Sherlock Holmes Band 1-3 - Arthur Conan Doyle - E-Book

Sherlock Holmes Band 1-3 E-Book

Arthur Conan Doyle

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Beschreibung

Sherlock Holmes - der berühmteste Detektiv der Literaturgeschichte. Die ersten drei Bände in neuer Übersetzung in einem Bundle »Eine Studie in Scharlachrot»: Das erste Abenteuer von Sherlock Holmes und Dr. Watson, der den »beratenden Detektiv« ruft, um einen rätselhaften Mord aufzuklären: ein scheinbar unverletzter Toter mit einer Schreckensgrimasse und eine Losung als Blutspur an der Wand: »Rache«. »Das Zeichen der Vier«: »Sie sind eine Frau, der Unrecht getan wurde, aber Ihnen soll Gerechtigkeit widerfahren. Bringen Sie keine Polizei mit, sonst wäre alles umsonst. Ihr unbekannter Freund.« Eine schöne Frau erhält diese mysteriöse Einladung und wendet sich in ihrer Not an Sherlock Holmes, der sie verdeckt zum Rendezvous begleitet – und einbeinige Ganoven, verborgene Schätze und Giftpfeile entdeckt ... »Die Abenteuer des Sherlock Holmes«: Maskierte Besucher, verzweifelte Pfandleiher, todbringende Briefe mit fünf Orangenkernen, ein blauer Karfunkel: die berühmtesten Geschichten des Meisterdetektivs. Zwölf teuflisch vertrackte Fälle mit atemberaubenden Lösungen.

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Seitenzahl: 823

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Arthur Conan Doyle

Sherlock Holmes Band 1-3

Eine Studie in Scharlachrot / Das Zeichen der Vier / Die Abenteuer des Sherlock Holmes

Aus dem Englischen von Henning Ahrens

FISCHER digiBook

Inhalt

Band 1 - Sherlock Holmes - Eine Studie in ScharlachrotErster Teil Nachdruck aus den Lebenserinnerungen von John H. Watson, Dr. med., Sanitätsoffizier des Heeres a.D.EINS Mr Sherlock HolmesZWEI Die Wissenschaft der SchlussfolgerungDREI Das Rätsel von Lauriston GardenVIER Was John Rance zu berichten wussteFÜNF Unsere Anzeige beschert uns einen BesucherSECHS Tobias Gregson zeigt, was er kannSIEBEN Licht im DunkelZweiter Teil Das Land der HeiligenEINS In der großen SalzwüsteZWEI Die Blume von UtahDREI John Ferrier spricht mit dem ProphetenVIER Flucht vor dem drohenden VerhängnisFÜNF Die Rächenden EngelSECHS Fortsetzung der Lebenserinnerungen von John H. Watson, Dr. med.SIEBEN AbschlussBand 2 - Sherlock Holmes - Das Zeichen der VierEINS Die Wissenschaft der DeduktionZWEI Der Fall wird dargelegtDREI Auf der Suche nach einer LösungVIER Die Geschichte des kahlköpfigen MannesFÜNF Die Tragödie von Pondicherry LodgeSECHS Sherlock Holmes führt seine Methoden vorSIEBEN Die Sache mit dem FassACHT Die Hilfstruppe aus der Baker StreetNEUN Die Kette reißtZEHN Das Ende des EingeborenenELF Der große Schatz von AgraZWÖLF Die einzigartige Geschichte von Jonathan SmallBand 3 - Sherlock Holmes - Die Abenteuer des Sherlock Holmes Ein Skandal in BöhmenZweiDreiDie Liga der RotschöpfeEine Frage der IdentitätDas Rätsel von Boscombe ValleyDie fünf OrangenkerneDer Mann mit der aufgeworfenen LippeDer blaue KarfunkelDas gefleckte BandDer Daumen des IngenieursDer hochadelige JunggeselleDas Beryll-DiademDas Haus mit den BlutbuchenEditorische NotizZur Neuübersetzung

Erster Teil Nachdruck aus den Lebenserinnerungen von John H. Watson, Dr. med., Sanitätsoffizier des Heeres a.D.

EINSMr Sherlock Holmes

1878 schloss ich mein Studium an der University of London als Doktor der Medizin ab und ging nach Netley, um mich im dortigen Militärhospital zum Sanitätsoffizier des Heeres ausbilden zu lassen. Nach dieser Ausbildung wurde ich den Fifth Northumberland Fusiliers als Assistenzarzt zugeteilt. Das Infanterieregiment war damals in Indien stationiert, aber bevor ich es erreichen konnte, brach der Zweite Afghanische Krieg aus. Nachdem ich in Bombay von Bord gegangen war, erfuhr ich, dass mein Korps die Gebirgspässe schon überquert hatte und tief in das Feindesland vorgestoßen war. Trotzdem folgte ich ihm in Begleitung vieler anderer Offiziere, die sich in einer ähnlichen Lage befanden wie ich, und kam wohlbehalten in Kandahar an, wo ich mein Regiment ausfindig machte und sofort meinen Dienst antrat.

Während dieses Feldzugs ernteten viele Männer Ehren und Beförderungen, aber für mich hielt er nur Unglück und Elend bereit. Man versetzte mich aus meiner Brigade zu den Royal Berkshires, mit denen ich in der katastrophalen Schlacht von Maiwand kämpfte. Dort traf mich die Kugel einer Jezail-Flinte in die Schulter, zerschmetterte den Knochen und streifte die Unterschlüsselbeinschlagader. Ohne Murray, meinen treuen und mutigen Offiziersburschen, der mich über ein Packpferd warf und hinter die britischen Linien in Sicherheit brachte, wäre ich den blutrünstigen Ghāzīs in die Hände gefallen.

Von Schmerzen geplagt und geschwächt durch die Strapazen, die ich hatte erdulden müssen, wurde ich gemeinsam mit unzähligen anderen Verwundeten in das Basishospital in Peschawar transportiert. Dort erholte ich mich, konnte bald durch die Stationen schlendern und auf der Veranda etwas Sonne tanken, wurde aber von einer Typhus-Infektion, diesem Fluch unserer indischen Besitzungen, ein weiteres Mal auf das Krankenlager geworfen. Ich schwebte monatelang zwischen Leben und Tod, und als ich mich endlich fing und zu genesen begann, war ich so schwach, dass ein Ärztegremium beschloss, keinen Tag länger zu zögern, sondern mich sofort nach England zurückzuschicken. Ich wurde an Bord des Truppentransporters Orontes gebracht und ging einen Monat später an der Mole von Portsmouth an Land – mit bleibenden gesundheitlichen Schäden, aber wenigstens mit der Genehmigung einer gütigen Regierung, mich während der nächsten neun Monate erholen zu dürfen.

Ich hatte in England weder Kind noch Kegel, war also frei wie der Wind – jedenfalls so frei, wie es ein Mann sein kann, der über ein tägliches Einkommen von elf Schilling und sechs Pence verfügt. Wie sich von selbst versteht, zog es mich nach London, diesen riesigen Strudel, der alle Müßiggänger und Faulenzer des britischen Weltreiches in sich aufsaugt. Dort wohnte ich eine Weile in einem Privathotel in der Strand, führte ein karges und unerfülltes Leben und gab das bisschen Geld, das ich hatte, mit viel zu vollen Händen aus. Schließlich entwickelte sich meine finanzielle Situation so dramatisch, dass mir nur die Wahl blieb, die Metropole zu verlassen und mich irgendwo auf dem Land einzurichten oder meine Lebensweise vollständig umzukrempeln. Ich entschied mich für Letzteres und beschloss, das Hotel zu verlassen, um mir eine angemessenere und günstigere Bleibe zu suchen.

Nach diesem Entschluss, es war noch am gleichen Tag, stand ich an der Bar des Criterion, als mir jemand auf die Schulter tippte, und als ich mich umdrehte, erblickte ich den jungen Stamford, der während meines Medizinstudiums am Bart’s mein Operationsassistent gewesen war. Für jemanden, der einsam durch die Wildnis Londons irrt, kann der Anblick eines vertrauten Gesichtes sehr tröstlich sein. Stamford und ich waren zwar keine engen Freunde gewesen, doch ich begrüßte ihn herzlich, und auch er freute sich über das Wiedersehen. In meinem Überschwang lud ich ihn zu einem Mittagessen ins Holborn ein, und wir fuhren gemeinsam mit einer Droschke dorthin.

»Was zur Hölle hast du angestellt, Watson?«, fragte er mit unverhülltem Erstaunen, während wir durch die verstopften Londoner Straßen rumpelten. »Du bist nur noch ein Strich in der Landschaft und außerdem so braun wie eine Haselnuss.«

Ich fasste meine Abenteuer in aller Kürze für ihn zusammen und war kaum an das Ende gelangt, da hatten wir unser Ziel schon erreicht.

»Armer Teufel!«, sagte er voller Mitleid, nachdem er meiner Unglücksgeschichte gelauscht hatte. »Und was hast du jetzt vor?«

»Jetzt suche ich nach einer Bleibe«, antwortete ich, »und kann nur hoffen, dass ich eine Wohnung mit gutem Preis-Leistungs-Verhältnis finde.«

»Sonderbar«, erwiderte mein Begleiter, »diese Formulierung höre ich heute zum zweiten Mal.«

»Wer hat sie zum ersten Mal benutzt?«, fragte ich.

»Ein Mitarbeiter im Chemielabor des Krankenhauses. Er hat sich heute Morgen darüber beklagt, niemanden finden zu können, der sich die Räumlichkeiten mit ihm teilt, die er gern mieten würde, aber nicht allein bezahlen kann.«

»Unglaublich!«, rief ich. »Wenn er wirklich jemanden sucht, der Wohnung und Miete mit ihm teilt, dann bin ich der Richtige. Ich bin viel zu oft allein und hätte gern etwas Gesellschaft.«

Der junge Stamford sah mich über sein Weinglas skeptisch an. »Du kennst Sherlock Holmes noch nicht«, sagte er. »Gut möglich, dass du überhaupt keinen Wert auf seine ständige Gesellschaft legst.«

»Warum? Was ist gegen ihn einzuwenden?«

»Oh, ich habe nicht behauptet, dass es Einwände gibt. Er hat allerdings ein paar fixe Ideen – betätigt sich mit Begeisterung in unterschiedlichen naturwissenschaftlichen Bereichen. Nach allem, was ich weiß, ist er ganz in Ordnung.«

»Er studiert also Medizin?«, fragte ich.

»Nein, und ich habe keine Ahnung, welche Richtung er einschlagen will. Er scheint sehr gut in Anatomie zu sein, und ein erstklassiger Chemiker ist er auch. Ich bezweifele, dass er jemals systematisch Medizin studiert hat. Seine Studien sind unstrukturiert und exzentrisch, aber das Wissen, das er sich angeeignet hat, ist ebenso umfassend wie entlegen und würde seine Professoren sicher in Erstaunen versetzen.«

»Du hast dich nie erkundigt, ob er sich spezialisieren will?«, fragte ich.

»Nein. Er ist ein verschlossener Typ. Wenn ihm danach ist, kann er allerdings auch sehr redselig sein.«

»Ich würde ihn gern kennenlernen«, sagte ich. »Wenn ich schon mit jemandem zusammenwohnen muss, dann am liebsten mit einer ruhigen und lernhungrigen Person. Ich bin immer noch ziemlich schwach und vertrage deshalb nicht viel Krach oder Aufregung. Beides habe ich in Afghanistan in einem solchen Ausmaß erlebt, dass es für mein restliches Leben reicht. Wo kann ich deinen Freund kennenlernen?«

»Er dürfte im Labor sein«, antwortete Stamford. »Entweder meidet er den Ort über Wochen oder er arbeitet dort von früh bis spät. Wenn du möchtest, können wir nach dem Essen hinfahren.«

»Sehr gern«, erwiderte ich, und danach wandten wir uns anderen Gesprächsthemen zu.

Auf dem Weg vom Holborn zum Krankenhaus versorgte mich Stamford mit weiteren Informationen über den Gentleman, mit dem ich vielleicht bald eine Wohnung teilen würde.

»Solltest du nicht mit ihm klarkommen, dann schieb nicht mir die Schuld in die Schuhe«, sagte er. »Was ich über ihn weiß, habe ich während der gelegentlichen Begegnungen im Labor erfahren. Es war deine Idee, mit ihm zusammenzuziehen. Du darfst mich also nicht verantwortlich machen.«

»Wenn wir uns nicht vertragen, lässt sich die Wohngemeinschaft sicher problemlos auflösen«, erwiderte ich. »Irgendetwas sagt mir allerdings«, fügte ich hinzu und sah meinen Begleiter scharf an, »dass du dich nicht grundlos aus der Verantwortung zu stehlen versuchst, Stamford. Liegt es vielleicht daran, dass der Mann sehr launisch ist? Mach mir nichts vor.«

»Das Unsagbare in Worte zu fassen ist nicht ganz einfach«, antwortete er lachend. »Ich finde, dass Holmes eine etwas zu wissenschaftliche Art hat – sie grenzt schon an Kaltblütigkeit. Ich könnte mir gut vorstellen, dass er einem Freund heimlich das neueste pflanzliche Alkaloid verabreicht, natürlich nicht aus Bosheit, sondern weil er die genaue Wirkung der Substanz erforschen will. Zu seiner Ehrenrettung muss ich aber hinzufügen, dass er wahrscheinlich ebenso bedenkenlos einen Selbstversuch unternehmen würde. Seine Leidenschaft scheint exaktem und nachprüfbarem Wissen zu gelten.«

»Und das zu Recht.«

»Ja, aber man kann es auch übertreiben. Wenn eine solche Haltung dazu führt, dass man die Leichen in den Seziersälen mit Stockschlägen traktiert, wird die Sache jedenfalls ziemlich bizarr.«

»Er verprügelt Leichen?«

»Um herauszufinden, ob es möglich ist, nach dem Eintritt des Todes Schlagmale hervorzurufen.«

»Obwohl er angeblich kein Medizinstudent ist?«

»Richtig. Ich habe keinen blassen Schimmer, welchem Zweck seine Forschungen dienen. Aber wir sind am Ziel. Du musst dir jetzt eine eigene Meinung bilden.« Während er dies sagte, bogen wir in eine schmale Gasse ein und betraten einen Flügel des großen Krankenhauses durch einen Seiteneingang. Ich musste nicht geführt werden, als wir die kahle Steintreppe hinaufgingen und dann einem langen Flur mit weißgetünchten Wänden und graubraunen Türen folgten, denn das Gebäude war mir vertraut. Hinten im Flur zweigte ein Bogengang ab, der zum Chemielabor führte.

Dieses befand sich in einem hohen Raum. Zahllose Glasgefäße säumten die Wände und standen überall herum. Desgleichen breite und niedrige Tische voller Petrischalen, Reagenzgläser und kleiner Bunsenbrenner mit blauen, flackernden Flammen. In diesem Raum hielt sich nur ein einziger Student auf, der sich, in seine Arbeit vertieft, ganz hinten über einen Tisch beugte. Als er unsere Schritte hörte, schaute er sich um und sprang dann mit einem Freudenschrei auf. »Ich habe es! Ich habe es!«, rief er meinem Begleiter zu und rannte mit einem Reagenzglas in der Hand auf uns zu. »Ich habe ein Reagens entdeckt, das ausschließlich durch Hämoglobin ausfällt.« Die Begeisterung, die aus seinen Zügen sprach, hätte selbst dann nicht größer sein können, wenn er auf eine Goldader gestoßen wäre.

Stamford stellte uns einander vor: »Dr. Watson. Mr Sherlock Holmes.«

»Freut mich sehr«, sagte er herzlich und drückte meine Hand mit einer Kraft, die ich ihm auf den ersten Blick nicht zugetraut hätte. »Wie ich feststelle, waren Sie in Afghanistan.«

»Woher wissen Sie das, Teufel nochmal?«, fragte ich verblüfft.

»Egal«, sagte er und lachte leise in sich hinein. »Wichtig ist jetzt nur die Sache mit dem Hämoglobin. Ich nehme an, dass Sie die Bedeutung meiner Entdeckung erkennen?«

»Chemisch gesehen ist sie sicher interessant«, antwortete ich, »aber in praktischer Hinsicht …«

»Sind Sie blind, Mann? Es handelt sich um die praxistauglichste medizinisch-kriminalistische Entdeckung seit Jahren. Kapieren Sie nicht, dass man mit dieser Methode Blutflecken unfehlbar nachweisen kann? Kommen Sie!« Er packte mich in seinem Eifer bei einem Mantelärmel und zerrte mich zu dem Tisch, an dem er gearbeitet hatte. »Zuerst zapfen wir etwas frisches Blut«, sagte er, stieß sich eine lange Nadel in den Finger und fing den herausquellenden Blutstropfen mit einer Pipette auf. »Jetzt löse ich das Blut in einem Liter Wasser auf. Wie Sie sehen, erweckt die so entstandene Mischung den Anschein reinen Wassers. Der Anteil des Blutes darin dürfte sich auf ein Millionstel belaufen. Trotzdem bin ich mir sicher, dass wir die typische Reaktion erhalten werden.« Während er dies sagte, warf er einige weiße Kristalle in das Gefäß und fügte dann mehrere Tropfen einer farblosen Flüssigkeit hinzu. Das Wasser nahm sofort einen matten Mahagoniton an, auf dem Boden des Glasgefäßes setzten sich bräunliche Partikel ab.

»Ha! Ha!«, rief er, klatschte in die Hände und freute sich wie ein Schneekönig. »Was halten Sie davon?«

»Scheint ein sehr sensibler Test zu sein«, bemerkte ich.

»Großartig! Umwerfend! Der alte Guaiacum-Test war nicht nur umständlich, sondern auch ungenau. Ebenso die Suche nach Blutkörperchen unter dem Mikroskop, das sowieso nichts mehr taugt, wenn die Flecken einige Stunden alt sind. Diese Methode scheint im Gegensatz dazu sowohl bei frischem als auch bei altem Blut zu funktionieren. Hunderte von Tätern, die immer noch frei herumlaufen, würden längst für ihre Verbrechen büßen, wenn dieser Test schon früher erfunden worden wäre.«

»Stimmt!«, murmelte ich.

»Ermittlungen stocken immer wieder an diesem einen Punkt. Man verdächtigt jemanden eines Verbrechens, das vielleicht schon Monate zuvor begangen wurde. Man untersucht seine Bettwäsche oder seine Kleider und entdeckt darauf bräunliche Flecken. Handelt es sich um Blutspuren, Schlammspritzer oder Rostflecken, ist es Obstsaft oder etwas anderes? Zahllose Experten haben sich über dieser Frage den Kopf zerbrochen, und warum? Weil es keinen zuverlässigen Test gab. Aber mit der neuen Sherlock Holmes-Methode steht der genauen Ermittlung nichts mehr im Weg.«

Während dieser Worte funkelten seine Augen, und er legte sich eine Hand auf das Herz und verneigte sich, als hätte er ein applaudierendes Publikum vor sich.

»Ich gratuliere Ihnen«, sagte ich, wunderte mich aber zugleich über seine Begeisterung.

»Vor einem Jahr gab es in Frankfurt den Fall eines Herrn von Bischoff. Hätte man diesen Test damals gekannt, dann wäre der Mann mit Sicherheit gehängt worden. Außerdem war da Mason in Bradford sowie der berüchtigte Muller, Lefevre in Montpellier und Samson in New Orleans. Ich könnte Dutzende von Fällen aufzählen, bei denen diese Methode entscheidend gewesen wäre.«

»Sie sind ja ein wandelnder Katalog der Kriminalfälle«, sagte Stamford lachend. »Zu diesem Thema könnten Sie glatt eine Zeitschrift gründen, vielleicht mit dem Titel ›Alte Hüte aus dem Polizeiarchiv‹.«

»Wäre sicher eine fesselnde Lektüre«, erwiderte Sherlock Holmes, der ein kleines Pflaster auf den angestochenen Finger klebte. »Ich muss aufpassen«, fuhr er fort und drehte sich lächelnd zu mir um, »denn ich experimentiere ziemlich oft mit Giften.« Während er sprach, streckte er eine Hand aus, und mir fiel auf, dass sie über und über von ähnlichen Pflastern bedeckt und durch starke Säuren verfärbt war.

»Wir sind aus geschäftlichen Gründen hier«, sagte Stamford, der sich auf einen hohen, dreibeinigen Hocker setzte und einen anderen mit dem Fuß in meine Richtung schob. »Mein Freund sucht eine neue Bleibe, und da Sie darüber klagten, niemanden finden zu können, der sich eine Wohnung mit Ihnen teilt, kam ich auf die Idee, Sie einander vorzustellen.«

Der Gedanke, mit mir zusammenzuwohnen, schien Sherlock Holmes zu gefallen. »Ich habe eine Wohnung in der Baker Street ins Auge gefasst«, sagte er, »die wie geschaffen für uns wäre. Ich hoffe, Sie haben nichts gegen den Geruch starken Tabaks einzuwenden?«

»Ich rauche die Marke ›Ship’s‹«, antwortete ich.

»Na, bestens. Bei mir stehen oft Chemikalien herum, und ich führe manchmal Experimente durch. Würde Sie das stören?«

»Aber nein.«

»Lassen Sie mich nachdenken – habe ich noch andere Macken? Ich bin ab und zu schlecht drauf, dann spreche ich tagelang kein Wort. Wenn das passiert, dürfen Sie nicht denken, dass ich Ihnen grolle. Lassen Sie mich einfach in Ruhe, es renkt sich bald wieder ein. Und was haben Sie zu beichten? Bevor sich zwei Menschen eine Wohnung teilen, sollten sie wohl über die Schattenseiten des jeweils anderen im Bilde sein.«

Ich lachte über dieses Kreuzverhör. »Ich halte einen Welpen, einen Bullterrier«, sagte ich, »und ich vermeide Streit, weil mein Nervenkostüm angeschlagen ist. Ich stehe zu ziemlich unchristlichen Stunden auf und bin sehr faul. Wenn ich fit bin, kommen weitere Laster hinzu, aber das dürften im Moment die wichtigsten sein.«

»Fällt Geigenspiel auch unter Streit?«, fragte er besorgt.

»Kommt auf den Musiker an«, antwortete ich. »Gekonntes Spiel ist ein Ohrenschmaus, aber schlechtes Spiel …«

»Dann ist ja alles klar«, rief er lachend. »Damit ist die Sache geritzt – vorausgesetzt, die Zimmer gefallen Ihnen.«

»Wann können wir sie besichtigen?«

»Holen Sie mich morgen gegen Mittag hier ab, dann gehen wir gemeinsam hin und regeln alles«, antwortete er.

»Einverstanden – Punkt zwölf Uhr«, sagte ich und schüttelte seine Hand.

Wir überließen ihn seinen Chemikalien und machten uns auf den Weg zu meinem Hotel.

»Ach, übrigens«, sagte ich, blieb unvermittelt stehen und sah Stamford an, »wie zur Hölle konnte er wissen, dass ich kürzlich aus Afghanistan zurückgekehrt bin?«

Mein Begleiter schenkte mir ein rätselhaftes Lächeln. »Das ist seine kleine Eigenart«, sagte er. »Es gibt jede Menge Leute, die gern wüssten, wie er zu seinen Erkenntnissen gelangt.«

»Aha! Ein Geheimnis?«, rief ich und rieb meine Hände. »Sehr reizvoll. Ich finde es wunderbar, dass du uns zusammengeführt hast, denn: Der Mensch ist dem Menschen das Interessanteste.«

»Dann knöpf dir den Mann mal vor«, sagte Stamford, als er sich von mir verabschiedete. »Er wird sich allerdings als harte Nuss erweisen. Ich schätze, dass er mehr über dich herausfindet als du über ihn. Mach’s gut.«

»Auf Wiedersehen«, antwortete ich und schlenderte zum Hotel, voller Neugier auf meinen neuen Bekannten.

ZWEIDie Wissenschaft der Schlussfolgerung

Wir trafen uns wie verabredet in der Baker Street, um die Wohnung im Haus Nr. 221B zu besichtigen, die Sherlock Holmes am Vortag erwähnt hatte. Sie bestand aus zwei Schlafzimmern und einem geräumigen, gut zu lüftenden, freundlich möblierten Wohnzimmer, das durch zwei breite Fenster Licht erhielt. Die Zimmer waren so ansprechend, die geteilten Kosten so überschaubar, dass wir an Ort und Stelle Nägel mit Köpfen machten und die Wohnung mieteten. Ich holte noch am gleichen Abend meine Habseligkeiten aus dem Hotel, und am nächsten Morgen folgte Sherlock Holmes mit mehreren Kisten und Koffern. Wir waren ein paar Tage mit dem Auspacken und Einsortieren unserer Sachen beschäftigt, kamen danach langsam zur Ruhe und begannen, uns an die neue Umgebung zu gewöhnen.

Holmes war kein schwieriger Mitbewohner, sondern ein stiller Typ mit festen Gewohnheiten. Er ging gegen zweiundzwanzig Uhr zu Bett, und wenn ich morgens aus den Federn kam, hatte er bereits gefrühstückt und das Haus verlassen. Manchmal verbrachte er den Tag im Chemielabor, manchmal im Seziersaal, und manchmal unternahm er lange Spaziergänge, die ihn in die ärmsten Stadtviertel zu führen schienen. Wenn er von der Arbeitswut gepackt wurde, entwickelte er eine fast beängstigende Energie, aber in Abständen erfolgte eine Gegenreaktion, dann lag er tagelang auf dem Sofa im Wohnzimmer, sprach von morgens bis abends kein Wort, rührte auch keinen Muskel. Während dieser Phasen bemerkte ich in seinen Augen einen so leeren, träumerischen Blick, dass ich geneigt war, ihn der Sucht nach einem Rauschmittel zu verdächtigen, aber in Anbetracht seines maßvollen und geordneten Lebenswandels verbot sich diese Spekulation von selbst.

Im Laufe der Wochen vertieften und intensivierten sich mein Interesse an seiner Person und meine Neugier im Hinblick auf seine Lebensziele immer mehr. Zufälligen Betrachtern musste er schon durch Gestalt und Erscheinungsbild auffallen. Er war über einen Meter achtzig groß, aber so unfassbar mager, dass er noch viel größer wirkte. Sein Blick war scharf und durchdringend, ausgenommen während der bereits erwähnten phasenweisen Trägheit. Seine schmale Adlernase sorgte für eine Aura der Wachsamkeit und Entschlossenheit. Obwohl seine Hände stets von Tintenflecken und Chemikalienspuren übersät waren, besaß er ein ausgeprägtes Fingerspitzengefühl, wie ich beobachten konnte, wenn er mit seinen empfindlichen feinmechanischen Instrumenten hantierte.

Sie werden mich sicher für eine Schnüffelnase halten, wenn ich gestehe, dass dieser Mann eine fast unerträgliche Neugier in mir weckte. Ich versuchte immer wieder, die Verschlossenheit zu durchbrechen, die er in allen persönlichen Angelegenheiten an den Tag legte. Bevor ich ihn beurteile, muss ich allerdings erwähnen, dass ich damals nicht nur mehr oder weniger ziellos dahinvegetierte, sondern dass es so gut wie nichts gab, was meine Aufmerksamkeit gefesselt hätte. Aufgrund meines Gesundheitszustandes konnte ich mich nur bei ungewöhnlich gutem Wetter ins Freie wagen, und ich hatte keine Freunde, die die Eintönigkeit meines Alltags durch Besuche aufgelockert hätten. Aus diesen Gründen beschäftigte ich mich geradezu besessen mit dem kleinen Geheimnis, das meinen Mitbewohner umgab, und verbrachte einen Großteil meiner Zeit mit dem Versuch, es zu enträtseln.

Medizin studierte er nicht. Er hatte die Meinung Stamfords in diesem Punkt auf meine Frage hin selbst bestätigt. Er hatte sich auch für kein anderes Fach eingeschrieben, das zu einem naturwissenschaftlichen Abschluss geführt oder ihm einen allgemein anerkannten Weg in den Wissenschaftsbetrieb eröffnet hätte. Trotzdem hegte er eine Leidenschaft für bestimmte Fachgebiete, und innerhalb der eigenwilligen Grenzen, die er sich setzte, war sein Wissen so außerordentlich tief und breit, dass mich seine Erkenntnisse immer wieder in Erstaunen versetzten. Jemand, der so hart arbeitete und sich ein so detailgenaues Wissen aneignete, musste ein bestimmtes Ziel vor Augen haben, anders konnte es nicht sein. Planlose Leser zeichnen sich nicht durch eine umfassende Bildung aus. Wer seinen Verstand mit so vielen Details füttert, muss gute Gründe dafür haben.

Seine Unwissenheit war genauso bemerkenswert wie seine Wissensfülle. Er schien kaum Kenntnisse über zeitgenössische Literatur und Philosophie oder aktuelle Politik zu haben. Als ich Thomas Carlyle zitierte, erkundigte er sich mit großer Naivität danach, wer das sei und was er so getrieben habe. Mein Erstaunen erreichte allerdings einen Höhepunkt, als ich durch Zufall herausfand, dass er keine Ahnung von der kopernikanischen Theorie und der Struktur des Sonnensystems hatte. Die Tatsache, dass ein zivilisiertes menschliches Wesen des 19. Jahrhunderts nicht wusste, dass sich die Erde um die Sonne dreht, fand ich ungeheuerlich, ja geradezu unfassbar.

»Sie wirken erstaunt«, sagte er und musste lächeln, weil mir der Mund offenstand. »Und nun, da ich es weiß, werde ich versuchen, es so rasch wie möglich wieder zu vergessen.«

»Sie wollen es vergessen?«

»Wissen Sie«, erklärte er, »das menschliche Gehirn gleicht einem Dachboden, auf dem man nur ausgesuchte Möbel lagern darf. Wer dort jeden Krempel abstellt, den er findet, ist ein Dummkopf, weil das nützliche Wissen unter all den Dingen begraben, im besten Falle so tief zwischen ihnen versteckt werden würde, dass man es nur mit großer Mühe ausfindig machen könnte. Der kluge Arbeiter achtet genau darauf, was er auf seinem Gehirn-Dachboden abstellt. Er lagert dort nur Werkzeuge, die für seine Arbeit nützlich sind, diese aber in großer Auswahl und makelloser Ordnung. Der Glaube, dass dieser kleine Raum elastische Wände hätte und beliebig weit ausgedehnt werden könnte, ist ein Irrtum. Nachdem man einen bestimmten Punkt überschritten hat, führt jedes neue Wissen dazu, dass anderes in Vergessenheit gerät. Man muss also unbedingt dafür sorgen, dass die nützlichen Fakten nicht von den nutzlosen verdrängt werden.«

»Aber das Sonnensystem!«, wandte ich ein.

»Was zum Teufel nützt mir das?«, unterbrach er mich ungeduldig. »Sie sagen, dass die Erde um die Sonne kreist. Aber selbst wenn sie den Mond umkreisen würde, hätte dies weder für mich noch für meine Arbeit auch nur den Hauch einer Bedeutung.«

Ich hätte gern gefragt, worin seine Arbeit bestand, aber irgendetwas sagte mir, dass ihm diese Frage nicht in den Kram gepasst hätte. Trotzdem dachte ich über unser kurzes Gespräch nach und erlaubte mir, gewisse Schlüsse daraus zu ziehen. Angeblich eignete er sich kein nutzloses Wissen an. Deshalb musste alles, was er wusste, nützlich für ihn sein. Ich listete in Gedanken sämtliche Fachgebiete auf, in denen er sich als außergewöhnlich gut informiert erwiesen hatte. Ich kramte sogar einen Stift hervor, um sie zu notieren. Nachdem ich die Liste fertiggestellt hatte, musste ich lächeln. Sie sah folgendermaßen aus:

 

Sherlock Holmes – seine Beschränkungen

Kenntnisse der Literatur: Null.

" " Philosophie: Null.

" " Astronomie: Null.

" " Politik: Schwach.

" " Botanik: Unterschiedlich. Bestens informiert über Belladonna, Opium und Gifte im Allgemeinen. Keine Ahnung vom praktischen Gärtnern.

Kenntnisse der Geologie: Praxisorientiert, aber begrenzt. Vermag unterschiedliche Böden auf den ersten Blick voneinander zu unterscheiden. Zeigte mir nach Spaziergängen Spritzer auf der Hose und konnte anhand ihrer Farbe und Konsistenz bestimmen, aus welchem Stadtteil Londons sie stammten.

Kenntnisse der Chemie: Umfassend.

" " Anatomie: Genau, aber unsystematisch.

" " Sensationsliteratur: Gewaltig. Er scheint jedes Detail einer jeden Schreckenstat zu kennen, die im Laufe dieses Jahrhunderts begangen wurde.

Guter Geigenspieler.

Ausgezeichneter Stockfechter, Boxer und Schwertkämpfer.

Ansehnliche und handfeste Kenntnisse der britischen Gesetze.

 

Nachdem ich diesen Punkt erreicht hatte, warf ich die Liste verzweifelt ins Feuer. »Wenn ich nur wüsste, welches Ziel er mit der Bündelung dieser Fertigkeiten verfolgt und welchem Beruf sie zuzuordnen sind«, sagte ich zu mir selbst. »Ich sollte aufhören, mir den Kopf darüber zu zerbrechen.«

Wie ich sehe, habe ich unter anderem sein Geigenspiel erwähnt. Dieses war bemerkenswert, aber ebenso exzentrisch wie seine übrige Bildung. Ich wusste, dass er recht viele Stücke beherrschte, auch anspruchsvolle, denn auf meine Bitte hatte er einige meiner Lieblingskompositionen gespielt, darunter die Lieder von Mendelssohn. Sich selbst überlassen, spielte er allerdings fast nie bestimmte Stücke, versuchte sich auch nicht an mir bekannten Melodien, sondern schloss, wenn er abends im Lehnsessel saß, die Augen und zog den Bogen auf das Geratewohl über die Saiten des auf seinen Knien liegenden Instruments. Die Akkorde waren manchmal volltönend und melancholisch, manchmal fröhlich und phantastisch. Ob sie ihm beim Nachdenken behilflich waren oder einer Laune oder Eingebung entsprangen, wusste ich nicht, vermutete jedoch, dass sie den Gedanken entsprachen, die ihm gerade durch den Kopf gingen. Hätte er nach diesen quälenden Soli nicht jedes Mal wie zur Entschädigung einige meiner Lieblingsmelodien gespielt, dann hätte ich mich sicher irgendwann über diese Geduldsproben beschwert.

Während der ersten Woche bekamen wir keinen Besuch, und ich bildete mir schon ein, dass mein Mitbewohner ein ebenso einsamer Wolf wäre wie ich. Nach einer Weile musste ich aber feststellen, dass er einen großen Bekanntenkreis hatte, der sich aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten rekrutierte. Da gab es zum Beispiel einen kleinen, blassen Kerl mit dunklen Augen und rattenähnlichem Gesicht, der mir als Mr Lestrade vorgestellt wurde und im Laufe einer Woche drei- oder viermal erschien. Eines Vormittags klopfte eine junge, elegante Frau an die Tür und blieb über dreißig Minuten. Der Nachmittag des gleichen Tages bescherte uns einen grauhaarigen, an einen jüdischen Hausierer erinnernden Mann, der einen sehr aufgewühlten Eindruck machte und von einer nachlässig gekleideten Matrone gefolgt wurde. Bei einer anderen Gelegenheit führte mein Mitbewohner ein Gespräch mit einem alten, weißhaarigen Gentleman; bei einer weiteren mit einem Kofferträger der Eisenbahn in Samtuniform. Wenn eines dieser rätselhaften Individuen bei uns aufkreuzte, wurde ich von Sherlock Holmes gebeten, ihm das Wohnzimmer zu überlassen, und zog mich in mein Schlafzimmer zurück. Er entschuldigte sich stets dafür, mir diese Unannehmlichkeiten bereiten zu müssen. »Ich brauche das Zimmer für geschäftliche Zwecke«, sagte er. »Die Besucher sind meine Klienten.« Bei diesen Gelegenheiten hätte ich nachhaken können, aber mein Takt verhinderte, dass ich ihm die Pistole auf die Brust setzte. Anfangs ging ich davon aus, dass seine Verschlossenheit gute Gründe hatte – ein Irrtum, wie ich feststellen musste, denn er sprach das Thema bald darauf von sich aus an.

Am vierten März, ein Tag, den ich aus gutem Grund niemals vergessen werde, stand ich etwas früher auf als gewöhnlich und stellte fest, dass Sherlock Holmes noch beim Frühstück saß. Unsere Vermieterin hatte sich inzwischen an mein spätes Aufstehen gewöhnt, und deshalb war weder für mich gedeckt noch stand mein Kaffee bereit. Ich klingelte mit der typisch menschlichen widersinnigen Gereiztheit und gab ihr barsch zu verstehen, dass ich wach sei. Danach griff ich zu einer auf dem Tisch liegenden Zeitschrift, um mir die Zeit zu vertreiben, während mein Mitbewohner schweigend seinen Toast verspeiste. Ich überflog einen Artikel, der auf Höhe der Überschrift mit dem Bleistift markiert worden war.

Der etwas anmaßende Titel lautete »Das Buch des Lebens«, und der Verfasser vertrat die These, dass ein guter Beobachter durch eine systematische und genaue Untersuchung dessen, was er vor Augen habe, eine Fülle von Erkenntnissen gewinnen könne. In meinen Augen war der Artikel eine bemerkenswerte Mischung aus Scharfsinn und Schnapsideen. Die Argumente waren klug und logisch, die Schlussfolgerungen dagegen überzogen bis abstrus. Der Verfasser behauptete, die geheimsten Gedanken eines Menschen anhand eines kurzen Mienenspiels, flüchtigen Blicks oder Muskelzuckens lesen zu können. Ein geschulter Beobachter und Analytiker, so hieß es, könne jede Verstellung durchschauen. Seine Schlussfolgerungen seien ebenso unfehlbar wie manche Theorien Euklids, seine Erkenntnisse für Uneingeweihte so bahnbrechend, dass diese ihn vermutlich für einen Zauberer halten würden, bis sie die Kunst durchschaut hätten, durch die er zu seinen Ergebnissen gelangt sei.

»Anhand eines Wassertropfens«, so der Verfasser, »könnte ein Logiker auf die Existenz des Niagara River oder des Atlantiks schließen, ohne von beiden jemals gehört zu haben. Das Leben gleicht einer großen Kette, und sein Wesen offenbart sich in jedem einzelnen Kettenglied. Wie alle anderen Künste bedarf auch die Wissenschaft der Analyse und Schlussfolgerung eines langen und geduldigen Studiums, nur ist das menschliche Dasein leider zu kurz, um sich darin zu vervollkommnen. Bevor man sich den moralischen und geistigen Aspekten und damit den größten Herausforderungen dieser Kunst zuwendet, sollte man sich deshalb grundlegendere Fähigkeiten aneignen, zum Beispiel lernen, den Werdegang, den Beruf oder das Gewerbe eines Menschen auf den ersten Blick zu erkennen. Solche Übungen mögen albern wirken, schärfen aber den Blick und lehren uns, worauf wir achten müssen. Schuhe, Fingernägel oder Mantelärmel, der Zustand der Hose über den Knien, die Schwielen auf Daumen und Zeigefinger, die Ärmelaufschläge oder der Gesichtsausdruck – Details dieser Art verraten viel über andere Menschen, und dass sie, zusammengenommen, dem kompetenten Beobachter keine eindeutigen Erkenntnisse liefern, kann als nahezu ausgeschlossen gelten.«

»Was für ein unerträgliches Gewäsch!«, rief ich und klatschte die Zeitschrift auf den Tisch.

»Was denn?«, fragte Sherlock Holmes.

»Na, dieser Artikel«, sagte ich und zeigte mit dem Eierlöffel darauf, während ich mich zum Frühstück setzte. »Sie haben ihn angestrichen, müssen ihn also gelesen haben. Ich will nicht bestreiten, dass er intelligent geschrieben ist, aber er verärgert mich. Es handelt sich ganz eindeutig um die Theorien eines Stubenhockers, der diese hübschen, kleinen Paradoxe im Elfenbeinturm seines Arbeitszimmers ausgebrütet hat. Der praktische Nutzen ist gleich null. Ich würde den Mann am liebsten in einen U-Bahnwagen dritter Klasse setzen und auffordern, mir die Berufe aller anderen Fahrgäste zu nennen. Tausend zu eins, dass er scheitert.«

»Sie würden die Wette verlieren«, erwiderte Holmes gelassen. »Übrigens habe ich den Artikel verfasst.«

»Sie!«

»Ja. Ich habe sowohl einen Hang zur Beobachtung als auch zur Schlussfolgerung. Die Theorien, die ich zu Papier gebracht habe und die Sie als Unsinn abtun, sind absolut anwendungstauglich – so sehr, dass ich mich auf sie stütze, um mein tägliches Brot zu verdienen.«

»Und wie?«, entfuhr es mir.

»Ich habe einen sehr ausgefallenen Beruf. Ich bin beratender Detektiv, und als solcher vermutlich weltweit ein Einzelfall. Hier in London gibt es zig Kriminalbeamte und jede Menge Privatdetektive. Wenn diese Leute nicht mehr weiterkommen, klopfen sie an meine Tür, und ich setze sie auf die richtige Spur. Sie legen mir alle Beweise vor, und aufgrund meines kriminalgeschichtlichen Wissens gelingt es mir in den meisten Fällen, ihnen die Augen zu öffnen. Verbrechen weisen eine große Familienähnlichkeit auf, und wenn man die Details von tausend Fällen abrufbereit im Kopf hat, müsste es schon mit dem Teufel zugehen, wenn man nicht auch den Fall Nummer tausendeins aufklären könnte. Lestrade ist ein sehr bekannter Ermittler. Er war neulich hier, weil er in einem Fälschungsfall feststeckte.«

»Und die anderen Besucher?«

»Werden meist von privaten Detekteien an mich verwiesen. Es sind Leute, die Ärger haben und Aufklärung wünschen. Ich lausche ihrem Fall, sie lauschen meinen Kommentaren, und danach streiche ich mein Honorar ein.«

»Wollen Sie damit etwa sagen«, erwiderte ich, »dass Sie, ohne Ihr Zimmer zu verlassen, ein Rätsel lösen können, an dem sich andere, die alle Details aus persönlicher Anschauung kennen, die Zähne ausgebissen haben?«

»Genau. Da besitze ich eine gewisse Intuition. Gelegentlich werde ich mit einem komplizierteren Fall konfrontiert. Dann muss ich mich in Bewegung setzen, um mir selbst ein Bild zu machen. Ich verfüge über große Spezialkenntnisse, die ich auf jedes Problem anwenden kann. Sie erleichtern die Sache sehr. Die von Ihnen missbilligte Anleitung zur Schlussfolgerung, die ich in meinem Artikel dargelegt habe, ist von unschätzbarem Wert für meine Arbeit. Die Beobachtung ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Sie wirkten überrascht, als ich bei unserer ersten Begegnung sagte, Sie seien kürzlich aus Afghanistan zurückgekehrt.«

»Das wurde Ihnen bestimmt erzählt.«

»Oh, nein. Ich wusste, dass Sie in Afghanistan waren. Durch lange Übung denke ich so schnell, dass ich zu Ergebnissen gelange, ohne mir der entsprechenden Gedankenschritte bewusst zu sein. Trotzdem gibt es diese Schritte. Meine Überlegungen lauteten folgendermaßen: ›Dieser Gentleman ist dem Typ nach Mediziner, strahlt aber etwas Militärisches aus. Er muss also Sanitätsoffizier sein. Er ist kürzlich aus einer heißen Klimazone zurückgekehrt, denn sein Gesicht ist gebräunt, aber wie die blassen Handgelenke zeigen, ist das nicht sein natürlicher Teint. Sein hageres Gesicht zeugt von Strapazen und Krankheiten. Er wurde am linken Arm verwundet, denn er winkelt ihn auf unnatürlich steife Art an. In welcher Weltregion könnte ein britischer Sanitätsoffizier gegenwärtig viele Strapazen durchlitten haben und am Arm verwundet worden sein? Da kommt nur Afghanistan in Frage.‹ Diese Überlegungen dauerten keine Sekunde. Danach habe ich Sie mit den Worten verblüfft, Sie seien in Afghanistan gewesen.«

»Klingt kinderleicht, wie Sie es erklären«, sagte ich lächelnd. »Sie erinnern mich an Edgar Allan Poes Dupin. Und ich habe immer geglaubt, dass solche Menschen nur in Geschichten vorkommen.«

Sherlock Holmes stand auf und entfachte seine Pfeife. »Ihr Vergleich mit Dupin ist bestimmt als Kompliment gemeint«, erwiderte er. »Aber in meinen Augen war der Mann eine Flasche. Angeblich hat er nach fünfzehnminütigem Schweigen durch eine spontane Bemerkung herausgefunden, was in den Köpfen seiner Freunde vorging – ein angeberischer und billiger Trick. Er besaß zweifellos ein gewisses analytisches Genie, war aber keineswegs so phänomenal, wie Poe glaubte.«

»Kennen Sie den Roman Monsieur Lecoq von Gaboriau?«, fragte ich. »Kommt Lecoq Ihrer Vorstellung von einem Detektiv etwas näher?«

Sherlock Holmes schnaubte verächtlich. »Lecoq war ein lausiger Stümper«, sagte er zornig. »Er besaß nur eine herausragende Eigenschaft, seine Energie. Der Roman ist ein echtes Brechmittel. Lecoq sollte einen unbekannten Häftling identifizieren. Das wäre mir innerhalb von vierundzwanzig Stunden gelungen, er hingegen brauchte sechs Monate oder mehr. Dieses Machwerk führt Detektiven bestenfalls vor Augen, wie man es nicht machen sollte.«

Ich ärgerte mich insgeheim darüber, dass er zwei von mir bewunderte Charaktere auf so arrogante Weise herunterputzte, ging zum Fenster und betrachtete die belebte Straße. »Der Mann ist hochintelligent«, dachte ich bei mir, »aber auch maßlos eitel.«

»Heutzutage gibt es weder echte Verbrechen noch wahre Verbrecher«, beschwerte er sich. »Wozu braucht man da als Detektiv noch Denkvermögen? Ich weiß genau, dass ich das Zeug dazu habe, mir einen Namen zu machen, denn es gibt niemanden und hat auch niemals jemanden gegeben, der über ein so umfassendes Wissen und ein so großes Naturtalent für die Aufklärung von Verbrechen verfügt wie ich. Und was habe ich davon? Es gibt keine Verbrechen, die eine Aufklärung lohnen, höchstens Amateurgaunereien mit einem so simplen Motiv, dass sogar ein Beamter von Scotland Yard kein Problem damit hätte, sie zu durchschauen.«

Ich ärgerte mich immer noch über seine Arroganz und hielt es für das Beste, das Thema zu wechseln.

»Was mag der Mann dort suchen?«, fragte ich und zeigte auf eine stämmige, schlicht gekleidete Gestalt, die auf der anderen Straßenseite vorbeiging. Der Mann war offenbar ein Bote, denn er trug einen großen, blauen Umschlag bei sich und schien nach einer bestimmten Hausnummer Ausschau zu halten.

»Meinen Sie den ehemaligen Sergeant der Marine?«, sagte Sherlock Holmes.

»Schon wieder!«, dachte ich. »Er weiß genau, dass ich seine Behauptung nicht nachprüfen kann.«

In diesem Moment entdeckte der Mann die Hausnummer auf unserer Tür und rannte über die Straße. Wir hörten unten ein lautes Klopfen und eine tiefe Stimme, dann polterte jemand die Treppe hinauf.

»Für Mr Sherlock Holmes«, sagte er, trat in das Zimmer und überreichte meinem Freund den Brief.

Hier bot sich eine Gelegenheit, seine Selbstüberschätzung zu entlarven. Daran hatte er nicht gedacht, als er seine spontane Behauptung aufgestellt hatte. »Darf ich fragen, junger Mann«, sagte ich mit möglichst neutraler Stimme, »welchen Beruf Sie ausüben?«

»Hotelportier, Sir«, antworte er schroff. »Uniform wird gerade geflickt.«

»Und davor?«, fragte ich und warf meinem Mitbewohner einen etwas schadenfrohen Blick zu.

»Sergeant, Sir. Leichte Marineinfanterie, Sir. Kein Antwortschreiben? Sehr wohl, Sir.«

Er schlug die Hacken zusammen, salutierte und war verschwunden.

DREIDas Rätsel von Lauriston Garden

Ich muss gestehen, dass mich dieser neuerliche Beweis für die Praxistauglichkeit der Theorien meines Mitbewohners stark verblüffte. Meine Achtung vor seinen analytischen Fähigkeiten stieg erheblich. Trotzdem argwöhnte ich, dass er diesen Vorfall inszeniert haben könnte, um sich wichtig zu machen, obwohl ich andererseits nicht wusste, welchen Vorteil er davon gehabt hätte, ausgerechnet mich zu beeindrucken. Als ich wieder hinsah, hatte er die Nachricht gelesen, und in seinen Augen lag der leere und stumpfe, grüblerische Blick.

»Woraus haben Sie das gefolgert, Teufel nochmal?«, fragte ich.

»Was gefolgert?«, sagte er gereizt.

»Na, dass es sich um einen ehemaligen Sergeant der Marineinfanterie handelt.«

»Ich habe keine Zeit für solche Mätzchen«, erwiderte er barsch, fügte aber lächelnd hinzu: »Verzeihen Sie meine Grobheit. Sie haben mich beim Nachdenken gestört, aber vielleicht ist das gut so. Sie haben also wirklich nicht erkannt, dass der Mann früher Sergeant bei der Marine war?«

»Nein. Wirklich nicht.«

»Die Erkenntnis kam schnell, aber ich kann sie nicht so leicht erklären. Wenn man Sie bitten würde, den Beweis dafür zu erbringen, dass zwei plus zwei gleich vier ist, dann würde Sie das vor Probleme stellen, obwohl Sie von dem Ergebnis überzeugt wären. Ich konnte sogar aus der Entfernung die Tätowierung eines großen, blauen Ankers auf dem Handrücken des Mannes erkennen. Das sprach für einen Seemann. Seine Haltung war allerdings militärisch, die Koteletten entsprachen den Dienstvorschriften der Marine. Er strahlte Autorität und Selbstbewusstsein aus. Sie haben sicher bemerkt, wie er den Kopf hielt und den Stock schwang. Außerdem erweckte er den Eindruck eines soliden, ehrenwerten Mannes mittleren Alters – zusammengenommen deuteten diese Fakten auf einen ehemaligen Sergeant hin.«

»Großartig!«, rief ich.

»Nicht der Rede wert«, erwiderte Holmes, doch seine Miene verriet, dass er sich über meine Verblüffung und meine Bewunderung freute. »Ich habe vorhin behauptet, dass es keine Verbrecher mehr gibt. Offenbar habe ich mich geirrt – hier, schauen Sie mal!« Er warf mir den Brief zu, den der Portier gebracht hatte.

»Mein Gott«, rief ich, während ich das Schreiben überflog, »wie schrecklich!«

»Ja, scheint kein ganz gewöhnlicher Fall zu sein«, bemerkte er gelassen. »Wären Sie so nett, den Brief laut vorzulesen?«

Hier folgen die Zeilen, die ich vorlas:

Sehr geehrter Mr Sherlock Holmes,

 

in der letzten Nacht wurde in Lauriston Gardens Nr. 3, Brixton Road, eine Straftat begangen. Einem unserer Streifenpolizisten fiel gegen zwei Uhr morgens ein Licht in dem betreffenden Haus auf. Da es leer steht, schöpfte er Verdacht. Er stellte fest, dass die Tür offen war, und entdeckte im unmöblierten Esszimmer die Leiche eines gutgekleideten Herrn, in dessen Tasche Visitenkarten mit der Aufschrift »Enoch J. Drebber, Cleveland, Ohio, U.S.A.« steckten. Es gibt weder Anzeichen für einen Raub noch Hinweise darauf, wie der Mann zu Tode gekommen ist. Im Zimmer finden sich zwar Blutspuren, aber der Tote weist keine Verletzungen auf. Es ist mir unbegreiflich, wie er in das Haus gelangen konnte; um ehrlich zu sein, ist die Sache sehr verwirrend. Sollte es Ihnen möglich sein, den Tatort bis zwölf Uhr mittags aufzusuchen, so werden Sie mich dort vorfinden. Bis zu Ihrem Eintreffen werde ich nichts anrühren. Wenn Sie verhindert sind, versorge ich Sie gern mit weiteren Informationen. Ich würde es Ihnen hoch anrechnen, wenn Sie die Freundlichkeit hätten, Ihre Meinung dazu zu äußern.

 

Ihr ergebener Tobias Gregson

»Gregson ist einer der klügsten Köpfe von Scotland Yard«, bemerkte mein Freund. »Er und Lestrade sind die Sehenden unter den Blinden. Beide sind auf Zack und Draht, aber auch entsetzlich konventionell. Außerdem stehen sie auf Kriegsfuß miteinander. Sie sind so eifersüchtig wie zwei Modepüppchen. Wenn man beide zugleich auf den Fall ansetzt, kann die Sache lustig werden.«

Sein Plauderton verblüffte mich. »Sie dürfen keine weitere Sekunde vergeuden«, rief ich. »Soll ich eine Droschke rufen?«

»Hm … meinen Sie, ich sollte hinfahren? Ich bin der schlimmste Faulpelz, der jemals in zwei Schuhen steckte – jedenfalls, wenn ich wieder einmal einen Durchhänger habe. Zeitweise kann ich ein echtes Energiebündel sein.«

»Wie bitte? Nach einer solchen Gelegenheit sehnen Sie sich doch schon lange.«

»Und was hätte ich davon, lieber Freund? Wenn ich dieses Rätsel löse, werden Gregson, Lestrade und Co. alle Lorbeeren ernten, darauf können Sie Gift nehmen. Das ist der Nachteil an meiner Rolle als inoffizieller Ermittler.«

»Aber er bittet Sie um Hilfe.«

»Ja. Er weiß, dass ich ihm überlegen bin, und gibt das auch zu, aber er würde sich lieber die Zunge abbeißen, als dies einer dritten Person zu gestehen. Andererseits – warum nicht? Schauen wir uns die Sache mal an. Ich werde auf eigene Faust ermitteln. Vielleicht kann ich wenigstens über Lestrade und Gregson lachen, wenn ich schon nichts anderes davon habe. Kommen Sie!«

Seine Apathie schien einem Energieschub gewichen zu sein, denn er warf sich den Mantel über und suchte im Eiltempo seine Sachen zusammen.

»Holen Sie Ihren Hut«, sagte er.

»Wollen Sie, dass ich mitkomme?«

»Ja, wenn Sie nichts Besseres zu tun haben.« Eine Minute später saßen wir in einer Droschke und rasten zur Brixton Road.

Der Vormittag war nebelig und bewölkt, und der graue, über den Hausdächern hängende Schleier wirkte wie eine Reflexion der schlammfarbigen Straßen. Mein Begleiter war bester Laune und plauderte über Geigen aus Cremona und den Unterschied zwischen einer Stradivari und einer Amati. Was mich betraf, so blieb ich stumm, denn das trübe Wetter und der noch betrüblichere Fall, auf den wir uns eingelassen hatten, drückten auf meine Stimmung.

Schließlich unterbrach ich seine musikalischen Abhandlungen mit den Worten: »Sie scheinen kaum einen Gedanken auf das Verbrechen zu verschwenden.«

»Noch keine Fakten«, erwiderte er. »Zu theoretisieren, bevor alle Fakten auf dem Tisch liegen, ist ein kapitaler Fehler. Das schadet der Unvoreingenommenheit des Urteils.«

»Gleich haben Sie Ihre Fakten«, sagte ich und streckte einen Finger aus. »Dies ist die Brixton Road, und wenn mich nicht alles täuscht, ist dort das Haus.«

»Stimmt. Anhalten, Kutscher! Halt!« Wir waren noch gut hundert Meter vom Haus entfernt, aber er bestand darauf auszusteigen, und wir gingen den restlichen Weg zu Fuß.

Lauriston Gardens Nr. 3 wirkte bedrohlich, fast verflucht. Es handelte sich um eines von vier Wohnhäusern, die ein Stück von der Straße versetzt erbaut worden waren. Zwei waren bewohnt, zwei standen leer. Letztere waren zweistöckig, und ihre Fensterreihen erweckten einen öden und verlassenen, ja melancholischen Eindruck und wurden nur durch gelegentliche Schilder mit der Aufschrift »Zu vermieten« aufgelockert, die den trüben Scheiben den Anschein verliehen, an grauem Star zu leiden. Kleine Gärten, durchzogen von einem schmalen und gelblichen, offenbar aus Lehm und Kies bestehenden Pfad und überwuchert von einer Fülle kränklicher Pflanzen, trennten die Häuser von der Straße. Da es nachts geregnet hatte, war der Boden matschig. An der Backsteinmauer des Gartens der Nr. 3, einen knappen Meter hoch und mit einer niedrigen Holzbalustrade versehen, lehnte ein kräftiger Constable, vor dem sich Schaulustige versammelt hatten, die in der vergeblichen Hoffnung, etwas von den Vorgängen im Inneren des Hauses zu erhaschen, angestrengt glotzten und die Hälse reckten.

Ich hatte geglaubt, Sherlock Holmes würde sofort in das Haus stürmen und mit der Ergründung des Rätsels beginnen, aber nichts schien ihm ferner zu liegen. Stattdessen schlenderte er mit einer Lässigkeit, die mir in Anbetracht der Umstände fast affektiert vorkam, auf dem Bürgersteig hin und her, musterte gedankenverloren Erdboden und Himmel, die Häuser gegenüber und die Balustrade. Nachdem er all dies ausführlich in Augenschein genommen hatte, folgte er mit langsamen Schritten und gesenktem Blick dem zum Haus führenden Weg, genauer dem Rasen am Rand des Weges. Er blieb zweimal stehen, und einmal sah ich ihn lächeln, konnte hören, wie er zufrieden brummte. Der feuchte und lehmige Boden war von Fußspuren übersät, aber da inzwischen viele Polizisten ein- und ausgegangen waren, wusste ich beim besten Willen nicht, wie Holmes hier etwas zu entdecken hoffte. Andererseits hatte er Tempo und Präzision seiner Wahrnehmungsfähigkeit so eindrucksvoll bewiesen, dass er sicher vieles bemerkte, was mir verborgen blieb.

Bevor wir die Haustür erreichten, eilte ein hochgewachsener Mann mit blassem Gesicht, flachsblonden Haaren und einem Notizbuch in der Hand auf uns zu und schüttelte meinem Begleiter überschwänglich die Hand. »Wie schön, dass Sie gekommen sind«, sagte er. »Ich habe nichts angerührt.«

»Ach ja?«, erwiderte mein Freund und zeigte auf den Pfad. »Eine Bisonherde hätte keine größeren Zerstörungen anrichten können. Aber Sie haben sicher Ihre eigenen Schlüsse gezogen, bevor Sie diese Trampelei zugelassen haben, Gregson.«

»Ich hatte im Haus alle Hände voll zu tun«, sagte der Detective ausweichend. »Mein Kollege, Mr Lestrade, ist auch hier. Ich habe mich darauf verlassen, dass er hier draußen die Spuren sichert.«

Holmes sah mich sardonisch an und zog eine Augenbraue hoch. »Wenn zwei so famose Männer wie Sie und Lestrade den Fall beackern, wird ein Dritter wahrscheinlich wenig Neues herausfinden«, sagte er.

Gregson rieb selbstzufrieden seine Hände. »Ich denke, wir haben alles Erforderliche getan«, erwiderte er. »Andererseits handelt es sich um ein sehr rätselhaftes Verbrechen, und ich weiß ja, wie scharf Sie auf Fälle dieser Art sind.«

»Sind Sie mit einer Droschke gekommen?«, fragte Sherlock Holmes.

»Nein, Sir.«

»Lestrade auch nicht?«

»Nein, Sir.«

»Gut. Gehen wir hinein, um das Zimmer zu untersuchen.« Mit dieser Bemerkung betrat er das Haus, gefolgt von dem verblüfften Gregson.

Ein kurzer Flur aus nackten, staubigen Dielenbrettern führte zu den Wirtschaftsräumen und zur Küche, die rechts und links je eine Tür aufwies. Eine davon schien seit Monaten nicht mehr benutzt worden zu sein, die andere öffnete sich zum Esszimmer, in dem das ungewöhnliche Verbrechen begangen worden war. Holmes trat ein, und ich folgte ihm, erfüllt von dem Gefühl der Bedrückung, das die Gegenwart eines Toten typischerweise in uns auslöst.

Das quadratische Zimmer war unmöbliert und wirkte deshalb noch größer, als es ohnehin schon war. Einige Bahnen der knallbunten, geschmacklosen Tapete hatten sich von den Wänden gelöst und entblößten gelblichen Putz. Gegenüber der Tür befand sich ein protziger Kamin mit einem Sims aus weißer Marmorimitation, auf dessen Ecke der Stumpf einer roten Wachskerze klebte. Das einzige Fenster war so dreckig, dass das Licht das Zimmer in ein fahles Grau tauchte, eine Wirkung, die durch den dichten Staub, der in der Wohnung alles bedeckte, noch gesteigert wurde.

Diese Details wurden mir erst später bewusst. Anfangs galt meine Aufmerksamkeit einzig und allein der Unbehagen auslösenden Gestalt, die reglos auf den Dielenbrettern lag, den leeren Blick zur vergilbten Decke gerichtet. Der Tote war dreiundvierzig oder vierundvierzig Jahre alt, mittelgroß und breitschultrig, mit dichten, schwarzen Locken und kurzgestutztem Bart. Er trug einen schweren Gehrock aus Wolle, eine Weste und eine helle Hose. Hemdkragen und Ärmelaufschläge waren in tadellosem Zustand. Neben ihm lag ein eleganter, gutgebürsteter Zylinder. Sein Todeskampf musste schrecklich gewesen sein, denn die Hände waren verkrampft, die Arme weit ausgeworfen, die Beine regelrecht verknotet. Aus seiner erstarrten Miene sprachen tiefes Entsetzen und ein so maßloser Hass, wie ich ihn bei einem Menschen noch nie gesehen hatte. Bösartige Grimasse und niedrige Stirn, stumpfe Nase und vorstehender Unterkiefer verliehen dem Toten etwas von einem Affen, ein Eindruck, der durch die verrenkte Haltung noch verstärkt wurde. Ich habe den Tod in vielen Gestalten gesehen, fand ihn aber niemals so furchteinflößend wie in dieser verwahrlosten und finsteren Wohnung, die an einer der Hauptverkehrsadern der Londoner Vorstädte lag.

Der an ein Frettchen erinnernde, hagere Lestrade begrüßte uns vor der Tür.

»Ein aufsehenerregender Fall, Sir«, meinte er, »der alles in den Schatten stellt, was ich bisher erlebt habe, und ich bin weiß Gott kein Angsthase.«

»Irgendwelche Anhaltspunkte?«, fragte Gregson.

»Keine«, antwortete Lestrade.

Sherlock Holmes kniete sich neben die Leiche und unterzog sie einer eingehenden Untersuchung. »Gibt es auch wirklich keine äußeren Verletzungen?«, fragte er und zeigte auf die zahlreichen Blutflecken und Blutspritzer, die ringsumher zu sehen waren.

»Fehlanzeige!«, riefen die Detectives wie aus einem Mund.

»Dann stammt das Blut von einer zweiten Person – vermutlich von dem Mörder, vorausgesetzt, wir haben es mit einem Mord zu tun. Das erinnert mich an die Todesumstände Van Jansens, der 1834 in Utrecht ermordet wurde. Kennen Sie den Fall, Gregson?«

»Nein, Sir.«

»Müssen Sie unbedingt nachlesen. Unter der Sonne gibt es nichts Neues. Alles war schon einmal da.«

Während er sprach, flogen seine Finger hin und her, fühlten und tasteten, öffneten Knöpfe und untersuchten jedes Detail, wobei der schon erwähnte zerstreute Blick in seinen Augen lag. Die Untersuchung ging so flott über die Bühne, dass man kaum merkte, wie gründlich sie gewesen war. Zuletzt schnupperte Holmes an den Lippen des Toten und betrachtete intensiv die Sohlen der Kunstlederstiefel.

»Und er wurde tatsächlich nicht bewegt?«, fragte er.

»Nur soweit es für die Untersuchung notwendig war.«

»Sie können ihn ins Leichenschauhaus bringen lassen«, sagte Sherlock Holmes. »Er wird keine weiteren Erkenntnisse liefern.«

Auf Gregsons Ruf kamen vier Männer mit einer Bahre herein, um den Toten abzutransportieren. Als sie ihn anheben wollten, klimperte ein Ring zu Boden und rollte über die Dielenbretter. Lestrade griff danach und betrachtete ihn verblüfft.

»Hier war eine Frau!«, rief er. »Das ist der Ehering einer Frau.«

Während er sprach, zeigte er uns den auf seiner Handfläche liegenden Ring. Wir traten näher und starrten auf das Stück. Kein Zweifel: Dieser schlichte Goldring hatte einst den Finger einer Braut geschmückt.

»Das kompliziert die Sache«, sagte Gregson. »Und sie ist weiß Gott schon kompliziert genug.«

»Könnte es die Sache nicht auch vereinfachen?«, erwiderte Holmes. »Wir haben jedenfalls nichts davon, weiter den Ring anzustarren. Was haben Sie in seinen Taschen gefunden?«

»Ist alles dort drüben«, sagte Gregson und zeigte auf eine Handvoll Dinge, die auf der untersten Treppenstufe lagen. »Eine goldene Uhr von Barraud, London, mit der Nummer 97163. Eine goldene Uhrkette, sehr schwer und solide. Ein goldener Ring mit dem Freimaurersymbol. Eine goldene Nadel mit dem Kopf einer Bulldogge und Rubinen als Augen. Ein Etui aus feinem, rotbraunem russischen Leder, das Visitenkarten mit dem Aufdruck Enoch J. Drebber, Cleveland, enthält. Dem entsprechen die Initialen E.J.D. auf der Kleidung. Kein Portemonnaie, aber loses Geld im Wert von sieben Pfund dreizehn. Taschenbuchausgabe von Boccaccios Decamerone mit dem Namen Joseph Stangerson auf dem Vorsatzpapier. Zwei Briefe – einer adressiert an E.J. Drebber, der andere an Joseph Stangerson.«

»Unter welcher Adresse?«

»American Exchange, Strand – lagen zur Abholung bereit. Beide stammen von der Guion Steamship Company und betreffen eine Passage von Liverpool nach New York. Dieser Unglücksrabe wollte heimkehren.«

»Haben Sie Nachforschungen zu dem anderen Mann angestellt, diesem Stangerson?«

»Umgehend, Sir«, antwortete Gregson. »Ich habe Anzeigen in allen Zeitungen aufgegeben und einen meiner Männer zur American Exchange geschickt, aber er ist noch nicht zurück.«

»Haben Sie in Cleveland angefragt?«

»Wir haben heute Morgen telegraphiert.«

»Was steht in Ihrer Anfrage?«

»Wir haben die Situation geschildert und betont, dass wir uns über jede Information freuen, die uns weiterhilft.«

»Sie haben also keine Fragen zu Einzelheiten gestellt, die Sie für besonders wichtig halten?«

»Ich habe mich nach Stangerson erkundigt.«

»Das ist alles? Gibt es in Ihren Augen kein Detail, an dem der ganze Fall zu hängen scheint? Sie wollen kein weiteres Telegramm schicken?«

»Ich habe alles Erforderliche gesagt«, erwiderte Gregson pikiert.

Sherlock Holmes lachte leise in sich hinein und schien gerade eine Bemerkung machen zu wollen, als Lestrade, der sich während des Gesprächs im Esszimmer aufgehalten hatte, zu uns in den Flur kam. Er rieb sich auf eine wichtigtuerische und selbstzufriedene Art die Hände.

»Mr Gregson«, sagte er, »ich habe soeben eine Entdeckung von herausragender Bedeutung gemacht, die wohl untergegangen wäre, wenn ich die Wände nicht so genau untersucht hätte.«

Die Augen des kleinen Mannes funkelten, während er sprach. Er unterdrückte offensichtlich seine Freude darüber, seinem Kollegen eine Nasenlänge voraus zu sein.

»Kommen Sie«, sagte er und eilte wieder in das Zimmer, in dem nach dem Abtransport des unheimlichen Toten eine gelöstere Atmosphäre herrschte. »Hier ist es!«

Er riss ein Streichholz an einem Stiefel an und hielt es vor die Wand.

»Schauen Sie mal!«, sagte er triumphierend.

Wie schon erwähnt, hatte sich die Tapete stellenweise gelöst. Das Stück, das in dieser bestimmten Ecke fehlte, enthüllte ein gelbes Quadrat groben Putzes. Auf diese Fläche hatte jemand in blutroten Buchstaben ein Wort gekritzelt:

Rache

»Was halten Sie davon?«, rief der Detective wie ein Schausteller, der seine Attraktion präsentiert. »Dies wurde übersehen, weil es sich um die dunkelste Ecke des Zimmers handelt. Niemand kam auf die Idee, hier nachzuschauen. Sehen Sie, wie die Farbe an der Wand hinuntergelaufen ist? Damit ist die Möglichkeit eines Selbstmords endgültig vom Tisch. Warum wurde diese Ecke für das Wort gewählt? Ich erkläre es Ihnen. Beachten sie die Kerze auf dem Kaminsims. Sie brannte die ganze Zeit, und während sie brannte, war diese Ecke der hellste, nicht der dunkelste Wandabschnitt.«

»Schön, Sie haben es entdeckt, aber was hat es zu bedeuten?«, fragte Gregson geringschätzig.

»Zu bedeuten? Es bedeutet selbstverständlich, dass jemand den Frauennamen Rachel schreiben wollte, vor der Vollendung jedoch gestört wurde. Glauben Sie mir: Wenn sich dieser Fall aufklärt, werden Sie feststellen, dass eine Frau namens Rachel darin verwickelt ist. Ja, lachen Sie nur, Mr Sherlock Holmes. Sie mögen pfiffig sein, aber wenn es hart auf hart kommt, sind die alten Spürhunde immer noch die besten.«

»Ich bitte aufrichtig um Entschuldigung!«, sagte mein Begleiter, der den kleinen Mann durch seinen Lachanfall verletzt hatte. »Ihnen gebührt eindeutig die Ehre, diese Entdeckung gemacht zu haben, und Sie vermuten zu Recht, dass dieses Wort von der zweiten Person geschrieben wurde, die an dem rätselhaften Vorfall der letzten Nacht beteiligt war. Ich hatte noch keine Gelegenheit, das Zimmer genauer zu untersuchen, würde dies aber gern nachholen, wenn Sie gestatten.«

Während er sprach, holte er ein Maßband und eine große, runde Lupe aus der Tasche. So ausgerüstet, bewegte er sich lautlos durch das Zimmer, blieb manchmal stehen, kniete sich ab und zu hin, legte sich einmal sogar auf den Bauch. Er war so in seine Arbeit vertieft, dass wir Luft für ihn zu sein schienen, denn er plapperte die ganze Zeit vor sich hin, staunte lautstark, ächzte und pfiff und stieß leise Rufe aus, als wollte er sich Mut machen oder seiner Hoffnung Ausdruck verleihen. Während ich ihn beobachtete, musste ich an einen reinrassigen und guttrainierten Foxterrier denken, der eifrig winselnd im Dickicht herumflitzt, bis er die verlorene Fährte wiederfindet. Sherlock Holmes setzte seine Nachforschungen weitere zwanzig Minuten fort, maß sorgfältig die Abstände zwischen Punkten, deren Bedeutung mir verborgen blieb, und nahm aus ebenso unerfindlichen Gründen Maß an der Wand. Außerdem las er behutsam ein Häufchen grauen Staubes auf und schüttete es in einen Umschlag. Zuletzt nahm er das auf die Wand geschriebene Wort unter die Lupe und untersuchte jeden einzelnen Buchstaben mit geradezu pedantischer Gewissenhaftigkeit. Danach schien er zufrieden zu sein, denn er steckte Maßband und Lupe wieder ein.

»Angeblich zeichnet sich das Genie durch unerschöpfliche Hingabe aus«, bemerkte er lächelnd. »Das ist zwar eine schlechte Definition, aber auf die Arbeit eines Detektivs trifft sie zu.«

Gregson und Lestrade hatten die Aktivitäten ihres Amateurkollegen mit großer Neugier und einiger Verachtung verfolgt. Sie schienen nicht zu begreifen, dass selbst die banalsten Handlungen von Sherlock Holmes einem praktischen Zweck dienten. Ich dagegen begann seine Vorgehensweise allmählich zu verstehen.

»Und Ihre Meinung, Sir?«, fragten beide zugleich.

»Oh, ich bilde mir nicht ein, Ihnen helfen zu können, zumal ich Sie nicht des Verdienstes berauben möchte, der Ihnen in diesem Fall gebührt«, antwortete mein Freund. »Sie kommen so gut voran, dass jede Einmischung von außen ein Verbrechen wäre.« Seine Worte troffen geradezu von Sarkasmus. »Wenn Sie mich über Ihre Ermittlungsergebnisse auf dem Laufenden halten«, fuhr er fort, »bin ich natürlich bereit, Sie nach Kräften zu unterstützen. In der Zwischenzeit würde ich gern mit dem Constable sprechen, der den Toten gefunden hat. Nennen Sie mir Namen und Adresse?«

Lestrade warf einen Blick in sein Notizbuch. »John Rance«, sagte er. »Er hat gerade dienstfrei. Sie finden ihn in Audley Court 46, Kennington Park Gate.«

Holmes notierte sich die Adresse.

»Kommen Sie, Doktor«, sagte er, »wir statten dem Mann einen Besuch ab. Ich möchte Sie aber noch auf etwas hinweisen, das Ihnen weiterhelfen könnte«, ergänzte er, an die beiden Detectives gewandt. »Es wurde ein Mord begangen, und der Täter ist ein Mann im besten Alter. Er misst über eins achtzig, hat aber relativ kleine Füße, trug klobige Stiefel mit breiten Kappen und rauchte eine dunkle Zigarre aus Tiruchirapalli. Er traf gemeinsam mit seinem Opfer in einer vierräderigen Droschke hier ein, gezogen von einem Pferd mit drei alten und einem neuen Hufeisen unter einem Vorderhuf. Der Mörder hat ein gerötetes Gesicht, und die Fingernägel seiner rechten Hand sind ungewöhnlich lang. Das sind nur ein paar Hinweise, aber sie helfen Ihnen vielleicht weiter.«

Lestrade und Gregson tauschten ein ungläubiges Lächeln.

»Ein Mord? Und wie wurde der Mann umgebracht?«, wollte Lestrade wissen.

»Gift«, antwortete Sherlock Holmes knapp und ging zur Tür. »Ach, übrigens, Lestrade«, fügte er hinzu und drehte sich auf der Schwelle noch einmal um. »Es handelt sich nicht um einen Frauennamen, sondern um das deutsche Wort ›Rache‹. Verplempern Sie Ihre Zeit also nicht damit, eine Miss Rachel zu suchen.«

Nach dieser spitzen Bemerkung verschwand er und ließ seine beiden Konkurrenten mit offenen Mündern zurück.

VIERWas John Rance zu berichten wusste

Wir verließen Lauriston Gardens Nr. 3 gegen dreizehn Uhr. Sherlock Holmes steuerte auf das nächste Telegrafenamt zu und verschickte ein langes Telegramm. Danach winkte er eine Droschke herbei und bat den Kutscher, zu der von Lestrade genannten Adresse zu fahren.

»Nichts geht über handfeste Beweise«, sagte er. »Um offen zu sein, bin ich mir über diesen Fall schon jetzt im Klaren, aber es kann nicht schaden, alles zu erfahren, was es zu erfahren gibt.«

»Sie erstaunen mich, Holmes«, erwiderte ich. »Sie können sich der vielen Details, die Sie vorhin genannt haben, doch nicht hundertprozentig sicher sein.«

»Ein Irrtum ist ausgeschlossen«, sagte er. »Nach unserer Ankunft fiel mir sofort auf, dass Droschkenräder dicht vor der Bordsteinkante zwei tiefe Spuren hinterlassen hatten. Weil es nachts zum ersten Mal seit acht Tagen geregnet hat, müssen die Spuren während der letzten Nacht entstanden sein. Außerdem entdeckte ich Hufabdrücke, und da sich einer von ihnen deutlicher abzeichnet als die anderen drei, muss es sich um ein neues Hufeisen handeln. Die Tatsache, dass die Droschke nach dem Einsetzen des Regens dort war, nicht aber vormittags – wie Gregson glaubhaft versicherte –, besagt, dass die zwei Personen nachts vor dem Haus abgesetzt wurden.«

»Klingt einleuchtend«, erwiderte ich. »Aber wie sind Sie auf die Körpergröße der zweiten Person gekommen?«

»In neun von zehn Fällen kann man die Körpergröße eines Mannes anhand seiner Schrittlänge bestimmen. Das ist eine einfache Rechnung, aber ich will Sie nicht mit Zahlen langweilen. Ich habe die Spuren des Mannes sowohl im Lehm als auch auf dem staubigen Fußboden des Hauses entdeckt. So konnte ich die Berechnung nachprüfen. Das Wort wiederum befindet sich circa einen Meter achtzig über dem Boden, und wenn man etwas auf eine Wand schreibt, dann automatisch auf Augenhöhe. Das war kinderleicht.«

»Und sein Alter?«, fragte ich.

»Um mit einem Schritt problemlos einen Meter dreißig zu überbrücken, muss man relativ jung sein, und ein solcher Schritt wurde im Garten über eine Pfütze getan. Eine Person trug Kunstlederschuhe und machte normale Schritte, die andere trug Stiefel mit breiten Kappen und sprang über die Pfütze. Liegt alles offen auf der Hand. Ich wende die Regeln der Wahrnehmung und der Schlussfolgerung, die ich in meinem Artikel dargelegt habe, nur auf das alltägliche Leben an. Noch etwas, das Ihnen Kopfschmerzen bereitet?«

»Die Fingernägel und der Tabak aus Tiruchirapalli«, antwortete ich.

»Das Wort wurde mit einem in Blut getauchten Zeigefinger auf die Wand geschrieben. Wie ich durch die Lupe erkennen konnte, wurde der Putz dabei leicht zerkratzt. Außerdem habe ich dunkle, flockige Asche vom Fußboden aufgelesen, die nur von Tabak aus dem indischen Tiruchirapalli stammen kann. Ich habe mich eingehend mit Tabakasche beschäftigt – habe sogar eine Monographie zu diesem Thema verfasst. Ich bilde mir ein, die Asche einer jeden Zigarrenmarke oder Tabaksorte auf den ersten Blick erkennen zu können. Solche Kenntnisse unterscheiden einen fähigen Detektiv von Ermittlern vom Schlage Gregsons und Lestrades.«

»Und das gerötete Gesicht?«

»Das ist eine gewagtere Vermutung. Trotzdem bin ich von ihrer Richtigkeit überzeugt. Im Moment kann ich Ihnen allerdings nicht mehr dazu sagen.«