Show Me a Hero - Lisa Belkin - E-Book

Show Me a Hero E-Book

Lisa Belkin

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Beschreibung

Eine Kleinstadt im Norden New Yorks, Anfang der 80er Jahre: Inmitten eines bürgerlichen Viertels sollen Sozialwohnungen für die Unterschicht gebaut werden. Die dort ansässigen Bürger fürchten Kriminalität und Verrohung und steigen auf die Barrikaden. Der Konflikt spitzt sich immer weiter zu, und Nick Wasicsko, der jüngste Bürgermeister der USA, gerät angesichts der aufkommenden Unruhen und Rassenkonflikte unter Druck. Eines Tages geschieht ein Mord … Show Me A Hero ist eine wahre Geschichte über Macht, Politik und Gemeinschaft, die all unsere Werte in Frage stellt. Ein packendes Sachbuch, erzählt wie ein Krimi, verfilmt von The Wire-Autor David Simon.

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Das Buch

Eine Kleinstadt im Norden New Yorks, Anfang der 80er Jahre: Inmitten eines bürgerlichen Viertels sollen Sozialwohnungen für die Unterschicht gebaut werden. Die dort ansässigen Bürger fürchten Kriminalität und Verrohung und steigen auf die Barrikaden. Der Konflikt spitzt sich immer weiter zu, und Nick Wasicsko, der jüngste Bürgermeister der USA, gerät angesichts der aufkommenden Unruhen und Rassenkonflikte unter Druck. Eines Tages geschieht ein Mord …

Show Me A Hero ist eine wahre Geschichte über Macht, Politik und Gemeinschaft, die all unsereWerte in Frage stellt. Ein packendes Sachbuch, erzählt wie ein Krimi, verfilmt von The Wire-Autor David Simon.

Die Autorin

Lisa Belkin war Journalistin bei der New York Times und der Huffington Post, bevor sie 2014 zu Yahoo News wechselte. Sie hat mehre Bücher geschrieben, Radiosendungen moderiert und unterrichtet in Princeton kreatives Schreiben. Belkin lebt mit ihren Söhnen und ihrem Mann in Westchester County, New York.

Lisa Belkin

Show Me a Hero

Eine wahre Geschichte über Macht, Verrat und Gewalt

Aus dem Amerikanischen von Jürgen Bürger

ullstein extra

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ISBN 978-3-8437-1334-4

© 2016 © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Umschlagabbildung: © 2015 Home Box Office, Inc.

E-Book: L42 Media Solutions Ltd., Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Meinen Jungs gewidmet:Alex, EvanundBruce,die unser Haus zu einem Zuhause machen.

»Show me a hero, and I will write you a tragedy.«F. Scott Fitzgerald

Inhaltsverzeichnis
Das Buch/Die Autorin
Titel
Impressum
Vorwort
Prolog, 1992
Teil Eins: Die Explosion
1988
Der jüngste Bürgermeister Amerikas
Eine Stadt wie keine andere
Mary Dorman schließt sich dem Kampf an
Alma Febles kämpft sich durch die Nacht
Norma O’Neals schwarzer Spitzenschleier
Der Krieg
Alma kehrt wieder heim
Das Obdachlosen-Motel
Im grellen Rampenlicht
Das Emergency Financial Control Board und das Oberste Bundesgericht
Norma wartet
Die Stadt dichtmachen
1989
Ein Haus auf dem Hügel
Billie Rowan trifft John Santos
Eine Nacht ohne Träume
Defensible Space
Billies Neuigkeiten (I)
Klein Frankie
1990
Bürgermeister Spallone
John geht ins Gefängnis
Marschieren oder nicht marschieren
Doreens Vater findet es heraus
Alma holt die Kinder nach Hause
Kein Ort für ein Baby
Doreens erstes Treffen
1988 Revival
Billies Neuigkeiten (II)
1991
Grundsteinlegung
Die Kandidatin Doreen
Neuauflage der Wiederwahl
Die Reihenhäuser kommen
Die Wahl von 1991
Teil Eins: Wiederaufbau
1992
Die Lotterie
Die andere Seite des Zaunes
Eine Exkursion
Orientierungsphase
Einzug
Ratsmitglied Nick
Vorgarten-Meetings
John kommt nach Hause
Ein hübsches Haus
Ein Besuch, an den man sich erinnert
Hunde, Abflüsse und Entscheidungen
Billies Neuigkeiten (III)
Doreen findet ihre Stimme wieder
Der Anfang vom Ende
Süßes oder Saures
Nach Hause finden
Kennenlernen der Pudel-Lady
Weihnachten
1993
Der Mord
Doreen erhebt ihre Stimme
Die Angst, die niemals vergeht
Billies Anhörung
Auf der Straße
Eine Petition
Nick kandidiert ein letztes Mal
Alma sucht nach einem Zuhause, Pam findet es
Ein Tod und eine Entscheidung
Nick vs. Vinni
Mütter und Kinder
Ein Held
Eine Tragödie
Epilog, 1998
Epilog, 2015
David Simon über Show Me a Hero
Danksagungen
Glossar
Feedback an den Verlag
Empfehlungen

Vorwort

Die Reihenhäuser im Zentrum dieser Geschichte liegen zehn Autominuten von meinem Haus entfernt – ein kurzes Stück den Saw Mill River Parkway hinunter, dann ein paar Meilen nach Osten. Wegen der räumlichen Nähe weckte die Sache überhaupt erst mein Interesse. Doch so nah es ist, so fern ist es auch – eine aufschlussreiche, fesselnde Reise zwischen zwei Welten.

In diesem Augenblick sitze ich bei mir zu Hause und schaue hinaus in den benachbarten Wald, eine alte Angewohnheit, wenn ich schreibe. Es ist ein beruhigender, schöner Anblick, und wie so oft bei der Arbeit an diesem Buch wird mir schlagartig bewusst, welche Macht das eigene Zuhause auf unsere Urinstinkte hat. Damals, 1992, das erste Mal im Leben Hauseigentümerin und frischgebackene, beschützende Mutter, las ich einen kleinen Artikel über eine Lotterie im öffentlichen Wohnungsbau. Ich wusste damals nur wenig über die Reihenhäuser – dass ihr Bau von einem Bundesrichter angeordnet worden war, damit ärmere Minderheiten, die in Sozialbausiedlungen lebten, auf jener Seite der Stadt wohnen konnten, in der die weiße Mittelschicht lebte. Während die Stadt Yonkers sich heftig gegen diesen Erlass wehrte, lebte ich noch in Texas. Doch obwohl es fünfzehnhundert Meilen entfernt ist, erinnere ich mich an die abendlichen Berichte in den Fernsehnachrichten, an Hunderte von Leuten, im Chor rufend und schreiend, die Gesichter hassverzerrt. Nun waren die Häuser gebaut. Und sie standen bei mir in der Nähe.

Man veranstaltete in der Turnhalle an der School Street eine Lotterie, um zu entscheiden, welche Familien in die neuen Reihenhäuser ziehen dürften. Aus Neugier – teilweise aus Angst um meine ganze Habe, die ich investiert hatte, teilweise weil ich als Reporterin eine gute Geschichte witterte – ging ich hin. Am Kopfende der Halle stand eine altertümliche Bingotrommel, gefüllt mit den Namen der Hoffnungsvollen. Ich saß inmitten einer elektrisierten Menge, die zusah, wie die schicksalhafte Trommel sich drehte.

An jenem Abend lernte ich Alma Febles kennen, eine charmante junge Mutter, genauso alt wie ich, und eine der Frauen, deren Geschichten dieses Buch füllen. Ich war gerührt, als sie erzählte, dass sie sich ein eigenes Schlafzimmer wünschte, einen Ort für ihre Kinder, einen Hafen, einen Zufluchtsort, ein Zuhause. Ihre Sehnsucht – eine Sehnsucht, die an diesem Abend in der Turnhalle förmlich greifbar war – war mir wohlvertraut, denn sie spiegelte meine eigene wider. Ich hatte eine ganz besondere Vollkommenheit verspürt, als wir unser Haus bezogen. Überall, wo ich hinschaute, sah ich nicht nur Gegenwart, sondern auch Zukunft: in der Einfahrt, wo mein Sohn, immer noch ein Säugling, einmal Fahrrad fahren würde. Das sonnige Stück Rasen im Garten, wo mein Mann unseren Gemüsegarten anlegen würde. Die Terrasse, auf der wir grillen würden, der Keller, in dem wir Spielzeugeisenbahnen zusammenbauen würden, die nahegelegenen Wälder – diese schützenden, willkommenen Wälder –, in denen wir lange Spaziergänge machen würden.

Gerührt von Almas Träumen stellte ich fest, wie ich ihr heftig die Daumen drückte. Als die Bingotrommel sich leerte und ihr Name noch nicht aufgerufen worden war, machte ich mir mit ihr Sorgen. Doch noch während ich das tat, wurde ich mir der verfahrenen Unreinheit meiner Anteilnahme bewusst. Ich glaubte an das Recht dieser Frau auf ein eigenes Zuhause. Doch was, wenn die Bulldozer dafür ein Grundstück in dem angrenzenden Wald neben meinem Haus planierten?

Diesen gedanklichen Konflikt nahm ich an jenem Abend mit nach Hause. Ich habe ihn während der fünf Jahre, in denen ich recherchiert und geschrieben habe, mit mir herumgetragen. Während dieser Jahre habe ich Freunden und Bekannten das Siedlungsexperiment unzählige Male beschrieben. Fast jeder Zuhörer stellte dieselbe Frage: Hat es funktioniert?

Es ist, wie ich erfahren habe, eine sehr direkte Frage, die jedoch trügerisch ist, da jeder Fragende etwas anderes damit verbindet. Hat es funktioniert? Ist das Viertel den Bach runter gegangen? Hat sich das Leben der neuen Bewohner auf der Ostseite der Stadt verbessert? Sind die Immobilienwerte gefallen? Ist die Kriminalitätsrate gestiegen? Haben die Alteingesessenen gelernt, die Zugezogenen zu akzeptieren? Haben sie sich miteinander angefreundet? Hat der Richter irgendwann begriffen, dass er eine falsche Entscheidung getroffen hat? Hat die Stadt irgendwann begriffen, dass er das Richtige getan hat? Waren die Ergebnisse zehn Jahre und 42 Millionen Dollar wert? Hat Yonkers Modellcharakter für den Rest des Landes? Oder ist es ein Beispiel für gute Absichten, die schiefgelaufen sind? Hat es funktioniert?

Angesichts dieses Spektrums an Fragen musste ich mir die Kernfrage zunächst selbst beantworten: Was meinte ich selbst mit »Hat es funktioniert?«? Wohin schaute ich bei der Entscheidung, ob dieses groß angelegte Experiment ein Fehlschlag oder ein Erfolg war? Ein Luxus des Journalismus ist die Distanz – die Fähigkeit zu beobachten, aufzuzeichnen und zu beurteilen, und dann weiterzuziehen. Doch das Gefühl von Zuhause, das mich überhaupt erst zu dieser Lotterie geführt hatte, schränkte diese Freiheit gleichzeitig ein, und ich fragte mich, wie mein Fazit aussehen würde, wenn ich nicht weggehen könnte.

Mit der Zeit bin ich dazu übergegangen, die Frage als eine anzusehen, die aus zwei gegensätzlichen, aber miteinander verwobenen Strängen besteht: Hat es für die Zugezogenen funktioniert? Und hat es für die funktioniert, die bereits dort wohnten?

»Es geht nur um das Zuhause-Gefühl«, habe ich geantwortet, »ob die Zugezogenen das Gefühl haben, wirklich angekommen zu sein. Und ob die Alteingesessenen die Vollkommenheit ihres Heims nicht verloren haben. Dann hat es funktioniert.«

Das war der Maßstab, der mich bei meinem Bericht geleitet hat, ein Maßstab, an den ich oft denke, wenn ich aus meinem Fenster schaue, hinaus zu den Bäumen. Hat es funktioniert? Hat es Alma einen Ort gegeben, an dem sie ihre Träume verwirklichen konnte?

Und das, ohne die Träume der anderen zu zertrampeln, die genauso innig sind und bereits Wurzeln geschlagen hatten? Hat es den Zugezogenen die Chance gegeben, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen, während es gleichzeitig den Nachbarn erlaubte, an ihrer eigenen festzuhalten? Hat es ein paar Glücklichen einen Ort der Sicherheit in dieser Welt geschenkt? Und hat es das getan – ist es möglich, das zu tun –, ohne den Schutz und die Isolation durch die Wälder zu zerstören?

Westchester, New York, September 1998

Prolog, 1992

Die Rohrbombe war so klein, wie Rohrbomben nur sein können, doch man hörte die Explosion noch einige Blocks weiter – ein scharfer Knall, als reihenweise fabrikneue Fliesen zu einem Haufen rasierklingenscharfer Scherben zusammenfielen. Nachbarn, die gerade eingeschlummert waren, fuhren aus ihrem Schlaf hoch. Familienmitglieder, die dabei waren, sich bettfertig zu machen, schauten sich zuerst fragend an, dann mit der Gewissheit, dass sie die Antwort kannten. »Ich vermute, jemand hat versucht, die neue Siedlung in die Luft zu jagen«, sagte ein Mann witzelnd zu seiner Frau. Doch es war kein Witz. Genau das hatte jemand versucht.

Jeder hörte den Knall, doch nur einer rief die Polizei. Die Zentrale entschied, dass es ein Problem mit einem Trafo war, also schwiegen die Sirenen und es gab keine nächtliche Suche. Am nächsten Morgen kamen die Bauarbeiter bei der ausgedehnten Baustelle an, die einmal der überwucherte Sportplatz einer stillgelegten Schule gewesen war und auf der nun die fast fertigen achtundvierzig creme- und zitronenfarbigen Reihenhäuser standen. Angesichts des Schadens riefen auch sie die Polizei, die das Gelände zügig mit schwarz-gelbem Band absperrte und die beschädigten Häuser nach Hinweisen absuchten.

Schon bald erschien das FBI und das Federal Marshal’s Office. Das Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms. Das Bombenentschärfungs-Kommando von Westchester County. Der Leiter der Municipal Housing Authority, des städtischen Amts für Wohnungswesen von Yonkers. Diverse Politiker, die kamen, verkündeten: »Wir haben es ja gleich gesagt.« Die Baustellenstraßen waren noch nicht asphaltiert, weswegen jeder eintreffende Beamte durch tiefen, roten Matsch waten musste, der den Plänen des Architekten zufolge einmal ein winziger Vorgarten werden sollte. Sie standen im Dreck vor Hausnummer 120, erleichtert darüber, dass das Reihenhaus immer noch stand.

Die Rohrbombe war auf dem äußeren Fenstersims eines Badezimmers im Erdgeschoss platziert worden, das erst vor wenigen Tagen verfugt worden war. Das Fenster war herausgeschleudert worden, die Fensterbank verbrannt und kaputt, die Fliesen auf dem Boden und den Wänden zerschmettert, und eine Spiegeltür des Medizinschrankes war aus den Angeln gehoben. Noch dreißig Meter entfernt fand man Teile der Bombe. Doch am beängstigendsten waren nicht die verursachten Schäden, sondern die potentiellen. Keine anderthalb Meter neben der Bombe befand sich eine offene Gasleitung. Sie war nicht in Betrieb. Doch das hatte der Bombenleger nicht wissen können.

Die Menge wuchs, wie immer in Yonkers. Einige der Schaulustigen waren Hausbesitzer aus der Nachbarschaft, die die Explosion gehört hatten. Andere waren nur neugierig, angezogen von den blitzenden Blaulichtern. Sie waren von Anfang an gegen diese Gebäude gewesen – hatten nicht Teil dieses richterlich aufgezwungenen sozialgeschichtlichen Experiments werden wollen. Ein paar waren froh über die Bombe und machten auch keinen Hehl daraus. Vielleicht würde es das erreichen, was ihre jahrelangen Proteste nicht erreicht hatten, und das Wohnungsprojekt würde im wahrsten Sinne des Wortes zu Staub zerfallen. Doch die Hoffnung wurde schnell von Angst ausgelöscht. Jeder Impuls der Häme wurde von der schonungslosen Realität der Bombe eingedämmt, die nur ein paar Blocks von ihrem Heim in die Luft gegangen war.

Irgendwann machten die Arbeiter Mittagspause. Doch alle anderen blieben den Großteil des Tages. Die Behörden suchten. Die Politiker redeten. Und die Nachbarn standen hinter dem extra hohen Sicherheitszaun und starrten.

Teil Eins

DIE EXPLOSION

1988 – 1991

1988

Der jüngste Bürgermeister Amerikas

Nicholas Wasicsko hatte schon immer Bürgermeister von Yonkers werden wollen. Aufgewachsen in einem Zweifamilienhaus auf der Westseite – der falschen Seite – des Saw Mill River Parkway, war er keiner von denen, die die Flucht auf die Ostseite im Auge hatten. Stattdessen schaute er noch weiter Richtung Westen, zum historischen Kirchturm des Rathauses. Intelligent, forsch und selbstbewusst, ließ Nick die anderen Mittelschicht-Kids seines Viertels weiterträumen. Er selbst hatte Pläne.

Sein Bruder und er hatten beide bei einem Meter siebzig aufgehört zu wachsen, was sie allerdings nicht davon abhielt, ihre Jugendjahre auf dem Basketballplatz eines nahegelegenen Schulhofes zu verbringen. Während eines spontanen Spiels erwähnte Nick nebenbei, dass er eines Tages Chef der Stadt sein würde. Im Anschluss daran wurde er monatelang auf dem Basketballfeld »The Mayor«, der Bürgermeister, genannt. Über die Zeit nutzte sich der Witz ab und geriet irgendwann in Vergessenheit – bei allen außer Nick.

Er erkannte schon früh sein Talent, stets dafür zu sorgen, dass alles nach seiner Nase lief – ohne genau zu wissen, wie er das anstellte. Im Alter von zehn überredete er die anderen Zeitungsjungen in seiner Nachbarschaft, ihm ihre Routen zu überlassen, und als er die Kontrolle über einen großen Teil des Territoriums erlangt hatte, heuerte er noch jüngere Jungs an, um die Zeitungen auszuliefern, und steckte die Differenz ein. Im Alter von dreizehn hatte er sein eigenes Scheckkonto, doch da er noch minderjährig war, musste es von seiner Mutter, einer schulischen Hilfskraft, und seinem Vater, einem Fabrikarbeiter, mitunterzeichnet werden.

Er finanzierte sich vier Jahre am Manhattan College mit Jobs in einer Carvel-Fabrik in der Nähe des Flusses. Zu Anfang fuhr er einen Kühllaster, doch schon bald hatte er sich die Leiter hoch geredet, saß in einem Stuhl und sagte übers Mikrofon anderen Arbeitern, was sie in welchen Lastwagen laden sollten. Er sparte auf das Jurastudium an der New York University, indem er als Polizist im Westchester County arbeitete. Die bösen Jungs zu bekämpfen, brachte nicht so viel ein, wie Eiscreme zu verladen, und er musste ein Darlehen über mehrere Zehntausend Dollar aufnehmen, um die Differenz auszugleichen, doch sein Bild in Uniform vor einem Streifenwagen, argumentierte er, wäre seiner politischen Karriere mit Sicherheit hilfreich.

Diese Karriere nahm 1985 volle Fahrt auf, als er einen Sitz im Stadtrat mit der bewusst vage gehaltenen Wahlkampagne »Don’t get mad, get a new councilman« – »Nicht die Haare raufen, sondern einen neuen Mann in den Rat wählen« gewann. Er war sechsundzwanzig Jahre alt und hatte ein Milchbubigesicht, das er mit einem Schnauzbart zu kaschieren versuchte. Trotzdem sah er um Jahre jünger aus, als er wirklich war. Als er gewählt wurde, war er noch nicht mit dem Jurastudium fertig und wohnte noch immer bei seiner Mutter, was zu dem Image eines Jugendlichen beitrug, der ins Rathaus einzieht.

Als Ratsmitglied tat er nicht viel, schaute und hörte in erster Linie zu, lernte und plante. Dann, zwei Jahre später, nur fünf Tage nachdem er das New-York-State-Staatsexamen geschafft hatte, stand er auf der Fußgängerbrücke über dem Saw Mill und verkündete, dass er sich nicht wieder in den Rat wählen lassen wolle. Er kandidierte stattdessen für das Amt des Bürgermeisters.

Oberflächlich betrachtet, war es keine rationale Entscheidung – weniger die Kandidatur eines Achtundzwanzigjährigen, sondern eher die eines zehnjährigen Jungen, der schon immer Bürgermeister hatte werden wollen. Einerseits hatte das Amt des Bürgermeisters 1987 eher symbolische Funktion – eine erstklassige Plattform, um seine Meinung kundzutun, ohne echten, administrativen Einfluss, ein heißer Stuhl, dem genauso viel Beachtung geschenkt wie ihm Schuld zugewiesen wurde. Es war der City Manager, der der Leute einstellte und entließ, der den Haushalt aufstellte und die Schecks unterzeichnete. Trotz seiner scheinbar führenden Position war der Bürgermeister streng genommen nur einer von vielen im Stadtrat. Er hatte eine Stimme, wie jeder andere auch, doch er durfte den Hammer halten.

Mit 35.914 Dollar im Jahr hielt man es für einen Halbtagsjob, der normalerweise von einem der etablierteren Männer übernommen wurde, geschäftlich erfolgreich, die es auf ein prestigeträchtiges Sahnehäubchen ihrer Karriere abgesehen hatten. Nicks Gegner, Angelo Martinelli, war ein Republikaner und genau so ein Mann – ein millionenschwerer Verleger, der den Posten des Bürgermeisters in den vergangenen vierzehn Jahren zwölf Jahre lang innegehabt hatte. Als Nick ankündigte, dass er den historisch gewachsenen Kandidaten und all dessen Geld herausfordern würde, nahm ihn keiner ernst. Obwohl Martinelli Republikaner war, kam er wunderbar mit dem fest verwurzelten Parteiführer der Demokraten aus, so dass selbst Nicks eigene Partei nicht wirklich hinter seiner Kandidatur stand. Beide, Nick und Martinelli, hatten ähnliche Wahlergebnisse, mit einer Ausnahme – einer sehr wichtigen Ausnahme –, deren Bedeutung den beiden erst im späteren Verlauf der Wahlkampagne klarwurde.

Zuerst versuchte Nick das Rennen als Referendum zwischen Jugend versus Alter darzustellen. Doch man konnte den neunundfünfzigjährigen Martinelli nicht gerade als Greis bezeichnen, und der Versuch ging in die Hose. Dann versuchte Nick Martinelli als explosiv und streitsüchtig darzustellen, doch in Yonkers werden solche Eigenschaften nicht notwendigerweise negativ gesehen, also funktionierte auch das nicht. Schon bald begann das Lokalblatt von Nicks »naivem Enthusiasmus« zu sprechen. Er war ein Kandidat, der dringend ein Thema brauchte.

Der Sommer kam, und Nick hatte 5.170 Dollar an Spenden eingenommen. Martinelli 67.388 Dollar. Die Organisation des Wasicsko-Wahlkampfes war so schlank, dass sie fast unsichtbar war, und bestand aus Nick, seinem Bruder Michael und Jim Surdoval, einem jungen Politik-Berater, der Nick beim erstem Rennen um den Sitz im Rat unterstützt hatte. Die Truppe bestand nur aus Generälen ohne Soldaten. Sie erledigten alles selbst.

»Sollte der Kandidat nicht eigentlich anderen Leuten sagen, dass sie diesen Kram erledigen sollen?«, fragte Michael eines Nachts um zwei Uhr, als sie in einem rund um die Uhr geöffneten Copyshop Kaffee tranken, wo sie Tausende von Flyern kopierten und falteten.

»Wir sind das Volk«, sagte Nick und schlug mit einem Flyer »Wasicsko for Mayor« nach seinem Bruder.

Die Tage waren genauso einsam. Jeder im Rathaus dachte, dass Nicks politische Karriere bald vorüber sei, also hielten sie sich auf Abstand und er hatte oft das Gefühl, niemand im ganzen Gebäude würde mit ihm reden. Die einzige Person, die durchgängig freundlich zu ihm war, war eine der Sekretärinnen, Nay Noe, eine junge Frau aus Ecuador mit einem philippinischen Namen. Mit ihren zwanzig Jahren war Nay eine der wenigen im Rathaus, die noch jünger waren als Nick, und sie fühlte sich dort nicht richtig wohl. Politik interessierte sie wenig, sie war in diesem Job gelandet, weil sie damals noch jeden Sonntag in die St. Peters Church ging. Als Harry Oxman, der stellvertretende Bürgermeister, Father Duffell fragte, ob er eine zweisprachige Sekretärin kennen würde, schlug der Priester Nay vor.

Sie hatte die Stelle als Sekretärin des Stadtrates kurz nach dem Beginn von Nicks Bürgermeister-Kandidatur angetreten, und zuerst empfand sie seine Abschottung als Arroganz. Mit der Zeit jedoch begann er, ihr leidzutun. Sie sah, wie hart er in seiner trostlosen Bürozelle arbeitete, wie er alle Anrufe seiner Wähler beantwortete und – im Gegensatz zu einigen anderen Mitgliedern des Stadtrates – seine sämtlichen Briefe selbst schrieb, anstatt dies von den Sekretärinnen zu erwarten. Trotz ihres scheinbar arglosen Gesichts und der unschuldigen braunen Augen nahm Nay alles genau wahr und wusste, was Nick nur vermutete – dass er bei Konferenzen außen vor gelassen wurde und er gezielt nichts über Ereignisse erfuhr, die seinem Wahlkampf hilfreich sein könnten. Sie fing an, ihn als »einsamen Cowboy, der allein in der letzten Reihe sitzt« zu sehen. Vielleicht, entschied sie, interessierte sie Politik letztendlich doch.

Eines Abend, als alle wachsamen Augen das Rathaus verlassen hatten, ging Nay in Nicks Büro und sagte: »Meine Eltern haben ein Haus an der Pier Street. Möchten Sie ein Wahlplakat an unserem Haus befestigen?«

Einige Tage später schickte er Michael mit einem Plakat vorbei. Bei ihrem nächsten Besuch in seinem Büro war sie mutiger und fragte: »Brauchen Sie Hilfe bei Ihrem Wahlkampf?«

Sie verbrachten einen Teil des Abends vor dem Shoprite an der Riverdale Avenue, wo Nay zusah, wie Nick Fremden die Hände schüttelte. Sie war verzaubert von seinem Enthusiasmus, wenn er auf Kunden zuging und ihnen manchmal sogar ihre Einkäufe zum Wagen trug, wenn das bedeutete, dass sie einige Minuten seinen Ideen zuhörten. Schon bald waren es nicht mehr Michael, Nick und Jim, sondern Michael, Nick, Jim und Nay.

Das Quartett arbeitete hart und deckte jeden Teil der Stadt ab. Nick bestand sogar darauf, in die Sozialbausiedlungen zu gehen, trotz der Tatsache, dass die Wählerbeteiligung dort viel niedriger war als in anderen Teilen der Stadt. Nay kam manchmal mit und übersetzte für die spanischen Bewohner. Häufiger jedoch ging Nick allein. Seine einzige Begleitung war seine Entschlossenheit – und ein Revolver Kaliber .38, den er stets an sein Fußgelenk geschnallt trug, eine alte Angewohnheit aus seiner Zeit als Cop.

Doch es war nicht seine harte Arbeit, die mitten im Sommer eine Kehrtwende im Wahlkampf zur Folge hatte. Es war Judge Leonard B. Sand, dem der Geduldsfaden riss.

Die Klage vor dem Bundesgericht, Aktenzeichen 80 CIV 6761: Die Vereinigten Staaten von Amerika und das Regionalbüro der National Association for the Advancement of Colored People, et al., GEGEN The Yonkers Board of Education, die City of Yonkers und die Yonkers Community Development Agency, war 1980 eingereicht worden, als Nick Wasicsko noch Eiscreme-Lieferwagen fuhr und aufs College ging. Obwohl es bald sein Leben zerschmettern und seine Stadt neu definieren sollte, schenkte er dem Fall damals wenig Beachtung. Genauso wenig wie die meisten anderen Leute in einflussreichen Stellungen in Yonkers. Sie waren sich sicher, dass man sich mit diesem Problem – wie mit den vielen anderen irritierenden Problemen – nie auseinandersetzen müsste, sondern dass die verschwänden, wenn man sie ignorierte.

Über die Zeit begann U.S. vs. Yonkers für alles zu stehen: Rasse. Klassenunterschiede. Nachbarschaft. Den amerikanischen Traum. Doch damals wurde es als »nur ein weiterer Versuch« gewertet, die Rassentrennung aufzuheben, wenngleich mit einem speziellen Dreh. Ausgehend 1980 vom Justizministerium, dem sich kurz darauf das NAACP anschloss, wurde Yonkers beschuldigt, dass in der Stadt die Hautfarbe für die Wohnlage und die Qualität der Schulbildung ausschlaggebend sei, ein Vorwurf, der in den späten 1970ern vermehrt und mit unterschiedlichem Ausgang erhoben wurde. Dieser Fall jedoch hörte an diesem Punkt nicht auf. Die Klägerpartei stellte die bisher nie da gewesene Behauptung auf, dass der Grund für die Rassentrennung an den Schulen in Yonkers die nach Rassen getrennten Wohnsiedlungen seien. Die Kinder von Schwarzen und Lateinamerikanern würden die gleichen Schulen nur besuchen, weil ihre Familien gezwungen wären, in bestimmten Gegenden zu leben – und mit jeder juristischen Verfügung, etwas an den Schulen zu verändern, hätte man auch die Bevölkerungsanteile in den Wohnvierteln verändern müssen.

Das Losverfahren, das die Fälle an die Bundesgerichte verteilte, gab diesen Fall an Judge Leonard B. Sand weiter, der Experte für Steuerrecht gewesen war, bevor Präsident Jimmy Carter ihn zum Richter ernannt hatte. Ein zurückhaltender, elfenhafter Mann mit silbernem Haar und den buschigen Augenbrauen eines Zauberers. Er hätte keinen größeren Kontrast zu der lärmenden und emotionalen Stadt darstellen können, deren Zukunft er nun formen sollte. Sand hatte in die mächtige Familie Sulzberger eingeheiratet, denen die New York Times gehörte. Als langjähriger Partner der erfolgreichen Rechtsanwaltskanzlei Robinson, Silverman, Pearce, Aronson, Sand and Berman war er selbst ein reicher Mann. Geld jedoch spielte in seiner Welt eine weit geringere Rolle als Ideen und Gedanken. Sand war ein intellektueller Richter, ein Kopfmensch, der in Argumenten schwelgte. Wenn er nicht bei Gerichtsverhandlungen den Vorsitz führte, stapfte er in seinen ausgetretenen Lederslippern durchs Büro und redete mit seinen Sachbearbeitern über Rechtsangelegenheiten wie andere über Börsenkurse, Soap Operas oder Sport. »Also, folgendes Rätsel …«, pflegte er zu sagen und stellte eher Fragen, als dass er seine Meinung sagte, wälzte Gedanken in seinem Hirn umher, spielte mit Worten, entzückt über dieses mentale Training – das Gesetz als akribisch geplantes Puzzle.

Um dieses Puzzle, dieses Rätsel zu lösen, nahm sich Sand des Falles Yonkers persönlich und auf Bitten beider Seiten ohne eine Jury an. Die Gerichtsverhandlung dauerte fast zwei Jahre, von 1983 bis 1984: 93 Tage, 84 Zeugen, 140 eidesstattliche Aussagen, Tausende von Beweisstücken. Am Ende war klar, dass die Schulen der Stadt nach Rassen getrennt waren: bei dreiundzwanzig der vierunddreißig öffentlichen Schulen lag der Anteil entweder der Minderheiten oder der Weißen bei über 80 Prozent. Ebenfalls außer Frage stand, dass im Wohnungswesen Rassentrennung herrschte: im südwestlichen Quadranten, in dem der öffentliche Wohnungsbau 97,7 Prozent ausmachte, wohnten auch 80,7 Prozent der Minderheiten der Stadt.

Es war jedoch nicht Sands Aufgabe zu entscheiden, ob es in Yonkers Rassentrennung gab, sondern warum dem so war. Wie es dazu kam, dass in dieser Stadt mit einer Fläche von über fünfzig Quadratkilometern und 188.000 Einwohnern – einer Stadt kaum größer als Little Rock oder Dayton – die gesamte Minderheiten-Bevölkerung auf rund drei Quadratkilometern lebte. Warum der Saw Mill River Parkway, die gewundene, schattige Straße, die den Osten vom Westen trennte, zu einer Art Barriere geworden war – die weiße Arbeiterklasse im Osten und die Schwarzen, Latinos und Mittellosen im Westen. Wenn dies reiner Zufall war, dann gäbe es nichts Falsches, was wieder geradegebogen, kein Schaden, der ungeschehen gemacht werden müsste. Doch wenn es Absicht war, ein Ergebnis bewusster Entscheidungen seitens der Stadt, dann könnte Yonkers zu dramatischen, schwerwiegenden, historisch einmaligen Wiedergutmachungen gezwungen werden.

Sand entschied, dass es kein Zufall war. Yonkers sah so aus, entschied er, weil seine Politiker, die die lautstarken Ostseiten-Wähler vertraten, es genau so wollten. Seine Entscheidung führte er in einer 657-seitigen Urteilsbegründung aus, die längste, die er jemals geschrieben hatte; sie wog anderthalb Kilo, enthielt 166 Fußnoten, fünf Stadtpläne und fünf Anhänge. Als im November 1985 das Paket mit den erforderlichen Duplikaten für das Gericht angeliefert wurde, war es zu schwer, um es anzuheben, und musste in einem Einkaufswagen von Raum zu Raum gerollt werden.

Der Großteil des Gewichts resultierte aus der chronologischen Beschreibung eines in Sands Augen seit vierzig Jahren bestehenden Musters: Für den sozialen Wohnungsbau wurden potentielle Grundstücke auf der weißen Ostseite vorgeschlagen. Daraufhin erschienen aufgebrachte Bewohner zuhauf auf den Sitzungen des Stadtrates – 500, 700 und teilweise sogar 1000 Menschen. Die Ratsmitglieder ordneten eine erneute Suche nach Baugrundstücken an, und irgendwann wurden die Wohnungen auf der Südwestseite gebaut, wo hauptsächlich Minderheiten wohnten.

In Sands Augen war es noch nicht einmal eine knappe Entscheidung. Es gäbe, so schrieb er in dem subtilen, aber unnachgiebigen Ton eines Richters, keine »Basis für einen Zweifel daran, dass die Stadtfunktionäre sich darüber bewusst waren, dass sie einen klaren Kurs der Rassentrennung fuhren … Es ist, gelinde gesagt, äußerst unwahrscheinlich, dass ein Muster subventionierten Wohnraumes, das den überwältigenden weißen Charakter von Ost-Yonkers erhält, aus Gründen geschieht, die mit den verschiedenen Rassen nichts zu tun hätten.« Dies gesagt, befahl er den Einwohnern von Yonkers, ihre Landkarte neu zu zeichnen, das Puzzle wieder neu zusammenzusetzen und ihr Selbstbild zu überarbeiten. Er ordnete an, einen Teil der in Armut lebenden Minderheitenbevölkerung aus der Minderheitengegend heraus in Sozialbauten umzusiedeln, die nur für sie gebaut würden, und zwar in den Bezirken der weißen Mittelschicht von Yonkers.

Als Sand zum ersten Mal diese Maßnahmen anordnete, war Nick gerade ein brandneues Mitglied des Stadtrates und die meiste Zeit nur Beobachter der Schlagzeilen und des Händeringens der Beteiligten. Der Stadtrat stimmte ab, gegen die Entscheidung in der nächsten Instanz Berufung einzulegen. Nick stimmte dafür. Martinelli stimmte dagegen. Danach wurde das Problem über einen langen Zeitraum als gelöst betrachtet – es würde früher oder später in den Mühlen des Rechtssystems verschwinden wie schon so viele Probleme vorher. Es gab noch letzte Ausbrüche der Empörung vonseiten der Bürger (»Wir haben noch nie jemanden diskriminiert!«) und der Abwehrhaltung (»Warum wirft uns der Richter eine Entscheidung vor, die vor vierzig Jahren gefällt wurde?«), doch so gut wie keine Selbstreflexion (»Hat unsere Politik Schaden verursacht?«) sowie wenig Besorgnis, dass die neuen Häuser jemals gebaut würden. Aus Sicht der Ratsmitglieder und Wähler hatte Sands Entscheidung nichts mit ihrem Yonkers zu tun.

Grund dafür war, dass die überwältigende Mehrheit trotz all der schwerwiegenden Beweise und Einblicke eine Sache übersah. Die zentrale Tatsache. Die der Schlüssel zu allen anderen war: Dass Yonkers nämlich nur wie eine Stadt aussieht. Doch sie handelt wie achtunddreißig separate Städte, oder bestenfalls wie eine lockere Konföderation von Bezirken, ein jeder singulär, selbstorganisiert und stolz. Dunwoodie, Seminary Heights, Wakefield Park, Kimball – die Heimatbezirke der Sekretärinnen, Busfahrer, Lehrer, Polizisten. Lawrence Park West, Sunnyside Park, Beech Hill – einige der Häuser sind Villen, in deren Nähe sogar Rehe gesichtet wurden. Runyon Heights – das einzige schwarze Mittelschicht-Viertel der Stadt. Fleetwood – voller Genossen und junger Fachkräfte. Locust Hill – seit vielen Jahren das ungarische Viertel. Byrn Mawr, Woodstock Park – meist schottisch und irisch. Park Hill – Italiener. The Hollows – Slowaken, Russen, Polen und Ungarn.

Sand erkannte das, doch er verstand es nicht – nicht auf die intuitive, organische, halsstarrige Weise wie die Leute von Yonkers. Er sah die Cliquenbildung als die übliche Art zu leben an, bis die Leute merkten, wie sie besser lebten. Geboren 1928, verbrachte Sand die ersten sechs Jahre in der Bronx, in einer Wohnung so nahe am Yankee-Stadion, dass er von seinem Bett aus das Krachen des Schlägers gegen den Ball hören konnte. In seiner Nachbarschaft wohnte die jüdische Arbeiterklasse. Drüben in der Fordham Road war fast jeder katholisch. Richtung Osten war ein Abschnitt, der Brooke Avenue genannt wurde, und die irischen Kids, die dort lebten, waren »die Brookies«, erinnerte er sich, und »manchmal kamen sie rüber und wir kloppten uns«.

Nach dem Schulabschluss ging er auf die New York University School of Commerce, die damals im Grunde eine Handelsschule war, und verließ sie mit einem Abschluss in Buchhaltung. Wäre es eine ideale Welt gewesen und hätte er das Gefühl gehabt, eine Wahl zu haben, hätte er einen anderen Weg eingeschlagen. »Ich wäre sehr gern auf die Columbia gegangen«, sagte er, ein Ort, der in seinen Augen für die lyrische Welt der Literatur und Worte stand, anstatt sich in die eher praktische Welt der Bilanzen und Zahlen zu begeben. Doch es war auch eine Zeit der Quoten und des Antisemitismus, also machte sich der jüdische Junge aus der Bronx noch nicht einmal die Mühe, sich zu bewerben. Dass sein Leben sich wunderbar entwickelte – der NYU folgte die juristische Fakultät von Harvard und die Partnerschaft in einer angesehenen Kanzlei –, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch anders hätte kommen können.

Also befahl er Yonkers, es besser zu machen. Seine Wohnviertel, seine Enklaven, seine sicheren, ethnischen Nischen zu öffnen. Außenseiter hineinzulassen und ihnen eine Chance zu geben, ihr Leben zu verändern. Nach der idealen Welt zu streben, in der niemand sich zurückgesetzt fühlt, bevor er überhaupt die Möglichkeit hat, es zu versuchen. Er sah in seiner Entscheidung keinen »juristischen Aktivismus«, obwohl die Meinungen da auseinandergingen. Auch sich selbst hielt er nicht für einen Aktivisten, obwohl andere auch diesbezüglich anderer Meinung waren. Nein, sagte er, er hatte nicht mit einer Schlussfolgerung begonnen und sich dann von dort aus zu einer Rechtfertigung dieses Ergebnisses zurückgearbeitet. Er hatte mit den Fakten begonnen und war diesen Fakten zu dem einzigen Ziel gefolgt, das er vernünftigerweise erreichen konnte. Dort angekommen, empfand er es als eine runde Sache. Es war die logische, rationale und richtige Entscheidung.

Die Bürger von Yonkers sahen das jedoch vollkommen anders. Ihre abgetrennten Bezirke, die Sand als Einschränkungen wahrnahm, sahen sie als Stärke. Sie sahen ihre Barrieren und Grenzen weniger als Maßnahmen, andere auszugrenzen, sondern eher als eine Form, sich selbst zu definieren, eine Zugehörigkeit zu besitzen, einen Ort, an dem sie verwurzelt waren, die Sicherheit, wer sie waren und wo sie standen. Diejenigen, denen diese Trennung Sicherheit gab, waren nicht der Ansicht, dass sie Rassisten seien. Sie seien es vielleicht einmal gewesen, und einiges von dem, was sie gesagt hatten, könnte man vielleicht so interpretieren, doch sie bestanden darauf, dass es keine Frage von Schwarz oder Weiß sei. Sie bräuchten keine Nachhilfestunde in Diskriminierung, sagten sie, denn wenn man Italiener, Ire oder Pole war, wäre die Kindheit voller Geschichten von Großeltern gewesen, die wegen ihres Akzents und ihrer Namen weder Arbeit finden konnten noch respektiert wurden. Und aus der Bronx bräuchten sie auch keinen Unterricht. Viele von ihnen hätten auch in Ballwurfnähe des Yankee-Stadions gelebt – noch gar nicht so lange her, wie es bei Sand der Fall war –, und als der Stadtteil zum Wahrzeichen des menschlichen Verfalls wurde, seien sie nach Yonkers geflüchtet. Hier ginge es nicht um Rassen, sagten sie. Es ginge um ihren Stolz, die Barrieren überwunden zu haben, die dieses Land allen Neuankömmlingen vor die Nase setzte, und über das Leben, das sie sich aufgebaut hätten – bescheiden vielleicht, aber ihr eigenes. In erster Linie ging es um ihre Angst, dass jemand versuchen würde, es ihnen wegzunehmen.

1987, als Nick Wasicsko entschied, für das Amt des Bürgermeisters zu kandidieren, war Yonkers in Sachen Neubausiedlungen genauso weit wie noch vor zwei Jahren, als sie angeordnet worden waren. Der Richter übte sich in Geduld und erlaubte der Stadt, die Einzelheiten der Pläne auszuarbeiten: Wie viele neue Wohneinheiten, wo und zu welchem Zeitpunkt sie gebaut werden würden. Doch nachdem unzählige richterliche Deadlines gesetzt und verstrichen waren, gestattete Sand stattdessen dem Justizministerium und dem NAACP, die Details auszuarbeiten. Mit ihrem Einverständnis ordnete er an, dass Yonkers auf der Ostseite zweihundert Sozialwohnungen für einkommensschwache Bevölkerungsgruppen schaffen müsse und achthundert subventionierte Wohneinheiten für mittlere Einkommensgruppen. Er versuchte, immer noch geduldig zu sein, und forderte die Stadt auf, ihm eine Liste von ausgewiesenen Baugrundstücken zur Verfügung zu stellen. Weitere Fristen wurden ignoriert. In Yonkers ging man offenbar davon aus, dass diese Hinhaltetaktik auf ewig funktionieren würde.

Doch kurz bevor Nick mit seinem Wahlkampf begann, entschied Sand, diese Annahme zu erschüttern. Er setzte fest, dass ein externer Berater die Auswahl treffen sollte, da es der Stadtverwaltung offensichtlich zu schwer fiele, passende Grundstücke zu finden. Der Stadtrat führte eine landesweite Suche durch, was eine Weile dauerte, und interviewte dann diverse Kandidaten, was noch länger dauerte. Am Valentinstag, nur Stunden vor der Deadline des Richters, und zu Sands großer Überraschung, wurde der geforderte Berater tatsächlich ausgewählt.

»Sie haben mich mit der Erwartung angeheuert«, sagte Oscar Newman Jahre später über seinen Vertrag von 160 Dollar die Stunde, »dass ich scheitern würde.«

Newman witzelt immer noch, dass er den Job bekommen hätte, weil er mit seinem markanten Backenbart dem Richter Robert Bork in nennenswerter Weise ähnelte, dessen konservative Ansichten nicht so wirkten, als würde er richterlich angeordnete Sozialbauten gutheißen. Sehr wahrscheinlich hatten die Ratsmitglieder nicht weiter gesehen als bis zu dem zweiten Foto auf dem Einband seines Buches Defensible Space, ein Foto, das ein Sozialbauprojekt in St. Louis zeigt, das wortwörtlich in die Luft gesprengt worden war. Die Politiker, die ihn interviewten, glaubten hinterher, dass er die Pläne des Richters, mit denen der ihre Wohnviertel beschmutzen wollte, genauso in die Luft jagen würde.

Wenn es das war, was sie erwartet hatten, so wurden sie überrascht. In Defensible Space geht es darum, Architektur einzusetzen, um menschliche Verhaltensmuster zu verändern, und Yonkers war eine Chance für Newman, diese Theorie in einer sehr öffentlichen und breit angelegten Studie zu überprüfen. Als ein Mann mit enormem Weitblick, beachtlicher Präsenz und immensem Ego kamen einem bei Newman Fragen wie diese in den Sinn: Wenn man glaubt, man sei brillant, und man ist es tatsächlich, ist das dann Überheblichkeit oder der klare Blick auf die Wahrheit? In vielerlei Hinsicht Sand vollkommen unähnlich, wurde Newman bald zum engsten Berater des Richters. Sie waren keine Freunde, denn keiner von beiden war der kumpelhafte Typ, doch Sand bewunderte die rohe Kraft von Newmans Ideen, und Newman, obwohl er den Richter für viel zu zurückhaltend hielt, erkannte die Macht der Richterbank und sah in Sands ursprünglicher Entscheidung ein Material, mit dem er arbeiten konnte.

Als es Frühjahr wurde, hatte der Richter Newmans zentrale Philosophie zu seiner eigenen gemacht. Die großen Wohnungsbauprojekte, die für die Ostseite geplant waren, waren schon aufgrund ihres Designs zum Scheitern verurteilt, argumentierte Newman, und wären ein Desaster für beide Seiten, die Bewohner der Sozialbauten und ihre umliegende Gemeinde. Die Zukunft des öffentlichen Wohnungsbaus läge in einem Modell, glaubte er, das er »verstreute Baugrundstücke« nannte – Einheiten von kleinen Häusergruppen, die sich in die Gemeinde einfügen würden. Es würde keine Gemeinschaftsräume, wie gemeinsame Flure oder Eingänge, geben. Jeder einzelne Quadratmeter, drinnen und draußen, würde privat sein und bestimmten Mietern zugeordnet, was bedeutete, dass jeder Mieter sich verantwortlich fühlte und stolz auf das war, was ihm gehörte. Zu Anfang gefiel diese Änderung des Plans den Stadträten, doch nicht notwendigerweise deshalb, weil sie der zugrundeliegenden Theorie zustimmten. Es würde länger dauern, mehrere Baugrundstücke zu finden (Newmans Plan sah acht vor) als ein oder zwei, was der Stadt mehr Zeit gäbe, die Sache auf die lange Bank zu schieben.

Newman machte die Grundstücke jedoch innerhalb von wenigen Tagen ausfindig. Er mietete auf Kosten der Stadt einen Helikopter samt Piloten, flog im Tiefflug über Yonkers und erstellte eine Karte freier Grundstücke. Er fand sechsundzwanzig Parzellen auf insgesamt über sechzehn Hektar Land. Es war reiner Zufall, sagte er, dass eine dieser Parzellen direkt neben dem Haus eines besonders sturen Ratsmitglieds lag, und ein anderes auf der gegenüberliegenden Straßenseite eines weiteren. Der Stadtrat engagierte auf Kosten der Stadt, für weitaus mehr Geld, ein Team von Rechtsanwälten, das Gesetzeslücken aufspürte und die Bebauung der meisten Grundstücke verhinderte. Newman konsultierte erneut seine Stadtkarte und stellte eine Liste weiterer Baugrundstücke auf. Die Rechtsanwälte suchten wieder in ihren Gesetzestexten und lehnten auch diese Grundstücke ab.

Ab Juli berichtete Newman nicht mehr an den Stadtrat, sondern arbeitete direkt für den Richter. Was als dreimonatiger Vertrag über 55.000 Dollar begann, wurde zu einem zeitlich unbegrenzten Auftrag und einer anwachsenden Rechnung, die von Yonkers beglichen werden musste. In seinem Büro in Great Neck, Long Island, installierte Newman eine separate Telefonleitung; Sand war der Einzige, der die Nummer hatte. In einer öffentlichen Sitzung verkündete Sand, eine »Standleitung« zu Newman zu haben, und Newman nutzte diese Leitung. Einmal rief er Sand mitten aus einer Besprechung mit dem Stadtrat an, um diesem mitzuteilen, dass die Abgeordneten seine Fragen nicht so beantworten würden, wie er das gerne hätte.

Mit Newman an seiner Seite wurde Sands Ton rauer. So war es zum Beispiel Newmans Vorschlag, dass der Richter eine einstweilige Verfügung gegen den Bau von vier privaten Gewerbegebieten erließ, die der Stadt jedes Jahr geschätzte zwölf Millionen an Steuern hätten einbringen sollen. Wenn solch eine Knappheit an Bauland herrschte, tadelte Sand, was sollte dann das Gerede darüber, ein Einkaufszentrum zu bauen? Oder einen Büropark? Die Stadt solle, bitte sehr, zuerst ihren staatlichen Verpflichtungen nachkommen.

Obendrein drohte Sand Yonkers erneut Bußgelder an, diesmal allerdings genauer spezifiziert. Die Bußgelder begännen mit 100 Dollar und verdoppelten sich jeden Tag, warnte er. Bei dieser Rate wäre das gesamte Budget der Stadt von 337 Millionen Dollar innerhalb von zweiundzwanzig Tagen ausradiert.

In dieser eskalierenden Debatte fand Nick Wasicsko sein neues Thema – obwohl er eine Weile brauchte, um das festzustellen. Der Slogan seines Wahlkampfes war eine Variation aus seinem vorherigen Wahlkampf, »Nicht die Haare raufen, sondern einen neuen Bürgermeister wählen«. Jim Surdoval ließ den Slogan auf einige Hundert Gartenschilder drucken, und zu seinem Erstaunen schnappten sich die Bewohner der Ostseite die Schilder, um sie in ihren Vorgärten aufzustellen. Als die Schilder aus waren, fingen die Leute an, sich selbst welche zu malen. Nick war nicht mehr nur ein Kandidat. Er wurde zu einem Anliegen.

Infolgedessen verbrachte er mehr und mehr Zeit mit dem Wahlkampf auf der Ostseite und erinnerte alle an das einzige Wahlversprechen, das ihn von Martinelli unterschied: dafür zu stimmen, gegen Sands Urteil Revision einzulegen. Martinelli glaubte, dass die Sozialbauten unausweichlich waren; Nick glaubte, dass die Stadt und die Wähler eine »zweite Meinung« verdienten.

Als es Herbst wurde und der Aufruhr um die Bebauung zunahm, wurde es immer einfacher für Nick Wasicsko, sich Gehör zu verschaffen. An den letzten Wahlkampftagen kamen ihm die Reden leichter über die Lippen. Er war entspannter, denn er hatte mehr Übung. Außerdem war es hilfreich, dass ihm sein Publikum wirklich zuhörte. Er reiste von einer Veranstaltung zur nächsten, unterstrich seinen Glauben an das Recht, Berufung einzulegen, doch sagte nie wirklich, was er tun würde, sollte die Berufung scheitern. Er wusste, dass er den Gegnern des sozialen Wohnungsbaus den Eindruck vermittelte, auf ihrer Seite zu stehen und ihren Kampf bis zum Tod weiterzuführen. Aber eigentlich wusste er gar nicht, was er tun würde. Er fand, er gäbe einen guten Bürgermeister ab. Er wollte Bürgermeister werden, und das Wohnungsbauprojekt half ihm dabei. Über den Rest würde er sich später Gedanken machen.

Am 3. November 1987 schlug Nicholas Wasicsko Angelo Martinelli mit 22.083 Stimmen zu 20.617.

»Ich habe nicht eine Minute geglaubt, dass ich verlieren könnte«, log er nach der Auszählung gegenüber den Reportern.

Sehr spät am Wahlabend fuhr Martinelli quer durch die Stadt, um Wasicsko zu treffen und das Rennen persönlich zu beenden. Er schüttelte Nick die Hand und sagte: »Die Wähler haben mir eine riesige Last von den Schultern genommen und sie auf Ihre gelegt.«

Öffentliche Umfragen zeigten, dass man Nick wegen seines Standpunktes in Sachen Wohnungsbau gewählt hatte. Und er war nicht der Einzige, der deshalb gewählt worden war. Von jenen Amtsinhabern, deren Ansichten in dieser Frage für moderat gehalten wurden, wurden vier von fünf abgewählt. Obwohl die Bezirke dazu angehalten worden waren, die Repräsentation von Minderheiten zu fördern, war jedes gewählte Mitglied des Rates weiß.

Laut Wählerumfragen hatte Nick nicht deswegen gewonnen, wer er war, sondern wer er nicht war. Er war nicht Angelo Martinelli. Er wusste, dass er nur deswegen gewonnen hatte, doch es war ihm egal, genauso wie es ihm egal war, dass er 20.000 Dollar Schulden aus seinem Studium hatte und einen neuen Job, der ihm nach Abzug der Steuern im Jahr weniger als das einbrachte. Alles, was für ihn zählte, war, dass er mit achtundzwanzig Jahren der jüngste Bürgermeister des Landes war. Er war jetzt nicht nur auf dem Basketballfeld der »Mayor«, sondern auch außerhalb. In ein paar Jahren könnte er den Titel vielleicht in Kongressabgeordneter tauschen, oder in Senator. In der Ferne konnte er schon die Gouverneursvilla und das Weiße Haus sehen.

Das Erste, was Nick nach seiner Wahl tat, war Nay zum Mittagessen einzuladen. Sie waren wie zwei alberne Kinder, jung und kichernd, als sie das Restaurant Louis in Süd-Yonkers betraten, wo sie einer Gruppe Gratulanten in die Arme liefen. Alle Anwesenden wollten Nick die Hand schütteln und ihm auf die Schulter klopfen, als er mit Nay zu seinem relativ abgeschiedenen Tisch in der Ecke ging.

Als die Kellnerin gekommen und wieder gegangen war, blickte Nick über den Tisch hinweg Nay an und bedankte sich. »Ich weiß deine Unterstützung und alles, was du getan hast, sehr zu schätzen«, sagte er. Er fingerte an seinem Schnauzbart herum, wie so oft, wenn er nervös war. Das hörte sich nicht annähernd so locker an, wie er es in seinem Kopf durchgespielt hatte. »Komm und arbeite für mich«, platzte er plötzlich heraus. »Du bist die Einzige, der ich vertrauen kann.«

Eine Woche später nahm sie den Job an. Es war nicht das erste Mal, und würde nicht das letzte Mal sein, dass ihr politischer Instinkt besser war als seiner. Sie verstand genug davon, wie es im Stadtrat lief, um zu wissen, dass sie Harry Oxman, dem Mann, der sie ursprünglich eingestellt hatte, eine Erklärung schuldig war. Als sie dies tat, wurde die Unterhaltung ziemlich hässlich und Oxman warf ihr vor, hinter Nick her zu sein, um ihre eigene Karriere zu fördern. »Das ist es nicht«, antwortete sie. »Ich habe ihm geholfen, weil er mir leidtat. Ich dachte, er würde verlieren.«

Nays Kündigungsschreiben an Oxman wurde am 31. Dezember 1987 wirksam, doch tatsächlich fing sie schon lange vorher an, für Nick zu arbeiten. Er gab ihr die Aufgaben, die, wie er sagte, »Spaß machten«, einschließlich der Planung seines Amtsantritts und der anschließenden Party. Nick wollte es anders machen, er wollte eine Veranstaltung, die Jugend und Energie ausstrahlte, also mietete er ein großes Boot – statt der traditionellen Gala in einem Festsaal –, auf dem man sich am Buffet bedienen und tanzen konnte. Jeden Tag las er vergnügt die wachsende Liste der Gäste, die 150 Dollar pro Person gezahlt hatten, um bei seiner Fete dabei zu sein – Leute, die ihn zu Beginn seines Wahlkampfes nicht kannten, oder so taten, als würden sie ihn nicht kennen. Nach seinem Sieg war es in seinem Büro im Rathaus keineswegs still und einsam, er stolperte förmlich von einer Aufgabe zur nächsten: Anstellung eines neuen City Managers, Verschicken von Pressemitteilungen, die einen »neuen Start« versprachen, voller »frischer Ideen«. Er schmierte den anderen Ratsmitgliedern Honig ums Maul und verbündete sich nicht zwangsläufig mit seinen demokratischen Parteigenossen, sondern bildete eine Koalition aus Demokraten, Republikanern und Konservativen, die gegen die Sozialbauten waren.

Am 28. Dezember erreichte Nick ein Anruf, der alles änderte. Nay hatte ihn ausfindig gemacht und die Rechtsanwälte direkt zu ihm durchgestellt. Es war vier Tage vor Nicks Vereidigung als Bürgermeister, und das United States Court of Appeals for the Second Circuit hatte Nicks Schicksal besiegelt. Es ging um die Revision, auf die Nick seinen Wahlkampf aufgebaut hatte und gegen die Martinelli gestimmt hatte. Sie hatte ein höheres Gericht davon überzeugen sollen, dass Judge Sand seine Grenzen überschritten hätte, und dass die Häuser nicht gebaut werden sollten.

Stattdessen hatte das dreiköpfige Bundesgericht in einer 163 Seiten langen Stellungnahme die Argumente der Stadt einhellig zurückgewiesen. Die Anordnungen von Judge Sand, schrieben sie, lägen »vollkommen innerhalb seines Ermessensspielraums« und die Forderung der Stadt, diese Anordnung rückgängig zu machen, sei »absolut unbegründet«.

Einige Mitglieder des Rates reagierten auf diese Neuigkeit schnell und trotzig. »Wir gehen bis zum Supreme Court«, sagte Nicks grobschlächtiger Parteigenosse Henry »Hank« Spallone, ein früherer Cop aus New York City, der keiner verbalen Auseinandersetzung aus dem Weg ging, dessen politische Ansichten von den Lokalzeitungen als »mittelalterlich« bezeichnet wurden und der mit fast 80 Prozent der Stimmen gewählt worden war.

»Die ganze Sache ist eine Farce«, sagte Charles Cola, ebenfalls ein Demokrat, der seinen Sitz – ganz im Sinne der üblichen, surrealen Politik Yonkers’ – gegen eine Frau verteidigt hatte, die noch bis einen Monat vor der Wahl seine Sekretärin gewesen war.

Die Ratsmitglieder warteten darauf, dass Nick sich ihrer Empörung anschloss, doch der junge, frisch gewählte Bürgermeister war unerwartet still.

»Es ist zu früh, um schon zu sagen, ob die Stadt Berufung einlegen wird«, war alles, was er bereit war zu sagen.

Wahrscheinlich tat er gut daran, seine spontane Reaktion für sich zu behalten, die an ein eigensinniges Kind erinnerte. »Ich kann nicht glauben, was für ein mieses Timing die haben«, beschwerte er sich bei Nay. »Das wird allem einen Dämpfer verpassen, und ich komme nicht mal dazu, ein bisschen Spaß zu haben.«

Es dauerte jedoch nicht lange, und er fühlte sich nicht mehr betrogen, sondern überfordert. Er war achtundzwanzig Jahre alt. Er war noch nie für seine eigene Miete verantwortlich gewesen oder seine eigene Telefonrechnung, und nun war er verantwortlich für das hier.

Er dachte kurz daran, sich der Empörung anzuschließen. Politisch gesehen, wäre es das Naheliegendste. Leg beim Obersten Gerichtshof Berufung ein, dachte er. War das Gericht nicht dazu da? Er war gewählt worden, weil er glaubte, dass die Stadt das Recht dazu hatte, Berufung einzulegen. Warum sollte man da bei einem Mal aufhören? Warum nicht es ganz bis zum Ende durchziehen?

Doch seit dem Tag seiner Wahl zum Bürgermeister hatte ihn das kostspielige Team von Rechtsanwälten, das für die Stadt arbeitete, gewarnt, dass das Second Circuit Court den erfolgten Antrag auf Revision ablehnen würde, und diese Anwälte hatten recht behalten. Jetzt sagten sie ihm, dass es keinen verfassungsrechtlichen Grund für eine Berufung beim Obersten Gerichtshof gäbe. Nick vermutete, dass sie auch in dieser Hinsicht recht hätten. Ein weiteres Mal Berufung einzulegen, würde teuer werden, und die Stadt hatte bereits Millionen dafür ausgegeben, die Sache anzufechten. Wenn sie es täten, riskierten sie außerdem, dass Sand noch wütender wurde. Der Richter würde es als eine verzweifelte Hinhaltetaktik ansehen, was es wahrscheinlich auch wäre, und würde ihnen die angedrohten Bußgelder aufdrücken. Der Schwur, Berufung einzulegen, würde seine momentane Popularität zwar erhöhen. Doch sollte er den Ruin der Stadt riskieren, die zu vertreten er gerade gewählt worden war?

Nur wenige Menschen mussten je in so kurzer Zeit erwachsen werden. In seiner Antrittsrede fünf Tage später erläuterte Nick seine Entscheidung. Yonkers, sagte er, würde der Integrations-Anweisung nachkommen, da »das Gesetz das Gesetz ist«, dem zu beugen der einzige Weg wäre, den ruinösen Strafen zu entgehen. Er sagte nicht, dass er die Entscheidung für richtig hielt, denn das tat er nicht. Er fand es unfair, Hausbesitzer von heute für die diskriminierenden Entscheidungen der politischen Führung vor Jahrzehnten zu bestrafen. Aber unfair oder nicht, der Richter hatte die Macht, ihnen solche Bußgelder aufzuerlegen.

Die Anrufe begannen bereits kurz nach Ende seiner Rede. Sie waren gehässig und brutal, ein kleiner Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte. Nay nahm eine Nachricht nach der anderen entgegen und notierte alles bis auf die Obszönitäten.

»Sagen Sie dem Bürgermeister, er soll sich zum Teufel scheren.« »Sagen Sie dem Bürgermeister, er soll nach Harlem ziehen.« »Wir hätten es besser wissen müssen, anstatt diesem Kind zu vertrauen.«

»Sagen Sie dem Bürgermeister, er ist ein Verräter.« »Ein Lügner.« »Ein Idiot.« »Sagen Sie dem Bürgermeister, er soll zurücktreten.« »Sagen Sie dem Bürgermeister, dass wir ihn wegen Amtsvergehen anklagen werden.«

Nick las all die Nachrichten, antwortete auf keine, und fragte sich, ob er das Richtige getan hatte. Und doch, je höher der rosafarbene Zettelstapel der »Notizen in Abwesenheit« wuchs, umso besser wurde seine Laune. Er hatte Martinelli geschlagen, also würde er auch damit fertig werden. Sein ganzes Leben lang hatte er Leute dazu gebracht, die Dinge so zu sehen wie er. Er musste daran glauben, dass er es auch diesmal schaffte, wo es am wichtigsten war.

Eine Stadt wie keine andere

Städte haben ihre Eigenarten, Verschrobenheiten und Marotten, so charakteristisch und fundamental wie die Menschen, die darin leben. Über Gleichförmigkeit zu lamentieren, die Fast-Food-Ketten und Einkaufszentren mit sich gebracht haben, heißt, das größere Ganze aus den Augen zu verlieren – dass nämlich trotz der Fast-Food-Restaurants und Einkaufszentren es etwas Wesentliches gibt, etwas, das nicht ausradiert werden kann. Der Stolz von Los Angeles, trendy zu sein. Der aufdringliche Chauvinismus von Dallas. Die kratzbürstige Freundlichkeit von Minneapolis. Bereits am Flughafen fühlt sich Las Vegas anders an als Chicago. Selbst mit verbundenen Augen wüsste man wahrscheinlich an irgendeiner Straßenecke, ob man in San Antonio ist oder Salt Lake City.

Kein anderer Ort fühlt sich an wie Yonkers, ungehobelt und schartig, eine Brücke der Arbeiterklasse zwischen den Türmen von Manhattan im Süden und den verhätschelten Hügeln des restlichen Westchester County im Norden. Sein Flussufer, zugestopft mit Lagerhäusern und Fabriken, starrt über den Hudson auf die majestätischen Palisades, die außerhalb der Reichweite neckisch aufragten. Die Yonkers Raceway, eine riesige, aber verwahrloste Trabrennbahn, die immer kurz davor steht, dichtzumachen, ist das erste Wahrzeichen, was der Besucher sieht, der sich über den New York State Thruway nähert. Es ist eine treffende Begrüßung.

Obwohl Yonkers Großstadtmaße besitzt, wird getratscht wie in einem Dorf. Nach den Trabrennen ist die Politik hier der beliebteste Sport, und da er nach Yonkers-Regeln gespielt wird, ähnelt er Hahnenkämpfen. Die Debatten im Rat waren dafür bekannt, in Angriffe gegen die Ehefrau des Gegenspielers abzudriften. Während früherer Wahlkämpfe gab es Anklagen wegen illegaler Abhörmethoden und Wahlbetrugs. Mehr als ein Amtsinhaber hat im Laufe seiner Karriere drei Mal die Partei gewechselt. In Summe ergibt dies eine nostalgische Aufmüpfigkeit, den Charakter einer Stadt, die einmal anders gewesen war, was ebenfalls sehr treffend ist. In einer Ära, an die sich keiner der noch Lebenden tatsächlich erinnert, aber nach der sich jeder zurückzusehnen scheint, war Yonkers eine großartige Stadt gewesen.

Ihre Geschichte begann mit einem Stamm amerikanischer Ureinwohner, die ihr Land einem holländischen Adeligen, Adrien Van der Donck 1646 »verkauft« hatten. Sein Titel lautete Jonge Heer, oder Lord. Irgendwann waren die Ländereien des Jonge Heers als Yonkeers bekannt, und dann als Yonkers.

Mit der Eisenbahn wuchs die Stadt. Die ersten Gleise folgten den Wasserstraßen, und da Yonkers von drei Seiten vom Hudson, dem Saw Mill und den Bronx Rivers eingegrenzt wurde (zwei davon sind inzwischen nur noch Rinnsale), hatte die Stadt im späten 18. Jahrhundert zwanzig Bahnhöfe. Um die Jahrhundertwende war es das industrielle Zentrum von Westchester County und zählte 1912 insgesamt 129 Fabriken. Die Warring Hat Company, die größte in den Vereinigten Staaten, produzierte täglich achtzehntausend Hüte. Bei der Otis Elevator Company waren siebentausend Menschen angestellt, jeder Dritte der Stadt. Ein weiteres Drittel arbeitete in den Alexander Smith Carpet Mills, der größten Teppichfabrik der Welt, mit knapp 265.000 Quadratmetern Nutzfläche. Selbst Nikolaus II., Russlands letzter Zar, besaß einen Teppich aus Yonkers.

Wellen von Immigranten bevölkerten diese Fabriken und hinterließen ihre Spuren. Engländer, Schotten, Polen, Slaven, Ukrainer, Italiener – welche Gruppe auch immer gerade ihr Heimatland in großer Zahl verließ. Alle fingen ganz unten an, in den Fabriken, an den Hochöfen und den Raffinerien, dann arbeitete sich jede Gruppe hoch, zu den Fertigungslinien und in die Büros der Abteilungsleiter. Mit ihrem Aufstieg kam gleichzeitig der Auszug, aus der Stadt hinaus Richtung Osten, wo, angetrieben vom Zeitalter des Automobils, Felder in Wohnviertel umgewandelt wurden.

Wenn sie die weiten Flächen östlich des Saw Mill Rivers erreicht hatten, blieben die Gruppen unter sich, bildeten Enklaven, die sich weniger wie Amerika anfühlten, sondern mehr wie das Land ihrer Heimat.

Aus dieser bewussten Abgrenzung entstand das System des Bezirkswahlrechts, was dazu beitrug, dass alles so blieb, wie es war. Die meiste Zeit (bis zu dem Jahr, in dem Nick Wasicsko gewählt wurde) bestand der Stadtrat von Yonkers aus zwölf Mitgliedern, die eher wie eine Konföderation arbeiteten statt eine Union. Es gab damals eine Regel – allerdings keine offizielle, aber dennoch in Stein gemeißelt –, dass jedes Ratsmitglied das letzte Wort bei Anträgen hatte, die seinen eigenen Wahlbezirk betrafen. De facto war es ein Veto. Wenn das Ratsmitglied des Bezirks nein sagte, zweifelte man diese Meinung nicht an, und kein anderes Mitglied des Rates würde für ein Wohnungsbauprojekt in diesem Bezirk stimmen. Und wenn die Wähler nein sagten, sagte auch das Ratsmitglied nein, es sei denn, er wollte nicht wiedergewählt werden.

Einige Schwarze schafften es über den Saw Mill hinweg in das einzige schwarze Mittelschicht-Viertel von Yonkers, nach Runyon Heights. Seine Existenz ist nicht etwa ein Beispiel dafür, dass Schwarze auf der Ostseite willkommen waren, sondern gerade dafür, dass sie es nicht waren. Heute, Jahrzehnte später, kennen die meisten Schwarzen und Latinos, aber nur wenige Weiße der Stadt die Geschichte von Runyon Heights, und diese wenigen Weißen sind meistens Immobilienmakler. Judge Sand kannte die Geschichte auch. Er zitierte sie auf den ersten Seiten seiner Urteilsbegründung, in der er Yonkers der jahrelangen Diskriminierung für schuldig erklärte.

Während des Baubooms in den 1920ern tätigte ein Bauunternehmer, wie die Geschichte zeigt, einen schlechten Kauf – Land, das für Ranch-Style-Häuser mit ihren großflächigen, ebenen Gärten zu felsig und zu hügelig war. Um seine Investition zu retten, kündigte er an, einen jüdischen Friedhof zu errichten – ein Plan, bei dem die Eigentümer der anliegenden Grundstücke in Panik gerieten. Alteinwohner des Bezirks erzählten zwei Versionen von dem, was als Nächstes passierte. Einige erinnerten sich, dass der Bauunternehmer über die Versuche ihn aufzuhalten so verärgert war, dass er das Land an Schwarze verkaufte. Andere sagten, der Bauunternehmer hätte den Gegnern die Wahl gelassen und es sei die Nachbarschaft gewesen, die entschieden hätte, es sei »besser, neben lebenden Negern zu wohnen als neben toten Juden«.

Wie auch immer, Runyon Heights wurde gebaut – ein zweieinhalb Quadratkilometer großes Quadrat voller zweistöckiger Häuser, jedes auf einem Grundstück von tausend Quadratmetern, und jedes zum Preis von 5.000 Dollar. Die stillen, gewundenen Straßen von Runyon Heights sahen genauso aus wie die von Homefield, dem komplett weißen Viertel nördlich davon, doch den Leuten von Homefield blieb diese Ähnlichkeit offensichtlich verborgen. Vielleicht erkannten sie sie auch und hatten Angst davor. Aus welchem Grund auch immer, wurden in den 1930ern am Ende der Moultrie Avenue in Homefield Hecken gepflanzt, um den Verkehr zwischen den beiden Vierteln zu unterbinden. Eine Weile später wurden aus den Hecken Steinmauern.

Schließlich zogen die Bewohner von Homefield einen anderthalb Meter breiten Grenzstreifen an der nördlichen Grenze von Runyon Heights. Auf diesem Streifen war das Bauen verboten. Keine Straße durfte diesen Streifen passieren. Das Ergebnis ist, dass selbst heute noch jede Nord-Süd-Straße in Runyon Heights in einer Sackgasse endet. Im Frühjahr, wenn die Bäume auf dem Grenzstreifen in vollen Blättern stehen, vermitteln sie den trügerischen Eindruck, hinter ihnen würde sich meilenweit ein Wald erstrecken. Doch im Winter, wenn die Zweige kahl sind, kann man die Häuser Homefields auf der anderen Seite deutlich erkennen.

Jene, die es bis in die Sackgassen von Runyon Heights geschafft hatten, waren die Ausnahme. Nur wenige Minderheiten überquerten den Saw Mill, weil man sie nicht wollte und weil sie es sich nicht leisten konnten. Bis zum Zweiten Weltkrieg stellte Alexander Smith Carpet Mills keine schwarzen Arbeiter ein. Otis Elevator schon, aber nur in den drückend heißen, dreckigen Fabriken, in denen es keine Hoffnung auf Beförderungen gab. Während der 1930er machte ein Witz die Runde, wann immer Farbige in Yonkers zusammenkamen. Ein Freund fragte: »Wie geht’s, wie steht’s?« Und die Antwort war stets dieselbe: »Die Weißen sind immer noch in Führung.«

So blieben die Minderheiten also auf der Westseite und richteten sich dort ein, wo frühere Generationen von Einwanderern schnellstens weggezogen waren, in Irving, Cottage und Wood Place. In die Morgan, Garden und School Street. Sie lebten dort, wo sie auch arbeiteten, in Werkswohnungen hinter den Fabriken und Hüttenwerken, in Wohnungen nur mit fließend kaltem Wasser entlang der Eisenbahnlinien und dem Flussufer. Die Ostseite wurde immer mehr »Mittelschicht« und »weiß«, die Westseite immer mehr »Minderheit« und »arm«.

Yonkers war natürlich nicht der einzige Ort des Landes mit Slums und einer wachsenden Kluft zwischen Schwarzen und Weißen. In regelmäßigen Abständen redete die Regierung davon, die Zustände in den landesweiten Slums verbessern zu wollen, doch es geschah nichts – bis 1929 der Aktienmarkt zusammenbrach. Im Kielwasser der Weltwirtschaftskrise entstand die Idee des sozialen Wohnungsbaus. Den Armen zu helfen, war nur ein Nebeneffekt des Programms, dessen wirkliches Ziel es war, Arbeit im Bauwesen zu schaffen und die Wirtschaft buchstäblich wieder aufzubauen. Mehr als ein Jahrzehnt später, im Nachklang des Zweiten Weltkrieges, wurde der soziale Wohnungsbau ausgeweitet, diesmal als ein Weg, um die heimkehrenden Veteranen unterzubringen.

Der Bauboom stellte Yonkers vor ein Dilemma. Die Stadt wollte – und brauchte – einerseits unbedingt das Geld, das für die Infrastruktur des wachsenden sozialen Wohnungsbaus zur Verfügung gestellt wurde, wollte jedoch andererseits eigentlich keinen sozialen Wohnungsbau. Also packte die Stadt die Sache mit der üblichen Yonkers-Methode an. Man beantragte Geldmittel, bekam sie auch bewilligt, doch dann folgte die große Herausforderung, einen geeigneten Bauplatz zu finden. Gleichgültig auf welches Viertel auch immer die Wahl des Planungsausschusses für die Sozialbauten fiel, sofort setzte dort eine Welle von Protesten und Petitionen ein. Dies passierte auch in anderen Städten, aber in den meisten bewirkten die gegenseitigen Kontrollmechanismen der Politik, dass manche Wohngegenden trotz höchst lautstarker Versuche, es zu verhindern, gelegentlich eben doch sozialen Wohnungsbau bekamen. Nicht so in Yonkers. Nicht an einem Ort mit einem feudalen Lehnswesen, wo die Auffassung vorherrschte, dass das Ratsmitglied des jeweiligen Bezirks das letzte Wort hatte.

Über vierzig Jahre lang entstand daher in der Folge eine riesige Sozialbausiedlung nach der anderen auf der Westseite, dem einzigen Teil der Stadt, der keinen Widerstand leistete. Mulford Gardens: siebzehn Gebäude mit 550 Wohnungen, bezugsfertig im Oktober 1940. Cottage Place Gardens: dreizehn Gebäude mit 256 Wohnungen, eingeweiht 1948. Die William A. Schlobohm Houses: 415 Wohnungen in acht Wohnblocks, fertiggestellt 1953. Calgano Homes, besser bekannt als School Street, hatte 278 Wohneinheiten, die 1964 fertiggestellt wurden. Im Jahr 1988 lag keine der siebenundzwanzig öffentlich geförderten Wohnsiedlungen für Familien in einem der vorwiegend weißen Wohngebiete im Osten beziehungsweise Nordosten der Stadt. Alles in allem lagen 6.644 oder 97,7 Prozent der insgesamt 6.800 Einheiten des öffentlichen Wohnungsbaus im Südwesten der Stadt.