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Vollständig überarbeitete, korrigierte und illustrierte Fassung Mit 36 Illustrationen Wie kann man Sherlock Holmes nicht kennen? Den berühmtesten Detektiv der Geschichte, der mit seinem messerscharfen Verstand und seiner Ermittlungsart als Vorlage für fast alle kriminalistischen Nachfolger diente. Hier lernen Sie das lesenswerte Original kennen. Dieser Band beinhaltet folgende Kurzgeschichten: - "Im leeren Hause" ("The Empty House") - "Der Baumeister von Norwood" ("The Norwood Builder") - "Das gelbe Gesicht" ("The Yellow Face") - "Der griechische Dolmetscher" ("The Greek Interpreter") - "Sein erster Fall" ("The Gloria Scott") - "Der goldene Zwicker" ("The Golden Pince-Nez") - "Die einsame Radfahrerin" ("The Solitary Cyclist") Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 280
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Arthur Conan Doyle
Sherlock Holmes – Sein erster Fall und andere Detektivgeschichten
Vollständige & Illustrierte Fassung
Arthur Conan Doyle
Sherlock Holmes – Sein erster Fall und andere Detektivgeschichten
Vollständige & Illustrierte Fassung
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Adolf Gleiner, Rudolf LautenbachIllustrationen: Richard Gutschmidt EV: Stuttgart, Verlag R. Lutz, 1916 5. Auflage, ISBN 978-3-954182-13-8
null-papier.de/neu
Inhaltsverzeichnis
Die Sherlock Holmes-Sammlung
Die einzelnen Geschichten
Arthur Conan Doyle & Sherlock Holmes
Im leeren Hause
Der Baumeister von Norwood
Das gelbe Gesicht
Der griechische Dolmetscher
Sein erster Fall
Der goldene Zwicker
Die einsame Radfahrerin
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Ihr Jürgen Schulze
Die Abenteuer des Sherlock Holmes
Der sterbende Sherlock Holmes und andere Detektivgeschichten
Sherlock Holmes – Der Hund von Baskerville
Sherlock Holmes – Das Zeichen der Vier
Sherlock Holmes – Der Bund der Rothaarigen und andere Detektivgeschichten
Sherlock Holmes – Eine Studie in Scharlachrot
Sherlock Holmes – Der Vampir von Sussex und andere Detektivgeschichten
Sherlock Holmes – Sein erster Fall und andere Detektivgeschichten
Sherlock Holmes – Sein letzter Fall und andere Geschichten
Sherlock Holmes – Der erbleichte Soldat und weitere Detektivgeschichten
und weitere …
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»Im leeren Hause« (»The Empty House«), 1903
Holmes kehrt zurück, 3 Jahre nach seinem vermeintlichen Tod an den Reichenbach-Fällen. Wo war er nur geblieben? Und was hatte er in der Zwischenzeit gemacht?
»Der Baumeister von Norwood« (»The Norwood Builder«), 1903
Kurz vor seiner Verhaftung gelingt es John Hector McFarlane in die Baker Street zu flüchten, um Sherlock Holmes um Hilfe zu bitten. Er wird des Mordes verdächtigt, und alles spricht gegen ihn.
»Das gelbe Gesicht« (»The Yellow Face«), 1893
Grant Munro bittet Sherlock Holmes um Rat. Er führt ein glückliches Eheleben, doch seit Kurzem scheint seine Frau ihm etwas zu verheimlichen. Scheinbar scheint sie großes Interesse an den neu eingezogenen Nachbarn zu haben.
»Der griechische Dolmetscher« (»The Greek Interpreter«), 1893
Das erste Zusammentreffen mit Holmes obskuren Bruder Mycroft Holmes. Dieser bittet Holmes um Hilfe bei der Suche nach einem plötzlich verschwundenen griechischen Dolmetscher.
»Sein erster Fall« (»The Gloria Scott«), 1893
Holmes’ erster Kriminalfall: Während seiner Collegezeit freundet sich Holmes mit Victor Trevor an. Dessen Familie birgt ein dunkles Geheimnis. Holmes Neugier ist geweckt.
»Der goldene Zwicker« (»The Golden Pince-Nez«), 1904
Der Sekretär eines alten Geschichtsprofessors wird ermordet. Das Opfer umklammert als einzigen Hinweis auf den Täter einen goldenen Zwicker.
»Die einsame Radfahrerin« (»The Solitary Cyclist«), 1903
Die Radfahrerin Violet Smith wird von einem seltsamen Mann belästigt. Sie bittet Sherlock Holmes um Hilfe. Dieser hält den Fall zunächst für harmlos. Doch das entpuppt sich als Irrtum.
Womöglich wäre die Literatur heute um eine ihrer schillerndsten Detektivgestalten ärmer, würde der am 22. Mai 1859 in Edinburgh geborene Arthur Ignatius Conan Doyle nicht ausgerechnet an der medizinischen Fakultät der Universität seiner Heimatstadt studieren. Hier nämlich lehrt der später als Vorreiter der Forensik geltende Chirurg Joseph Bell. Die Methodik des Dozenten, seine Züge und seine hagere Gestalt wird der angehende Autor für den dereinst berühmtesten Detektiv der Kriminalliteratur übernehmen.
Geburt und Tod des Holmes
Der erste Roman des seit 1883 in Southsea praktizierenden Arztes teilt das Schicksal zahlloser Erstlinge – er bleibt unvollendet in der Schublade. Erst 1887 betritt Sherlock Holmes die Bühne, als »Eine Studie in Scharlachrot« erscheint. Nachdem Conan Doyle im Magazin The Strand seine Holmes-Episoden veröffentlichen darf, ist er als erfolgreicher Autor zu bezeichnen. The Strand eröffnet die Reihe mit »Ein Skandal in Böhmen«. Im Jahr 1890 zieht der Schriftsteller nach London, wo er ein Jahr darauf, dank seines literarischen Schaffens, bereits seine Familie ernähren kann; seit 1885 ist er mit Louise Hawkins verheiratet, die ihm einen Sohn und eine Tochter schenkt.
Ginge es ausschließlich nach den Lesern, wäre dem kühlen Detektiv und seinem schnauzbärtigen Mitbewohner ewiges Leben beschieden. Die Abenteuer der beiden Freunde nehmen freilich, wie ihr Schöpfer meint, zu viel Zeit in Anspruch; der Autor möchte historische Romane verfassen. Deshalb stürzt er 1893 in »Das letzte Problem« sowohl den Detektiv als auch dessen Widersacher Moriarty in die Reichenbachfälle. Die Proteste der enttäuschten Leserschaft fruchten nicht – Holmes ist tot.
Die Wiederauferstehung des Holmes
Obwohl sich der Schriftsteller mittlerweile der Vergangenheit und dem Mystizismus widmet, bleibt sein Interesse an Politik und realen Herausforderungen doch ungebrochen. Den Zweiten Burenkrieg erlebt Conan Doyle seit 1896 an der Front in Südafrika. Aus seinen Eindrücken und politischen Ansichten resultieren zwei nach 1900 publizierte propagandistische Werke, wofür ihn Queen Victoria zum Ritter schlägt.
Eben zu jener Zeit weilt Sir Arthur zur Erholung in Norfolk, was Holmes zu neuen Ehren verhelfen wird. Der Literat hört dort von einem Geisterhund, der in Dartmoor1 eine Familie verfolgen soll. Um das Mysterium aufzuklären, reanimiert Conan Doyle seinen exzentrischen Analytiker: 1903 erscheint »Der Hund der Baskervilles«. Zeitlich noch vor dem Tod des Detektivs in der Schweiz angesiedelt, erfährt das Buch enormen Zuspruch, weshalb der Autor das Genie 1905 in »Das leere Haus« endgültig wiederbelebt.
Das unwiderrufliche Ende des Holmes
Nach dem Tod seiner ersten Frau im Jahr 1906 und der Heirat mit der, wie Conan Doyle glaubt, medial begabten Jean Leckie befasst sich der Privatmann mit Spiritismus. Sein literarisches Schaffen konzentriert sich zunehmend auf Zukunftsromane, deren bekanntester Protagonist der Exzentriker Professor Challenger ist. Als populärster Challenger-Roman gilt die 1912 veröffentlichte und bereits 1925 verfilmte Geschichte »Die vergessene Welt«, die Conan Doyle zu einem Witz verhilft: Der durchaus schlitzohrige Schriftsteller zeigt im kleinen Kreis einer Spiritistensitzung Filmaufnahmen vermeintlich lebender Saurier, ohne zu erwähnen, dass es sich um Material der ersten Romanverfilmung handelt.
Die späte Freundschaft des Literaten mit Houdini zerbricht am Spiritismus-Streit, denn der uncharmante Zauberkünstler entlarvt zahlreiche Betrüger, während der Schriftsteller von der Existenz des Übernatürlichen überzeugt ist. Conan Doyles Geisterglaube erhält Auftrieb, als sein ältester Sohn Kingsley während des Ersten Weltkriegs an der Front fällt.
Noch bis 1927 bedient der Autor das Publikum mit Kurzgeschichten um Holmes und Watson; zuletzt erscheint »Das Buch der Fälle«. Als Sir Arthur Conan Doyle am 7. Juli 1930 stirbt, trauern Familie und Leserschaft gleichermaßen, denn diesmal ist Holmes wirklich tot.
Von der Bedeutung eines Geschöpfes
Oder vielmehr ist Holmes ein ewiger Wiedergänger, der im Gedächtnis des Publikums fortlebt. Nicht wenige Leser hielten und halten den Detektiv für eine existente Person, was nicht zuletzt Conan Doyles erzählerischem Geschick und dem Realitätsbezug der Geschichten zu verdanken sein dürfte. Tatsächlich kam man im 20. Jahrhundert dem Bedürfnis nach etwas Handfestem nach, indem ein Haus in der Londoner Baker Street die Nummer 221 b erhielt. Dort befindet sich das Sherlock-Holmes-Museum.
Conan Doyles zeitgenössischer Schriftstellerkollege Gilbert Keith Chesterton, geistiger Vater des kriminalistischen Pater Brown, brachte das literarische Verdienst seines Landsmanns auf den Punkt: Sinngemäß sagte er, dass es nie bessere Detektivgeschichten gegeben habe und dass Holmes möglicherweise die einzige volkstümliche Legende der Moderne sei, deren Urheber man gleichwohl nie genug gedankt habe.
Dass der Detektiv sein sonstiges Schaffen dermaßen überlagern konnte, war Conan Doyle selbst niemals recht. Er hielt seine historischen, politischen und später seine mystizistisch-spiritistischen Arbeiten für wertvoller, während die Kurzgeschichten dem bloßen Broterwerb dienten. Vermutlich übersah er bei der Selbsteinschätzung seiner vermeintlichen Trivialliteratur deren enorme Wirkung, die weit über ihren hohen Unterhaltungswert hinausging.
So wie Joseph Bell, Conan Doyles Dozent an der Universität, durch präzise Beobachtung auf die Erkrankungen seiner Patienten schließen konnte, sollte Sherlock Holmes an Kriminalfälle herangehen, die sowohl seinen Klienten als auch der Polizei unerklärlich schienen. Bells streng wissenschaftliches Vorgehen stand Pate für Deduktion und forensische Methodik in den vier Romanen und 56 Kurzgeschichten um den hageren Gentleman-Detektiv. Professor Bell beriet die Polizei bei der Verbrechensaufklärung, ohne in den offiziellen Berichten oder in den Zeitungen erwähnt werden zu wollen. Die Ähnlichkeit zu Holmes ist augenfällig. Wirklich war in den Geschichten die Fiktion der Realität voraus, denn wissenschaftliche Arbeitsweise, genaue Tatortuntersuchung und analytisch-rationales Vorgehen waren der Kriminalistik jener Tage neu. Man urteilte nach Augenschein und entwarf Theorien, wobei die Beweisführung nicht ergebnisoffen geführt wurde, sondern lediglich jene Theorien belegen sollte. Zweifellos hat die Popularität der Erlebnisse von Holmes und Watson den Aufstieg der realen Forensik in der Verbrechensaufklärung unterstützt.
Ein weiterer interessanter Aspekt der Erzählungen betrifft Conan Doyles Neigung, seine eigenen Ansichten einzuarbeiten. Zwar bevorzugte er zu diesem Zweck andere Schaffenszweige, aber es finden sich gesellschaftliche und moralische Meinungen, wenn Holmes etwa Verbrecher entkommen lässt, weil er meint, dass eine Tat gerecht gewesen oder jemand bereits durch sein Schicksal genug gestraft sei. Gelegentlich ist dabei festzustellen, dass er Angehörige niedriger Stände gleichgültiger behandelt als die Vertreter der »guten Gesellschaft«.
Fiktive Biografien des Detektivs, Bühnenstücke, Verfilmungen und zahllose Nachahmungen, darunter nicht selten Satiren, von denen Conan Doyle mit »Wie Watson den Trick lernte« 1923 selbst eine verfasste, künden von der ungebrochenen Beliebtheit des kriminalistischen Duos, ohne das die Weltliteratur weniger spannend wäre.
berüchtigtes, britisches Gefängnis in einer Moorgegend gelegen <<<
Im Frühling des Jahres 1894 war ganz London in Aufregung. Besonders die vornehme Welt war durch die Ermordung des Herrn Ronald Adair tief erschüttert. Dieser junge Baron hatte unter höchst eigentümlichen Umständen und auf ganz unerklärliche Weise das Leben verloren. Das Publikum hat von diesem Verbrechen seinerzeit nur wenig Näheres erfahren, weil die polizeilichen Nachforschungen keinen Erfolg gehabt hatten, und überdies das meiste im Interesse der weiteren Verfolgung des an und für sich schon außerordentlich schwierigen Falles geheimgehalten werden musste. Erst jetzt, nach Verlauf von zehn Jahren, bin ich in der Lage, die fehlenden Glieder der Kette sowie den Schluss der Untersuchung bekanntzugeben. Aber trotz dieser langen Zeit empfinde ich noch ein Schaudern, wenn ich an das Verbrechen und seine tragische Aufdeckung denke, fühle aber auch von neuem jene Freude und Bewunderung, die mich damals erfüllte, als es endlich gesühnt war. Die Öffentlichkeit möge mir’s zugute halten, dass ich ihr nicht gleich alles, was ich wusste, mitgeteilt habe, nachdem sie bereits meinen früheren Erzählungen über das Tun und Denken eines merkwürdigen Mannes ein lebhaftes Interesse geschenkt hatte. Ich würde es sicherlich nicht verabsäumt haben, denn ich hielt es für meine vornehmste Pflicht; aber eine Bitte aus dem eigenen Munde eben dieses Mannes hinderte mich daran, und erst vor ein paar Monaten bin ich von meinem Versprechen entbunden worden.
Wie man sich leicht denken kann, hatte ich infolge meiner intimen Freundschaft mit Sherlock Holmes an dem Verbrechen ein hervorragendes Interesse, und habe, weil er selbst nicht mehr da war, die verschiedenen Fragen, die daran geknüpft wurden, genau verfolgt und geprüft. Zu meiner Beruhigung habe ich sogar seine eigenen Methoden zur Aufklärung angewandt, freilich mit nur geringem Erfolge. Als ich las, dass in dem wegen der Ermordung des Ronald Adair eingeleiteten Verfahren auf Grund der Voruntersuchung die Anklage wegen vorsätzlichen Mordes gegen ›Unbekannt‹ erhoben worden war, kam es mir wieder deutlicher als je zuvor zum Bewusstsein, was die Gesellschaft an Sherlock Holmes verloren hatte. In dieser dunklen Angelegenheit gab es Punkte klarzustellen, die gerade etwas für ihn gewesen wären, und die Anstrengungen der Polizei würden durch die Beobachtungen, die Gewandtheit und den Scharfsinn dieses ersten Detektivs Europas wesentlich ergänzt und in die richtigen Bahnen gelenkt worden sein. Jeden Tag, wenn ich meine Runde machte, überlegte ich mir den Fall von neuem, ohne jedoch zu einer ausreichenden und vollkommen befriedigenden Erklärung gelangen zu können.
Auf die Gefahr hin, einigen Lesern eine bekannte Geschichte zu erzählen, will ich hier doch die Tatsachen rekapitulieren, soweit sie am Schluss der Vorverhandlung bekannt waren:
Ronald Adair war der zweite Sohn des Grafen Maynooth, des damaligen Gouverneurs in einer australischen Kolonie. Adairs Mutter war von Australien nach England gekommen, um sich hier einer Augenoperation zu unterziehen; sie bewohnte mit ihrem Sohne Adair und ihrer Tochter Hilda das Haus Park Lane 427 in London. Der junge Mann verkehrte in der besten Gesellschaft und hatte, soviel man wusste, keine Feinde und auch keine besonderen Laster. Er war mit einem Fräulein Edith Woodley aus Carstairs verlobt gewesen; dieses Verhältnis war einige Monate vor seinem Tode mit beiderseitiger Einwilligung gelöst worden, und nichts hatte darauf hingedeutet, dass dadurch ein tieferes Gefühl verletzt worden wäre. Im übrigen spielte sich das Leben des jungen Herrn in einem vornehmen kleinen Kreise ab, denn er war von ruhiger Natur und kein Freund von Extravaganzen.
Trotzdem wurde dieser friedliche junge Edelmann in der Nacht des 30. März 1894 zwischen zehn und elf Uhr zwanzig Minuten auf eine höchst merkwürdige Weise und gänzlich unerwartet vom Tode ereilt.
Ronald Adair spielte gerne Karten, aber nie so hoch, dass ihn Verluste geschmerzt hatten. Er war Mitglied des Baldwin-, des Cavendish- und des Bagatelle-Kartenklubs. Nach dem Abendessen hatte er an jenem Tage nachgewiesenermaßen in dem letztgenannten Klub eine Partie Whist1 gespielt. Er hatte auch bereits am Nachmittag dort gespielt. Nach Aussage seiner Mitspieler – des Herrn Murray, des Barons Hardy und des Obersten Moran – hatte es sich ebenfalls um Whist gehandelt, und waren die Karten ziemlich gleichmäßig gefallen. Adair konnte höchstens fünf Pfund verloren haben. Er besaß ein beträchtliches Vermögen, sodass ihn ein derartiger Verlust nicht weiter rühren konnte. Er hatte fast jeden Tag in dem einen oder anderen Klub gespielt, aber er war ein vorsichtiger Spieler und gewann gewöhnlich. Es wurde durch Zeugen festgestellt, dass er einige Wochen vorher an einem einzigen Abend in Gemeinschaft mit dem Obersten Moran tatsächlich gegen 420 Pfund von Godfrey Milner und Lord Balmoral gewonnen hatte. Diese Angaben, die im Laufe der Untersuchung über sein Vorleben gemacht wurden, mögen genügen.
Am Abend des Verbrechens kehrte er Punkt zehn Uhr aus dem Klub zurück. Seine Mutter und Schwester waren zu Besuch bei einer Verwandten. Das Dienstmädchen hat unter Eid ausgesagt, dass sie ihn in das Vorderzimmer im zweiten Stock, wo er sich gewöhnlich aufhielt, hat eintreten hören. Sie hatte dort Feuer angemacht und, weil es rauchte, die Fenster geöffnet. Kein Laut war aus dem Zimmer an ihr Ohr gedrungen. Als um elf Uhr zwanzig Minuten die Gräfin mit ihrer Tochter zurückkehrte, wollte sie ihrem Sohn Gute Nacht sagen. Sie fand jedoch die Türe seines Zimmers von innen verschlossen und bekam keine Antwort auf ihr Rufen und Klopfen. Sie holte Hilfe und ließ die Türe aufbrechen. Der unglückliche junge Mann lag in der Nähe des Tisches auf dem Boden. Sein Kopf war von einer Revolverkugel zerschmettert, aber in dem ganzen Raum war keine Waffe zu sehen. Auf dem Tische lagen zwei Zehnpfundscheine und siebzehn Pfund zehn Schilling in Gold und Silber; das Geld war in kleine Häufchen von verschiedenen Beträgen abgezählt. Daneben befand sich ein Blatt Papier, worauf einige seiner Klubfreunde gezeichnet waren. Unter jedem Bild stand der Name des Betreffenden; daraus wurde geschlossen, dass er vor seinem Ende die Verluste und Gewinne beim Kartenspiel hatte regeln wollen.
Die genauere Prüfung aller obwaltenden Umstände ließ die Sache nur immer rätselhafter erscheinen. In erster Linie war kein Grund einzusehen, warum der junge Mann von innen abgeriegelt haben sollte. Zwar war die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass es der Mörder getan hatte und dann durch das Fenster entflohen war. Doch war dieses mindestens zwanzig Fuß über dem Boden, und das Beet mit blühenden Blumen unter dem Fenster zeigte keinerlei Fußspuren; die Blüten, wie der Erdboden selbst waren vollkommen unversehrt. Auch der schmale Rasenstreifen zwischen dem Haus und der Straße wies keine Fährte auf. Demnach musste der junge Herr selbst die Tür abgeschlossen haben. Wie hatte er aber den Tod gefunden? Kein Mensch konnte durch das Fenster ein- oder ausgestiegen sein, ohne Spuren zu hinterlassen. Angenommen, es habe jemand durch das Fenster geschossen, so musste es wahrhaftig mit merkwürdigen Dingen zugegangen sein, dass eine Revolverkugel so sicher getroffen hatte. Außerdem ist die Park Lane sehr belebt, und kaum hundert Meter vom Haus befindet sich ein Droschkenhalteplatz, aber kein Mensch hatte einen Schuss gehört.
Und doch war die Leiche mit der Schusswunde ein untrügliches Zeichen, dass geschossen worden war, und zwar war die Verwundung derart, dass der Tod augenblicklich eingetreten sein musste. – So lagen die Verhältnisse; sie wurden dadurch noch verwickelter, dass jeder ersichtliche Beweggrund zur Tat fehlte, denn, wie ich erwähnt habe, war der junge Adair ein Mann, der keinen Feind hatte, und außerdem war noch nicht einmal der Versuch gemacht worden, Geld oder Wertgegenstände im Zimmer zu entwenden.
Ich ließ mir den Tatbestand häufiger durch den Kopf gehen und bemühte mich immer wieder, eine Erklärung zu finden, unter welche man alle diese verschiedenen Tatsachen zusammenreimen und von der aus man einen Ausgangspunkt finden könnte, was nach dem Ausspruch meines armen Freundes die Vorbedingung jeder weiteren Nachforschung bilden musste. Ich machte jedoch, offen gestanden, nur sehr geringe Fortschritte in der Sache. Eines Abends wanderte ich durch die Park Lane und befand mich gegen sechs Uhr an der Ecke der Oxford Street. Vor dem Hause, das ich mir ansehen wollte, war eine große Menschenmenge versammelt und richtete ihre Blicke auf ein bestimmtes Fenster desselben. Ein schlanker, hagerer Mann mit blauer Brille, in dem ich stark einen Geheimpolizisten vermutete, gab seine Ansicht über den Vorfall zum besten, während die übrigen um ihn herumstanden und seinen Ausführungen lauschten. Ich drängte mich möglichst nahe an den Sprecher heran, aber seine Ausführungen erschienen mir so unsinnig, dass ich bald verstimmt von dannen ging. Dabei stieß ich einen ältlichen Mann an, der hinter mir gestanden hatte, und eine Anzahl Bücher, die er unter dem Arm trug, fiel zu Boden. Ich half sie ihm schnell aufheben, erinnere mich aber trotzdem noch genau eines seltsamen Titels auf einem derselben: ›Der Ursprung der Baum-Verehrung‹. Ich schloss daraus, dass der Mann irgendein armer Bücherfreund wäre, der entweder gewerbsmäßig oder aus Liebhaberei alte Druckwerke sammelte. Ich stammelte eine Entschuldigung: Die Bücher, die ich unglücklicherweise so übel behandelt hatte, waren aber offenbar in den Augen ihres Eigentümers unschätzbare Wertobjekte, denn er knurrte nur ein paar unverständliche Worte und drehte mir verächtlich den Rücken zu; und ich sah seinen Buckel und den weißen Backenbart in der Menge verschwinden.
Meine Wahrnehmungen in der Park Lane 427 waren wenig dazu angetan, in das dunkle Problem, das mich beschäftigte, Licht zu bringen. Das Haus war durch eine niedrige Mauer mit einem Zaun von der Straße getrennt; beide zusammen konnten etwa fünf Fuß hoch sein. Es fiel also nicht besonders schwer, darüber hinweg in den Garten zu steigen, aber das Fenster war vollkommen unerreichbar: Es führte weder eine Dachrinne noch sonst etwas hinauf, woran auch der gewandteste Kletterer hätte emporklimmen können. Ratloser als je zuvor, lenkte ich meine Schritte nach Kensington zurück. Ich hatte kaum fünf Minuten in meinem Arbeitszimmer gesessen, als das Dienstmädchen hereintrat und meldete, dass mich jemand zu sprechen wünsche. Zu meinem Erstaunen war es kein anderer als mein merkwürdiger alter Büchersammler. Er hatte ein scharfgeschnittenes, hageres Gesicht, von weißem Haar umrahmt, unter dem rechten Arm trug er seine kostbaren Bände, mindestens ein Dutzend an der Zahl.
»Sie werden sich wundern, mich hier zu sehen, mein Herr«, sagte er mit eigentümlicher, krächzender Stimme. Ich gab das ohne weiteres zu.
»Nun«, fuhr er fort, »als ich hinter Ihnen her humpelte und Sie in dieses Haus gehen sah, dachte ich als pflichtschuldiger Mann, du willst gleich mal diesen freundlichen Herrn aufsuchen und ihm sagen, dass, wenn du vorhin ein bisschen schroff gewesen bist, es nicht so gemeint war, und ihm für seine Liebenswürdigkeit, dass er die Bücher wieder aufgehoben hat, deinen Dank abstatten.«
»Sie machen zu viel Aufhebens von dieser Kleinigkeit«, antwortete ich ihm. »Darf ich vielleicht fragen, woher Sie mich kennen?«
»Ich bin so frei, Ihnen zu sagen, dass ich Ihr Nachbar bin, mein kleiner Bücherladen liegt an der Ecke der Church Street, und es würde mir eine große Ehre sein, wenn Sie mich mal besuchten. Vielleicht sind Sie auch ein Liebhaber interessanter Bücher. Ich habe die ›Britischen Vögel‹, den ›Catullus‹ und den ›Heiligen Krieg‹, Werke, von denen jedes einzelne ein kostbarer Schatz ist. Mit fünf solchen Bänden würden Sie jenes leere Fach dort in Ihrem Bücherschrank gerade ausfüllen können. Es sieht so nicht hübsch aus, nicht wahr?«
Ich drehte mich nach dem Bücherspind um. Als ich mich wieder zurückwandte, stand am Schreibtisch mir gegenüber mit lächelnder Miene Sherlock Holmes. Ich sprang auf, sah ihm ein paar Sekunden verwundert ins Gesicht, und bin dann allem Anschein nach zum ersten- und letzten Mal in meinem Leben in Ohnmacht gefallen. Ich weiß nur noch soviel, dass mein Auge umnebelt wurde, und ich beim Erwachen meinen Kragen aufgeknöpft fand und den brennenden Nachgeschmack von Branntwein auf den Lippen spürte. Holmes war über meinen Stuhl gebeugt und hielt das Fläschchen noch in der Hand.
»Mein lieber Watson«, erklang die wohlbekannte Stimme, »ich bitte dich tausendmal um Entschuldigung. Ich hatte keine Ahnung, dass du so nervenschwach geworden seist.«
Ich ergriff seine Hand.
»Holmes!«, rief ich. »Bist du’s wirklich? Ist’s möglich, dass du noch lebst? Ist’s möglich, dass du aus jenem fürchterlichen Abgrund herausgeklettert bist?«2
»Einen Augenblick«, sagte er. »Fühlst du dich auch tatsächlich kräftig genug, um meiner Erzählung folgen zu können? Ich habe dich durch mein überflüssiges dramatisches Auftreten ernstlich erschreckt.«
»Ich bin wieder ganz auf dem Damm, aber wahrhaftig, Holmes, ich kann kaum meinen Augen trauen. Weiß Gott, ich kann mir gar nicht vorstellen, dass du – du in aller Welt – in meinem Studierzimmer stehen sollst!« Ich erfasste wiederum den Ärmel seines Rockes und fühlte den mageren sehnigen Arm hindurch. »Wirklich, du bist kein Geist«, sagte ich. »Lieber Junge, ich freue mich über alle Maßen, dich wiederzusehen. Setz dich und erzähl mir, wie du aus dem schrecklichen Abgrund lebend herausgekommen bist.«
Er nahm mir gegenüber Platz und zündete sich mit der ihm eigenen Gemütsruhe eine Zigarre an. Den langen Gehrock des Buchhändlers hatte er anbehalten, dagegen die übrige Kostümierung, das weiße Haar, den Bart und auch die Bücher auf den Tisch gelegt. Er sah noch hagerer und scharfsinniger aus als ehedem, aber sein Adlergesicht war so leichenblass, als ob er in der letzten Zeit eine Krankheit durchgemacht hatte.
»Ich bin froh, dass ich mich wieder ordentlich ausstrecken kann«, begann er dann. »Für einen großen Mann ist es kein Vergnügen, wenn er stundenlang seine Körperlänge um einen Fuß verkürzen muss. Im übrigen, mein Lieber, musst du mir zuerst sagen, ob du bei meiner Sache heute Nacht mitwirken willst; es handelt sich um eine harte und gefährliche Arbeit. Es würde überhaupt am besten sein, wenn ich dir erst nach getaner Arbeit alles auseinandersetzte.«
»Ich bin äußerst gespannt und möchte es lieber jetzt gleich erfahren.«
»Du willst also heute Nacht mitkommen?«
»Wann und wohin du willst.«
»Du bist wahrhaftig noch der Alte. Ehe wir zu gehen brauchen, können wir einen kleinen Imbiss nehmen. Also, was den Abgrund betrifft, war es nicht allzu schwer, herauszukommen, aus dem einfachen Grunde, weil ich gar nie drin war.«
»Du warst nie drin?«
»Nein, Watson, ich war niemals drin. Mein Schreiben an dich beruhte zwar vollständig auf Wahrheit. Ich zweifelte selbst nicht im geringsten daran, dass ich bald aufgehoben sein würde, als ich in einiger Entfernung die verdächtige Gestalt des ehemaligen Professors Moriarty auftauchen sah. Ich las in seinen grauen Augen einen unabänderlichen Entschluss. Ich wechselte ein paar Worte mit ihm und erhielt die gütige Erlaubnis, dir jene kurze Notiz zukommen zu lassen, die du später gefunden hast. Ich legte sie samt Zigarettentasche und Spazierstock auf den schmalen Pfad und wanderte weiter, während mir Moriarty immer auf den Fersen folgte. Als ich am Ende des engen und steilen Weges angelangt war, blieb ich stehen und leistete ihm Widerstand. Da er keine Waffe bei sich hatte, stürzte er einfach auf mich los und umschlang mich mit seinen langen Armen. Er war sich bewusst, was für ihn auf dem Spiel stand, und versuchte mit aller Gewalt, an mir Rache zu nehmen. Wir gerieten zusammen an den Rand des Wasserfalls. Ich besitze jedoch einige Kenntnis von dem Baritsu, dem japanischen Ringen, welche mir schon häufiger zu statten gekommen ist. Ich riss mich los und versetzte ihm einen Stoß, sodass er einen Augenblick taumelte und mit beiden Händen in der Luft herumfuchtelte; er verlor aber trotz aller Anstrengungen das Gleichgewicht und stürzte unter einem entsetzlichen Aufschrei hintenüber. Ich sah, wie er in die Tiefe fiel, an einen Felsenvorsprung aufschlug und unten ins Wasser plumpste.«
Staunend hörte ich Holmes’ Schilderung, er selbst rauchte gemächlich seine Zigarre dabei.
»Aber zum Teufel!«, warf ich ein, »ich habe doch mit eigenen Augen gesehen, dass zwei Fußspuren hinführten, aber keine zurück.«
»Das ging so zu: Im selben Moment, als der Professor verschwand, kam mir meine eigene Lage klar zum Bewusstsein. Sie war nicht ungünstig. Einerseits wusste ich allerdings, dass nicht Moriarty allein mir den Tod geschworen hatte; es blieben wenigstens noch drei andere, deren Rachebedürfnis nach dem Tode ihres Anführers sicher nicht abnehmen würde; lauter gefährliche Kunden, von denen mich der eine oder der andere gewiss einmal erwischen würde. Andererseits unterlag es für mich keinem Zweifel, dass sie freier und offener auftreten würden, wenn mich alle Welt für tot hielt. Sobald sich dann eine günstige Gelegenheit bieten würde, sie unschädlich zu machen, wollte ich wieder auftauchen und der Menschheit zeigen, dass ich doch noch am Leben wäre. Dies alles hatte ich, glaube ich, eher überdacht, als der Professor auf dem Grunde des Reichenbachfalles angekommen war; so schnell arbeitete damals mein Gehirn.
Ich stand auf und prüfte die Felswand hinter mir. In deinem malerischen Bericht, den ich einige Monate danach mit großem Interesse gelesen habe, gibst du an, dass sie ganz glatt sei. Das stimmt nicht genau. Sie hat ein paar vorspringende Stellen, wo die Gesteinsschichten sich voneinander absetzen und worauf man mit dem Fuß haften kann. Sie ist aber so hoch, dass mir ein Emporklettern bis zur Spitze der Klippe unmöglich schien. Aber ich durfte auch nicht auf dem feuchten Pfad hinansteigen, denn ich würde Fußspuren darauf zurückgelassen haben. Ich hätte zwar die Schuhe verstellen können, wie ich das in ähnlichen Fällen öfter getan habe, aber das Vorhandensein dreier verschiedener Fußstapfen würde die Annahme einer absichtlichen Irreführung zu nahegelegt haben. So musste ich mich denn doch für das Kletterkunststück entschließen. Es war keine beneidenswerte Tätigkeit, mein lieber Watson. Ich leide wahrhaftig nicht an Einbildungen, aber ich gebe dir mein Wort, ich glaubte, aus dem Abgrund die Stimme des Professors zu vernehmen. Unter mir toste der Wasserfall. Jeder Fehltritt konnte verhängnisvoll werden. Mehr als einmal, wenn die Grasbüschel in meiner Hand abrissen, oder wenn meine Füße auf den schlüpfrigen Felsrändern ausglitten, hielt ich mich für verloren. Ich arbeitete mich jedoch allmählich in die Höhe und gelangte endlich auf einen mehrere Fuß breiten, mit Moos bewachsenen Vorsprung, wo ich mich bequem verbergen konnte. Dort lag ich ganz behaglich ausgestreckt, lieber Watson, als ihr herbeikamt, um die näheren Umstände meines Todes festzustellen.
Nachdem ihr endlich die unvermeidlichen, aber sehr irrigen Schlüsse gezogen hattet, begabt ihr euch ins Hotel zurück, während ich in meinem Versteck blieb. Ich hatte mir eingebildet, am Ende meiner Fährnisse angekommen zu sein, aber ein gänzlich unerwartetes Ereignis machte mir klar, dass mir noch mancherlei Überraschungen bevorstanden. Ein riesiger Felsblock kam plötzlich von oben herunter, sauste an mir vorüber und fiel donnernd hinab in die Tiefe. Im ersten Augenblick wähnte ich, es wäre ein Zufall, aber im nächsten erkannte ich bereits den wahren Sachverhalt. Als ich aufblickte, gewahrte ich nämlich das Gesicht eines Mannes, und ein zweiter Stein traf gerade meine Lagerstätte, kaum einen Fuß von meinem Kopf entfernt. Ich wusste nun, woran ich war. Moriarty hatte Helfershelfer gehabt, von denen einer – ich hatte auf einen Blick erkannt, was für ein gefährlicher Bursche es war – Wache gestanden hatte, während der Professor den Angriff ausgeführt hatte. Aus einer gewissen Entfernung, ohne dass ich ihn hatte sehen können, war er Zeuge vom Tode seines Freundes und von meiner Rettung gewesen. Er hatte gewartet, bis ihr weg wart, Watson, und war dann auf die Felswand geklettert, um womöglich das zu vollbringen, was seinem Gefährten nicht gelungen war.
Es blieb mir nicht viel Zeit zum Besinnen, mein Lieber. Ich sah das grimmige Gesicht wieder über die Klippe lugen und merkte daran, dass bald noch mehr Steinblöcke folgen würden. Ich kroch rückwärts die steile Wand hinunter. Ich glaube kaum, dass ich mit kühler Überlegung die Rückreise angetreten habe, denn sie war tausendmal schwieriger als das Hinaufklettern. Doch hatte ich keine Muße, lange über die Gefahr nachzudenken, ein neuer Stein rollte an mir vorbei, als ich an der Kante des Vorsprungs hing. In der Mitte des Weges rutschte ich aus und kam durch ein gnädiges Geschick, wenn auch zerschunden und blutend, glücklich unten auf dem Pfade an. Ich machte mich gleich auf die Beine, marschierte in der Nacht noch zehn Meilen weit durch das Gebirge und befand mich eine Woche später, in dem sicheren Bewusstsein, dass kein Mensch in der Welt wisse, was aus mir geworden sei, in Florenz.
Ich hatte nur einen einzigen Vertrauten – meinen Bruder Mycroft. Ich bitte dich vielmals um Verzeihung, lieber Watson, aber es war unbedingt notwendig, dass ich für tot gehalten wurde, und du würdest keine so überzeugende Schilderung meines unglücklichen Endes geschrieben haben, wenn du nicht selbst daran geglaubt hättest. Verschiedene Male in den letzten drei Jahren war ich im Begriff, dir Nachricht zukommen zu lassen, aber immer wieder hielt mich die Furcht davon ab, deine Zuneigung zu mir könnte dich zu einer Unvorsichtigkeit verleiten und mein Geheimnis an den Tag bringen. Aus diesem Grunde drehte ich mich auch heute Abend um, als du die Bücher aufhobst, denn jedes Zeichen der Überraschung und Erregung deinerseits hätte die Aufmerksamkeit auf meine Person gelenkt und sehr unerwünschte und nie wieder gut zu machende Folgen haben können. Mycroft musste ich mich anvertrauen, um die nötigen Geldmittel zu erhalten. Die Ereignisse in London nahmen nicht den gewünschten Verlauf, denn von der Moriarty’schen Bande befanden sich noch zwei Mitglieder, und gerade meine erbittertsten Feinde, auf freiem Fuße. Ich bereiste daher zwei Jahre lang Tibet, besuchte Lhasa und hielt mich mehrere Tage beim Lama auf. Du hast gewiss die aufsehenerregenden Forschungen eines Norwegers namens Sigerson gelesen, aber wohl nie geahnt, dass du damit Nachrichten von deinem Freund erhieltest. Danach wanderte ich durch Persien, machte einen Abstecher nach Mekka und stattete in Chartum dem Kalifen einen kurzen, aber interessanten Besuch ab, dessen Ergebnisse ich im ›Foreign Office‹ veröffentlicht habe. Nach meiner Rückkehr nach Frankreich verbrachte ich einige Monate im Süden dieses Landes, in Montpellier, wo ich in einem chemischen Laboratorium dem Studium der Steinkohlenteerverbindungen oblag. Nachdem ich meine Untersuchungen zu einem befriedigenden Abschluss gebracht und erfahren hatte, dass nur noch einer meiner Feinde in London sei, wollte ich zurückkommen. Das mysteriöse Verbrechen in der Park Lane hat meine Rückkehr noch beschleunigt. Es interessierte mich nicht nur an sich, sondern schien mir auch eine günstige Gelegenheit zur Ausführung meines Vorhabens zu sein. Ich fuhr also schleunigst nach London, begab mich nach der Baker Street, versetzte Frau Hudson in heftige Krämpfe und fand, dass Mycroft meine Zimmer und meine Sachen genau in derselben Ordnung gelassen hatte, wie ich sie verlassen. So saß ich denn, mein lieber Watson, heute Nachmittag um zwei Uhr in meinem alten Lehnstuhl, in meinem alten Zimmer, und hatte weiter keinen Wunsch, als meinen alten Freund Watson in dem anderen Stuhl zu sehen, den er so oft geziert hatte.«
Das war die merkwürdige Erzählung, die ich an jenem Aprilabend zu hören bekam – eine Erzählung, die ich nie geglaubt haben würde, wenn ich nicht die lange, hagere Gestalt und das scharfe, lebhafte Gesicht vor mir gesehen hätte, das ich nie wiederzuschauen gemeint hatte. Auf irgendeine Weise musste mein Freund auch von meinem eigenen Missgeschick gehört haben. Sein Mitleid zeigte sich mehr in seinem Benehmen als in Worten. »Arbeit ist das beste Mittel gegen Kummer und Verdruss«, sagte er nur, »und ich habe für heute Nacht ein Stück Arbeit, das allein, wenn wir’s glücklich vollenden, für einen Mann das Leben wertvoll macht.« Meine Bitte um näheren Aufschluss darüber war vergeblich. »Bis morgen wirst du genug erfahren«, antwortete er. »Jetzt haben wir uns noch über die letzten drei Jahre zu unterhalten. Dieser Gesprächsstoff wird bis halb zehn genügen, und dann wird’s Zeit, dass wir zu unserem vielverheißenden Abenteuer nach dem leeren Hause aufbrechen.«
Es war tatsächlich wieder wie in den alten Zeiten, als ich um die angegebene Zeit neben ihm in der Droschke saß, den Revolver in der Tasche und gespannt auf die kommenden Dinge. Holmes war ernst und schweigsam. Im Schein der Straßenlaternen sah ich, wie er nachdenklich die Stirn in Falten gelegt und die Lippen fest aufeinandergepresst hatte. Ich wusste nicht, was für Wild wir in den dunklen Revieren des Londoner Verbrecherviertels jagen wollten, aber an dem Gesicht dieses ausgezeichneten Jägers erkannte ich wohl, dass es sich um eine sehr gefährliche Art handeln müsse, und das gelegentliche Lächeln aus seinem sonst unbeweglichen, finsteren Antlitz war wenig glückverheißend für unsere Feinde.
Ich glaubte, wir würden nach der Baker Street fahren, aber an der Ecke des Cavendish-Platzes ließ Holmes halten. Ich bemerkte, wie er sich beim Aussteigen nach allen Seiten umschaute und auch ferner an jeder Straßenecke vergewisserte, dass ihm niemand folgte. Wir schritten durch die dunkelsten Straßen und Gassen. Holmes hatte eine erstaunliche Ortskenntnis, und er führte mich mit größter Sicherheit und in eiligem Tempo durch ein wahres Labyrinth von Remisen, Ställen und Lagerräumen, von deren Existenz ich noch nicht einmal eine Ahnung hatte. Endlich gelangten wir durch eine enge Gasse, die von alten düsteren Gebäuden eingeschlossen war, in die Manchester und in die Blandford Street. Hier bog er rasch in einen schmalen Gang ein, ging durch ein großes hölzernes Tor über einen öden Hof und schloss dann mit einem Schlüssel die hintere Türe eines Hauses auf. Wir traten zusammen ein, und hinter uns schloss er wieder zu.