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Sherlock Holmes lebt in der Baker Street 221b, London. Dort beginnen oft die Geschichten mit Rat suchenden Klienten, die von Holmes' besonderen Fähigkeiten gehört haben und den Detektiv aufsuchen, um ihn um Hilfe zu bitten. Sherlock Holmes arbeitet als "beratender Detektiv", das heißt, er beschäftigt sich mit Mysterien, die von Privatklienten an ihn herangetragen werden. Holmes sieht sich damit als Ergänzung oder Alternative zum police detective. Mitunter bittet auch die staatliche Polizei (z. B. in Gestalt des Inspektors Lestrade von Scotland Yard) um Holmes' Unterstützung. Der Detektiv kommt dabei stets durch ungewöhnliche Schlussfolgerungen und innovative Deduktionen zum richtigen Täterprofil und Motiv und widerlegt damit meist die Ermittlungsergebnisse der Polizei. Inhalt: Die Geschichte des blauen Karfunkels - Kriminalfall für Weihnachten Späte Rache Das Zeichen der Vier Das Tal des Grauens Skandalgeschichte im Fürstentum O… Der Bund der Rothaarigen Ein Fall geschickter Täuschung Der Mord im Tale von Bascombe Fünf Apfelsinenkerne Der Mann mit der Schramme Das getupfte Band Der Daumen des Ingenieurs Die verschwundene Braut Die Geschichte des Beryll-Kopfschmuckes Das Landhaus in Hamshire Silberstrahl Das gelbe Gesicht Eine sonderbare Anstellung Holmes' erstes Abenteuer Der Katechismus der Familie Musgrave Die Gutsherren von Reigate Der Krüppel Der Doktor und sein Patient Der griechische Dolmetscher Der Marinevertrag Das letzte Problem Im leeren Hause Der Baumeister von Norwood Die tanzenden Männchen Die einsame Radfahrerin Die Entführung aus der Klosterschule Der schwarze Peter Die sechs Napoleonbüsten Der goldene Klemmer Der Mord in Abbey Grange Der zweite Blutflecken Das Geheimnis der Villa Wisteria Der rote Kreis Die gestohlenen Zeichnungen Der sterbende Sherlock Holmes Das Verschwinden der Lady Frances Carfax Das Abenteuer mit dem Teufelsfuß
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Seitenzahl: 2262
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The Blue Carbuncle - 1892
Am zweiten Tage nach Weihnachten sprach ich vormittags bei meinem Freunde Sherlock Holmes vor, um ihm meine Glückwünsche zum Feste darzubringen. Ich traf ihn in einem purpurroten Schlafrock auf dem Sofa liegend, die lange Pfeife neben sich, ganz begraben unter einem Stoß von Morgenzeitungen. Neben dem Sofa stand ein Holzstuhl, an dessen Lehne ein ruppiger, unappetitlicher steifer Filzhut, an mehreren Stellen eingedrückt und längst nicht mehr gebrauchsfähig, aufgehängt war. Ein Vergrößerungsglas und eine Pinzette auf dem Sitz des Stuhles deuteten an, daß der Hut zum Zweck seiner Untersuchung dort hing.
»Du bist beschäftigt«, sagte ich. »Ich störe dich vielleicht?«
»Durchaus nicht. Es ist mir im Gegenteil ganz erwünscht, mit einem guten Bekannten über die Ergebnisse meiner Untersuchung sprechen zu können. Der Gegenstand ist ein ganz alltäglicher« – dabei deutete er mit dem Daumen nach dem alten Hut hin –, »aber die weiteren Umstände, die mit demselben im Zusammenhang stehen, sind nicht ganz uninteressant, ja sogar einigermaßen lehrreich.«
Ich setzte mich in seinen Armstuhl und wärmte mir die Hände an seinem prasselnden Feuer, denn es war scharfer Frost eingetreten, und die Fenster waren mit einer dicken Eiskruste überzogen. »Vermutlich«, bemerkte ich, »steckt hinter diesem Ding da, so harmlos es aussieht, irgend eine Mordgeschichte und bildet es für dich den Anhaltspunkt zur Entdeckung irgend eines Geheimnisses und zur Bestrafung eines Verbrechens.«
»Nein, nein! nichts von Verbrechen«, versetzte Holmes lachend, »nur einer jener absonderlichen kleinen Zwischenfälle, wie sie immer vorkommen, wo sich doch Millionen menschlicher Wesen auf einem Raume von wenigen Quadratmeilen drängen. Bei den wechselseitigen Reibungen eines so dichtgeballten Menschenschwarms darf man sich auf alle möglichen Verkettungen von Umständen gefaßt machen, und bietet sich so manches kleine Rätsel zur Lösung dar, das, ohne verbrecherischer Natur zu sein, des Überraschenden und Sonderbaren genug enthält. Wir haben schon mehr dergleichen erlebt. Nun, ich zweifle nicht, daß auch dieser kleine Fall zu dieser unschuldigen Sorte gehören wird. Du kennst doch Peterson, den Kommissionär?«
»Ja.«
»Ihm gehört diese Trophäe.«
»Es ist sein Hut?«
»Doch nicht, er hat ihn gefunden. Der Eigentümer desselben ist unbekannt. Ich bitte dich jetzt, in dem Hut nicht einen alten, ruppigen Filz, sondern vielmehr einen Prüfstein für unsern Scharfsinn sehen zu wollen. Vor allem also höre, wie derselbe hierher kam; er machte seine Aufwartung am Christfestmorgen in Gesellschaft einer guten, fetten Gans, welche ohne allen Zweifel jetzt gerade in Petersens Küche gebraten wird. Die Sache trug sich folgendermaßen zu: Etwa um vier Uhr am Christfestmorgen ging Peterson – wie du weißt, ein höchst anständiger Bursche – von einer kleinen Lustbarkeit nach Hause, wobei ihn sein Weg durch Tottenham Court Road führte. Vor ihm her ging, wie er beim Schein der Laterne bemerkte, mit etwas schwankenden Schritten ein hochgewachsener Mann, der eine weiße Gans auf der Schulter trug. An der Ecke von Goodge Street bekam er Streit mit ein paar Gassenjungen. Einer derselben stieß ihm den Hut herunter, worauf er seinen Stock erhob, um sich zu verteidigen, und dabei schlug er das hinter ihm befindliche Ladenfenster ein. Peterson hatte seinen Schritt beschleunigt, um den Unbekannten gegen seine Angreifer zu beschützen. Dieser ließ jedoch in seinem Schrecken über das zerbrochene Fenster und das eilige Herannahen des beamtenähnlich aussehenden Kommissionärs seine Gans fallen, machte sich auf die Socken und verschwand in dem Gewirr von Gäßchen hinter Tottenham Court Road.
Die Straßenjungen hatten sich bei Petersens Erscheinen gleichfalls davon gemacht, so daß er nun Herr des Schlachtfeldes blieb und den zerknüllten Hut, sowie die ganz annehmbare Weihnachtsgans als Siegesbeute betrachten durfte.«
»Die er gewiß dem Eigentümer wieder zustellte!«
»Mein lieber Junge, da steckt ja eben das Rätsel. Freilich befand sich an dem linken Bein des Tieres eine kleine Karte, auf der die Worte: ›Für Mr. Henry Baker‹ geschrieben standen, und desgleichen stehen die Anfangsbuchstaben H. B. innen auf dem Futter dieses Hutes, aber da es in London ein paar tausend Baker und ein paar hundert Henry Baker gibt, so ist es keine leichte Sache, einem derselben einen verlorenen Gegenstand wieder zuzustellen.«
»Nun was tat Peterson also?«
»Er übergab mir beides, Hut und Gans, am Christfestmorgen, da er wohl weiß, daß ich mich auch für den kleinsten rätselhaften Fall interessiere. Die Gans behielt ich bis heute morgen, wo ich bemerkte, daß es trotz des frostigen Wetters geraten sei, sie ohne weiteren Verzug zu verspeisen. Ihr Finder hat sie deshalb mitgenommen, um sie der endgültigen Bestimmung aller Gänse entgegenzufahren, während ich den Hut des unbekannten Herrn, der so um seinen Weihnachtsbraten gekommen ist, noch hier habe.«
»Hat dieser keine Anzeige erlassen?«
»Nein.«
»Wie konntest du dir denn nun einen Anhaltspunkt für seine Identität verschaffen?«
»Lediglich auf dem Wege der Schlußfolgerung.«
»Aus diesem Hut?«
»Ganz gewiß.«
»Ach, du machst Scherz; was kannst du denn aus diesem alten, zerknüllten Filz entnehmen?«
»Hier ist meine Lupe. Du weißt ja, wie ich es mache. Sieh einmal selbst, was der Hut über die Person seines bisherigen Trägers sagt.«
Ich nahm den alten Felbel und drehte ihn recht rat-und hilflos in den Händen herum. Es war ein ganz gewöhnlicher schwarzer Hut, von der althergebrachten runden Form, steif und längst nicht mehr salonfähig. Das Futter war von roter Seide gewesen, hatte jedoch die Farbe verloren. Der Name des Fabrikanten fand sich nicht darin, dagegen waren, wie Holmes bereits bemerkt hatte, die Buchstaben H. B. auf der einen Seite hineingepreßt. Am Bande befand sich ein Knopf für einen Huthalter, die Gummischnur fehlte jedoch; im übrigen war der Hut voller Knicke, äußerst staubig und an mehreren Stellen befleckt; es war jedoch anscheinend der Versuch gemacht worden, die betreffenden Stellen durch Beschmieren mit Tinte zu verdecken.
»Ich vermag nichts zu sehen«, sagte ich, indem ich den Hut meinem Freunde zurückgab.
»Im Gegenteil, Watson, du kannst alles mögliche sehen. Du versäumst nur, deine Schlüsse aus dem zu ziehen, was du siehst. Du gehst zu schüchtern dabei zu Werke.«
»Dann bitte, sprich, was du aus diesem Hute zu entnehmen vermagst.«
Er nahm denselben vor sich und betrachtete ihn in der ihm eigenen prüfenden Weise.
»Er gibt vielleicht nicht so viel Aufschluß, als er wohl geben könnte«, bemerkte er. »Und doch lassen sich aus dem Hut ein paar Schlüsse mit aller Bestimmtheit, und wieder ein paar andere wenigstens mit einem hohen Grade von Wahrscheinlichkeit ableiten. Daß der Mann ein bedeutendes Denkvermögen besitzt, drängt sich einem auf den ersten Blick auf, ebenso, daß derselbe im Lauf der letzten drei Jahre sich in ziemlich ordentlichen Verhältnissen befand, obwohl jetzt schlimme Tage über ihn gekommen sind. Er hielt vordem auch etwas auf sich, doch ist dies jetzt nicht mehr in demselben Grade der Fall, wie früher; offenbar befindet er sich in einem moralischen Rückgang, der, zusammengenommen mit der Verschlechterung seiner Vermögensumstände, auf irgend einen schlimmen Einfluß, wahrscheinlich Trunksucht, hinweist. Dies mag auch die Schuld an dem offenbaren Umstand tragen, daß seine Frau ihm nicht mehr besonders zugetan ist.«
»Mein lieber Holmes!« –
»Trotzdem hat er sich noch ein gewisses Maß von Selbstachtung bewahrt«, fuhr dieser fort, ohne meinen Einwurf zu beachten. »Es ist ein Mann, der eine sitzende Lebensweise führt, wenig ausgeht, an starke Bewegung gar nicht mehr gewöhnt ist, in mittlerem Alter steht und gräuliche Haare hat, die er erst in den allerletzten Tagen hat schneiden lassen und die er mit Pomade einfettet. Dies sind die Tatsachen, die sich mit ziemlicher Sicherheit aus seinem Hut entnehmen lassen. Beiläufig bemerkt ist es außerdem im höchsten Grade unwahrscheinlich, daß er Beleuchtung auf seiner Treppe hat.«
»Du treibst ganz gewiß Scherz, Holmes.«
»Nicht im mindesten. Ist es möglich, daß du jetzt, nachdem ich dir diese Ergebnisse mitgeteilt, noch nicht einmal einsiehst, wie ich dazu gelangt bin?«
»Ich bin ohne Zweifel recht dumm, aber ich muß gestehen, ich vermag dir nicht zu folgen. Zum Beispiel, wie kamst du darauf, daß der Mann ein bedeutendes Denkvermögen besessen habe?«
Als Antwort stülpte Holmes den Hut auf seinen Kopf. Er fiel ihm ganz über die Stirne herein, so daß er auf der Nasenwurzel aufsaß.
»Das ist lediglich eine Raumfrage«, versetzte er, »wer einen so mächtigen Schädel besitzt, hat auch in der Regel was Rechtes darinnen.«
»Nun, dann der Rückgang seiner Vermögensverhältnisse?«
»Dieser Hut ist drei Jahre alt. Diese flachen, am Rande aufgebogenen Krempen kamen damals auf. Es ist ein Hut allererster Qualität. Sieh nur das Band von gerippter Seide und das ausgezeichnete Futter. Wenn dieser Mann vor drei Jahren imstande war, sich einen so teuren Hut anzuschaffen und seither keinen neuen mehr gehabt hat, so ist er sicherlich in seinen Verhältnissen zurückgekommen.«
»Nun, das ist allerdings klar genug. Aber wie steht es damit, daß er früher etwas auf sich gehalten habe und jetzt sich in moralischem Rückgang befinde?«
Holmes lachte. »Seine frühere Fürsorglichkeit und Ordnungsliebe sitzen hier«, erwiderte er, indem er seinen Finger auf die kleine Schleife und den Knopf des Huthalters legte. »Im Laden bekommt man nie einen Huthalter mit. Wenn dieser Mann sich also einen solchen anschaffte, so beweist dies einen gewissen Grad von Sorgsamkeit, indem er eine außergewöhnliche Maßregel zum Schutze gegen den Wind traf. Aber da wir weiter sehen, daß er, nachdem das Gummiband abgerissen war, sich nicht die Mühe gab, solches zu erneuern, so ist es ganz klar, daß er jetzt nicht mehr so viel auf sich hält, und dies ist ein sicheres Anzeichen eines allgemeinen Rückgangs. Er hat sich allerdings andererseits bemüht, einige Flecken auf dem Filz mit Tinte zu verdecken, was darauf hinweist, daß er noch nicht alle Selbstachtung verloren hat.«
»Dagegen läßt sich freilich nichts einwenden.«
»Die weiteren Punkte, nämlich daß er in mittleren Jahren steht, daß er gräuliches, frisch geschnittenes Haar hat und für dieses Pomade gebraucht, ergeben sich sämtlich aus einer genauen Prüfung des unteren Teils des Futters. Unter der Lupe sieht man eine große Anzahl durch die Schere des Barbiers glatt abgeschnittener Haarspitzen, die sämtlich ankleben und deutlich nach Pomade riechen. Dieser Staub ist, wie du bemerken wirst, nicht der sandige Staub der Straße, sondern der weiche braune Hausstaub, der zeigt, daß der Hut die meiste Zeit zu Hause hing, während die Platten auf der Innenseite desselben mit Bestimmtheit beweisen, daß sein Träger gewaltig schwitzen mußte und deshalb kaum ein starkes Gehen gewöhnt sein konnte.«
»Aber seine Frau? Du sagtest ja schon, daß sie nicht mehr so gut mit ihm lebe.«
»Dieser Hut ist seit Wochen nicht mehr ausgebürstet worden. Sollte ich einmal dir, mein lieber Watson, mit dem Staube einer ganzen Woche auf deinem Hut begegnen und hätte dich deine Frau in einem solchen Zustand ausgehen lassen, so müßte ich wirklich fürchten, es habe dich gleichfalls das Unglück betroffen, die Liebe deiner Frau zu verlieren.«
»Aber er konnte doch auch Junggeselle sein.«
»Nein, er brachte die Gans als Friedensstifterin seiner Frau nach Hause. Denke nur an die Karte, die sie an dem einen Bein trug.«
»Du weißt auf alles Antwort, aber wie in aller Welt willst du aus dem Hut entnehmen, das er keine Treppenbeleuchtung habe?«
»Ein Talgfleck oder auch zwei können zufällig entstehen, aber wenn ich deren nicht weniger als fünf wahrnehme, so ist es kaum zweifelhaft, daß der Mann öfters mit brennendem Talg in Berührung gekommen sein muß – er hielt vermutlich, wenn er nachts die Treppe hinaufging, den Hut in der einen Hand und in der andern ein tropfendes Talgstümpchen. Jedenfalls bekommt er niemals Talgflecken von einer Glühbirne. Bist du nun zufrieden?«
»Nun ja, das ist ja allerdings höchst scharfsinnig«, erwiderte ich lachend, »aber da, wie du eben bemerkt hast, kein Verbrechen vorliegt und außer dem Verlust einer Gans auch kein Schaden entstanden ist, so kommt es mir vor, als sei das alles doch eine recht überflüssige Mühe.«
Holmes hatte eben die Lippen geöffnet zu einer Erwiderung, als die Tür aufgerissen wurde und Peterson, der Kommissionär, mit hoch geröteten Wangen und allen Zeichen höchster Erregung hereinstürzte. »Die Gans, Mr. Holmes! Die Gans!« stotterte er hervor.
»Nun, was ist denn damit los? Ist sie wieder lebendig geworden und zum Küchenfenster hinausgeflogen?« Holmes drehte sich auf dem Sofa herum, um dem Mann besser in sein erregtes Gesicht blicken zu können.
»Sehen Sie hier. Das hat meine Frau in ihrem Kropf gefunden.« Dabei streckte er die Hand aus, auf deren innerer Fläche ein prächtig funkelnder blauer Stein sichtbar wurde, etwas kleiner als eine Bohne, aber so klar und strahlend, daß derselbe in der dunklen Höhlung seiner Hand blitzte wie ein elektrischer Funke.
Mit einem Ruck richtete sich Holmes auf. »Hui!« rief er, »beim Himmel, Peterson, das heißt ja wahrhaftig einen Schatz finden. Ich denke, Sie wissen doch, was sie da erwischt haben?«
»Einen Diamanten. Einen kostbaren Stein. Er schneidet Glas, als ob es Kitt wäre.«
»Es ist mehr als ›ein‹ kostbarer Stein. Es ist geradezu der kostbarste Stein.«
»Doch nicht der blaue Karfunkel der Gräfin von Morcar?« rief ich dazwischen.
»Doch freilich; ich muß ja ganz genau wissen, wie er aussieht, habe ich doch in letzter Zeit Tag für Tag die ihn betreffende Anzeige in der ›Times‹ gelesen. Er ist ganz einzig, und sein Wert läßt sich nur vermuten. Aber die Belohnung von tausend Pfund, die auf seine Beibringung ausgesetzt ist, stellt sicherlich noch nicht den zwanzigsten Teil seines Verkaufswertes dar.«
»Tausend Pfund. Großer, gütiger Gott!«
Peterson starrte auf einen Stuhl und starrte uns der Reihe nach an.
»Diese Belohnung ist darauf ausgesetzt, und ich habe Grund anzunehmen, daß dabei Erwägungen zarter Natur im Hintergrunde stehen, denen zuliebe die Gräfin für die Beibringung des Steins gern ihr halbes Vermögen hingeben würde.«
»Er kam, wenn ich mich recht erinnere, im Hotel Cosmopolitan abhanden«, bemerkte ich.
»Gewiß; am 22. Dezember, genau vor fünf Tagen. Der Klempner John Horner wurde bezichtigt, ihn aus dem Schmuckkästchen der Dame entwendet zu haben. Die Anzeichen gegen ihn waren so schwere, daß der Fall vor die Geschworenen verwiesen wurde. Ich glaube, da kommt irgendwo einen Bericht darüber.« Er suchte unter seinen Zeitungen und fand auch wirklich den betreffenden Artikel.
Dieser lautete:
»Juwelendiebstahl im Hotel Cosmopolitan. – John Horner, 26 Jahre alt, Klempner, stand unter der Anklage, am 22. dieses aus dem Schmuckkästchen der Gräfin von Morcar den unter dem Namen ›der blaue Karfunkel‹ bekannten kostbaren Stein entwendet zu haben, James Ryder, erster Hausdiener im Hotel bezeugte, er habe den Horner am Tag des Diebstahls nach dem Toilettenzimmer der Gräfin gewiesen, wo derselbe eine Stange des Kaminrostes, die los war, wieder anbringen sollte. Er war kurze Zeit bei Horner geblieben, jedoch schließlich abgerufen worden. Bei seiner Rückkehr fand er Horner nicht mehr vor und entdeckte gleichzeitig, daß der Schreibtisch erbrochen worden war und das kleine Maroquinkästchen, worin, wie sich später herausstellte, die Gräfin ihre Juwelen aufzubewahren pflegte, leer auf dem Tische stand. Ryder schlug augenblicklich Lärm, und Horner wurde noch am selben Abend festgenommen, ohne daß jedoch der Stein bei ihm selbst oder in seiner Behausung gefunden worden wäre. Katharina Cusack, Kammermädchen der Gräfin, welche auf den Schrei, den Ryder bei seiner Entdeckung ausstieß, zu diesem ins Zimmer geeilt war, wußte lediglich Ryders Angaben über den dortigen Befund zu bestätigen. Polizeiinspektor Bradstreet, über die Verhaftung Horners als Zeuge vernommen, erklärte, daß dieser sich dabei wie wütend gewehrt und seine Unschuld hoch und teuer versichert habe. Da gegen denselben eine Vorbestrafung wegen Diebstahls vorlag, so lehnte der Untersuchungsbeamte eine summarische Behandlung der Anklage ab und verwies dieselbe an das Schwurgericht. Horner, der schon während des ganzen Verfahrens hochgradige Erregung gezeigt hatte, wurde bei der Schlußverhandlung ohnmächtig, so daß er aus dem Saale getragen werden mußte.«
»Hm! so viel, was die Gerichtsverhandlung betrifft«, fügte Holmes nachdrücklich bei, indem er die Zeitung wegschob. »Unsere Aufgabe ist es jetzt, den Faden aufzufinden, der uns von dem erbrochenen Schmuckkästchen, mit dem die Geschichte begann, bis zum Gänsekropf am Schlusse leitet. Du siehst, Watson, unsere kleinen Erhebungen haben mit einemmal ein weit gewichtigeres und weniger unschuldiges Gesicht bekommen. Der Stein ist hier, der Stein stammt aus der Gans, und die Gans von Mr. Henry Baker, dem Herrn mit dem schlechten Hut und all den besonderen Kennzeichen, mit denen ich dir so viel zu schaffen machte. So müssen wir denn nun allen Ernstes daran gehen, diesen Herrn und die Rolle, die er in dieser geheimnisvollen Geschichte gespielt hat, zu ermitteln. Zu dem Ende müssen wir es zunächst mit dem einfachsten Mittel versuchen, und das wäre zweifellos eine Anzeige in sämtlichen Abendzeitungen. Schlägt dieses fehl, so werde ich zu anderen Mitteln greifen.«
»Wie willst du denn die Anzeige abfassen?«
»Gib mir einen Bleistift und diesen Streifen Papier. Also:
›Gefunden an der Ecke von Goodge Street eine Gans und ein schwarzer Filzhut. Mr. Henry Baker kann die Gegenstände heute abend um 6 ½ Uhr in Nr. 221 Baker Street abholen.‹
»Das ist klar und kurz beisammen.«
»Allerdings; aber wird er es auch zu Gesicht bekommen?«
»Nun, sicherlich wird er die Zeitungen mit Aufmerksamkeit verfolgen, denn für einen armen Mann wie er, ist sein Verlust kein geringer. Offenbar war er durch sein Mißgeschick mit dem Fenster so bestürzt, daß er bei Petersens Erscheinen an nichts als Flucht dachte, aber seither hat er ganz gewiß den raschen Entschluß, seine Gans fallen zu lassen, bitter bereut. Dann wird auch die Nennung seines Namens dazu beitragen, daß es ihm zu Gesicht kommt, denn jeder, der ihn kennt, wird seine Aufmerksamkeit darauf lenken. Da Sie gerade da sind, Petersen, laufen Sie doch mal schnell auf das Zeitungsbüro und lassen Sie das in die Abendblätter einrücken.«
»In welche?«
»Oh, in den Globe, den Star, die Pall Mall, St. James, Evening News, Standard, Echo und sonst noch in einige, die Ihnen gerade einfallen.«
»Ganz gut; und dieser Stein?«
»Ach ja, den will ich bei mir behalten. Danke schön. Und dann, Petersen, bringen Sie mir auf dem Rückweg nur gleich eine Gans mit, wir müssen doch dem Eigentümer eine andere geben als Ersatz für die, welche eben bei Ihnen verzehrt wird.«
Als Petersen fort war, nahm Holmes den Stein und hielt ihn gegen das Licht. »Ein allerliebstes Ding!« sagte er. »Sieh nur, wie es blitzt und funkelt, der reinste Sammel-und Brennpunkt für Verbrechen. So ist es mit allen echten Steinen. Sie sind des Teufels Lieblingsköder. Bei den größeren älteren Steinen kann man für jede Facette eine Bluttat in Rechnung nehmen. Dieser ist noch keine zwanzig Jahre alt. Er stammt aus den Bänken am Amoy-Flusse im Norden Chinas und zeichnet sich dadurch aus, daß er alle besonderen Merkmale eines Karfunkels hat, ausgenommen, daß er im Dunkeln einen blauen Schein wirft anstatt eines rubinroten. Trotz seiner Jugend hat derselbe schon eine recht traurige Geschichte. Zwei Mordtaten, eine Begießung mit Schwefelsäure, einen Selbstmord und mehrere Diebstähle hat dieses vierzig Gran schwere Stückchen kristallisierten Kohlenstoffs auf dem Gewissen. Wer sollte in diesem niedlichen Schmuckgegenstand den eifrigsten Werber für Galgen und Zuchthaus vermuten? Ich will den Stein jetzt in meiner Sicherheitskassette verschließen und der Gräfin mit einer Zeile sagen, daß wir ihn haben.«
»Hältst du diesen Horner für unschuldig?«
»Das kann ich nicht sagen.«
»Nun, denkst du dann, daß dieser andere, der Henry Baker, hinter dieser Sache steckt?«
»Ich halte es für weit wahrscheinlicher, daß Henry Baker ein ganz unschuldiger Mensch ist, der keine Idee davon hat, daß die Gans, die er trug, ein Beträchtliches mehr wert war, als wäre sie von purem Gold gewesen. Das werde ich übrigens auf ganz einfache Weise feststellen, wenn wir erst eine Antwort auf unsere Anzeige haben.«
»Und bis dahin kannst du nichts tun?«
»Nichts.«
»Nun, dann werde ich meinen gewohnten Rundgang bei meinen Patienten machen und heute abend zu der angegebenen Stunde wieder hier sein, denn ich möchte doch gern sehen, wie dieser verwickelte Knoten sich auflöst.«
»Wird mir sehr angenehm sein, auf Wiedersehen also. Um sieben Uhr ist das Abendessen fertig, ich glaube es gibt Rebhühner. Eigentlich sollte ich, angesichts unserer neuesten Erlebnisse, der Köchin gleich den Auftrag geben, daß sie ihnen die Kröpfe vorher untersucht.«
Ich hatte mich ein wenig verspätet, und es war etwas nach halb sieben Uhr, als ich mich wieder in der Bakerstraße einfand. Indem ich auf das Haus zuschritt, sah ich vor demselben einen großen Mann mit einer karierten Mütze auf dem Kopfe und einem bis unters Kinn zugeknöpften Rock innerhalb des halbkreisförmigen Scheins der Laterne stehen und warten. Jetzt wurde eben die Tür geöffnet, und wir traten beide gleichzeitig in Holmes’ Zimmer ein.
»Mr. Henry Baker vermutlich«, begann dieser, indem er sich aus seinem Lehnstuhl erhob und seinen Besucher mit der herzlichsten Freundlichkeit begrüßte, die er so leicht anzunehmen verstand. »Bitte, setzen Sie sich hier auf diesen Stuhl beim Feuer, Mr. Baker. Es ist eine kalte Nacht heute, und es scheint mir, der Sommer ist Ihnen zuträglicher als der Winter. Ha, Watson, du bist gerade zur rechten Zeit gekommen. Ist dies Ihr Hut, Mr. Baker?«
»Jawohl. Das ist unzweifelhaft mein Hut.«
Baker war ein großer breitschultriger Mann mit einem starken Kopf und einem offenen, gescheiten Gesicht, das in einen spitzen, mit etwas Grau gemischten Bart endigte. Ein rötlicher Schein auf Nase und Wangen zusammen mit einem leichten Zittern seiner ausgestreckten Hand gemahnte an die Vermutung, die Holmes bezüglich seiner Gewohnheiten geäußert hatte. Sein fettiger, schwarzer Rock war bis oben zugeknöpft, der Kragen heraufgeschlagen, und seine langen Handgelenke standen weit aus den Ärmeln hervor, ohne daß eine Spur einer Manschette oder eines Hemdes zu bemerken gewesen wäre. Er sprach langsam und abgebrochen, wobei er seine Worte sorgfältig wählte, und machte in allem den Eindruck eines gebildeten, durch die Ungunst des Schicksals heruntergekommenen Mannes.
»Wir haben diese Sachen ein paar Tage lang behalten«, erklärte Holmes, »weil wir dachten, wir würden durch eine Anzeige von Ihrer Seite Ihre Adresse erfahren. Ich verstehe nicht, warum Sie keine Anzeige erließen.«
Unser Besuch ließ ein ziemlich verlegen klingendes Lachen hören. »Mit meiner Kasse ist es in letzter Zeit nicht mehr so flott bestellt, wie wohl sonst«, versetzte er. »Ich war fest überzeugt, daß die Strolche Hut und Gans mit fortgenommen haben, und wollte für einen hoffnungslosen Versuch ihrer Wiederbeischaffung nicht noch mehr Geld ausgeben.«
»Ganz natürlich. A propos, was die Gans betrifft, so haben wir sie aufessen müssen.«
»Aufessen?« Dabei stand er vor Erregung halb vom Stuhl auf.
»Ja, wissen Sie, wenn wir es nicht getan hätten, so hätte niemand etwas davon gehabt. Aber ich denke, die andere Gans, die dort auf dem Nebentisch liegt, und die nahezu ebenso schwer und vollkommen frisch ist, wird Ihnen ganz denselben Dienst tun.«
»O freilich, freilich!« erwiderte Mr. Baker mit einem Seufzer der Erleichterung.
»Natürlich haben wir noch Federn, Beine, Kopf und so fort von Ihrer eigenen Gans, und wenn Sie wünschen –«
Der Mann brach in ein herzliches Lachen aus. »Die könnte ich allenfalls als Reliquien meines Abenteuers aufheben«, meinte er, »aber sonst wüßte ich nicht, was ich mit den Überbleibseln meiner alten Bekannten eigentlich anfangen sollte. Nein, mit Ihrer Erlaubnis gedenke ich meine Aufmerksamkeit ausschließlich dem vortrefflichen Exemplar zuzuwenden, das ich hier auf dem Nebentisch liegen sehe.«
Holmes warf mir einen scharfen Blick zu und zuckte dabei kaum merklich mit den Schultern.
»Nun, hier ist also Ihr Hut und hier die Gans«, sagte er; »beiläufig bemerkt, möchten Sie mir vielleicht sagen, woher Sie die andere Gans hatten? Ich bin nämlich ein wenig Geflügelnarr, und ein schöneres Tier ist mir selten vorgekommen.«
»Sehr gerne«, erwiderte Baker, der indessen aufgestanden war und seinen neu errungenen Besitz unter den Arm genommen hatte. »Ich bin mit ein paar meiner Bekannten Stammgast in der Wirtschaft zum Alpha, beim Museum. Dieses Jahr nun hat unser wackerer Wirt, Windigate mit Namen, die Einrichtung getroffen, daß jeder von uns gegen eine wöchentliche Einzahlung von ein paar Pence auf Weihnachten eine Gans erhielt. Ich entrichtete meinen Beitrag pünktlich, und das übrige wissen Sie ja. Ich bin Ihnen sehr verpflichtet, denn eine karierte Mütze paßt für meine Jahre ebensowenig wie für mein gesetztes Wesen.« Mit komischer Grandezza stülpte er seinen zerknüllten Felbel auf, machte jedem von uns eine feierliche Verbeugung und ging dann seines Weges.
»Das wäre also Mr. Henry Baker«, sagte Holmes, als er die Tür hinter demselben geschlossen hatte. »Es ist ganz sicher, daß er nicht das geringste von der Geschichte ahnt. Bist du hungrig, Watson?«
»Nicht besonders.«
»Dann schlage ich dir vor, wir nehmen unsere Mahlzeit erst später ein und verfolgen diese Spur, solange sie noch frisch ist.«
»Ganz einverstanden.«
Es war eine bitter kalte Nacht, und wir hüllten uns deshalb warm in Überröcke und Schals ein. Draußen blinkten die Sterne frostig am wolkenlosen Himmel, und die Vorübergehenden bliesen den Atem in dichten Dampfwolken vor sich. Scharf und laut klangen unsere Tritte, während wir unserem Ziele zustrebten. Nach einer Viertelstunde hatten wir Alpha-Inn, eine kleine Wirtschaft in einem Eckhause in Bloomsbery, erreicht. Wir begaben uns ins Herrenstübchen, wo Holmes bei dem rotbackigen Wirt mit weißer Schürze zwei Glas Bier bestellte.
»Wenn Ihr Bier so gut ist wie Ihre Gänse, dann muß es ausgezeichnet sein«, sagte er.
»Meine Gänse?« – Der Mann schien überrascht.
»Ja. Es ist noch keine halbe Stunde her, daß ich mit Mr. Henry Baker gesprochen habe, der zu Ihrem Gänseklub gehört.«
»Ach ja, jetzt verstehe ich. Aber sehen Sie, die Gänse waren nicht von mir.«
»Wirklich? Von wem denn?«
»Nun, ich habe die zwei Dutzend von einem Händler in Covent Garden bezogen?«
»So? Ich kenne ein paar von ihnen; welcher war es?«
»Breckinridge heißt er.«
»Ah, den kenne ich nicht. Nun, auf Ihr Wohl, Wirt, und auf das Gedeihen Ihres Hauses! Gute Nacht!«
»Jetzt zu Mr. Breckinridge«, fuhr er fort, indem er beim Hinaustreten in die kalte Luft seinen Rock zuknöpfte.
»Vergiß nicht, Watson, daß unser Faden uns von einer höchst harmlosen Gans aus zu einem Manne führt, dem sieben Jahre Zwangsarbeit sicher sind, sofern wir nicht seine Unschuld nachweisen können. Möglich, daß unsere Nachforschung lediglich seine Schuld zu bestätigen vermag, aber in jedem Falle sind wir im Besitze einer Spur, welche der Polizei entgangen ist und die uns ein eigentümlicher Zufall in die Hand gespielt hat. Wir wollen den Faden verfolgen bis zum bittern Ende. Auf gen Süden also und frisch voran!«
Als wir nach längerer Kreuz-und Querwanderung den Covent Garten-Markt erreicht hatten, lasen wir an einem der größten Geschäfte den Namen Breckinridge. Der Eigentümer, ein vierschrötig aussehender Mann mit scharfen Zügen und wohlgepflegtem Kotelettenbart, war gerade daran, mit Hilfe eines jungen Burschen die Läden zu schließen.
»Guten Abend. Eine kalte Nacht heute!« sagte Holmes.
Der Händler nickte und warf einen fragenden Blick auf meinen Begleiter.
»Alle Ihre Gänse ausverkauft, soviel ich sehe«, fuhr Holmes fort, indem er auf die leeren Marmortische deutete.
»Können morgen früh 500 Stück haben.«
»Das hilft mir nichts.«
»Nun, dort gibt’s ja noch welche, in dem Laden mit der Gaslaterne.«
»Ganz recht, aber ich bin an Sie empfohlen.«
»Von wem?«
»Vom Wirt zum Alpha.«
»Ah ja, dem habe ich ein paar Dutzend geschickt.«
»Es waren sehr schöne Tiere. Ei, wo hatten Sie die her?«
Zu meiner Überraschung rief diese Frage bei dem Händler einen Zornesausbruch hervor.
»Nun Herr«, sagte er, indem er den Kopf zurückwarf und die Arme in die Seite stemmte, »wo wollen Sie eigentlich hinaus? Sprechen Sie sich deutlich aus, ohne Umschweife.«
»Das ist doch deutlich genug. Ich möchte gerne wissen, wer Ihnen die Gänse verkauft hat, die Sie an das ›Alpha‹ geliefert haben?«
»Nun, und ich sage es Ihnen nicht. Jetzt wissen Sie’s!«
»Oh, es liegt nicht so viel daran, aber ich begreife gar nicht, warum Sie über eine solche Bagatelle so hitzig werden.«
»Hitzig? Sie würden wohl auch hitzig werden, wenn man Sie so kujonierte, wie mich. Wenn ich gutes Geld für gute Ware gezahlt habe, so sollte das Geschäft abgemacht sein; aber nein, da geht’s los: ›wo sind die Gänse‹, ›an wen haben Sie die Gänse verkauft‹, ›was wollen Sie für die Gänse‹. Man könnte gerade glauben, es gäbe sonst keine Gänse auf der Welt, wenn man den Randal hört, den man darüber anschlägt.«
»Nun, wenn sonst noch Leute sich nach den Gänsen erkundigt haben, so habe ich mit denen nichts zu tun«, versetzte Holmes leichthin. »Wenn Sie’s uns nicht sagen wollen, so ist’s eben einfach nichts mit der Wette; aber wenn sich’s um Geflügel handelt, bin ich jederzeit bereit, für das, was ich behaupte, auch etwas daran zu setzen; so habe ich fünf Schilling gewettet, daß die Gans, die ich an Weihnachten verzehrt habe, vom Lande stammte.«
»Nun, dann haben Sie Ihre fünf Schilling verloren, denn es war Stadtware«, fuhr der Händler dazwischen.
»Ach, – niemals.«
»Ich sag’ aber, es ist so.«
»Und ich glaub’s nicht.«
»Wollen Sie mehr vom Geflügel verstehen als ich, der ich immer damit zu tun gehabt habe, seit ich krabbeln kann? Ich sage Ihnen, alle diese Gänse, die nach dem ›Alpha‹ gekommen sind, waren Stadtware.«
»Ich glaube es in meinem Leben nicht.«
»Wollen wir wetten?«
»Ich nehme Ihnen lediglich Ihr Geld ab, denn ich weiß, daß ich recht habe. Aber ich setze einen Sovereign dran, nur um Ihnen zu zeigen, daß ich nicht eigensinnig bin.«
Der Händler lachte grimmig auf. »Bring mir die Bücher, Bill!« rief er. Der kleine Junge brachte ein kleines, dünnes Buch und ein großes mit fettigem Rücken herbei und legte beide aufgeschlagen unter die Hängelampe.
»Nun also, Sie eigensinniger Kauz«, sagte der Händler, »ich meinte, ich habe heut’ nichts mehr mit Gänsen zu tun, aber Sie sollen gleich sehen, daß doch noch eine hier im Laden ist. – Sie sehen das kleine Buch?«
»Nun?«
»Das enthält die Liste der Leute, von denen ich kaufe. Sehen Sie? Nun, also auf dieser Seite stehen die Leute vom Land, und die Nummern hinter ihren Namen zeigen an, wo in dem großen Buch ihre Konten stehen. Nun, und dann sehen Sie diese andere Seile in roter Tinte? Das ist die Liste meiner Stadtlieferanten. Jetzt suchen Sie den dritten Namen. Lesen Sie ihn mir einmal vor.«
»Mrs. Oakshott, 117 Brixton Road, 249« las Holmes.
»So ist’s. Nun schlagen Sie das im Kontobuch nach.«
Holmes schlug die angegebene Seite auf.
»Hier haben Sie’s wieder: Mrs. Oakshott, 117 Brixton Road. Eier-und Geflügel-Lieferantin. Nun also, was ist der letzte Eintrag?«
»22. Dez. 24 Gänse zu 7 sh und 6 d.«
»So ist’s. Da haben Sie’s. Und drunter?«
»Verkauft an Herrn Widigate vom Alpha zu 12 Schilling.«
»Na, was haben Sie jetzt noch zu sagen?«
Holmes sah ganz niedergeschlagen aus, er zog einen Sovereign aus der Tasche, warf ihn auf den Tisch und ging hinaus mit einer Miene, als sei er zu tief entrüstet, um noch Worte zu finden. In einiger Entfernung blieb er unter einer Laterne stehen und brach in das ihm eigentümliche, herzliche und doch geräuschlose Lachen aus.
»Wenn du einen Burschen dieses Schlages vor dir hast, so kannst du ihn stets mit einer Wette dran kriegen«, sagte er; »ich behaupte fest, wenn ich hundert Pfund vor den Mann hingelegt hätte, er würde mir nie diese vollständige Auskunft gegeben haben, die ich jetzt von ihm erhielt durch die Aussicht, mir eine Wette abzugewinnen. Nun, Watson, ich glaube, wir nähern uns dem Ende unserer Forschungsreise, und es fragt sich jetzt nur noch, ob wir diese Mrs. Oakshott heute abend noch aufsuchen, oder ob wir dies für morgen aufsparen wollen. Aus dem, was der grobe Geselle sagte, geht klar hervor, daß auch noch andere Leute außer uns sich mit der Angelegenheit beschäftigt haben, und ich würde –«
Seine Bemerkungen wurden plötzlich durch ein lautes Geschrei unterbrochen, das von dem Laden, den wir soeben verlassen hatten, her klang. Wir kehrten um und sahen einen kleinen Burschen mit fahlem Gesicht mitten im hellen Schein der über der Ladentür hängenden Laterne stehen und sich vor dem Händler ducken, während dieser unter der Ladentür grimmig die Fäuste gegen ihn schüttelte.
»Jetzt habe ich’s satt mit euch und euren Gänsen!« schrie er dabei. »Ich wollte, Ihr wäret beim Teufel alle miteinander. Wenn du noch einmal kommst und mich mit deinem dummen Geschwätz kujonierst, so hetz’ ich den Hund auf dich! Mrs. Oakshott soll selber kommen, dann will ich ihr schon Rede und Antwort geben, aber was geht’s denn dich an?«
»Nun, eine davon gehörte doch mir«, wimmerte der kleine Mann.
»Dann frage doch Mrs. Oakshott darnach!«
»Die hat mich ja an Sie gewiesen.«
»Nun, so frag’ wen du willst, ich schere mich nichts drum. Ich hab’ es dick! Hinaus da!« Er machte eine drohende Bewegung vorwärts, und der Frager verschwand in der Finsternis.
»Ho, das erspart uns möglicherweise den Besuch in Brixton Road«, flüsterte Holmes, »komm mit mir, wir wollen sehen, was mit dem Burschen zu machen ist.«
Rasch hatte sich mein Begleiter zwischen den Gruppen, die vor den beleuchteten Ladenfenstern standen, durchgewunden, den kleinen Mann eingeholt und klopfte ihm nun auf die Schulter. Blitzschnell fuhr derselbe herum, und im Scheine der Laterne sah ich, daß jede Spur von Farbe aus seinem Gesicht gewichen war.
»Nun, wer sind sie? Was wollen Sie?« fragte er mit unsicherer Stimme.
»Entschuldigen Sie«, erwiderte Holmes freundlich, »aber ich konnte nicht umhin, bei Ihrem Gespräch mit dem Händler soeben zuzuhören; ich glaube, ich könnte Ihnen behilflich sein.«
»Sie? Wer sind Sie? Wie können Sie etwas über die Sache wissen?«
»Mein Name ist Sherlock Holmes. Es gehört zu meinem Geschäft, Dinge zu wissen, die andere Leute nicht wissen.«
»Aber davon können Sie doch nichts wissen.«
»Bitte um Entschuldigung, ich weiß alles. Sie möchten gerne ein paar Gänse ausfindig machen, die von Mrs. Oakshott in Brixton Road an den Händler Namens Breckinridge, von ihm wiederum an den Wirt Windigate zum Alpha, und von diesem an seine Stammgäste, zu denen ein Mr. Henry Baker gehört, verkauft worden sind.«
»Oh, Herr, Sie kommen mir wie gerufen«, rief der kleine Bursche mit ausgestreckten Händen und zitternden Fingern. »Sie glauben gar nicht, wieviel mir an der Sache liegt.«
Holmes rief einen vorüberfahrenden Mietswagen heran.
»In diesem Fall wird es besser sein, wir sprechen darüber im gemütlichen Zimmer, als auf diesem windigen Marktplatz«, meinte er. »Aber, bitte, sagen Sie mir zuvor, wem ich das Vergnügen habe, meinen Beistand zu leihen.«
Der Bursche zögerte einen Augenblick. »Ich heiße John Robertson«, antwortete er dann, indem er dabei auf die Seite blickte.
»Nein, nein, den richtigen Namen«, sagte Holmes freundlich. »Mit zweierlei Namen macht man nie gute Geschäfte.«
Eine plötzliche Röte übergoß die weißen Wangen des Burschen. »Nun denn«, sagte er, »mein richtiger Name ist James Ryder.«
»So ist es: erster Hausdiener im Hotel Cosmopolitan. Bitte, steigen Sie nur ein, und ich werde Ihnen jede Auskunft geben können, die Sie wünschen.«
Der kleine Mann blieb stehen und schaute einen um den andern von uns mit halb ängstlichem, halb hoffnungsvollem Blicke an, als wisse er nicht recht, gehe er einem unerwarteten Glücksfall oder einer Katastrophe entgegen. Dann stieg er in den Wagen ein, und knapp zehn Minuten darauf befanden wir uns in der Wohnung meines Freundes. Kein Wort war während der Fahrt gewechselt worden, nur die scharfen, kurzen Atemzüge unseres Begleiters und ein nervöses Auf-und Zuklappen seiner Hände gaben Kunde von der Erregung seines Innern.
»Da wären wir«, sagte Holmes heiter, während wir in das Zimmer traten.
»Das Feuer mutet einen recht angenehm an bei diesem Wetter. Sie sehen erfroren aus, Mr. Ryder; bitte, setzen Sie sich in den Armstuhl. Ich will nur meine Pantoffeln anziehen, ehe wir diese kleine Sache abmachen; nun also, Sie möchten gerne wissen, was aus den Gänsen geworden ist?«
»Jawohl Herr.«
»Oder besser gesagt aus der Gans, es war doch wohl eine Gans, an der Ihnen gelegen war – weiß, mit schwarzem Streifen auf dem Schwanz.«
Ryder zitterte vor Erregung. »Ach, Herr«, rief er, »können Sie mir sagen, wo die hinkam?«
»Kam hierher.«
»Hierher?«
»Jawohl. Und sie entpuppte sich als ein höchst merkwürdiger Vogel. Es wundert mich gar nicht, daß Sie Interesse für denselben zeigen. Er hat nach seinem Tod ein blaues Ei gelegt, das niedlichste, prächtigste kleine Ei, das je zu sehen war. Ich habe es hier in meiner Sammlung.«
Unser Gast richtete sich unsicher auf und klammerte sich mit der rechten Hand am Kaminrand an.
Holmes schloß seine Kassette auf und hielt den blauen Karfunkel empor, der wie ein Stern in kaltem, glänzendem, blitzendem Feuer strahlte.
Ryder stand mit langem Gesicht da, unschlüssig, ob er den Stein als sein Eigentum ansprechen oder verleugnen sollte.
»Das Spiel ist aus, Ryder«, sagte Holmes ruhig. »Jetzt nicht gefackelt, Mann – oder Sie kommen in des Teufels Küche. Hilf ihm wieder in seinen Stuhl, Watson, er hat nicht Nerv genug zum Spitzbuben. Gib ihm einen Schluck Cognac. So! Nun sieht er ein wenig menschlicher aus. Wahrhaftig, ein rechter Held!«
Einen Augenblick hatte Ryder gewankt und wäre fast gefallen, aber der Branntwein brachte wieder eine Spur von Farbe in seine Wangen, und angstvoll heftete er nun von seinem Stuhle aus die Blicke auf seinen Ankläger.
»Ich habe so ziemlich alle Trümpfe in der Hand und bin im Besitz aller Beweise, die ich etwa brauchen könnte; so können Sie mir eigentlich nur wenig sagen. Und auch dieses wenige läßt sich auf anderem Wege aufklären, so daß der Zusammenhang vollständig ist. Sie haben doch von diesem blauen Stein der Gräfin Morcar gehört, Ryder?«
»Ja, die Katharine Cusack erzählte mir davon«, erwiderte er mit heiserer Stimme.
»Ach freilich, die Kammerzofe der Dame. Nun, die Versuchung, sich auf so leichte Weise mit einemmale zum reichen Mann zu machen, war zu groß für Sie, wie schon oft für bessere Leute als Sie; aber in der Wahl der Mittel waren Sie nicht sehr bedenklich. Ich meine, Ryder, das war ein rechter Schurkenstreich von Ihnen. Sie wußten, daß dieser Klempner Horner früher schon einmal in einen ähnlichen Fall verwickelt war, und daß er deshalb um so leichter in Verdacht geraten würde. Was taten Sie also? Sie richteten es mit Ihrer Genossin, der Cusack, so ein, daß im Zimmer der Gräfin ein kleine Reparatur zu besorgen war, und daß Horner zu diesem Zweck geholt wurde. Nach seinem Abgang plünderten Sie dann den Schmuckkasten aus, schlugen Lärm und ließen den Unglücklichen festnehmen. Darauf –«
Hier warf sich Ryder plötzlich zu Boden und umfaßte die Kniee meines Freundes. »Um Gottes willen, haben Sie Erbarmen«, rief er, »denken Sie an meinen Vater, an meine Mutter! Es würde ihnen das Herz brechen! Ich habe noch nie etwas Schlechtes begangen und will es auch nie wieder tun, ich schwöre es. Ich beschwöre es bei allem, was heilig ist. Oh, bringen Sie mich nur nicht vor Gericht, um Christi willen nicht!«
»Setzen Sie sich wieder in Ihren Stuhl«, erwiderte Holmes streng. »Es ist keine Kunst, sich jetzt zu winden und zu krümmen, aber den armen Horner unter ungerechtem Verdacht in Haft zu bringen, das machte Ihnen wenig Kopfzerbrechen.«
»Ich will fliehen, Mr. Holmes, ich will außer Landes gehen, dann wird man die Untersuchung gegen ihn einstellen.«
»Hm. Darüber reden wir noch. Und jetzt erzählen Sie uns wahrheitsgemäß, wie es weiter ging. Wie kam der Stein in die Gans, und wie kam die Gans auf den Markt? Sagen Sie uns die Wahrheit. Darin liegt für Sie die einzige Hoffnung auf Rettung!«
Ryder fuhr sich mit der Zunge über seine trockenen Lippen. »Ich will es Ihnen erzählen, ganz wie es gegangen ist«, begann er dann. »Als Homer festgenommen war, dachte ich, es werde das beste für mich sein, mich mit dem Stein ohne Verzug aus dem Staub zu machen, es konnte ja der Polizei jeden Augenblick einfallen, mich und mein Zimmer zu durchsuchen. Im ganzen Bereich des Hotels gab es kein sicheres Versteck dafür. Ich ging deshalb aus, als hätte ich etwas zu besorgen, und suchte meine Schwester auf. Sie ist an einen namens Oakshott verheiratet und wohnt in Brixton Road, wo sie Geflügel zum Verkauf mästet. Auf dem ganzen Weg hielt ich jeden, der mir begegnete, für einen Schutzmann oder einen Detektiv, sodaß trotz der kalten Nacht der Schweiß an mir herunter lief, noch ehe ich in Brixton Raod war. Meine Schwester fragte mich, was es denn gebe, und warum ich so blaß sei, aber ich machte ihr weiß, ich habe wegen Diebstahls im Hotel aufbleiben müssen. Dann ging ich in den Hinterhof und dachte bei einer Pfeife darüber nach, was jetzt wohl das Geratenste für mich wäre.
Ich hatte früher einen Freund gehabt Namens Maudsley, der auf schlechte Wege geriet und jetzt eben seine Zeit abgesessen hat. Dieser hatte mir eines Tages einmal von den Schlichen der Diebe erzählt und wie sie die gestohlenen Sachen sich aus den Händen schaffen. Ich wußte, daß er mich nicht verraten würde, denn ich wußte auch ein oder zwei Sachen von ihm; so kam ich zu dem Entschluß, ihn ohne weiteres in Kilburn aufzusuchen und ihn ins Vertrauen zu ziehen. Er würde mir sicher Mittel und Wege zeigen, wie ich den Stein zu Geld machen könnte. Aber wie unbehelligt zu ihm gelangen? Ich dachte an die Schrecken, die ich auf dem Herweg ausgestanden hatte. Jeden Augenblick konnte man mich fassen und durchsuchen, und dann fand man den Stein in meiner Westentasche. Ich hatte unterdessen an der Wand gelehnt und den Gänsen zugeschaut, die mir vor den Füßen herumwatschelten; auf einmal fuhr mir ein Gedanke durch den Kopf, wie ich den schlauesten Detektiv auf der ganzen Welt hinters Licht führen könnte.
Meine Schwester hatte mir ein paar Wochen vorher das Prachtstück von ihren Gänsen auf Weihnachten versprochen, und ich wußte, daß ich jederzeit auf ihr Wort bauen konnte. Diese Gans wollte ich jetzt mitnehmen und in ihrem Kropf meinen Stein nach Kilburn tragen. In dem Hofe steht ein kleiner Schuppen und hinter diesen trieb ich eine von den Gänsen, eine schöne, große, weiße mit gestreiftem Schwanz. Ich fing sie ein, sperrte ihr den Schnabel auf und stopfte ihr den Stein in den Hals hinunter, soweit mein Finger reichte. Sie schluckte, und ich fühlte, wie der Stein durch den Schlund in ihren Kropf hinabglitt. Aber sie flatterte und strampelte dermaßen dabei, daß meine Schwester herauskam und fragte, was los sei. Wie ich ihr eben Antwort geben wollte, riß sich das Vieh los und flog mitten unter die andern hinein.
»Was in aller Welt hast du nur mit der Gans gemacht, James?« fragte sie.
»Nun«, sage ich, »du hast mir ja eine auf Weihnachten versprochen gehabt, da wollte ich nur fühlen, welche am fettesten sei.«
»Oh«, sagte sie, »die für dich haben wir schon auf die Seite getan, wir heißen sie nur James’ Braten, es ist die große weiße dort drüben. Sechsundzwanzig Stück sind’s, macht eine für dich, eine für uns und zwei Dutzend für den Markt.«
»Schönen Dank, Maggie«, sage ich, »aber wenn dir’s einerlei ist, so möchte ich lieber die haben, die ich eben zwischen den Händen hatte.«
»Die andere ist gut drei Pfund schwerer«, sagte sie, »wir haben sie besonders für dich gemästet.«
»Einerlei, ich will lieber die andere und will sie jetzt gleich mitnehmen«, sagte ich darauf.
»Oh, ganz wie du willst«, sagte sie wieder, ein bißchen verdutzt, »welche willst du denn also?«
»Die weiße dort mit dem gestreiften Schwanz, gerade mitten drin.«
»Oh, ganz recht, tu sie nur ab und nimm sie mit.«
Nun, so macht ich’s auch, Mr. Holmes, und nahm die Gans mit nach Kilburn. Ich erzählte meinem Kameraden frischweg, wie ich es gemacht hatte, und er wollte vor Lachen darüber fast ersticken. Wir nahmen dann ein Messer und schnitten die Gans auf. Mir wollte das Herz stehen bleiben, keine Spur von dem Stein war zu finden, und ich wußte jetzt, daß ein schreckliches Versehen vorgekommen war. Ich ließ die Gans im Stich, rannte zurück zu meiner Schwester und in den Geflügelhof; doch da war kein einziges Stück mehr zu sehen.
»Wo sind sie denn alle hingekommen, Maggie?« rufe ich ihr entgegen.
»Zum Händler sind sie gekommen, James.«
»Zu welchem?«
»Breckinridge in Convent Garden.«
»Aber war denn noch eine da mit gestreiftem Schwanz?« fragte ich, »gerade wie die, die ich mir auserwählte?«
»Freilich, James, zwei waren da mit gestreiftem Schwanz, ich kannte sie nie auseinander.«
Nun, da war mir denn die ganze Sache klar, und ich ging, so schnell mich meine Füße tragen wollten, zu diesem Breckinridge. Aber er hatte die ganze Partie gleich weiter verkauft und wollte mir um keinen Preis sagen, an wen. Sie haben ihn ja heut’ abend selbst gehört. So hat er mich von Anfang an abgetrumpft. Meine Schwester meint, ich werde noch verrückt; und manchmal kommt es mir selber so vor. Und jetzt – jetzt bin ich als Dieb gebrandmarkt und habe den Reichtum, für den ich meinen ehrlichen Namen verkauft habe, noch nicht von weitem verschmeckt. Gott steh mir bei! Gott steh mir bei!« Er begrub sein Gesicht in den Händen und brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus. Ein langes Schweigen folgte; nichts unterbrach die Stille, als die schweren Atemzüge des Unglücklichen und das taktmäßige Trommeln der Fingerspitzen meines Freundes auf dem Tischrand.
Endlich erhob sich der letztere und machte die Tür auf. »Gehen Sie fort«, sagte er.
»Was!? O, Gott vergelte es Ihnen!«
»Keine Worte weiter; nur fort!«
Und es bedurfte auch keiner weiteren Worte. Im Nu war er draußen und über die Treppe drunten; man hörte die Tür gehen, und dann verklangen seine eiligen Tritte vor dem Hause.
»Schließlich, Watson«, meinte Holmes, indem er nach seiner Pfeife griff, »bin ich doch nicht gerade dazu bei der Polizei angestellt, um ihr überall nachzuhelfen, wo sie nicht allein fertig wird. Stünde die Sache für Horner bedenklich, so wäre es etwas anderes, aber dieser Bursche wird ja nicht gegen ihn auftreten, und so muß der Fall eingestellt werden. Vielleicht, daß ich ein Unrecht damit begehe, aber es ist auch gerade so gut möglich, daß ich dadurch eine Seele vom Verderben rette. Dieser Bursche wird nichts mehr verbrechen. Seine Angst war zu gräßlich. Ihn jetzt ins Gefängnis bringen, hieße ihn für sein ganzes Leben dem Zuchthaus überliefern, überdies stehen wir ja eben auch in der Gnadenzeit. Der Zufall hat uns einen rätselvollen, merkwürdigen Fall in die Hände gespielt, und in seiner befriedigenden Lösung müssen wir unsern Lohn finden. Willst du so gut sein, mal eben zu klingeln, dann wollen wir uns an eine Untersuchung anderer Art machen.«
(A Study in Scarlet)
1887
Inhaltsverzeichnis
Im Jahre 1878 hatte ich mein Doktorexamen an der Londoner Universität bestanden und in Nelley den für Militärärzte vorgeschriebenen medizinischen Kursus durchgemacht. Bald darauf ward ich dem fünften Füsilierregiment Northumberland zugeteilt, welches damals in Indien stand. Bevor ich jedoch an den Ort meiner Bestimmung gelangte, brach der zweite afghanische Krieg aus, und bei meiner Landung in Bombay erfuhr ich, mein Regiment sei bereits durch die Gebirgspässe marschiert und weit in Feindesland vorgedrungen. In Gesellschaft mehrerer Offiziere, die sich in gleicher Lage befanden, folgte ich meinem Corps, erreichte dasselbe glücklich in Kandahar und trat in meine neue Stellung ein.
Der Feldzug, in welchem andere Ehre und Auszeichnungen fanden, brachte mir indessen nur Unglück und Mißerfolg. Gleich in der ersten Schlacht zerschmetterte mir eine Kugel das Schulterblatt und ich wäre sicherlich den grausamen Ghazia in die Hände gefallen, hätte mich nicht Murray, mein treuer Bursche, rasch auf ein Packpferd geworfen und mit eigener Lebensgefahr mit sich geführt, bis wir die britische Schlachtlinie erreichten.
Lange lag ich krank, und erst nachdem ich mit einer großen Anzahl verwundeter Offiziere in das Hospital von Peshawar geschafft worden war, erholte ich mich allmählich von den ausgestandenen Leiden; ich war bereits wieder so weit, daß ich in den Krankensälen umhergehen und auf der Veranda frische Luft schöpfen durfte. Da befiel mich unglücklicherweise ein Entzündungsfieber und zwar mit solcher Heftigkeit, daß man monatelang an meinem Wiederaufkommen zweifelte. Als endlich die Macht der Krankheit gebrochen war und mein Bewußtsein zurückkehrte, befand ich mich in solchem Zustand der Kraftlosigkeit, daß die Aerzte beschlossen, mich ohne Zeitverlust wieder nach England zu schicken. Einen Monat später landete ich mit dem Truppenschiff ›Orontes‹ in Portsmouth; meine Gesundheit war völlig zerrüttet, doch erlaubte mir eine fürsorgliche Regierung, während der nächsten neun Monate den Versuch zu machen, sie wiederherzustellen.
Verwandte besaß ich in England nicht; ich beschloß daher, mich in einem Privathotel einzuquartieren. Mein tägliches Einkommen belief sich auf elf und einen halben Schilling und da ich zuerst nicht sehr haushälterisch damit umging, machten mir meine Finanzen bald große Sorge. Ich sah ein, daß ich entweder aufs Land ziehen oder meine Lebensweise in der Hauptstadt völlig ändern müsse.
Da ich letzteres vorzog, sah ich mich genötigt, das Hotel zu verlassen und mir eine anspruchslosere und weniger kostspielige Wohnung zu suchen.
Während ich noch hiermit beschäftigt war, begegnete ich eines Tages auf der Straße einem mir bekannten Gesicht, ein höchst erfreulicher Anblick für einen einsamen Menschen wie mich in der Riesenstadt London. Ich hatte mit dem jungen Stamford während meiner Studienzeit verkehrt, ohne daß wir einander besonders nahe getreten waren, jetzt aber begrüßte ich ihn mit Entzücken, und auch er schien sich über das Wiedersehen zu freuen. Bald saßen wir in einer nahen Restauration zusammen bei einem Glase Wein und tauschten unsere Erlebnisse aus.
»Was in aller Welt ist denn mit dir geschehen, Watson?« fragte Stamford verwundert, »du siehst braun aus wie eine Nuß und bist so dürr wie eine Bohnenstange.«
Ich gab ihm einen kurzen Abriß meiner Abenteuer und er hörte mir teilnehmend zu.
»Armer Kerl,« sagte er mitleidig, »und was gedenkst du jetzt zu thun?«
»Ich bin auf der Wohnungssuche,« versetzte ich; »es gilt die Aufgabe zu lösen, mir um billigen Preis ein behagliches Quartier zu verschaffen.«
»Wie sonderbar,« rief Stamford; »du bist der zweite Mensch, der heute gegen mich diese Aeußerung thut.«
»Und wer war der erste?«
»Ein Bekannter von mir, der in dem chemischen Laboratorium des Hospitals arbeitet. Er klagte mir diesen Morgen sein Leid, daß er niemand finden könne, um mit ihm gemeinsam ein sehr preiswürdiges, hübsches Quartier zu mieten, das für seinen Beutel allein zu kostspielig sei.«
»Meiner Treu,« rief ich, »wenn er Lust hat, die Kosten der Wohnung zu teilen, so bin ich sein Mann. Ich würde weit lieber mit einem Gefährten zusammenziehen, statt ganz allein zu hausen.«
Stamford sah mich über sein Weinglas hinweg mit bedeutsamen Blicken an. »Wer weiß, ob du Sherlock Holmes zum Stubengenossen wählen würdest, wenn du ihn kenntest,« sagte er.
»Ist denn irgend etwas an ihm auszusetzen?«
»Das will ich nicht behaupten. Er hat in mancher Hinsicht eigentümliche Anschauungen und schwärmt für die Wissenschaft. Im übrigen ist er ein höchst anständiger Mensch, soviel ich weiß.«
»Ein Mediziner vermutlich?«
»Nein – ich habe keine Ahnung, was er eigentlich treibt. In der Anatomie ist er gut bewandert und ein vorzüglicher Chemiker. Aber meines Wissens hat er nie regelrecht Medizin studiert. Er ist überhaupt ziemlich überspannt und unmethodisch in seinen Studien, doch besitzt er auf verschiedenen Gebieten eine Menge ungewöhnlicher Kenntnisse, um die ihn mancher Professor beneiden könnte.«
»Hast du ihn nie nach seinem Beruf gefragt?«
»Nein – er ist kein Mensch, der sich leicht ausfragen läßt; doch kann er zuweilen sehr mitteilsam sein, wenn ihm gerade danach zu Mute ist.«
»Ich möchte ihn doch kennen lernen,« sagte ich; »ein Mensch, der sich mit Vorliebe in seine Studien vertieft, wäre für mich der angenehmste Gefährte. Bei meinem schwachen Gesundheitszustand kann ich weder Lärm noch Aufregung vertragen. Ich habe beides in Afghanistan so reichlich genossen, daß ich für meine Lebenszeit genug daran habe. Bitte, sage mir, wo ich deinen Freund treffen kann.«
»Vermutlich ist er jetzt noch im Laboratorium. Manchmal läßt er sich dort wochenlang nicht sehen und zu anderen Zeiten bleibt er wieder von früh bis spät bei der Arbeit. Wenn es dir recht ist, suchen wir ihn zusammen auf.«
Ich willigte mit Freuden ein und wir machten uns sogleich auf den Weg nach dem Hospital.
»Du darfst mir aber keine Vorwürfe machen, wenn ihr nicht miteinander auskommt,« sagte Stamford, als wir in die Droschke stiegen; »ich möchte dir weder zu-noch abraten.«
»Wenn wir nicht zu einander passen, können wir uns ja leicht wieder trennen. Deine Vorsicht scheint mir fast übertrieben, es muß noch etwas anderes dahinter stecken. Heraus mit der Sprache, was hast du gegen den Menschen einzuwenden?«
»Nichts, gar nichts; er ist nur nach meinem Geschmack seiner Wissenschaft allzusehr ergeben. – Das grenzt schon an Gefühllosigkeit. Ich halte es nicht für undenkbar, daß er einem guten Freunde eine Priese des neuesten vegetabilischen Alkaloids eingeben würde – nicht etwa aus Bosheit, nein, aus Forschungstrieb – um die Wirkung genau zu beobachten. Ebenso gern würde er freilich die Probe an sich selber machen, die Gerechtigkeit muß man ihm widerfahren lassen. Ueberhaupt ist Klarheit und Genauigkeit des Wissens seine größte Leidenschaft; aber zu welchem Zweck er alle seine Studien betreibt, weiß der liebe Himmel.«
Vor dem Hospital angekommen, stiegen wir aus, gingen ein Gäßchen hinunter und traten durch eine Thür in den Nebenflügel des weitläufigen Gebäudes. Hier war mir alles wohl bekannt und ich brauchte keinen Führer mehr. Es ging die kahle Steintreppe hinauf, durch den langen, weißgetünchten Korridor, mit den Thüren auf beiden Seiten, an den sich der niedrige Bogengang anschloß, welcher nach dem chemischen Laboratorium führte.
In dem großen Saal, den wir betraten, waren sämtliche Tische mit Retorten, Reagensgläsern und kleinen Weingeistlampen besetzt, während rings an den Wänden und überhaupt, wohin man blickte, Flaschen von allen Größen und Formen umherstanden. Wir dachten zuerst, der Raum sei leer, bis wir an dem andern Ende einen jungen Mann gewahrten, der, in seine Beobachtungen versunken, über einen Tisch gebeugt dasaß. Beim Schall unserer Fußtritte blickte er von seinem Experiment aus und sprang mit einem Freudenruf in die Höhe. »Viktoria, Viktoria,« jubelte er, und kam uns, mit der Retorte in der Hand, entgegen. »Ich habe das Reagens gefunden, das sich mit Hämoglobin zu einem Niederschlag verbindet und sonst mit keinem Stoff.«
Er sah so glückstrahlend aus, als hätte er eine Goldmine entdeckt.
»Mein Freund, Doktor Watson – Herr Sherlock Holmes,« sagte Stamford uns einander vorstellend.
»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen,« erwiderte Holmes in herzlichem Ton und mit kräftigem Händedruck. »Sie kommen aus Afghanistan, wie ich sehe.«
Ich blickte ihn verwundert an. »Wieso wissen Sie denn das?«
»O, das thut nichts zur Sache,« rief er, sich vergnügt die Hände reibend; »ich denke jetzt nur an Hämoglobin. Sicherlich werden Sie die Tragweite meiner Erfindung begreifen.«
»Es mag wohl als chemisches Experiment sehr interessant sein, aber für die Praxis –«
»Gerade in der Praxis ist es von größter Wichtigkeit für die Gerichtschemie, weil es dazu dient, das etwaige Vorhandensein von Blutflecken zu beweisen. – Bitte, kommen Sie doch einmal her.« In seinem Eifer ergriff er meinen Rockärmel und zog mich nach dem Tische hin, an welchem er experimentiert hatte. »Wir müssen etwas frisches Blut haben,« sagte er und stach sich mit einer großen Stopfnadel in den Finger, worauf er das herabtropfende Blut in einem Saugröhrchen auffing. »Jetzt mische ich diese kleine Blutmenge mit einem Liter Wasser – das Verhältnis ist etwa wie eins zu einer Million – und die Flüssigkeit sieht ganz aus wie reines Wasser. Trotzdem wird sich, denke ich, die gewünschte Reaktion herstellen lassen.« Er hatte, während er sprach, einige weiße Kristalle in das Gefäß geworfen und goß jetzt noch mehrere Tropfen einer durchsichtigen Flüssigkeit hinzu. Sofort nahm das Wasser eine dunkle Färbung an und ein bräunlicher Niederschlag erschien auf dem Boden des Glases.
»Sehen Sie,« rief er und klatschte in die Hände, wie ein Kind vor Freude über ein neues Spielzeug. »Was sagen Sie dazu?«
»Es scheint mir ein sehr gelungenes Experiment.«
»Wundervoll, wundervoll! Die alte Methode, die Probe mit Guajacum anzustellen, war sehr umständlich und unsicher, die mikroskopische Untersuchung der Blutkügelchen aber ist wertlos, sobald die Flecken ein paar Stunden alt sind. Meine Erfindung wird sich dagegen ebenso gut bei altem wie bei frischem Blut bewähren. Wäre sie schon früher gemacht worden, so hätte man Hunderte von Verbrechern zur Rechenschaft ziehen können, die straflos davongekommen sind.«
»Meinen Sie wirklich?«
»Ohne Frage. Bei der Kriminaljustiz dreht sich ja meist alles um diesen einen Punkt. Vielleicht Monate, nachdem die Missethat begangen ist, fällt der Verdacht auf einen Menschen, man untersucht seine Kleider und findet braune Flecke am Rock oder in der Wäsche. Das können Blutspuren sein, aber auch Rostflecke, Obstflecke oder Schmutzflecke. Mancher Sachverständige hat sich darüber schon den Kopf zerbrochen und zwar bloß, weil es an einer zuverlässigen Beweismethode fehlte. Nun man aber das Sherlock Holmessche Mittel besitzt, ist jede Schwierigkeit beseitigt.«
Seine Augen funkelten, während er sprach, er legte die Hand aufs Herz und machte eine feierliche Verbeugung, als sähe er sich im Geist einer Beifall klatschenden Menge gegenüber.
»Da kann man Ihnen ja Glück wünschen,« sagte ich, verwundert über seinen Feuereifer.
»Hätte man die Probe schon letztes Jahr anstellen können,« fuhr er fort, »es wäre dem Mason aus Bradford sicherlich an den Hals gegangen; auch der berüchtigte Müller, sowie Lefevre aus Montpellier und Samson aus New-Orleans wären überführt worden. Ich könnte Ihnen Dutzende von Fällen nennen, bei denen meine Erfindung den Ausschlag gegeben hätte.«
»Sie scheinen ja ein wandelnder Verbrecheralmanach zu sein,« meinte Stamford lachend; »schreiben Sie doch ein Buch über Kriminalstatistik.«
»Das möchte wohl des Lesens wert sein,« erwiderte Holmes, der sich eben ein Pflaster auf den verwundeten Finger klebte. »Ich muß sehr vorsichtig sein,« fügte er erklärend hinzu, »denn ich mache mir viel mit Giften zu schaffen.« Als er die Hand in die Höhe hielt, sah ich, daß sie an vielen Stellen bepflastert war und von scharfen Säuren gefärbt.
»Wir kommen in Geschäften,« sagte Stamford, und schob mir einen dreibeinigen Schemel zum Sitzen hin, während er ebenfalls Platz nahm. »Mein Freund hier sucht eine Wohnung, und da Sie gern mit jemand zusammenziehen möchten, dachte ich, es wäre Ihnen vielleicht beiden geholfen.« Sherlock Holmes ging mit Freuden auf den Vorschlag ein. »Ich habe ein Auge des Wohlgefallens auf ein Quartier in der Baker-Straße geworfen, das vortrefflich für uns passen würde,« sagte er. »Sie haben doch nicht etwa eine Abneigung gegen Tabaksdampf?«
»O nein, ich bin selbst ein starker Raucher.«
»Das trifft sich gut. Ferner habe ich häufig Chemikalien bei mir herumstehen, die ich zu meinen Experimenten brauche. Würde Sie das belästigen?«
»Durchaus nicht.«
»Warten Sie – was habe ich sonst noch für Fehler? Manchmal bekomme ich Anfälle von Schwermut und thue dann tagelang den Mund nicht auf. Sie müssen mir das nicht übel nehmen. Kümmern Sie sich nur dann gar nicht um mich, und die Anwandlung wird bald vorüber sein. So – nun ist die Reihe an Ihnen, mir Bekenntnisse zu machen. Wenn zwei Menschen zusammen leben wollen, ist es gut, wenn sie im voraus wissen, was sie von einander zu erwarten haben.«
Ich mußte über diese Generalbeichte lachen. »Ich halte mir einen jungen Bullenbeißer,« gestand ich, »und kann keinen Lärm vertragen, weil meine Nerven angegriffen sind; auch schlafe ich oft in den Tag hinein und bin überhaupt sehr träge. In gesunden Zeiten fröhne ich noch Lastern anderer Art, aber für jetzt sind dies die hauptsächlichsten.«
»Würden Sie unter ›Lärm‹ auch das Spielen auf einer Violine verstehen?« fragte er besorgt.
»Das kommt auf den Musiker an. Gutes Violinspiel ist ein Genuß für Götter – aber schlechtes –«
»Freilich, freilich,« rief er vergnügt. »Nun, ich denke, die Sache ist abgemacht – das heißt, wenn Ihnen das Quartier gefällt.«
»Wann können wir es besichtigen?«
»Holen Sie mich morgen mittag hier ab, dann gehen wir zusammen hin und bringen gleich alles ins reine.«
»Sehr wohl, also Punkt zwölf Uhr,« sagte ich, ihm zum Abschied die Hand schüttelnd.