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Dieses eBook: "Sherlock Holmes: Seine Abschiedsvorstellung" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Sherlock Holmes ist eine vom britischen Schriftsteller Sir Arthur Conan Doyle geschaffene Kunstfigur, die in seinen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert spielenden Romanen als Detektiv tätig ist. Besondere Bedeutung für die Kriminalliteratur erlangten Doyles Werke durch die beschriebene forensische Arbeitsmethode, die auf detailgenauer Beobachtung und nüchterner Schlussfolgerung beruht. Holmes gilt bis heute weithin als Symbol des erfolgreichen, analytisch-rationalen Denkers und als Stereotyp des Privatdetektivs. Arthur Conan Doyle (1859-1930) war ein britischer Arzt und Schriftsteller. Inhalt: Das Geheimnis der Villa Wisteria I. Die Erlebnisse des Herrn John Scott Eccles II. Der Tiger von San Pedro Der rote Kreis Die gestohlenen Zeichnungen Der sterbende Sherlock Holmes Das Verschwinden der Lady Frances Carfax Das Abenteuer mit dem Teufelsfuß
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Seitenzahl: 270
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Das Geheimnis der Villa Wisteria, Der rote Kreis, Die gestohlenen Zeichnungen, Der sterbende Sherlock Holmes, Das Verschwinden der Lady Frances Carfax, Das Abenteuer mit dem Teufelsfuß
Unter meinen Notizen finde ich die Aufzeichnung, daß es ein frostiger, windiger Tag gegen Ende März war. Holmes hatte ein Telegramm erhalten, während wir beim Frühstück saßen, und hatte schnell einige Worte auf das Rückantwortformular geworfen. Er sprach nicht darüber, aber die Angelegenheit lag ihm im Sinn, denn er stand nach dem Frühstück gedankenverloren vor dem wärmenden Feuer, paffte stark mit seiner Pfeife und warf ab und zu einen Blick auf das Telegramm. Plötzlich wandte er sich mir zu mit einem schelmischen Augenzwinkern.
»Ich glaube, Watson, das schlägt in dein Fach als Schreibersmann und Schriftgelehrter,« sagte er. »Welche Bedeutung gibst du dem Wort ›grotesk‹?«
»Seltsam, – merkwürdig, – auffallend in der Form,« versuchte ich, den Begriff zu umschreiben.
Aber er schüttelte den Kopf dazu.
»In dem Wort liegt noch etwas mehr, als nur das«, sagte er; »da ist noch so eine Andeutung von ›tragisch‹ und ›schrecklich‹. Wenn du deine Gedanken zurücklenkst auf einige deiner Erzählungen, mit denen du ein langmütiges Publikum angeblich unterhalten hast, so wirst du entdecken, daß häufig das Groteske sich zum Kriminellen vertieft hat. Denke nur an die sonderbaren Erlebnisse mit dem Bund der Rothaarigen. Das war grotesk genug im Anfang und endete schließlich mit einem verzweifelten Raubversuch. Oder denke an die mehr als groteske Geschichte von den fünf Apfelsinenkernen, die uns geradenwegs in eine Mordverschwörung führte. Das Wort beunruhigt mich.«
»Steht es da?« fragte ich, auf das Telegramm deutend.
Er las es laut: »Hatte soeben ganz unglaublich groteskes Erlebnis. Darf ich Euren Rat einholen? – Scott Eccles, postlagernd Charing Croß.«
»Mann oder Frau?« fragte ich.
»Oh, ein Mann natürlich. Keine Frau würde ein Telegramm mit bezahlter Antwort geschickt haben, Sie wäre selber gekommen.«
»Willst du den Fall annehmen?«
»Mein lieber Watson, du weißt, wie ich mich gelangweilt habe, seit wir den Oberst Carruthers festnahmen. Mein Geist ist wie eine sausende Maschine, die sich in Stücke reißt, wenn sie nicht mit Arbeitsleistung verkoppelt ist. Das Leben ist einförmig; die Zeitungen langweilig; Kühnheit und Romantik scheinen für immer aus der Welt der Verbrechen geschwunden. Magst du da noch fragen, ob ich Lust habe, mich mit dem Fall des Herrn Eccles zu befassen, wie unbedeutend er auch am Ende sein mag? Aber, hier kommt unser neuer Klient.«
Ein gemessener Schritt wurde auf der Treppe vernehmbar, und kurz darauf wurde ein großer, breiter Mann, mit grauen Bartkoteletten, ein sehr würdiger Herr von einer gewissen feierlichen Ehrwürdigkeit, in unser Zimmer gewiesen. Seine Lebensgeschichte stand deutlich in seinen charakteristischen Gesichtszügen geschrieben und sprach aus seiner ganzen etwas pomphaften Art, sich zu geben. Von seinen Stiefeln bis hinauf zu seiner goldenen Brille war er der Kirchenmann, konservativ, orthodox, ein guter Bürger, konventionell und ehrbar bis zum äußersten. Aber ein unerhörtes Erlebnis hatte seine gemessene Haltung, die ihn sonst nie verließ, erschüttert und seine Spuren zurückgelassen in seinem wirren Haar, seinen geröteten, ärgerlichen Backen und in seinem hastigen, aufgeregten Wesen. Er sprang gleich mit beiden Beinen in seinen »Fall«.
»Ich habe ein höchst eigenartiges und peinliches Erlebnis gehabt, Herr Holmes«, begann er. »All mein Lebtag bin ich noch nicht in einer derartig unerfreulichen Lage gewesen. Es ist höchst verletzend für mich, – einfach ungeheuerlich, und ich muß auf einer Erklärung bestehen.« Er schnaufte und kollerte vor Ärger.
»Bitte, Herr Scott Eccles, setzen Sie sich«, sagte Holmes mit sanfter Stimme. »Darf ich Sie zunächst fragen, was Sie zu mir führt?«
»Ja, Herr Holmes, es schien mir kein Anlaß zu sein, die Geschichte bei der Polizei anzuzeigen, und doch, wenn Sie alle Tatsachen kennen, so werden Sie zugeben, daß ich die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen konnte. Privatdetektivs sind eine Klasse von Menschen, die sich meiner Sympathie in keiner Weise erfreuen, aber trotzdem, nachdem ich Ihren Namen gehört habe –«
»Ganz richtig. Aber sagen Sie mir, bitte, warum sind Sie dann nicht sofort gekommen?«
»Wie soll ich das verstehen?«
Sherlock Holmes sah auf seine Uhr.
»Es ist jetzt ein Viertel nach zwei«, sagte er. »Ihr Telegramm wurde um ein Uhr aufgegeben. Aber niemand kann Sie, Ihren Anzug und Ihre ganze ›Aufmachung‹, wenn ich so sagen darf, überfliegen, ohne zu bemerken, daß Sie schon seit dem Aufwachen sich in jener Lage befanden, die Sie jetzt zu mir trieb.«
Unser Klient fuhr sich mit der Hand über sein ungebürstetes Haar und fühlte nach seinem unrasierten Kinn.
»Sie haben recht, Herr Holmes. Ich hatte keinen Gedanken mehr für meine Toilette. Ich war nur zu froh, ein solches Haus verlassen zu können. Aber ich bin herumgelaufen, um einige Tatsachen aufzuklären, bevor ich zu Ihnen kam. Ich ging zu der Mietsagentur, wissen Sie, und da sagten sie mir, daß Herrn Garcias Miete richtig bezahlt und mit der Villa Wisteria alles ganz in Ordnung sei.«
»Sachte, sachte, mein Herr«, sagte Holmes lachend. »Sie sind ja wie mein Freund Doktor Watson, der die schlechte Gewohnheit hat, seine Geschichten vom verkehrten Ende zu erzählen. Bitte, ordnen Sie Ihre Gedanken und lassen Sie mich genau wissen, in der richtigen Aufeinanderfolge, was für Ereignisse es sind, die Sie ungekämmt, unrasiert, mit falsch zugeknöpfter Weste und in ungeputzten Schuhen zu mir als Hilfesuchenden geführt haben.«
Unser Kunde sah mit einem betrübten Blick an sich hinunter und knöpfte seine Weste richtig.
»Ich zweifle nicht, – ich sehe recht übel aus, Herr Holmes, und ich darf Ihnen die Versicherung geben, daß mir in meinem ganzen Leben so etwas noch nicht passiert ist. Aber ich werde Ihnen die ganze tolle Geschichte erzählen, und wenn ich damit zu Ende bin, so werden Sie mir gewiß zugeben, daß es mehr als genügend ist, um mich zu entschuldigen.«
Sein Bericht wurde jedoch schon im Keime erstickt. Es wurden draußen Stimmen laut, und Frau Hudson öffnete die Tür, um zwei robuste und beamtenmäßig aussehende Männer hereinzuführen. Der eine war uns gut bekannt als Inspektor Gregson von Scotland Yard, ein energischer, kühner und, innerhalb seiner Grenzen, fähiger Offizier. Er gab Holmes die Hand und stellte seinen Kollegen vor, den Inspektor Baynes von der Konstablerschaft in Surrey.
»Wir sind gemeinsam auf der Fährte, Herr Holmes, und die hat uns hierher zu Ihnen geführt.« Dabei richtete er seine Bulldoggenaugen auf unsern Klienten. »Sind Sie Herr John Scott Eccles, wohnhaft zu Popham House, Lee?«
»Der bin ich.«
»Wir haben Sie den ganzen Morgen schon gesucht.«
»Sein Telegramm hat Sie vermutlich hierher gewiesen, nicht wahr?« fragte Holmes.
»Sie haben es erraten«, erwiderte Inspektor Gregson. »Wir haben die Fährte am Postamt von Charing Croß aufgenommen und sind direkt hierhergekommen.«
»Aber warum verfolgen Sie mich denn, was wollen Sie von mir?«
»Wir wünschen von Ihnen Aufklärung über die Ereignisse, Herr Scott Eccles, die vergangene Nacht den Tod des Herrn Aloysius Garcia, wohnhaft in Villa Wisteria, bei Esher, herbeigeführt haben.«
Unser Klient hatte sich bei diesen Worten steif aufgerichtet, mit starren Augen, und jede Spur von Farbe war aus seinem verblüfften Gesichte gewichen.
»Herr Garcia ist tot, sagen Sie? Tot?«
»Jawohl, er ist tot.«
»Ein Unglücksfall, oder was?«
»Ein Unglücksfall, jawohl, wenn Sie so wollen. Wir nennen es einfach in unserer Polizeisprache einen Mord.«
»Allmächtiger Gott, das ist fürchterlich! Sie haben doch nicht – haben Sie denn etwa auf mich einen Verdacht?«
»Ein Brief von Ihnen ist in der Tasche des Ermordeten gefunden worden. Aus dem Brief erfuhren wir, daß Sie die Absicht hatten, die vergangene Nacht in seiner Villa zuzubringen.«
»Das tat ich auch.«
»Oh, Sie geben das also zu? Aha!«
Gregson zog sein Notizbuch hervor, ganz eifriger Kriminalbeamter.
»Warten Sie noch einen Augenblick, Gregson«, bat Sherlock Holmes. »Alles, was Sie von dem Herrn verlangen, ist eine genaue Mitteilung dessen, was sich gestern nacht in der Villa zutrug, nicht wahr?«
»Und es ist meine Pflicht, Herrn Scott Eccles darauf hinzuweisen, daß alles, was er aussagt, bei Gericht gegen ihn verwendet werden kann.«
»Herr Eccles war gerade im Begriff, uns alles zu erzählen, als Sie eintraten. He Watson, ein Whisky-Soda könnte unserm Klienten nichts schaden. So, mein Herr, nun gebe ich Ihnen den Rat, übersehen Sie einfach diese zwei Herren und fahren Sie fort, mir Ihren Fall vorzutragen, genau so, als ob wir nicht unterbrochen worden wären.«
Herr Eccles hatte das Glas, das ich ihm gereicht, ausgetrunken, und sein Gesicht zeigte wieder etwas Farbe. Mit einem unsicheren Blick auf das Notizbuch des Inspektors begann er von neuem:
»Ich bin Junggeselle, und da ich viel Verkehr liebe, so unterhalte ich zahlreiche Bekanntschaften. Unter diesen ist auch die Familie eines ehemaligen Bierbrauers namens Melville, in Albemarle Mansion, Kensington. In seinem Hause lernte ich vor einigen Wochen einen jungen Mann namens Garcia kennen. Er war, wie ich hörte, von spanischer Herkunft und irgendwie angestellt bei der Gesandtschaft. Er sprach fließend Englisch, war von angenehmen Umgangsformen und machte auf mich einen so guten Eindruck wie nur je ein Mann in meinem Leben.
Zwischen diesem sympathischen jungen Mann und mir entwickelte sich alsbald eine Art Freundschaft. Von Anfang an schien er besonderen Gefallen an mir gefunden zu haben, und schon zwei Tage nach unserer ersten Begegnung besuchte er mich in Lee. Eins ergab sich aus dem andern, und zuletzt lud er mich ein, einige Tage bei ihm in seiner Villa Wisteria zu verweilen. Die Villa liegt zwischen Esher und Orshott. Gestern abend ging ich nach Esher, um seiner Einladung zu folgen.
Er hatte mir sein Hauswesen früher schon beschrieben. Er lebte mit einem treuen Diener, einem Landsmann, der das ganze Haus in Ordnung hielt. Der Diener konnte genügend Englisch. Dann war da noch ein wundervoller Koch, so hatte er mir erzählt, ein Halbeuropäer, den er auf einer seiner Reisen aufgegriffen hatte. Der konnte ganz köstliche Mahlzeiten zubereiten. Ich entsinne mich noch, daß er bemerkte, was das doch für ein sonderbarer Haushalt sei mitten im Herzen von Surrey, und daß ich ihm lachend beipflichtete. Ich fand alles aber noch viel sonderbarer, als ich es mir vorgestellt hatte.
Ich fuhr nach der Villa, ungefähr zwei Meilen südlich von Esher. Das Haus, abseits von der Straße stehend, war ziemlich groß; von der Straße führte eine halbmondförmige Anfahrt zwischen Buchsbaumhecken heran. Es war ein altes, verwahrlostes Gebäude; das Ganze machte einen verkommenen Eindruck. Als mein Wägelchen auf dem mit Gras bewachsenen Kiesweg vor der Haustür hielt, an der die Farbe abgeblättert war, kamen mir Zweifel, ob es richtig von mir war, einem Mann auf seine Einladung zu folgen, von dem ich im Grunde so wenig wußte und der zudem ein Ausländer war. Er öffnete mir selbst die Tür und begrüßte mich mit einer stark zur Schau getragenen Herzlichkeit. Er übergab mich sodann dem Diener, einem melancholischen, dunkelhäutigen Menschen, der meinen Koffer ergriff und mich zu meinem Zimmer geleitete. Alles machte einen niederdrückenden Eindruck auf mich. Unsere Mahlzeit nahmen wir zu zweit ein, und obwohl Herr Garcia sein Möglichstes tat, um mich zu unterhalten, so schienen mir seine Gedanken doch weit weg zu wandern, in mir unbekannte Fernen, und er sprach oft so unklar und wild, daß ich ihn kaum verstehen konnte. Er trommelte fortgesetzt mit den Nägeln auf der Tischplatte, biß sich in den gebogenen Zeigefinger und verriet auch sonst eine hochgespannte Unruhe. Das Essen wurde weder gut serviert, noch war es gut gekocht, und die Anwesenheit des finstern Dieners machte die Mahlzeit nicht heiterer. Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß ich wiederholt während des Abends den Wunsch hatte, es möchte mir irgendeine passende Ausrede einfallen, um nach Lee zurückzukehren.
Eine Sache fällt mir da ein –« zu den beiden Kriminalbeamten gewendet –, »die vielleicht von Bedeutung für Sie sein könnte. Ich hatte sie zunächst nicht weiter beachtet. Gegen das Ende unserer Mahlzeit brachte der Diener einen Zettel herein. Nachdem Herr Garcia ihn gelesen, schien er mir noch zerstreuter und sonderbarer in seinem Benehmen als zuvor. Er gab sich gar keine Mühe mehr, die Unterhaltung im Gang zu halten, sondern saß, in seine eigenen Gedanken verloren da, rauchte eine Zigarette auf die andere, machte aber keinerlei Bemerkung über den Inhalt der soeben erhaltenen Botschaft. Um elf Uhr war ich froh, zu Bett gehen zu können. Einige Zeit danach sah Garcia bei mir herein, – es war kein Licht im Zimmer – und fragte mich, ob ich geläutet hätte. Ich erwiderte nein. Er entschuldigte sich wegen der Störung zu so später Nachtzeit und bemerkte, es sei nahe an ein Uhr. Ich schlief dann wieder ein und schlief ungestört die ganze Nacht.
Und nun komme ich zu dem erstaunlichsten Teil meiner Erzählung. Als ich aufwachte, war es heller Tag. Ich schaute auf meine Uhr, es war fast neun. Ich hatte ausdrücklich gebeten, man möchte mich um acht Uhr wecken, und war daher erstaunt über solche Vergeßlichkeit. Ich sprang aus dem Bett und klingelte dem Diener. Aber kein Mensch kam. Ich klingelte wieder und wieder, mit demselben Mißerfolg. Dann schloß ich, daß die Klingel kaput sein müsse; ich warf mich ärgerlich in meine Kleider und lief die Treppe hinunter, um mir heißes Wasser zu bestellen. Nun denken Sie sich mein Erstaunen, als ich im ganzen Hause niemand fand. Ich rief unten auf der Diele. Keine Antwort. Ich lief von Zimmer zu Zimmer – kein Mensch zu sehen! Herr Garcia hatte mir am Abend gezeigt, wo er schlafe; ich klopfte an, und als ich keine Antwort erhielt, öffnete ich die Tür. Das Zimmer war leer, in dem Bett war nicht geschlafen worden. Er war einfach weg, mit den übrigen. Der Hausherr fort, der Diener fort, der Koch fort – die ganze landfremde Sippschaft war über Nacht verschwunden! Das war das Ende meines Besuches in der Villa Wisteria.«
Sherlock Holmes rieb vergnügt die Handflächen gegeneinander und schmunzelte über diese Bereicherung seiner Sammlung von merkwürdigen Begebenheiten.
»Meines Wissens ist Ihr Erlebnis ganz einzigartig«, sagte er. »Darf ich Sie fragen, was Sie dann taten, als Sie entdeckt hatten, daß Sie allein im Hause waren?«
»Ich war wütend, Herr Holmes. Mein erster Gedanke war, ich sei das Opfer eines sehr schlechten Scherzes. Ich packte meine Sachen zusammen, schlug die Tür hinter mir zu und ging mit dem Koffer in der Hand nach Esher. Unterwegs kam mir ein Gedanke. Ich ging in Esher zu den Gebrüdern Allan, dem Grundstücksbüro am Ort, und erfuhr dort, daß Allans die Villa vermietet hatten. Es schien mir undenkbar, daß Garcia sollte ein Landhaus extra gemietet haben, um mich zum Narren zu machen, und ich kam auf den Gedanken, es handelte sich bei ihm darum, sich um die Miete zu drücken. Wir haben Ende März, also ist die Vierteljahrsmiete demnächst fällig. Aber diese Theorie fiel gleich zusammen. Herr Allan dankte mir für meine Warnung, aber sie war überflüssig, versicherte er, denn die Miete war für das kommende Vierteljahr bereits vorausbezahlt. Dann fuhr ich nach London, zur spanischen Gesandtschaft. Ein Aloysius Garcia war dort nicht bekannt. Das wunderte mich nicht mehr. Darauf ging ich zu Melville, in dessen Haus ich Garcias Bekanntschaft gemacht hatte. Ich erfuhr von ihm nur, daß er noch weniger über ihn wußte, als ich selber. Schließlich, als ich in Charing Croß Ihre Antwort auf mein Telegramm erhielt, kam ich zu Ihnen heraus, denn ich habe gehört, daß Sie in solchen mysteriösen Angelegenheiten manchem schon geholfen haben. Und nun, Herr Inspektor, scheint es mir, daß Sie nach dem, was Sie vorhin gesagt haben, meinen Bericht fortsetzen können und daß ein Verbrechen begangen wurde. Ich versichere Sie, daß jedes Wort, das ich gesagt, die reine Wahrheit ist, und daß ich sonst nichts zu sagen weiß, schlechterdings gar nichts, am wenigsten darüber, was aus Garcia geworden ist, nachdem er die Villa verlassen hat. Mein einziger Wunsch ist jetzt, der Gerechtigkeit und dem Gesetz nach bestem Können, auf jede nur mögliche Weise, bei der Aufklärung des Verbrechens zu dienen.«
»Ich zweifele nicht daran, Herr Scott Eccles, ich zweifele nicht daran«, erwiderte Inspektor Gregson in sehr verbindlichem Tone. »Ich muß Ihnen sagen, daß alles, was Sie gesagt haben, sehr genau zu den Tatsachen paßt, die zu unserer Kenntnis gelangt sind. Zum Beispiel der Zettel, der während des Essens gebracht wurde – haben Sie zufällig beobachtet, wo er hinkam, nachdem Garcia ihn gelesen?«
»Jawohl, Garcia knüllte ihn zusammen und warf ihn ins Kaminfeuer.«
»Was sagen Sie dazu, Herr Kollege Baynes?«
Der Provinzkonstabler war ein korpulenter, etwas aufgeschwemmter rotbackiger Herr, dessen grobes Gesicht jedoch durch zwei auffallend klare Augen, die von Fett und Brauen fast verdeckt waren, etwas Geistiges erhielt. Mit einem breiten Lächeln zog er einen Zettel Papier, beschmutzt und voller Falten, aus seiner Brusttasche.
»Es war ein sehr tiefer Kamin, Herr Holmes, und ein nicht ebenso tiefer Feuerrost. Garcia hat das Papier über das Feuer hinweggeworfen, es ist zwischen der Rückwand und dem Rost niedergefallen, und da habe ich es unversehrt gefunden.«
Holmes lächelte dem Konstabler zu. Ein Lächeln der Anerkennung.
»Sie müssen das Haus sehr sorgfältig durchsucht haben, um solch ein Bällchen Papier zu finden.«
»Sorgfältigkeit ist meine Art, Herr Holmes. – Soll ich es vorlesen, Herr Gregson?«
Der Londoner nickte.
»Der Zettel besteht aus gewöhnlichem Schreibpapier, ohne Wasserzeichen. Es ist ein Quartblatt. Das Papier ist mit zwei Schnitten einer kurzen Schere abgeschnitten. Es wurde dreimal gefaltet und mit rotem Siegellack gesiegelt, ohne Sorgfalt gesiegelt und mit Verwendung eines ovalen flachen Gegenstandes an Stelle eines Petschaftes. Überschrieben ist es an Herrn Garcia, Villa Wisteria. Der Text lautet: ›Unsere eigenen Farben, grün und weiß. Grün offen, weiß geschlossen. Haupttreppe, erster Korridor, siebentes zur Rechten. Grüner Fries. Gott behüte Sie D.« Es ist die Handschrift einer Frau, geschrieben mit einer harten, spitzen Feder; aber die Überschrift ist mit einer anderen Feder geschrieben oder von einer anderen Hand. Die Schriftzüge sind dicker, fester, wie Sie sehen.«
»Eine sehr merkwürdige Mitteilung«, sagte Holmes und betrachtete das Papier und die Schrift. »Ich muß Ihnen mein Kompliment machen, Herr Baynes, zu der so sicher ins einzelne gehenden Untersuchung, die Sie mit diesem Blatt angestellt haben. Einige geringfügige Kleinigkeiten wären vielleicht noch nachzutragen. Der ovale Siegelabdruck: das ist offenbar ein Manschettenknopf – was hätte sonst noch so eine Form? Die Schere hatte, wie Sie richtig bemerkten, nur kurze Klingen; überdies waren sie gebogen – es war eine Nagelschere. Die Krümmung können Sie genau hier an den zwei Schnitten sehen.«
Der Provinzkonstabler ließ ein unterdrücktes Lachen hören.
»Ich glaubte, ich hätte allen Saft herausgepreßt, aber ich sehe jetzt, daß immer noch etwas übrig blieb«, sagte er. »Ich muß Ihnen übrigens noch gestehen, daß mir die Worte nichts verraten, ich kann sie mir nicht deuten, außer natürlich, daß da irgend ‘was geplant war, und daß, wie gewöhnlich, eine Frau dahinter steckt.«
Herr Scott Eccles hatte während dieser Unterhaltung sich unruhig auf seinem Stuhl hin-und hergeschoben.
»Es erleichtert mich außerordentlich, daß Sie den Zettel gefunden haben«, sagt er, »denn er bestätigt Ihnen in diesem Punkt die Richtigkeit meiner Angaben. Aber darf ich Sie daran erinnern, daß ich noch nichts weiter davon gehört habe, was Herrn Garcia zugestoßen ist und was aus seinen Leuten wurde?«
»Was Garcia anlangt«, erwiderte Gregson, »so ist die Frage leicht beantwortet. Man hat ihn heute morgen tot aufgefunden, etwa eine Meile von Villa Wisteria. Der ganze Kopf ist ihm zu Brei geschlagen, mit irgendeinem stumpfen Gegenstand, der außen vielleicht weich sein dürfte, denn offene Wunden sind kaum vorhanden. Nasser Sandsack vielleicht. Es ist eine einsame Gegend dort, Orshotter Gebiet, kein Haus in der Nähe auf eine Viertelmeile. Allem Anschein nach ist er von hinten niedergeschlagen worden, aber sein Angreifer hat dann fortgefahren, auf den Kopf loszuhämmern, lange nachdem Garcia schon tot war. Es ist eine fürchterliche Untat, grausig! Von dem Mörder fehlt jede Spur. Kein Fußabdruck, nichts.«
»Beraubt?«
»Nein, soweit wir feststellen konnten.«
»Das ist alles so schrecklich, so schrecklich und furchtbar«, sprach Herr Scott Eccles mit klagender Stimme; »und für mich ist es ganz ungewöhnlich hart. Ich habe nicht das mindeste damit zu tun, daß Herr Garcia in der Nacht irgend etwas unternahm und er ein so schreckliches Ende dabei fand. Wieso werde ich denn mit diesem Mord in Verbindung gebracht?«
»Sehr einfach«, erwiderte Inspektor Baynes. »Das einzige Schriftstück, das man bei dem Toten fand, ist ein Brief von Ihnen, der besagt, daß Sie in derselben Nacht bei ihm sein wollten, in der er ermordet wurde. Nur aus dem Umschlag Ihres Briefes haben wir Namen und Wohnort des Toten erfahren. Nach zehn Uhr heute früh kamen wir zu der Villa und fanden sie leer. Ich telegraphierte an Herrn Gregson, er solle Sie in London festnehmen, während ich die Villa zunächst untersuchte. Dann fuhr auch ich nach London, traf mich mit Herrn Gregson, und so sind wir hier vor Ihnen erschienen.«
Gregson erhob sich.
»Ich denke, wir geben der ganzen Sache jetzt die richtige amtliche Form. Kommen Sie, bitte, mit uns auf die Kriminalabteilung, Herr Scott Eccles, und geben Sie Ihre Aussagen dort zu Protokoll.«
»Gewiß, ich gehe sofort mit«, stimmte unser Kunde bei. »Aber ich halte mich Ihrer Dienste versichert, Herr Holmes. Ich wünsche, daß Sie keine Kosten sparen und keine Mühe scheuen, um der Sache auf den Grund zu kommen.«
Mein Freund wandte sich an Herrn Baynes.
»Ich darf wohl annehmen, daß Sie nichts dagegen haben, wenn ich mit Ihnen zusammen arbeite, wie Herr Scott Eccles es wünscht.«
»Ist mir eine große Ehre, Herr Holmes.« Und der Inspektor verbeugte sich etwas ungelenk.
»Sie sind in allem, wie mir scheint, sehr zielbewußt und sachgemäß vorgegangen. Ist irgendein Anhalt da für den Zeitpunkt, zu dem der Ermordete seinen Tod fand?«
»Er muß seit ein Uhr morgens dagelegen haben. Um diese Zeit fing es an zu regnen, und sein Tod hat ihn sicher vor Eintritt des Regens ereilt.«
»Aber das ist ja ganz unmöglich, Herr Baynes«, rief unser Klient. »Garcias Stimme ist nicht zu verkennen, ich kann es beschwören, daß es seine Stimme war, die eben um ein Uhr in meinem Schlafzimmer zu mir sprach.«
»Merkwürdig – aber nicht unmöglich«, sagte Holmes lächelnd.
»Haben Sie schon eine Erklärung?« fragte Gregson.
»Obenhin betrachtet ist der Fall nicht sehr schwierig, obwohl er einige neue und interessante Züge aufweist. Eine weitere Kenntnis der Tatsachen ist jedoch notwendig, ehe ich eine bestimmte, abschließende Meinung äußern kann. Haben Sie übrigens, Herr Baynes, außer dem Zettel irgend etwas Bemerkenswertes in dem Hause entdeckt?«
Der Konstabler sah meinen Freund mit einem sehr sonderbaren Blick an.
»Ich habe da allerdings ein paar ganz kuriose Dinge gefunden, Herr Holmes. Wenn wir auf der Kriminalabteilung fertig sind, und Sie sich für die Sachen interessieren, dann fahren Sie vielleicht mit mir zur Villa hinaus und lassen mich Ihre Ansicht darüber wissen.«
»Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung«, antwortete Holmes freundlich und klingelte. »Frau Hudson, führen Sie, bitte, die Herren hinaus und schicken Sie einen Jungen mit diesem Telegramm weg; ja? Rückantwort mit fünf Schilling zu bezahlen!« –
Wir saßen, nachdem die anderen uns verlassen, eine Zeitlang schweigend da. Holmes rauchte stark, die Brauen über seinen Augen zusammengezogen, und den Kopf vorgestreckt, in der eigentümlichen Art, die er an sich hatte: wie ein Geier.
»Nun, Watson«, wandte er sich plötzlich an mich, »was machst du aus der Sache?«
»Ich kann mir keinen Vers auf diese Mystifikation des Herrn Scott Eccles machen.«
»Aber der Mord?«
»Wenn ich berücksichtige, daß seine beiden Hausgenossen verschwunden sind, so muß ich annehmen, daß sie auf irgendeine Art mit dem Mord in Verbindung stehen und sich durch die Flucht der Gerechtigkeit entziehen.«
»Das ist sicherlich eine der möglichen Erklärungen. Aber schon die eine Überlegung wird dir die Unwahrscheinlichkeit deiner Annahme zeigen, nämlich die: wie sonderbar es von den beiden Hausgenossen Garcias sein müßte, daß sie ihm nach dem Leben trachten und ihn dann ausgerechnet in der Nacht überfallen, wo er einen Gast im Hause hat. Jede andere Nacht der ganzen Woche waren sie allein mit ihm in der Villa und hatten freiere Hand.«
»Warum sind sie dann geflohen?«
»Ganz richtig, warum sind sie geflohen? Hier haben wir die schwerwiegende Tatsache ihrer Flucht. Eine ebenso schwerwiegende Tatsache ist das, was unser Scott Eccles berichtet hat. Und nun, mein lieber Watson: ist es zu viel für menschliche Geisteskräfte, eine Erklärung zu finden, die diesen beiden schwerwiegenden Tatsachen gerecht wird? Wenn diese Erklärung auch noch Raum ließe für die geheimnisvolle Zettelbotschaft mit ihrem merkwürdig versteckten Inhalt, ja, dann könnten wir sie als eine vorläufige Annahme gelten lassen. Wenn dann die neuen Tatsachen, die noch zu unserer Kenntnis gelangen werden, alle in den Rahmen unserer Annahme passen, dann kann diese nach und nach zu einer Lösung des Rätsels führen.«
»Und was hast du für eine Annahme?«
Holmes lehnte sich mit halbgeschlossenen Augen in seinen Sessel zurück.
»Du mußt zunächst zugeben, mein alter Watson, daß der Gedanke eines schlechten Scherzes einfach unmöglich ist. Wie sich später herausstellte, ging es hier um Leben und Tod, und daß Scott Eccles in die Villa gelockt wurde, das hängt damit zusammen.«
»Aber wie hängt das zusammen?«
»Gehen wir Schritt für Schritt vor! Da ist zunächst nicht ganz natürlich, sondern im Gegenteil auffallend, wie der junge Spanier und unser Klient sich so rasch befreundeten. Der Spanier gab dabei das Tempo an. Er machte gleich zwei Tage, nachdem er Scott Eccles kennengelernt, diesem einen Besuch am andern Ende von London, und er blieb in enger Verbindung mit ihm, bis er ihn nach Esher brachte. Frage: Was hatte er mit Eccles vor? Was konnte Eccles ihm bieten? Ich habe keinerlei Reize an dem Mann entdecken können. Er ist nicht besonders intelligent – kein Mann, der einem temperamentvollen, lebhaften Romanen irgendwie verwandt wäre. Warum also hat Garcia gerade ihn als für seine Zwecke besonders geeignet unter all den Leuten gewählt, mit denen er bekannt war? Hat er irgendwelche hervorstechende Eigenschaften? Ich sage ja! Er ist der typische Vertreter der konventionellen englischen Ehrbarkeit und der richtige Mann, um als Zeuge vor Gericht jedem andern Engländer einen Eindruck zu machen. Du hast es ja soeben selbst gesehen, wie keiner von den beiden Polizeileuten auch nur im geringsten seine Aussagen in Frage stellte, so ungewöhnlich, ja fast unwahrscheinlich alles klang.«
»Aber was soll er als Zeuge bestätigen?«
»Nichts, so wie die Dinge verlaufen sind. Aber alles hing von ihm ab, wenn die Ereignisse programmäßig sich entwickelten. So sehe ich die Sache an.«
»Er hätte ein Alibi nachweisen können und –«
»Eben darum dreht es sich, Watson! Er hätte ein Alibi nachweisen können. Wir wollen einmal unterstellen, daß die drei Hausbewohner der Wisteria Verbündete sind. Das Unternehmen, was immer es sein mochte, sollte vor ein Uhr in der Nacht vor sich gehen, so wollen wir ferner annehmen. Es ist möglich, daß Scott Eccles mit falsch gestellten Hausuhren schon früher zu Bett geschickt wurde, als er selbst glaubte; auf jeden Fall aber ist es wahrscheinlich, daß, als Garcia zu ihm ins Zimmer trat, um ihm zu sagen, es sei ein Uhr, es in Wirklichkeit vielleicht spätestens Mitternacht war. Wenn also Garcia das, was er zu tun beabsichtigte, zwischen zwölf und ein Uhr ausführen und bis ein Uhr zurück sein konnte, so hatte er offenbar eine wirksame Erwiderung auf jede Anklage. Denn hier war dieser ehrbare, einwandfreie Engländer bereit, seinen Eid darauf zu schwören, daß er mit dem Angeklagten zu der fraglichen Zeit unter einem Dache weilte. Gegen das Schlimmste hatte Garcia sich damit gesichert.«
»Ja, ja, das sehe ich ein. Aber was hat es mit dem Verschwinden der anderen auf sich?«
»Ich habe noch nicht alle Tatsachen beisammen, aber ich glaube nicht, daß es da noch unüberwindliche Schwierigkeiten gibt. Immerhin wäre es verkehrt, jetzt auf Grund der bisherigen Tatsachen weitergehende Folgerungen zu ziehen. Man biegt zu leicht alles ganz unmerklich so zurecht, daß es zu der vorgefaßten Meinung paßt.«
»Und die mysteriöse Botschaft?«
»Wie lauten die Worte? ›Unsere eigenen Farben, grün und weiß.‹ Erinnert an Pferderennen. ›Grün offen, weiß geschlossen.‹ Das bedeutet offenbar ein Signal. ›Haupttreppe, erster Korridor, siebentes zur Rechten. Grüner Fries.‹ Das ist Wegweisung. Hinter der ganzen Sache könnte man einen eifersüchtigen Gatten vermuten. Sicher verlangte die Botschaft etwas Gefährliches. Die Schreiberin würde sonst nicht geschlossen haben mit ›Gott behüte Sie.‹ Mit dem ›D.‹ ist vorläufig nichts anzufangen.«
»Der Mann war Spanier. Wir könnten annehmen, daß ›D.‹ für Dolores steht, ein sehr gebräuchlicher Name in Spanien.«
»Brav, Watson, sehr brav! Aber völlig auf dem Holzweg. Eine Spanierin würde einem Spanier spanisch geschrieben haben. Die Schreiberin ist aber offenbar Engländerin. Schau’ doch nur die Handschrift an! Nein, wir müssen uns in Geduld fassen, bis der Inspektor zurückkommt. Inzwischen können wir unserm gütigen Geschick danken, daß es uns für einige Stunden von dieser unerträglichen Qual des Nichtstuns befreit.« –
Noch ehe unser Surreykonstabler zurückkam, war eine Antwort auf Holmes’ Telegramm eingelaufen. Mein Freund las sie und war eben im Begriff, das Blatt in seine Brieftasche zu stecken, als er meinen gespannt neugierigen Blick auffing. Er schob mir das Telegramm lachend zu.
»Wir bewegen uns in den besten Kreisen«, sagte er.
Das Telegramm enthielt folgende Namen und Adressen: »Lord Harringby auf Dingle. Sir George Ffolliott, Oxshott Towers. Hynes Hynes, J.P. Purdey Place. James Baker, Williams Forton Old Hall. Henderson, High Gable. Rev. Joshua Stone, Nether Walsling.«
»Das ist die gegebene Methode, unser Operationsgebiet abzugrenzen«, sagte Holmes. »Ohne Zweifel hat Baynes, bei seiner methodischen Art, bereits einen ähnlichen Plan angenommen.«
»Ich werde nicht recht klug daraus.«
»Mein lieber Watson, wir sind doch schon zu der Überzeugung gelangt, daß die Botschaft, die Garcia während des Essens erhielt, eine Zusammenkunft bedeutet, ein Rendez-vous vielleicht. Wenn also der Sinn der Worte richtig von uns erfaßt ist, so sollte Garcia eine Haupttreppe hinaufsteigen – also gab es noch eine zweite mindestens – und er sollte das siebente Zimmer auf der rechten Seite des Korridors aufsuchen – da ist es doch vollkommen klar, daß es sich nur um ein sehr großes Haus handeln kann. Ebenso klar ist es, daß dieses Haus höchstens eine Meile oder zwei von Oxshott entfernt liegen muß, denn Garcia war in der Richtung auf Oxshott zu gegangen, und nach meiner Auffassung der Dinge wollte er auf der Villa Wisteria so zeitig wieder eintreffen, um sein Alibi nachweisen zu können. Also bis spätestens ein Uhr. Da die Zahl der ganz großen Häuser um Oxshott begrenzt sein muß, so telegraphierte ich an die Immobilien-Agentur der Gebrüder Allan, wo Scott Eccles sich schon erkundigt hatte, und erhielt von diesen die Liste. In diesem Telegramm hier stehen alle die Orte verzeichnet, an deren einem das andere Ende unseres verwirrten Knäuels zu finden sein muß.« –
Es war fast sechs Uhr, eh wir in dem hübschen Surreydorf Esher ankamen, in Begleitung des Inspektors Baynes, der uns in der Bakerstraße abgeholt hatte. Holmes und ich hatten Sachen für die Nacht mitgenommen, und wir fanden gute Unterkunft im »Admiral Nelson«. Schließlich machten wir uns mit Baynes auf den Weg zur Villa Wisteria. Es war ein kalter, dunkler Märzabend, Regen und Wind fuhren uns ins Gesicht, und gespenstisch sahen die kahlen Bäume am Wege aus, wenn der Wind sie schüttelte.
Ein unangenehmer Marsch von einigen Meilen brachte uns zu einem hohen hölzernen Tor, das sich gegen eine Kastanienallee öffnete; die Anfahrt zwischen Buchsbaumhecken führte uns zu dem Haus, das sich tintenschwarz von dem schiefergrauen Himmel abhob. Links von der Eingangstür war ein Fenster schwach beleuchtet.
»Einer von meinen Leuten hält hier Wache«, sagte Baynes. »Ich will ans Fenster klopfen.« Er schritt über den Rasen und pochte an den Fensterrahmen. Durch das trübe Glas sah ich einen Mann von einem Stuhl neben dem Kaminfeuer hochspringen und hörte gleichzeitig einen scharfen Schrei in dem Zimmer. Kurze Zeit darauf öffnete ein schwer atmender Konstabler, schreckensbleich und so zittrig, daß die Kerze, die er in der Hand hielt, flackerte, die Eingangstür. »Was ist los mit Ihnen?« fragte Baynes streng.
Der Mann wischte sich die Stirn mit dem Taschentuch und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
»Ich bin so froh, daß Sie gekommen sind, Herr Inspektor. Die Wache ist mir sehr lang geworden, und meine Nerven sind nicht mehr das, was sie einmal waren.«
»Ihre Nerven, Walters? Ich hätte nicht gedacht, daß Sie in Ihrem Leib einen einzigen Nerv haben.«
»Ja, Herr Inspektor, das kommt von dem einsamen verlassenen Haus und dem sonderbaren Ding in der Küche. Wie Sie ans Fenster klopften, glaubte ich, er sei wiedergekommen.«
»Wer sei wiedergekommen?«
»Der Teufel, Herr Inspektor! Etwas anderes kann es kaum gewesen sein. Es war am Fenster.«