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Vollständig überarbeitete, korrigierte und illustrierte Fassung (HD) Das Tal des Grauens (Originaltitel: The Valley of Fear) ist der vierte Roman von Sir Arthur Conan Doyle in dem die Figuren Sherlock Holmes und Dr. Watson auftauchen. Sherlock Holmes erhält eine Nachricht von einem Informanten, der eng mit seinem Erzfeind Professor Moriarty zusammenarbeitet. Holmes soll sofort nach Birlstone in Sussex kommen. Dort soll er einen gewissen Douglas schützen. Doch kurz darauf berichtet ein Beamter des Scotland Yards, dass Douglas auf entsetzliche Weise ermordet wurde. Holmes und Watson brechen auf. Werden sie dabei auf Moriarty treffen? "Wenn Sie aber Moriarty einen Verbrecher nennen, so begehen Sie damit im Sinne des Gesetzes eine Beleidigung, und darin gerade liegt der eigenartige Reiz der ganzen Sache. Der größte Bösewicht aller Zeiten, der Organisator teuflischer Verbrechen, das geistige Haupt der Unterwelt - ein Kopf, der ein ganzes Volk zum Guten oder Bösen lenken könnte, das ist das Bild des Mannes." Wie kann man Sherlock Holmes nicht kennen? Den berühmtesten Detektiv der Geschichte, der mit seinem messerscharfen Verstand und seiner Ermittlungsart als Vorlage für fast alle kriminalistischen Nachfolger diente. Mit 31 Illustrationen Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 296
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Arthur Conan Doyle
Sherlock Holmes und das Tal des Grauens
Vollständige & Illustrierte Fassung
Arthur Conan Doyle
Sherlock Holmes und das Tal des Grauens
Vollständige & Illustrierte Fassung
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Übersetzung: H. O. Herzog, Jürgen SchulzeIllustrationen: Frank Wiles EV: Dürr & Weber, Berlin, 1926 7. Auflage, ISBN 978-3-954181-68-1
www.null-papier.de/holmes
null-papier.de/katalog
Inhaltsverzeichnis
Die Sherlock Holmes-Sammlung
Arthur Conan Doyle & Sherlock Holmes
I. Teil – Der Mord in Birlstone
1. Kapitel. Die Warnung
2. Kapitel. Sherlock Holmes tritt in Tätigkeit
3. Kapitel. Das Drama von Birlstone
4. Kapitel. In der Dunkelheit
5. Kapitel. Die Hauptpersonen des Dramas
6. Kapitel. Die ersten Lichtstrahlen
7. Kapitel. Die Lösung
II. Teil – Die Rächer
1. Kapitel. Der Fremde
2. Kapitel. Der Logenmeister
3. Kapitel. Loge Nr. 341 Vermissa
4. Kapitel. Das Tal des Grauens
5. Kapitel. Die trübste Stunde
6. Kapitel. Gefahr
7. Kapitel. Der Detektiv in der Falle
8. Kapitel. Das Ende
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Womöglich wäre die Literatur heute um eine ihrer schillerndsten Detektivgestalten ärmer, würde der am 22. Mai 1859 in Edinburgh geborene Arthur Ignatius Conan Doyle nicht ausgerechnet an der medizinischen Fakultät der Universität seiner Heimatstadt studieren. Hier nämlich lehrt der später als Vorreiter der Forensik geltende Chirurg Joseph Bell. Die Methodik des Dozenten, seine Züge und seine hagere Gestalt wird der angehende Autor für den dereinst berühmtesten Detektiv der Kriminalliteratur übernehmen.
Geburt und Tod des Holmes
Der erste Roman des seit 1883 in Southsea praktizierenden Arztes teilt das Schicksal zahlloser Erstlinge – er bleibt unvollendet in der Schublade. Erst 1887 betritt Sherlock Holmes die Bühne, als »Eine Studie in Scharlachrot« erscheint. Nachdem Conan Doyle im Magazin The Strand seine Holmes-Episoden veröffentlichen darf, ist er als erfolgreicher Autor zu bezeichnen. The Strand eröffnet die Reihe mit »Ein Skandal in Böhmen«. Im Jahr 1890 zieht der Schriftsteller nach London, wo er ein Jahr darauf, dank seines literarischen Schaffens, bereits seine Familie ernähren kann; seit 1885 ist er mit Louise Hawkins verheiratet, die ihm einen Sohn und eine Tochter schenkt.
Ginge es ausschließlich nach den Lesern, wäre dem kühlen Detektiv und seinem schnauzbärtigen Mitbewohner ewiges Leben beschieden. Die Abenteuer der beiden Freunde nehmen freilich, wie ihr Schöpfer meint, zu viel Zeit in Anspruch; der Autor möchte historische Romane verfassen. Deshalb stürzt er 1893 in »Sein letzter Fall« sowohl den Detektiv als auch dessen Widersacher Moriarty in die Reichenbachfälle. Die Proteste der enttäuschten Leserschaft fruchten nicht – Holmes ist tot.
Die Wiederauferstehung des Holmes
Obwohl sich der Schriftsteller mittlerweile der Vergangenheit und dem Mystizismus widmet, bleibt sein Interesse an Politik und realen Herausforderungen doch ungebrochen. Den Zweiten Burenkrieg erlebt Conan Doyle seit 1896 an der Front in Südafrika. Aus seinen Eindrücken und politischen Ansichten resultieren zwei nach 1900 publizierte propagandistische Werke, wofür ihn Queen Victoria zum Ritter schlägt.
Eben zu jener Zeit weilt Sir Arthur zur Erholung in Norfolk, was Holmes zu neuen Ehren verhelfen wird. Der Literat hört dort von einem Geisterhund, der in Dartmoor1 eine Familie verfolgen soll. Um das Mysterium aufzuklären, reanimiert Conan Doyle seinen exzentrischen Analytiker: 1903 erscheint »Der Hund der Baskervilles«. Zeitlich noch vor dem Tod des Detektivs in der Schweiz angesiedelt, erfährt das Buch enormen Zuspruch, weshalb der Autor das Genie 1905 in »Das leere Haus« endgültig wiederbelebt.
Das unwiderrufliche Ende des Holmes
Nach dem Tod seiner ersten Frau im Jahr 1906 und der Heirat mit der, wie Conan Doyle glaubt, medial begabten Jean Leckie befasst sich der Privatmann mit Spiritismus. Sein literarisches Schaffen konzentriert sich zunehmend auf Zukunftsromane, deren bekanntester Protagonist der Exzentriker Professor Challenger ist. Als populärster Challenger-Roman gilt die 1912 veröffentlichte und bereits 1925 verfilmte Geschichte »Die vergessene Welt«, die Conan Doyle zu einem Witz verhilft: Der durchaus schlitzohrige Schriftsteller zeigt im kleinen Kreis einer Spiritistensitzung Filmaufnahmen vermeintlich lebender Saurier, ohne zu erwähnen, dass es sich um Material der ersten Romanverfilmung handelt.
Die späte Freundschaft des Literaten mit Houdini zerbricht am Spiritismus-Streit, denn der uncharmante Zauberkünstler entlarvt zahlreiche Betrüger, während der Schriftsteller von der Existenz des Übernatürlichen überzeugt ist. Conan Doyles Geisterglaube erhält Auftrieb, als sein ältester Sohn Kingsley während des Ersten Weltkriegs an der Front fällt.
Noch bis 1927 bedient der Autor das Publikum mit Kurzgeschichten um Holmes und Watson; zuletzt erscheint »Das Buch der Fälle«. Als Sir Arthur Conan Doyle am 7. Juli 1930 stirbt, trauern Familie und Leserschaft gleichermaßen, denn diesmal ist Holmes wirklich tot.
Von der Bedeutung eines Geschöpfes
Oder vielmehr ist Holmes ein ewiger Wiedergänger, der im Gedächtnis des Publikums fortlebt. Nicht wenige Leser hielten und halten den Detektiv für eine existente Person, was nicht zuletzt Conan Doyles erzählerischem Geschick und dem Realitätsbezug der Geschichten zu verdanken sein dürfte. Tatsächlich kam man im 20. Jahrhundert dem Bedürfnis nach etwas Handfestem nach, indem ein Haus in der Londoner Baker Street die Nummer 221 b erhielt. Dort befindet sich das Sherlock-Holmes-Museum.
Conan Doyles zeitgenössischer Schriftstellerkollege Gilbert Keith Chesterton, geistiger Vater des kriminalistischen Pater Brown, brachte das literarische Verdienst seines Landsmanns auf den Punkt: Sinngemäß sagte er, dass es nie bessere Detektivgeschichten gegeben habe und dass Holmes möglicherweise die einzige volkstümliche Legende der Moderne sei, deren Urheber man gleichwohl nie genug gedankt habe.
Dass der Detektiv sein sonstiges Schaffen dermaßen überlagern konnte, war Conan Doyle selbst niemals recht. Er hielt seine historischen, politischen und später seine mystizistisch-spiritistischen Arbeiten für wertvoller, während die Kurzgeschichten dem bloßen Broterwerb dienten. Vermutlich übersah er bei der Selbsteinschätzung seiner vermeintlichen Trivialliteratur deren enorme Wirkung, die weit über ihren hohen Unterhaltungswert hinausging.
So wie Joseph Bell, Conan Doyles Dozent an der Universität, durch präzise Beobachtung auf die Erkrankungen seiner Patienten schließen konnte, sollte Sherlock Holmes an Kriminalfälle herangehen, die sowohl seinen Klienten als auch der Polizei unerklärlich schienen. Bells streng wissenschaftliches Vorgehen stand Pate für Deduktion und forensische Methodik in den vier Romanen und 56 Kurzgeschichten um den hageren Gentleman-Detektiv. Professor Bell beriet die Polizei bei der Verbrechensaufklärung, ohne in den offiziellen Berichten oder in den Zeitungen erwähnt werden zu wollen. Die Ähnlichkeit zu Holmes ist augenfällig. Wirklich war in den Geschichten die Fiktion der Realität voraus, denn wissenschaftliche Arbeitsweise, genaue Tatortuntersuchung und analytisch-rationales Vorgehen waren der Kriminalistik jener Tage neu. Man urteilte nach Augenschein und entwarf Theorien, wobei die Beweisführung nicht ergebnisoffen geführt wurde, sondern lediglich jene Theorien belegen sollte. Zweifellos hat die Popularität der Erlebnisse von Holmes und Watson den Aufstieg der realen Forensik in der Verbrechensaufklärung unterstützt.
Ein weiterer interessanter Aspekt der Erzählungen betrifft Conan Doyles Neigung, seine eigenen Ansichten einzuarbeiten. Zwar bevorzugte er zu diesem Zweck andere Schaffenszweige, aber es finden sich gesellschaftliche und moralische Meinungen, wenn Holmes etwa Verbrecher entkommen lässt, weil er meint, dass eine Tat gerecht gewesen oder jemand bereits durch sein Schicksal genug gestraft sei. Gelegentlich ist dabei festzustellen, dass er Angehörige niedriger Stände gleichgültiger behandelt als die Vertreter der »guten Gesellschaft«.
Fiktive Biografien des Detektivs, Bühnenstücke, Verfilmungen und zahllose Nachahmungen, darunter nicht selten Satiren, von denen Conan Doyle mit »Wie Watson den Trick lernte« 1923 selbst eine verfasste, künden von der ungebrochenen Beliebtheit des kriminalistischen Duos, ohne das die Weltliteratur weniger spannend wäre.
berüchtigtes, britisches Gefängnis in einer Moorgegend gelegen <<<
»Ich bilde mir ein, –« sagte ich.
»Ich würde mir nichts einbilden«, unterbrach mich Sherlock Holmes spöttisch.
Ich bin sicherlich einer der fügsamsten und geduldigsten Menschen dieser Welt, aber dieser Ausfall meines Freundes brachte mein Blut doch ein wenig in Wallung.
»Mein lieber Holmes«, antwortete ich mit aller Schärfe, derer ich fähig bin, »Sie sind manchmal unleidlich.«
Er war so sehr in Gedanken vertieft, dass er meinen Einwand völlig überhörte. Den Kopf in die Hände gestützt, das unberührte Frühstück vor sich, starrte er auf einen Streifen Papier, den er soeben einem Kuvert entnommen hatte. Dann ergriff er das Kuvert, hielt es ans Licht und prüfte es sorgfältig, sowohl die Vorderseite wie die Klappe.
»Es ist Porlocks Handschrift«, murmelte er nachdenklich; »unverkennbar, obwohl ich sie erst zweimal gesehen habe. Er schreibt das E wie das griechische Eta, mit einem seltsamen Schnörkel darüber; wenn der Brief von Porlock ist, muss es eine Sache von höchster Wichtigkeit sein.«
Diese halb im Selbstgespräch geäußerten Worte waren eigentlich nicht an mich gerichtet, aber mein Verdruss schwand über dem Interesse, das sie in mir erweckten.
»Und wer, wenn ich fragen darf, ist Porlock?«
»Porlock, mein lieber Watson, ist ein Deckname, nichts weiter als ein einfaches Unterscheidungswort, aber dahinter steckt eine äußerst gewandte und schwer fassbare Persönlichkeit. In einem seiner früheren Briefe hat er mir ganz offen mitgeteilt, dass es nicht sein Name sei und mir zu verstehen gegeben, dass er allen Nachforschungen, ihn in unserer Millionenstadt aufzuspüren, trotzen würde. Porlock ist mir wichtig, nicht wegen seiner selbst, sondern wegen seiner Beziehungen zu einem bedeutenden Manne. Zu diesem steht er in einem Verhältnis, etwa wie der Lotsenfisch zum Hai oder der Schakal zum Löwen. Die beiden stellen eine Vereinigung des Unbedeutenden mit dem Schrecklichen dar. Nicht bloß schrecklich, mein lieber Watson, sondern unheildrohend im höchsten Grade. In diesem Zusammenhang ist Porlock in meinen Gesichtskreis getreten. Habe ich Ihnen nicht schon von Professor Moriarty erzählt?«
»Dem bekannten wissenschaftlichen Verbrecher, der in der Unterwelt dieser Stadt ebenso berühmt ist wie –«
»Sie machen mich erröten, Watson«, murmelte Holmes, bescheiden abwehrend.
»Ich wollte sagen, wie er dem großen Publikum unbekannt ist.«
»Sehr geschickt, äußerst geschickt. Sie entwickeln neuerdings einen überraschend, schelmischen Humor, lieber Watson, gegen den ich noch nicht gewappnet bin. Wenn Sie aber Moriarty einen Verbrecher nennen, so begehen Sie damit im Sinne des Gesetzes eine Beleidigung, und darin gerade liegt der eigenartige Reiz der ganzen Sache. Der größte Bösewicht aller Zeiten, der Organisator teuflischer Verbrechen, das geistige Haupt der Unterwelt – ein Kopf, der ein ganzes Volk zum Guten oder Bösen lenken könnte, das ist das Bild des Mannes. Aber so hoch ist er über jeden Verdacht, selbst über schüchterne Kritik erhaben, so bewunderungswürdig weiß er seine Handlungen zu bemänteln und sich selbst im Dunkeln zu halten, dass er Sie wegen der paar Worte, die sie eben geäußert haben, vors Gericht schleppen könnte, und dass ihm dieses zweifellos Ihre volle Jahrespension als Entschädigung für die erlittene Ehrenkränkung zusprechen würde. Ist er doch der gefeierte Autor der ›Dynamik eines Asteroiden‹, eines Werkes, das sich zu den höchsten Höhen der Mathematik erhebt, sodass behauptet wird, es gäbe keinen Menschen in der Fachpresse, der fähig wäre, es zu begutachten. Einen solchen Mann darf man nicht ungestraft beleidigen. Der ehrabschneidende Arzt und der gekränkte Professor – das wären die Rollen, die ihr beide vor Gericht spielen würdet. Darin liegt Genie, Watson. Aber auch mein Tag wird kommen, wenn mich meine Feinde kleineren Formats am Leben lassen.«
»Ich wollte, ich könnte dabei sein«, rief ich andächtig. »Sie wollten mir jedoch etwas von dem Mann Porlock erzählen.«
»Ja so – also der sogenannte Porlock ist ein Glied in der Kette, allerdings eines, das ziemlich weit von dem Kettenschloss entfernt ist. Außerdem ist er, unter uns gesagt, ein etwas schadhaftes Glied, tatsächlich der einzige schwache Punkt darin, den ich bisher feststellen konnte.«
»Nach einem Grundsatz der Mechanik ist aber eine Kette nicht stärker als ihr schwächstes Glied.«
»Sehr richtig, mein lieber Watson. Darin besteht auch die außerordentliche Bedeutung von Porlock. Er leidet offenbar an zarten Anwandlungen zum Guten, die ich gelegentlich durch die Übersendung einer Zehn-Pfund-Note, die ich ihm auf Umwegen zukommen ließ, zu ermutigen getrachtet habe. Daraus entsprangen seine Mitteilungen an mich, von höchstem Wert für den, der Verbrechen lieber verhütet als rächt. Wenn wir jetzt die Chiffre hätten, würde sich, wie ich fest überzeugt bin, herausstellen, dass das, was hier auf dem Papier steht, eine solche Mitteilung ist.«
Abermals glättete Holmes das Papier auf seinem unbenutzten Teller. Ich erhob mich, beugte mich über seine Schulter, und gewahrte auf dem Papier eine sonderbare Inschrift, die wie folgt lautete:
534, K 2, 13, 127, 36 Douglas 10, 9, 293, 5, 37 Birlstone 26 Birlstone, 9, 127
»Was halten Sie davon, Holmes?«
»Es ist offenbar ein Versuch, mir eine geheime Nachricht zu übermitteln.«
»Aber was haben wir von einer Chiffrenachricht ohne den Schlüssel dazu?«
»In diesem Falle nicht das geringste.«
»Warum sagen Sie: in diesem Fall?«
»Sehr einfach, weil ich eine ganze Menge Chiffren so leicht lese, wie die geheimnisvoll abgefassten Inserate in den Zeitungen. Solche plumpen Versuche, Nachrichten geheim zu halten, sind für mich eher belustigend als ermüdend. Aber dies hier ist etwas anderes. Die Chiffrezeichen beziehen sich offenbar auf eine bestimmte Seite in einem bestimmten Buche, und solange ich nicht weiß, um welche Seite und welches Buch es sich handelt, kann ich natürlich nichts damit anfangen.«
»Aber was soll dann ›Douglas‹ und ›Birlstone‹ bedeuten?«
»Das sind zweifellos Worte, die auf der betreffenden Seite nicht enthalten sind.«
»Warum hat er dann aber nicht angedeutet, auf welches Buch er sich bezieht?«
»Ihre angeborene Schlauheit, mein lieber Watson, jene natürliche Listigkeit in Ihrem Wesen, die das Entzücken Ihrer Freunde ist, würde es sicherlich nicht zulassen, dass Sie eine Chiffrenachricht und den Schlüssel dazu im selben Kuvert versenden. Wenn es in falsche Hände geriete, wären Sie erledigt. Getrennt verschickt, müssten jedoch beide in falsche Hände geraten, damit ein Schaden entstehen könnte. Die zweite Post ist schon überfällig. Ich würde mich nicht wundern, wenn sie uns entweder einen erklärenden Brief oder, was noch wahrscheinlicher ist, das Buch, auf das sich die Zahlen beziehen, bringt.«
Holmes’ Voraussage sollte nur zu bald in Erfüllung gehen. Billy, unser kleiner Diener, trat wenige Minuten später mit dem Brief ein, den wir erwartet hatten.
»Dieselbe Handschrift«, bemerkte Holmes, als er das Kuvert öffnete, »und tatsächlich auch mit voller Unterschrift«, fügte er freudig hinzu, als er den Brief entfaltete. »Nun werden wir sehen, Watson.«
Sein Gesicht verdüsterte sich jedoch, als er den Inhalt des Briefes überflog.
»Donnerwetter, das ist enttäuschend. Ich fürchte, Watson, dass aus unseren hochgespannten Erwartungen nichts wird. Ich will nur wünschen, dass unserem Porlock kein Unheil zustößt.«
›Sehr geehrter Herr Holmes‹, lautete der Brief, ›ich kann in der Sache nichts weiter tun. Es ist zu gefährlich. Er hat Verdacht gegen mich geschöpft, wie ich deutlich erkennen kann. Heute kam er ganz unerwarteterweise zu mir herein, als ich bereits dieses Kuvert, in der Absicht, Ihnen damit den Schlüssel der Chiffre zu senden, mit der Anschrift versehen hatte. Ich konnte es gerade noch zudecken. Wenn er es gesehen hätte, würde es mir schlecht ergangen sein. Er ist höchst argwöhnisch, ich lese es in seinen Augen. Bitte verbrennen Sie die chiffrierte Nachricht, die nun für Sie wertlos ist. Fred Porlock.‹
Holmes versank danach in tiefes Schweigen und starrte finster ins Kaminfeuer, indem er den Brief in seinen Fingern zerknüllte.
»Vielleicht«, sagte er, »ist nichts daran. Möglicherweise war es nur sein schuldbeladenes Gewissen, das ihm, dem bewussten Verräter, Argwohn in den Augen des anderen vortäuschte.«
»Unter dem anderen verstehen Sie wohl Professor Moriarty?«
»Niemanden Geringeren. Wenn irgend einer der Bande von ihm spricht, weiß ich, wen er damit meint.«
»Was ist nun zu tun?«
»Ja, das ist nun die große Frage. Da wir einen der klügsten Köpfe ganz Europas gegen uns haben, mit allen dunklen Gewalten ausgerüstet, ergeben sich für uns geradezu unbeschränkte Möglichkeiten. Jedenfalls ist unser Freund Porlock in tödlicher Angst. Vergleichen Sie einmal die Handschrift in diesem Brief mit der auf dem Kuvert, das, wie er angibt, von ihm beschrieben wurde, bevor er den unheilvollen Besuch empfing. Auf dem Kuvert ist sie fest und klar, in dem Brief kaum leserlich.«
»Warum hat er überhaupt geschrieben und die Sache nicht einfach fallen lassen?«
»Wahrscheinlich, weil er befürchtete, ich würde Nachforschungen nach ihm anstellen, die ihm Ungelegenheiten bereiten könnten.«
»Ohne Zweifel«, sagte ich, indem ich die chiffrierte Nachricht aufhob und gedankenvoll betrachtete. »Es ist wirklich zum Verzweifeln, wenn man denkt, dass dieser Streifen Papier wahrscheinlich ein wichtiges Geheimnis enthält, dem man auf keine Weise beikommen kann.«
Sherlock Holmes schob sein unberührtes Frühstück beiseite und zündete sich seine Pfeife an, die ständige Gefährtin seiner tiefsten Gedanken.
»Vielleicht«, sagte er, sich zurücklehnend, den Blick an die Decke geheftet, »vielleicht finden wir etwas heraus, das Ihrem Machiavelli-Gehirn bisher verborgen geblieben ist. Betrachten wir uns einmal das Problem im Lichte der reinen Logik. Die Andeutungen des Mannes beziehen sich auf ein Buch. Das ist klar und davon wollen wir ausgehen.«
»Eine recht unsichere Spur, nach meiner Meinung.«
»Zugegeben; aber vielleicht können wir den Bereich der Möglichkeiten etwas enger umgrenzen. Je stärker ich mein Gehirn darauf konzentriere, desto weniger undurchdringlich erscheint mir das Geheimnis. Welche Anzeichen haben wir, was dieses Buch betrifft?«
»Keine«.
»Na, na, so schlimm wird die Sache nicht sein. Die Chiffre beginnt mit der Zahl 534, und wir wollen annehmen, dass diese Zahl sich auf die Seite in dem Buch, um das es sich handelt, bezieht. Das würde heißen, dass es ein dickes Buch ist, womit wir schon ein Stück weitergekommen sind. Und was für andere Anzeichen haben wir noch, hinsichtlich dieses dicken Buches? Das nächste Zeichen, K 2, was kann das bedeuten, Watson?«
»Zweites Kapitel, ohne Zweifel.«
»Kaum, Watson. Sie werden mir zugeben, dass, wenn er uns die Seite bezeichnet, die Kapitelzahl gleichgültig ist. Außerdem, wenn Sie annehmen, dass die Seite 534 erst im zweiten Kapitel ist, müsste das erste Kapitel schauderhaft lang sein.«
»Kolumne«, rief ich.
»Fabelhaft, Watson. Sie sprühen heute geradezu von Geist. Kolumne ist es, wenn uns nicht alles täuscht. Sie sehen also, vor unseren Augen zeigt sich bereits ein dickes Buch, doppelspaltig gedruckt, mit Spalten von erheblicher Länge, denn eines der darin vorkommenden Worte ist mit 293 bezeichnet. Nun frage ich Sie, haben wir damit schon die Grenze der logischen Ableitung erreicht?«
»Es scheint leider so.«
»Sie sind ungerecht gegen sich selbst. Ich erwarte von Ihnen einen weiteren Geistesblitz, eine neue Gedankenwelle. Wäre der Band ein seltenes Buch, würde er ihn mir geschickt haben. Er spricht aber lediglich von dem Schlüssel, den er in das Kuvert stecken wollte, bevor seine Pläne vereitelt wurden. Das steht klar in seinem Brief. Dies würde also bedeuten, dass es sich um ein Buch handelt, von dem er annehmen musste, dass ich es mir leicht selbst beschaffen könne. Er hatte das Buch und vermutete, dass auch ich es habe. Mein lieber Watson, es handelt sich also um ein sehr gebräuchliches Werk.«
»Das klingt allerdings glaubhaft.«
»Wir haben somit das Feld unserer Nachforschungen auf ein dickes Buch, doppelspaltig und weitverbreitet, eingeschränkt.«
»Die Bibel«, rief ich triumphierend.
»Ausgezeichnet, Watson, ganz ausgezeichnet. Aber, wie ich leider sagen muss, noch nicht gut genug. Vielleicht darf ich mir schmeicheln, dass jedermann dieses Buch in meinem Besitz vermutet, aber ich halte es für ausgeschlossen, dass einer von Moriartys Bande es im Bereich seiner Hände stehen hat. Außerdem sind die Ausgaben der Heiligen Schrift so zahlreich, dass nicht ohne weiteres angenommen werden kann, je zwei Leute würden Exemplare mit übereinstimmenden Seitenbezeichnungen haben. Es handelt sich also um ein Normalwerk. Er musste sicher sein, dass meine Seite 534 mit der seinen, gleicher Zahl, genau übereinstimme.«
»Aber das wird auf die wenigsten Werke zutreffen.«
»Sehr richtig; und gerade darin liegt unsere Rettung. Unsere Suche beschränkt sich daher auf ein Werk, von dem anzunehmen ist, dass jedermann ein Exemplar hat.«
»Das Kursbuch.«
»Nicht so schnell, lieber Watson. Der Wortschatz des Kursbuches ist zwar glatt und sauber, aber beschränkt. Es ist kaum anzunehmen, dass jemand im Kursbuch alle die Wörter finden würde, die er für eine Nachricht braucht. Wir wollen es daher ausschalten. Ein Wörterbuch ist, wie ich glaube, aus denselben Gründen ungeeignet. Was bleibt also noch übrig?«
»Ein Almanach.«
»Großartig, Watson, wenn ich mich nicht irre, haben Sie diesmal den Nagel auf den Kopf getroffen. Ein Almanach! Besehen wir uns z.B. einmal Whitakers Almanach.1 Er ist weit verbreitet, hat die erforderliche Anzahl Seiten und ist doppelspaltig. Obgleich im ersten Teil kurz gefasst, wird er gegen den Schluss zu recht wortreich.« Er nahm den Band von seinem Pult. »Hier haben wir Seite 534 Spalte 2. Ein umfangreicher Artikel, der, wie ich sehe, sich mit dem Handel und den Bodenprodukten Indiens beschäftigt. Schreiben Sie die Worte nieder, Watson: 13 ist Mahratta,2 kein besonders vielversprechender Anfang, fürchte ich. 127 ist Regierung, was immerhin einigen Sinn gibt, obwohl mir unerklärlich ist, was die Regierung von Mahratta mit uns und Professor Moriarty zu tun hat. Und nun zum nächsten. Was tut also die Regierung von Mahratta? O weh, das nächste Wort ist Schweineborsten. Wir sind erledigt, lieber Watson, am Ende unserer Weisheit angelangt.«
Obwohl er sich den Anschein gab, belustigt zu sein, sah ich an dem Zucken seiner buschigen Augenbrauen, wie verärgert und enttäuscht er war. Ich fühlte mich hilflos und unglücklich, als ich so dasaß und ins Feuer starrte. Ein langes Schweigen folgte, das jedoch plötzlich durch einen Ausruf von Holmes unterbrochen wurde, der von seinem Sitz aufsprang, zum Bücherregal eilte, von dem er mit einem zweiten, gelbgebundenen Buche zurückkehrte.
»Das kommt davon, Watson, wenn man allzusehr auf der Höhe ist. Wir sind unserer Zeit voraus und müssen, wie üblich, dafür büßen. Es ist heute der 7. Januar, und wir haben natürlich schon die neue Ausgabe des Almanachs. Wahrscheinlich hat aber Porlock seine Mitteilung nach der alten zusammengestellt. Das hätte er uns sicherlich auch gesagt, wenn er uns den Schlüssel hätte senden können. Nun wollen wir einmal sehen, was die Seite 534 uns für Überraschungen bringt. Wort 13 ist Gefahr, was schon recht bedeutungsvoll klingt. 127 bedeutet droht – Gefahr droht –« Holmes’ Augen funkelten vor Erregung und seine dünnen, nervösen Finger zuckten, als er das nächste Wort aufzählte. »Famos! Schreiben Sie nieder, Watson: Gefahr droht unmittelbar; dann kommt das Wort Douglas, reicher Besitzer, jetzt in Birlstone-Haus, Birlstone – Vertrauen – dringend. Da haben wir’s, Watson. Was sagen Sie nun zu der Bedeutung der logischen Ableitung? Wenn unser Gemüsekrämer so etwas wie einen Lorbeerkranz hätte, würde ich Billy hinschicken und ihn holen lassen.«
Ich starrte auf die sonderbare Mitteilung, deren Dechiffrierung ich auf einem Bogen Papier über meinem Knie niedergekritzelt hatte.
»Eine eigenartige, zusammenhangslose Weise, sich auszudrücken«, sagte ich.
»Im Gegenteil, ich finde, er hat die Sache äußerst geschickt gemacht«, sagte Holmes. »Wenn Sie eine Spalte in einem Buch durchsuchen nach Wörtern, mit denen Sie eine bestimmte Mitteilung zusammenstellen wollen, werden Sie sicherlich auf Schwierigkeiten stoßen. Sie können kaum erwarten, darin alle Worte zu finden, die Sie brauchen. Ein gut Teil werden Sie der Kombinationsgabe des Empfängers überlassen müssen. Der Sinn seiner Nachricht ist völlig klar. Auf einen Menschen namens Douglas soll ein Anschlag verübt werden. Ich weiß nicht, wer er ist. Er wird uns als ein reicher Grundbesitzer bezeichnet. Das Wort Vertrauen bedeutet zweifellos vertraulich, welch letzteres offenbar nicht in der Spalte enthalten war. Dringend will sicherlich ganz besonders betonen, dass der Anschlag unmittelbar bevorsteht. Ich bin der Meinung, dass wir tatsächlich ein wertvolles Stück Arbeit geleistet haben.«
Holmes hatte mit dem wahren Künstler gemein, dass ihm die Lösung einer schwierigen Aufgabe die größte persönliche Genugtuung bereitete, selbst wenn sie hinter seinen Erwartungen zurückblieb. Er frohlockte noch über seinen Erfolg, als Billy die Tür öffnete und den Kriminalinspektor McDonald von Scotland Yard3 in das Zimmer führte.
Zu jener Zeit hatte Alec McDonald noch nicht die Höhe seines Ruhmes erreicht, die er später erklomm. Er war noch ein junges, aber schon vielversprechendes Mitglied des Detektivpersonals und hatte sich bereits in einigen Fällen, die ihm ausschließlich überantwortet waren, ausgezeichnet. Seine hohe, knochige Gestalt sprach von ungewöhnlicher körperlicher Stärke, während in seiner breiten Stirn und den tiefliegenden, lebhaften Augen, die unter buschigen Brauen hervorblitzten, eine ebenso hohe Intelligenz erkennbar war. Er war ein schweigsamer, ruhiger Mensch, der einen etwas versauerten Eindruck machte und in dem harten Akzent seiner schottischen Heimat sprach. Bei zwei früheren Gelegenheiten hatte ihm Holmes bereits geholfen, einen großen Erfolg einzuheimsen, ohne dabei auf eine andere Belohnung Anspruch zu erheben, als ihm die Mitwirkung an interessanten Aufgaben bot. Mittelmäßigkeit erkennt nichts Höheres an als sich selbst, aber das Talent weiß Genie zu würdigen. Talent besaß McDonald genügend, um keine Herabwürdigung seiner selbst darin zu fühlen, die Hilfe eines Mannes zu erbitten, der einzig in seiner Art in Europa dastand, sowohl was seine geistigen Gaben wie seine Erfahrung anbelangte. Holmes war zwar nicht ein Mann, der leicht Freundschaft schloss, aber zu dem schweigsamen Schotten hatte er eine gewisse Zuneigung gefasst. Ein freundliches Lächeln erhellte seine Züge, als er ihn begrüßte.
»Sie sind ein Frühaufsteher, Mr. Mac«, sagte er. »Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre Morgenspaziergänge, die wohl bedeuten, dass irgendetwas Besonderes im Winde ist.«
»Hierbei ist wohl die Hoffnung der Vater des Gedankens, scheint mir, Mr. Holmes«, antwortete der Inspektor mit einem vielsagenden Grinsen. »Wie wäre es mit einem kleinen Schluck von irgendetwas, um mir die Morgenkühle aus den Knochen zu treiben? Nein, danke, ich rauche nicht. Ich muss gleich wieder weiter, denn die ersten Stunden sind bei einem Kriminalfall die kostbarsten, wie niemand besser weiß, als Sie selbst. Aber, aber –«
Der Inspektor hielt plötzlich inne. Seine Blicke waren mit dem Ausdruck ungläubigen Staunens auf dem Stück Papier haften geblieben, das noch auf dem Tische lag; jenem Bogen Papier, aus dem ich die Lösung der chiffrierten Nachricht niedergeschrieben hatte.
»Douglas!« stammelte er, »Birlstone! Was soll das bedeuten, Mr. Holmes? Mensch, das ist ja geradezu Hexerei. Bei allem, was wunderbar ist, wo haben Sie denn diese Namen her?«
»Es ist eine Chiffrenachricht, die Mr. Watson und ich Anlass hatten zu lösen. Aber was wollen Sie damit sagen? – Was ist denn los mit den Namen?«
Der Inspektor ließ seine Blicke verwirrt und staunend von einem zum anderen schweifen.
»Das Folgende ist los«, sagte er, »Mr. Douglas von Birlstone ist heute Morgen in schrecklicherweise ermordet worden.«
„Whitakers Almanack“ ist ein englisches Nachschlagewerk, das seit 1868 jährlich im Vereinigten Königreich veröffentlicht wird. Es besteht aus Artikeln, Listen und Tabellen zu hauptsächlich politischen und soziologischen Themen wie Bildung, Gesundheit, Sozialausgaben, Ökonomie und Umwelt. <<<
Maratha war ein Staat in Zentralindien (1674–1818). <<<
Quartier der Londoner Geheimpolizei. <<<
Es war einer jener dramatischen Momente, die für meinen Freund die Höhepunkte des Lebens darstellten. Zu sagen, dass er von der Mitteilung des Inspektors erschüttert war oder darüber Erregung verriet, wäre ganz sicher eine Übertreibung. Er hatte zwar nicht den geringsten Zug von Grausamkeit in seiner eigenartigen Veranlagung, aber ständige Nervenanspannung hatte ihn gegen Sensationen unempfindlich gemacht. Obgleich also seine Gefühle stumpf waren, besaß sein Geist eine überaus große Regsamkeit. Nicht eine Spur des Entsetzens, das ich bei der Mitteilung McDonalds fühlte, zeigte sich bei ihm. Sein Gesicht trug lediglich einen still interessierten Ausdruck, etwa den des Chemikers im Augenblick der eintretenden Niederschlagsbildung.
»Bemerkenswert«, sagte er, »sehr bemerkenswert.«
»Das scheint Sie nicht überrascht zu haben?«
»Überrascht nicht, Mr. Mac, nur interessiert. Warum sollte ich denn überrascht sein? Ich habe eine anonyme Mitteilung von einer Seite, die ich als unbedingt zuverlässig kenne, dahingehend, dass einer bestimmten Person unmittelbar eine große Gefahr drohe. Innerhalb einer Stunde stellt sich dann heraus, dass sich diese Drohung bereits verwirklicht hat und die betreffende Person tot ist. Ich bin interessiert, aber, wie Sie erkannt haben, keineswegs überrascht.«
In einigen kurzen Sätzen erläuterte er dann dem Inspektor den Vorfall mit dem Brief und der Chiffre. McDonald saß da, das Kinn in die Hände gestützt, noch immer mit dem Ausdruck des Staunens in seinen großen, starren Augen. »Ich bin im Begriffe, nach Birlstone zu fahren«, sagte er, »und bin nur zu Ihnen gekommen, um Sie zu fragen, ob Sie mittun wollen – Sie und Ihr Freund. Nach dem, was Sie sagen, möchte ich indessen fast annehmen, dass wir hier in London Wichtigeres zu tun haben als in Birlstone.«
»Dieser Meinung bin ich nicht«, sagte Holmes.
»Das verstehe ich nicht, Mr. Holmes«, sagte der Inspektor. »Die Zeitungen werden morgen oder übermorgen voll sein von dem ›Geheimnis in Birlstone‹. Die Lösung des Rätsels scheint indessen in London zu liegen, da es hier einen Mann gibt, der von dem Verbrechen schon wusste, bevor es begangen wurde. Wir brauchen nur diesen Mann in die Hände zu bekommen, und das Weitere wird sich finden.«
»Unzweifelhaft, Mr. Mac, aber wie wollen Sie es bewerkstelligen, den angeblichen Porlock in die Hände zu bekommen?«
McDonald nahm den Brief, den ihm Holmes überreichte und betrachtete ihn eingehend.
»Aufgegeben in Camberwell; das will wenig besagen. Der Name ist, wie Sie meinen, fingiert? Das ist nicht viel für den Anfang. Sagten Sie nicht, dass Sie ihm Geld geschickt haben?«
»Jawohl, zweimal.«
»Und wie?«
»In Banknoten, postlagernd Camberwell.«
»Haben Sie sich die Mühe genommen, festzustellen, wer die Briefe abgeholt hat?«
»Nein.«
Der Inspektor blickte überrascht und etwas ärgerlich auf.
»Warum denn nicht?«
»Einfach, weil ich gewohnt bin, mein Wort zu halten. Ich hatte ihm, als er das erstemal schrieb, versprochen, ihm nicht nachzuspüren.«
»Sie glauben, dass irgendjemand hinter ihm steht?«
»Ich glaube es nicht, ich weiß es.«
»Dieser Professor, den Sie schon mehrmals erwähnt haben?«
»So ist es.«
McDonald konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, und seine Augen blitzten vielsagend, als er mich anblickte.
»Ich kann Ihnen nicht verschweigen, Mr. Holmes, dass wir in der Kriminalabteilung Ihre Sache mit dem Professor für eine Art fixer Idee halten. Ich bin der Geschichte nachgegangen und habe herausgefunden, dass er ein sehr angesehener und gelehrter Herr ist.«
»Ich freue mich, dass Sie sich wenigstens schon über seine Gelehrsamkeit im klaren sind.«
»Mein lieber Herr, das war nicht schwierig. Nachdem Sie mir Ihre Ansicht über ihn mitgeteilt hatten, hielt ich es für meine Pflicht, ihn mir einmal zu besehen. Ich plauderte mit ihm über die Eklipse. Wie wir auf dieses Thema gekommen sind, weiß ich nicht. Da er mich unwissend fand, holte er eine Projektionslampe und einen Globus hervor und machte mir im Nu die Sache klar. Auch lieh er mir ein Buch, von dem ich allerdings sagen muss, dass es etwas über meinen Horizont geht, obwohl ich doch eine ziemlich gute Schulbildung genossen habe. Der Mann hätte einen prächtigen Pfarrer abgegeben mit seinem hageren Gesicht, seinem grauen, ehrwürdigen Haar und der feierlichen Manier, in der er spricht. Als er beim Abschied die Hand auf meine Schulter legte, kam er mir vor wie ein Vater, der seinen Sohn segnet, der sich in die kalte, grausame Welt hinausbegibt.«
Holmes rieb sich frohlockend die Hände.
»Großartig«, rief er, »großartig. Sagen Sie einmal, mein lieber Freund McDonald, diese niedliche und gemütliche Plauderei hat wohl in der Bibliothek des Professors stattgefunden?«
»Stimmt.«
»Ein schöner Raum, nicht wahr?«
»Prachtvoll – hochelegant, Mr. Holmes.«
»Sie saßen seinem Schreibtisch gegenüber?«
»Jawohl.«
»Das Licht in Ihrem Gesicht und seines im Schatten?«
»Nun ja, das dürfte stimmen. Es war am Abend und ich erinnere mich, dass die Studierlampe mir zugedreht war.«
»Selbstverständlich. Bemerkten Sie auch ein Bild an der Wand hinter dem Professor?«
»Mir entgeht nicht so leicht etwas, Mr. Holmes. Wahrscheinlich habe ich das von Ihnen gelernt. Jawohl, ich sah das Bild – eine junge Frauensperson, das Gesicht in die Hände gestützt, den Blick seitwärts gerichtet.«
»Ein Gemälde von Jean Baptiste Greuze.«1
Der Inspektor gab sich alle Mühe, interessiert zu scheinen.
»Jean Baptiste Greuze«, fuhr Holmes fort, die Fingerspitzen der ausgebreiteten Hände aneinandergepresst und sich dabei weit in seinen Stuhl zurücklehnend, »war ein französischer Maler, der zwischen 1705 und 1800, zu seinen Lebzeiten also in hohem Ansehen stand. Die Nachwelt hat bekanntlich die Geltung, die er schon bei seinen Zeitgenossen hatte, in vollem Maße bestätigt.«
Ein abwesender Blick machte sich in den Augen des Inspektors bemerkbar.
»Wollen wir nicht lieber –«, sagte er.
»Nein, wir wollen nicht, denn wir sind ohnedies dabei«, unterbrach ihn Holmes. »Was ich Ihnen sage, hat ganz unmittelbar Bezug auf das, was Sie das Geheimnis von Birlstone nennen. Tatsächlich möchte ich sagen, dass es geradezu dessen Ausgangspunkt ist.«
»Ihre Gedanken laufen mir zu schnell, Mr. Holmes. Sie lassen meistens ein Glied oder mehrere sogar aus in der Kette, und ich verliere darüber den Anschluss. Was, um des lieben Himmels willen, hat dieser tote Maler mit der Sache in Birlstone zu tun?«
»Für den Detektiv ist Wissen jeder Art nützlich«, bemerkte Holmes. »Selbst die anscheinend belanglose Tatsache, dass im Jahre 1865 das Bild von Greuze, das unter der Bezeichnung. ›Das junge Mädchen mit dem Lamm‹ bekannt ist, bei der Portalis-Auktion nicht weniger als 4000 Pfund brachte, sollte Ihnen zu denken geben.«
Das tat es anscheinend auch. Der Inspektor war höchlich interessiert.
»Vielleicht vergegenwärtigen Sie sich«, fuhr Holmes fort, »dass das Gehalt des Professors aus verschiedenen Nachschlagewerken unzweifelhaft festgestellt werden kann. Es beträgt genau 700 Pfund pro Jahr.«
»Wie konnte er denn dann –«
»Sehr richtig, wie konnte er?«
»Jawohl, das ist sonderbar«, sagte der Inspektor nachdenklich. »Schießen Sie los, Mr. Holmes. Ich bin auf das höchste gespannt. Sie machen derartige Sachen wunderbar.«
Holmes lächelte. Für ehrliche Bewunderung war er in hohem Maße empfänglich, das Kennzeichen einer wahrhaften Künstlernatur.
»Über was wollen Sie etwas hören? Über Birlstone?« fragte er.
»Das hat noch Zeit«, sagte der Inspektor, indem er einen Blick auf seine Uhr warf. »Ich habe einen Wagen unten, und wir brauchen nur zwanzig Minuten bis zur Victoria Station. Ich möchte über dieses Bild etwas Näheres wissen. – Ich war der Ansicht, Sie und Professor Moriarty seien sich noch nicht begegnet.«
»So ist es auch.«
»Woher kennen Sie dann seine Wohnung?«
»Ah, lieber McDonald, das ist etwas anderes. Ich war bereits dreimal in seiner Wohnung. Zweimal wartete ich auf ihn unter verschiedenen Vorwänden, und das letztemal – nun, darüber kann ich mit Ihnen als Amtsperson nicht sprechen. Nur das eine kann ich Ihnen sagen, dass ich mir bei dem letzten Besuch gestattete, seine Papiere durchzugehen, mit den überraschendsten Ergebnissen.«
»Sie haben also kompromittierendes Material gefunden?«
»Nicht das geringste, und gerade das war das Überraschende daran. Nun, Sie haben bereits erkannt, dass in der Sache mit dem Bild etwas nicht stimmt. Der Besitz des Bildes lässt ihn als einen wohlhabenden Menschen erscheinen. Woher aber dieser Reichtum? Er ist unverheiratet, sein jüngerer Bruder ist Stationsvorsteher2 im Westen Englands. Sein Einkommen beträgt 700 Pfund pro Jahr, und trotzdem besitzt er einen Greuze.«
»Nun also?«
»Die Schlussfolgerung ist doch einfach.«
»Nach Ihrer Meinung stammt sein Einkommen aus dunklen Quellen?«
»Sehr richtig. Ich habe natürlich noch andere Gründe für meine Annahme, Dutzende von geheimnisvollen Fäden, die sich in undefinierbarer Weise zu dem Mittelpunkt des Netzes hinspinnen, in dem eine giftgefüllte, regungslose Kreatur lauert. Ich habe den Greuze nur erwähnt, weil er die Angelegenheit in den Bereich Ihrer eigenen Beobachtungen bringt.«
»Ich gebe zu, Mr. Holmes, dass das, was Sie sagen, höchst interessant ist. Mehr als das – es ist geradezu wundervoll. Aber wollen wir uns nicht etwas klarer fassen, wenn dies möglich ist? Denken Sie an Fälschung, Falschmünzerei, Einbruch? Wo kommt das Geld her?«
»Haben Sie je etwas über Jonathan Wild3 gelesen?«
»Der Name kommt mir bekannt vor, eine Figur in einer Novelle, nicht wahr? Ich halte nicht viel von Detektiven in Novellen. Das sind Leute, die immer Erfolg haben, ohne dass man weiß, wie er zustande kommt. Die Leute arbeiten mit Einbildungskraft anstatt mit nackten Tatsachen.«
»Jonathan Wild war kein Detektiv, auch keine Novellenfigur. Er war ein Meisterverbrecher, der im achtzehnten Jahrhundert, so um 1750 herum, lebte.«
»Dann interessiert er mich nicht. Für mich als Mann der Praxis gibt es nur die Jetztzeit.«