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Vollständig neu überarbeitete, korrigierte und illustrierte Fassung Wie kann man Sherlock Holmes nicht kennen? Den berühmtesten Detektiv der Geschichte, der mit seinem messerscharfen Verstand und seiner Ermittlungsart als Vorlage für fast alle kriminalistischen Nachfolger diente. Hier lernen Sie das lesenswerte Original kennen. "Das Zeichen der Vier" ist der zweite Sherlock-Holmes-Roman von Sir Arthur Conan Doyle. Sherlock Holmes und Dr. Watson werden von Miss Mary Morstan beauftragt, bei der Suche nach ihrem verschollenen Vater zu helfen. Dieser war Offizier in Indien und verschwand vor zehn Jahren bei seiner Rückkehr nach England. Ein anonymer Brief bringt die drei auf die Spur des Vermissten und liefert erste Hinweise auf einen geheimnisvollen Schatz. Mit 25 Illustrationen und einem Aufsatz zu Leben und Werk des Autors Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 204
Arthur Conan Doyle
Sherlock Holmes – Das Zeichen der Vier
Vollständige & Illustrierte Fassung
Arthur Conan Doyle
Sherlock Holmes – Das Zeichen der Vier
Vollständige & Illustrierte Fassung
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Margarethe JacobiIllustrationen: Richard Gutschmidt EV: Robert Lutz Verlag, Stuttgart, 1894 8. Auflage, ISBN 978-3-954180-10-3
null-papier.de/katalog
Inhaltsverzeichnis
Die Sherlock Holmes-Sammlung
Arthur Conan Doyle & Sherlock Holmes
Erstes Kapitel – Beobachtung und Schlussfolgerung
Zweites Kapitel – Ein rätselhafter Fall
Drittes Kapitel – Wohin geht die Fahrt?
Viertes Kapitel – Die Erzählung des kahlköpfigen Herrn
Fünftes Kapitel – Das Trauerspiel in Pondicherry Lodge
Sechstes Kapitel – Sherlock Holmes hält einen Vortrag
Siebentes Kapitel – Toby auf der Fährte
Achtes Kapitel – Das Freikorps aus der Baker Street
Neuntes Kapitel – Unwillkommener Stillstand
Zehntes Kapitel – Das Ende des Insulaners
Elftes Kapitel – Der große Agra-Schatz
Zwölftes Kapitel – Jonathan Smalls seltsame Geschichte
Schluss
Danke, dass Sie sich für ein E-Book aus meinem Verlag entschieden haben.
Sollten Sie Hilfe benötigen oder eine Frage haben, schreiben Sie mir.
Ihr Jürgen Schulze
Die Abenteuer des Sherlock Holmes
Der sterbende Sherlock Holmes und andere Detektivgeschichten
Sherlock Holmes – Der Hund von Baskerville
Sherlock Holmes – Das Zeichen der Vier
Sherlock Holmes – Der Bund der Rothaarigen und andere Detektivgeschichten
Sherlock Holmes – Eine Studie in Scharlachrot
Sherlock Holmes – Der Vampir von Sussex und andere Detektivgeschichten
Sherlock Holmes – Sein erster Fall und andere Detektivgeschichten
Sherlock Holmes – Sein letzter Fall und andere Geschichten
Sherlock Holmes – Der erbleichte Soldat und weitere Detektivgeschichten
und weitere …
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Womöglich wäre die Literatur heute um eine ihrer schillerndsten Detektivgestalten ärmer, würde der am 22. Mai 1859 in Edinburgh geborene Arthur Ignatius Conan Doyle nicht ausgerechnet an der medizinischen Fakultät der Universität seiner Heimatstadt studieren. Hier nämlich lehrt der später als Vorreiter der Forensik geltende Chirurg Joseph Bell. Die Methodik des Dozenten, seine Züge und seine hagere Gestalt wird der angehende Autor für den dereinst berühmtesten Detektiv der Kriminalliteratur übernehmen.
Geburt und Tod des Holmes
Der erste Roman des seit 1883 in Southsea praktizierenden Arztes teilt das Schicksal zahlloser Erstlinge – er bleibt unvollendet in der Schublade. Erst 1887 betritt Sherlock Holmes die Bühne, als »Eine Studie in Scharlachrot« erscheint. Nachdem Conan Doyle im Magazin The Strand seine Holmes-Episoden veröffentlichen darf, ist er als erfolgreicher Autor zu bezeichnen. The Strand eröffnet die Reihe mit »Ein Skandal in Böhmen«. Im Jahr 1890 zieht der Schriftsteller nach London, wo er ein Jahr darauf, dank seines literarischen Schaffens, bereits seine Familie ernähren kann; seit 1885 ist er mit Louise Hawkins verheiratet, die ihm einen Sohn und eine Tochter schenkt.
Ginge es ausschließlich nach den Lesern, wäre dem kühlen Detektiv und seinem schnauzbärtigen Mitbewohner ewiges Leben beschieden. Die Abenteuer der beiden Freunde nehmen freilich, wie ihr Schöpfer meint, zu viel Zeit in Anspruch; der Autor möchte historische Romane verfassen. Deshalb stürzt er 1893 in »Das letzte Problem« sowohl den Detektiv als auch dessen Widersacher Moriarty in die Reichenbachfälle. Die Proteste der enttäuschten Leserschaft fruchten nicht – Holmes ist tot.
Die Wiederauferstehung des Holmes
Obwohl sich der Schriftsteller mittlerweile der Vergangenheit und dem Mystizismus widmet, bleibt sein Interesse an Politik und realen Herausforderungen doch ungebrochen. Den Zweiten Burenkrieg erlebt Conan Doyle seit 1896 an der Front in Südafrika. Aus seinen Eindrücken und politischen Ansichten resultieren zwei nach 1900 publizierte propagandistische Werke, wofür ihn Queen Victoria zum Ritter schlägt.
Eben zu jener Zeit weilt Sir Arthur zur Erholung in Norfolk, was Holmes zu neuen Ehren verhelfen wird. Der Literat hört dort von einem Geisterhund, der in Dartmoor eine Familie verfolgen soll. Um das Mysterium aufzuklären, reanimiert Conan Doyle seinen exzentrischen Analytiker: 1903 erscheint »Der Hund der Baskervilles«. Zeitlich noch vor dem Tod des Detektivs in der Schweiz angesiedelt, erfährt das Buch enormen Zuspruch, weshalb der Autor das Genie 1905 in »Das leere Haus« endgültig wiederbelebt.
Das unwiderrufliche Ende des Holmes
Nach dem Tod seiner ersten Frau im Jahr 1906 und der Heirat mit der, wie Conan Doyle glaubt, medial begabten Jean Leckie befasst sich der Privatmann mit Spiritismus. Sein literarisches Schaffen konzentriert sich zunehmend auf Zukunftsromane, deren bekanntester Protagonist der Exzentriker Professor Challenger ist. Als populärster Challenger-Roman gilt die 1912 veröffentlichte und bereits 1925 verfilmte Geschichte »Die vergessene Welt«, die Conan Doyle zu einem Witz verhilft: Der durchaus schlitzohrige Schriftsteller zeigt im kleinen Kreis einer Spiritistensitzung Filmaufnahmen vermeintlich lebender Saurier, ohne zu erwähnen, dass es sich um Material der ersten Romanverfilmung handelt.
Die späte Freundschaft des Literaten mit Houdini zerbricht am Spiritismus-Streit, denn der uncharmante Zauberkünstler entlarvt zahlreiche Betrüger, während der Schriftsteller von der Existenz des Übernatürlichen überzeugt ist. Conan Doyles Geisterglaube erhält Auftrieb, als sein ältester Sohn Kingsley während des Ersten Weltkriegs an der Front fällt.
Noch bis 1927 bedient der Autor das Publikum mit Kurzgeschichten um Holmes und Watson; zuletzt erscheint »Das Buch der Fälle«. Als Sir Arthur Conan Doyle am 7. Juli 1930 stirbt, trauern Familie und Leserschaft gleichermaßen, denn diesmal ist Holmes wirklich tot.
Von der Bedeutung eines Geschöpfes
Oder vielmehr ist Holmes ein ewiger Wiedergänger, der im Gedächtnis des Publikums fortlebt. Nicht wenige Leser hielten und halten den Detektiv für eine existente Person, was nicht zuletzt Conan Doyles erzählerischem Geschick und dem Realitätsbezug der Geschichten zu verdanken sein dürfte. Tatsächlich kam man im 20. Jahrhundert dem Bedürfnis nach etwas Handfestem nach, indem ein Haus in der Londoner Baker Street die Nummer 221 b erhielt. Dort befindet sich das Sherlock-Holmes-Museum.
Conan Doyles zeitgenössischer Schriftstellerkollege Gilbert Keith Chesterton, geistiger Vater des kriminalistischen Pater Brown, brachte das literarische Verdienst seines Landsmanns auf den Punkt: Sinngemäß sagte er, dass es nie bessere Detektivgeschichten gegeben habe und dass Holmes möglicherweise die einzige volkstümliche Legende der Moderne sei, deren Urheber man gleichwohl nie genug gedankt habe.
Dass der Detektiv sein sonstiges Schaffen dermaßen überlagern konnte, war Conan Doyle selbst niemals recht. Er hielt seine historischen, politischen und später seine mystizistisch-spiritistischen Arbeiten für wertvoller, während die Kurzgeschichten dem bloßen Broterwerb dienten. Vermutlich übersah er bei der Selbsteinschätzung seiner vermeintlichen Trivialliteratur deren enorme Wirkung, die weit über ihren hohen Unterhaltungswert hinausging.
So wie Joseph Bell, Conan Doyles Dozent an der Universität, durch präzise Beobachtung auf die Erkrankungen seiner Patienten schließen konnte, sollte Sherlock Holmes an Kriminalfälle herangehen, die sowohl seinen Klienten als auch der Polizei unerklärlich schienen. Bells streng wissenschaftliches Vorgehen stand Pate für Deduktion und forensische Methodik in den vier Romanen und 56 Kurzgeschichten um den hageren Gentleman-Detektiv. Professor Bell beriet die Polizei bei der Verbrechensaufklärung, ohne in den offiziellen Berichten oder in den Zeitungen erwähnt werden zu wollen. Die Ähnlichkeit zu Holmes ist augenfällig. Wirklich war in den Geschichten die Fiktion der Realität voraus, denn wissenschaftliche Arbeitsweise, genaue Tatortuntersuchung und analytisch-rationales Vorgehen waren der Kriminalistik jener Tage neu. Man urteilte nach Augenschein und entwarf Theorien, wobei die Beweisführung nicht ergebnisoffen geführt wurde, sondern lediglich jene Theorien belegen sollte. Zweifellos hat die Popularität der Erlebnisse von Holmes und Watson den Aufstieg der realen Forensik in der Verbrechensaufklärung unterstützt.
Ein weiterer interessanter Aspekt der Erzählungen betrifft Conan Doyles Neigung, seine eigenen Ansichten einzuarbeiten. Zwar bevorzugte er zu diesem Zweck andere Schaffenszweige, aber es finden sich gesellschaftliche und moralische Meinungen, wenn Holmes etwa Verbrecher entkommen lässt, weil er meint, dass eine Tat gerecht gewesen oder jemand bereits durch sein Schicksal genug gestraft sei. Gelegentlich ist dabei festzustellen, dass er Angehörige niedriger Stände gleichgültiger behandelt als die Vertreter der »guten Gesellschaft«.
Fiktive Biografien des Detektivs, Bühnenstücke, Verfilmungen und zahllose Nachahmungen, darunter nicht selten Satiren, von denen Conan Doyle mit »Wie Watson den Trick lernte« 1923 selbst eine verfasste, künden von der ungebrochenen Beliebtheit des kriminalistischen Duos, ohne das die Weltliteratur weniger spannend wäre.
Durch seinen Scharfsinn und seine unermüdliche Tatkraft erfüllte mich Sherlock Holmes stets von neuem mit Bewunderung. Wenn er jedoch das Rätsel gelöst hatte, so schien alle Geistesfrische von ihm gewichen, und mein Freund versank in völlige Apathie.
Ihn in diesem Zustand zu sehen, war für mich äußerst peinlich, aber noch unleidlicher erschien mir das Mittel, welches er anwandte, um seinen Trübsinn zu verscheuchen.
Auch heute, als wir im Zimmer beisammen saßen, langte Sherlock Holmes die Flasche von der Ecke des Kaminsimses herunter und nahm die Induktionsspritze aus dem sauberen Lederetui. Mit seinen weißen, länglichen Fingern stellte er seine Nadel ein, und schob seine linke Manschette zurück. Eine kleine Weile ruhten seine Augen gedankenvoll an den zahllosen Narben und Punkten, mit denen sein Handgelenk und der sehnige Vorderarm über und über bedeckt waren. Endlich bohrte er die scharfe Spitze in die Haut, drückte den kleinen Kolben nieder, und sank mit einem Seufzer innigsten Wohlbehagens in seinen samtenen Lehnstuhl zurück.
Seit vielen Monaten hatte ich diesen Hergang täglich dreimal mit angesehen, ohne mich jedoch damit auszusöhnen. Im Gegenteil, Tag für Tag steigerte sich mein Verdruss bei dem Anblick, und in der Nacht ließ mir der Gedanke keine Ruhe, dass ich zu feige war, dagegen einzuschreiten. So oft ich mir aber vornahm, meine Seele von der Last zu befreien, immer wieder erschien mir mein Gefährte, mit der kühlen, nachlässigen Miene, als der letzte Mensch, dem gegenüber man sich Freiheiten herausnehmen dürfe. Seine großen Fähigkeiten, die ganze Art seines Auftretens, die vielen Fälle, in denen er seine außerordentliche Begabung schon vor mir betätigt hatte – das alles machte mich ihm gegenüber ängstlich und zurückhaltend.
Aber an diesem Nachmittage fühlte ich plötzlich, dass ich es nicht länger aushalten könne. Der starke Wein, den ich beim Frühstück genossen, mochte mir wohl zu Kopfe gestiegen sein, vielleicht hatte mich auch Holmes’ umständliche Manier ganz besonders gereizt.
»Was ist denn heute an der Reihe«, fragte ich kühn entschlossen, »Morphium oder Kokain?«
Er erhob die Augen langsam von dem alten Folianten, den er aufgeschlagen hatte.
»Kokain«, sagte er, »eine Lösung von sieben Prozent. Wünschen Sie’s zu versuchen, Doktor Watson?«
»Wahrhaftig nicht«, antwortete ich ziemlich barsch. »Ich habe die Folgen des afghanischen Feldzugs noch nicht verwunden und kann meiner Konstitution dergleichen nicht zumuten.«
Er lächelte über meine Heftigkeit. »Vielleicht haben Sie recht, der physische Einfluss ist vermutlich kein guter. Ich finde aber die Wirkung auf den Geist so vorzüglich anregend und klärend, dass alles andere dagegen von geringem Belang ist.«
»Aber überlegen Sie doch«, mahnte ich eindringlich, »berechnen Sie die Kosten! Mag auch Ihre Hirntätigkeit belebt und erregt werden, so ist es doch ein widernatürlicher, krankhafter Vorgang, der einen gesteigerten Stoffwechsel bedingt und zuletzt dauernde Schwäche zurücklassen kann. Auch wissen Sie ja selbst, welche düstere Reaktion Sie jedes Mal befällt. Wahrlich, das Spiel kommt Sie zu hoch zu stehen. Um eines flüchtigen Vergnügens willen setzen Sie sich dem Verlust der hervorragenden Fähigkeiten aus, mit denen Sie begabt sind. Ich sage Ihnen das nicht nur als wohlmeinender Kamerad, sondern als Arzt, da ich mich in dieser Eigenschaft gewissermaßen für Ihre Gesundheit verantwortlich fühle. Bedenken Sie das wohl!«
Er schien nicht beleidigt. Seine Ellenbogen auf die Armlehnen des Stuhls stützend, legte er die Fingerspitzen gegeneinander, wie jemand, der sich zu einem Gespräch anschickt.
»Mein Geist«, sagte er, »empört sich gegen den Stillstand. Geben, Sie mir ein Problem, eine Arbeit, die schwierigste Geheimschrift zu entziffern, den verwickeltsten Fall zu enträtseln. Dann bin ich im richtigen Fahrwasser und kann jedes künstliche Reizmittel entbehren. Aber ich verabscheue das nackte Einerlei des Daseins; mich verlangt nach geistiger Aufregung. Das ist auch die Ursache, weshalb ich mir einen eigenen, besondern Beruf erwählt oder vielmehr geschaffen habe; denn ich bin der Einzige meiner Art in der Welt.«
»Der einzige, nicht angestellte Detektiv?« – fragte ich mit ungläubiger Miene.
»Der einzige, nicht angestellte, beratende Detektiv«, entgegnete er. »Ich bin die letzte und sicherste Instanz im Detektivfach. Wenn Gregson, oder Lestrade, oder Athelney Jones auf dem Trocknen sind – was, beiläufig gesagt, ihr normaler Zustand ist – so wird mir der Fall vorgelegt. Ich untersuche die Tatsachen als Kenner und gebe den Ausspruch des Spezialisten. Mein Name erscheint in keiner Zeitung, ich beanspruche keinerlei Anerkennung. Die Arbeit an sich, das Vergnügen, ein angemessenes Feld für meine besondere Gabe der Beobachtung und Schlussfolgerung zu finden, ist mein höchster Lohn. – Übrigens bin ich nicht ganz unbekannt; meine kleinen Schriften werden sogar jetzt ins Französische übertragen.«
»Ihre Schriften?«
»O, wussten Sie es nicht?«, rief er lachend. »Sie behandeln lauter technische Gegenstände. – Hier ist z.B. eine Abhandlung ›Über die Verschiedenheit der Tabakasche‹. Ich zähle da hundert und vierzig Sorten auf: Rauchtabak, Zigarren und Zigaretten, deren Asche sich unterscheiden lässt, wie Sie aus den beigedruckten, farbigen Tafeln ersehen. Vor Gericht ist das oft von der größten Bedeutung. Wenn man z.B. mit Bestimmtheit sagen kann, dass ein Mord von einem Manne verübt worden ist, der eine indische Lunkah rauchte, so wird dadurch offenbar das Feld der Untersuchung wesentlich beschränkt. Für das geübte Auge unterscheidet sich die schwarze Asche der Trichinopolly-Zigarre1 von den weißen Fasern des Birds Eye-Tabaks wie ein Kohlkopf von einer Kartoffel.«
»Sie haben ein außerordentliches Genie für kleine Nebendinge«, bemerkte ich.
»Ich erkenne ihre Wichtigkeit. – Hier ist ferner mein Aufsatz über die Erforschung der Fußspuren, mit Anmerkungen über den Gips als Mittel, die Abdrücke zu bewahren. Dies hier ist ein kleines, merkwürdiges Schriftchen über den Einfluss des Handwerks auf die Form der Hand, mit Abbildungen der Hände von Dachdeckern, Schiffern, Zimmerleuten, Schriftsetzern, Webern und Diamantschleifern. Das ist von großem praktischen Interesse für den wissenschaftlichen Detektiv, besonders wo es sich um die Erkennung von Leichen oder um die Vorgeschichte der Verbrecher handelt. – Aber ich langweile Sie mit meinem Steckenpferde.«
»Durchaus nicht«, erwiderte ich eifrig. »Ich interessiere mich sehr dafür, seit ich Gelegenheit hatte, Zeuge seiner praktischen Anwendung zu sein. Sie sprachen soeben von Beobachtung und Schlussfolgerung, sind diese nicht in gewissem Grade gleichbedeutend?«
»Hm – kaum.«
Er lehnte sich behaglich in den Lehnstuhl zurück und blies dichte blaue Wolken aus seiner Pfeife. »Die Beobachtung zeigt mir z.B., dass Sie heute Früh in der Wigmore Street auf der Post gewesen sind, aber die Schlussfolgerung lässt mich wissen, dass Sie dort ein Telegramm aufgegeben haben.«
»Richtig! Beides trifft zu«, rief ich. »Aber wie in aller Welt haben Sie das herausgebracht? Der Gedanke kam mir ganz plötzlich, und ich habe keiner Seele etwas davon gesagt.«
»Das ist lächerlich einfach«, sagte er, vergnügt über mein Erstaunen, »und erklärt sich eigentlich ganz von selbst; es kann jedoch dazu dienen, die Grenzen der Beobachtung und der Schlussfolgerung festzustellen. – Die Beobachtung sagt nur, dass ein kleiner Klumpen rötlicher Erde an Ihrer Fußsohle klebt. – Nun wird aber gerade beim Postamt in der Wigmore Street das Pflaster ausgebessert, und dabei ist die ausgeworfene Erde vor den Eingang zu liegen gekommen. Diese Erde hat eine absonderliche, rötliche Färbung, wie sie, soviel ich weiß, sonst nirgends in der Umgegend vorkommt. Das ist die Beobachtung. Das übrige ist Schlussfolgerung.«
»Und wie folgerten Sie das Telegramm?«
»Ja nun, ich wusste natürlich, dass Sie keinen Brief geschrieben hatten, da ich den ganzen Morgen Ihnen gegenüber gesessen habe. In ihrem offenen Pult dort liegt auch noch ein Vorrat von Briefmarken und Postkarten. Wozu könnten Sie also auf die Post gegangen sein, außer um eine Depesche abzugeben? – Räumt man alle anderen Faktoren fort, so muss der, welcher übrig bleibt, den wahren Sachverhalt zeigen.«
»In diesem Fall trifft das zu«, erwiderte ich nach einigem Bedenken. »Die Lösung war allerdings höchst einfach. Ich möchte jedoch Ihre Theorie einmal einer strengeren Probe unterwerfen, wenn Sie das nicht unbescheiden finden?«
»Im Gegenteil«, versetzte er, »es wäre mir sehr lieb, wenn Sie mir irgend ein Problem zu erforschen geben, brauche ich heute keine zweite Dosis Kokain zu nehmen.«
»Ich habe Sie einmal behaupten hören, dass der Mensch den Gegenständen, welche er im täglichen Gebrauch hält, fast ausnahmslos den Stempel seiner Persönlichkeit aufdrückt, sodass ein geübter Beobachter an den Sachen den Charakter ihres Eigentümers zu erkennen vermag. Nun habe ich hier eine Uhr, die mir noch nicht lange gehört. Würden Sie wohl die Güte haben, mir Ihre Meinung über die Eigenschaften und Gewohnheiten des früheren Besitzers zu sagen?«
Ich reichte ihm die Uhr, nicht ohne ein Gefühl innerer Belustigung. Die Aufgabe war nach meinem Bedünken unlösbar; ich wollte ihm damit nur eine kleine Lehre geben wegen des allzu anmaßenden Tones, den er zuweilen annahm. Er wog die Uhr in der Hand, blickte scharf auf das Zifferblatt, öffnete das Gehäuse und untersuchte das Werk; erst mit bloßen Augen, dann durch ein starkes Vergrößerungsglas. Als er endlich mit entmutigtem Gesicht die Uhr wieder zuschnappte und mir zurückgab, konnte ich mich kaum eines Lächelns enthalten.
»Da gibt’s nur wenige Anhaltspunkte«, bemerkte er. »Die Uhr ist neuerdings gereinigt, was mich um die besten Merkmale bringt.«
»Ganz recht«, erwiderte ich. »Sie wurde gereinigt, ehe man sie mir sandte.«
Holmes brauchte diesen schwachen Vorwand offenbar nur, um seine Niederlage zu verdecken. Was für Anhaltspunkte hätte er denn bei einer nicht gereinigten Uhr finden können?
»Die Untersuchung ist zwar unbefriedigend, jedoch nicht ganz erfolglos«, fuhr er fort, während er mit glanzlosen Augen träumerisch nach der Stubendecke starrte. »Irre ich mich, wenn ich sage, dass die Uhr Ihrem älteren Bruder gehört hat, der sie von Ihrem Vater erbte?«
»Sie schließen das ohne Zweifel aus dem H.W. auf dem Deckel?«
»Ganz recht. Das W deutet Ihren eigenen Namen an. Das Datum reicht beinahe fünfzig Jahre zurück, und das Monogramm ist so alt wie die Uhr. Sie ist also für die vorige Generation gemacht worden. Wertsachen pflegen auf den ältesten Sohn überzugehen, der auch meistens den Namen seines Vaters trägt. Da Ihr Vater, soviel ich weiß, seit vielen Jahren tot ist, hat Ihr ältester Bruder die Uhr seitdem in Händen gehabt.«
»Soweit richtig«, sagte ich. »Und was wissen Sie sonst noch?«
»Er war sehr liederlich in seinen Gewohnheiten – liederlich und nachlässig. Er kam in den Besitz eines schönen Vermögens, brachte jedoch alles durch und lebte in Dürftigkeit. Zuweilen verbesserte sich feine Lage auf kurze Zeit, bis er endlich dem Trunk verfiel. Das ist alles, was ich ersehen kann.«
Ich sprang heftig erregt vom Stuhl auf, und ging im Zimmer auf und ab.
»Das ist Ihrer unwürdig, Holmes!« rief ich, um meiner Erbitterung Luft zu machen. »So etwas hätte ich Ihnen nicht zugetraut. Sie haben Erkundigungen eingezogen über die Geschichte meines unglücklichen Bruders und geben jetzt vor, Ihre Kenntnis auf irgend eine abenteuerliche Weise erlangt zu haben. Sie können mir unmöglich zumuten, dass ich glauben soll, Sie hätten dies alles aus der alten Uhr gelesen! Ihr Benehmen ist höchst rücksichtslos und streift, gerade herausgesagt, an Gaukelei.«
»Entschuldigen Sie mich, bitte, lieber Doktor«, erwiderte er freundlich. »Ich habe die Sache nur als ein abstraktes Problem, angesehen und darüber vergessen, dass dieselbe Sie persönlich angeht und Ihnen peinlich sein könnte, Ich versichere Ihnen, ehe Sie mir die Uhr reichten, wusste ich nicht einmal, dass Sie einen Bruder hatten.«
»Aber wie in aller Welt sind Sie denn zu diesen Tatsachen gekommen, die durchaus richtig sind – in allen Einzelheiten?«
»Wirklich! Nun, das ist zum Teil nichts als Glück. Ich hielt mich an die Wahrscheinlichkeit und erwartete durchaus nicht, es so genau zu treffen.«
»Aber Sie haben doch nicht bloß auf gut Glück geraten?«
»Nein, nein: ich rate nie. Das ist eine widerwärtige Gewohnheit, die jede logische Fähigkeit zerstört. Die Sache erscheint Ihnen nur sonderbar, weil Sie weder meinem Gedankengang folgen, noch die kleinen Anzeichen beobachten, die zu großen Schlussfolgerungen führen können. Wie bin ich zum Beispiel zu der Ansicht gelangt, dass Ihr Bruder nachlässig war? – Betrachten Sie einmal den Deckel der Uhr genau. Sie werden bemerken, dass er nicht allein unten an zwei Stellen eingedrückt ist, sondern auch voller Schrammen und Krätzer – eine Folge der Gewohnheit, andere harte Gegenstände, wie Münzen oder Schlüssel, in derselben Tasche zu tragen. Wer aber eine so kostbare Uhr auf solche Weise behandelt, muss ein nachlässiger Mensch sein. Um das zu erkennen, bedarf es keines großen Scharfsinns. Ebenso wenig ist es ein weit hergeholter Schluss, dass der Erbe eines so wertvollen Gegenstandes auch im übrigen in ziemlich guter Lage ist.«
Ich nickte, um zu zeigen, dass ich seiner Auseinandersetzung folgte.
»Die Pfandverleiher in England pflegen bekanntlich bei versetzten Uhren die Nummer des Pfandzettels auf der Innenseite des Gehäuses einzukratzen«, fuhr Holmes fort. »Nun sind nicht weniger als vier solcher Nummern durch mein Glas erkennbar, ein Beweis, dass Ihr Bruder oft in Verlegenheit war, doch muss er dazwischen in seinen Verhältnissen empor gekommen sein, sonst hatte er das Pfand nicht wieder einlösen können. – Betrachten Sie nun noch den inneren Deckel der Uhr. Sehen Sie die tausend Schrammen rund um das Schlüsselloch – Spuren, wo der Schlüssel ausgeglitten ist? Bei der Uhr eines nüchternen Mannes kommen solche Kratzer nicht vor; auf der Uhr eines Trinkers findet man sie regelmäßig. Er zieht sie nachts auf und hinterlässt diesen Beweis von der Unsicherheit seiner Hand. Wo ist in alledem ein Geheimnis?«
»Es ist so klar wie der Tag«, antwortete ich. »Verzeihen Sie, dass ich Ihnen unrecht tat. Ich hätte mehr Vertrauen in Ihre wunderbare Begabung setzen sollen. Darf ich fragen, ob Sie gegenwärtig in Ihrem Beruf irgend einen Fall zu enträtseln haben?«
»Keinen! – daher das Kokain. Ich kann nicht leben ohne Kopfarbeit. Was soll man auch sonst tun? Hier am Fenster stehen? Die Welt sieht gar zu grässlich, trübselig und abstoßend aus! Sehen Sie nur, wie der gelbe Nebel herabsinkt und sich auf die schwärzlichen Häuser lagert! Wie hoffnungslos, elend und prosaisch erscheint alles! Was nützen dem Menschen seine Gaben, Doktor, wenn er kein Feld hat, sie in Anwendung zu bringen? Das Verbrechen ist alltäglich, das Dasein ist alltäglich und nur für alltägliche Fähigkeiten gibt es etwas zu tun auf der Welt.«
Ich wollte eben den Mund zu einer Entgegnung öffnen, als es rasch an die Tür klopfte und unsere Hauswirtin eintrat.
»Eine junge Dame wünscht Sie zu sprechen, Herr Holmes«, sagte sie, meinem Gefährten eine Karte reichend.
»Miss Mary Morstan«, las er. »Hm – der Name ist mir nicht bekannt. Bitten Sie das Fräulein, sich herauf zu bemühen, Frau Hudson. Gehen Sie nicht fort, Doktor. Es wäre mir wirklich lieber, Sie blieben hier.«
Trichinopolly: Eine Stadt im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu. <<<
Fräulein Morstan, eine blonde junge Dame, betrat das Zimmer mit festem Schritt und äußerlich ruhiger Haltung. Sie war klein und zierlich, geschmackvoll gekleidet und trug tadellose Handschuhe. Dennoch ließ der Anzug in seiner Schmucklosigkeit und Einfachheit auf Beschränktheit in den Mitteln schließen. Ihr dunkelgrünes Wollenkleid hatte weder Besatz noch sonstige Verzierung, und ihre kleine Kopfbedeckung von derselben matten Farbe war nur an der Seite durch einen winzigen weißen Federstutz gehoben. Zwar besaß sie weder regelmäßige Züge, noch schöne Formen, doch war der Ausdruck des Gesichts höchst liebenswürdig und anziehend; aus ihren großen, blauen Augen sprach Geist und Leben. Ich hatte die Frauen vieler Nationen in drei verschiedenen Weltteilen gesehen, aber niemals war mir ein Gesicht vorgekommen, in welchem sich so deutlich eine empfängliche, edle Natur ausprägte. Es entging mir nicht, dass, als sie den Sitz annahm, den Holmes ihr darbot, ihre Lippe zitterte und ihre Hand bebte; in ihrem ganzen Wesen sprach sich eine tiefe innere Erregung aus.
»Ich komme zu Ihnen, Herr Holmes«, sagte sie, »weil sie der Dame, in deren Familie ich lebe, Frau Cecil Forrester, einmal behilflich gewesen sind, eine kleine häusliche Verwickelung aufzuklären. Die Güte und Geschicklichkeit, welche Sie damals bewiesen, hat großen Eindruck auf sie gemacht.«
»Frau Cecil Forrester« – wiederholte er nachdenklich. »Ja, ja, ich erinnere mich, ich hatte Gelegenheit, ihr einen kleinen Gefallen zu tun. Es war eine höchst einfache Sache.«
»Sie hielt sie damals durchaus nicht dafür. Von meinem Fall werden Sie indessen schwerlich dasselbe sagen. Ich kann mir kaum etwas vorstellen, das noch sonderbarer und unerklärlicher wäre, als die Lage, in der ich mich eben jetzt befinde.« Holmes rieb sich die Hände, seine Augen glänzten. Er saß weit vorgebeugt da; aus seinen scharf geschnittenen, falkenartigen Zügen sprach die gespannteste Aufmerksamkeit.
»Teilen Sie mir Ihren Fall mit«, sagte er in kurzem Geschäftston.
Ich befand mich in peinlicher Verlegenheit.
»Sie werden entschuldigen«, murmelte ich, mich von meinem Platz erhebend.
Allein, zu meiner Überraschung machte die junge Dame eine Bewegung, wie um mich zurückzuhalten.
»Wenn Ihr Freund die Güte hätte, zu bleiben«, rief sie, »so könnte er mir einen unschätzbaren Dienst leisten.«
Ich sank in meinen Stuhl zurück.