te es sorg­fäl­tig in ei­nem Brief­um­schlag. Zu­letzt rich­te­te er sein Ver­grö­ße­rungs­glas auf das rät­sel­haf­te Wort an der Wand und be­trach­te­te je­den Buch­sta­ben aufs ge­naues­te. Das Er­geb­nis schi­en ihn zu be­frie­di­gen und er steck­te das Glas wie­der ein.

»Man sagt, das Ge­nie sei nichts als un­er­müd­li­che Aus­dau­er«, be­merk­te er lä­chelnd, »so falsch das an und für sich auch ist, auf die Ar­beit des De­tek­ti­ven läßt es sich doch an­wen­den!«

Gregson und Le­stra­de wa­ren dem selt­sa­men Ge­bah­ren des eif­ri­gen Di­let­tan­ten mit neu­gie­ri­gen, aber et­was ver­ächt­li­chen Bli­cken ge­folgt. Sie schie­nen sich nicht klar zu ma­chen, was ich längst wuß­te, daß näm­lich Sher­lock Hol­mes, selbst bei sei­nen schein­bar un­be­deu­tends­ten Hand­lun­gen, stets ein be­stimm­tes Ziel fest im Auge be­hielt.

»Nun, was hal­ten Sie von dem Fall?«, frag­ten bei­de jetzt in ei­nem Atem.