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Tödliche Schüsse in Hollywood: Der Thriller »Showdown – Ich bin dein Tod« von der amerikanischen Bestseller-Autorin Lisa Jackson nimmt uns mit in die Schein-Glamourwelt Hollywoods, in der brutale Morde geschehen. Am Set des Hollywood-Blockbusters »Dead Heat« wird die finale Szene gedreht: Die Jagd auf die flüchtende Heldin endet laut Drehbuch mit einem tödlichen Schuss. Der Schuss fällt, die Heldin stürzt zu Boden – doch sie steht nicht mehr auf. Das Double, das in letzter Sekunde einspringen musste, scheint tot und die berühmte Hollywood-Schauspielerin Allie Kramer spurlos verschwunden. Weil ihr das von ihrer älteren Schwester Cassie umgeschriebene Ende nicht gefiel, oder weil sie ahnte, dass sie in eine tödliche Falle tappen würde? Cassie, die seit dem Übergriff eines Fans psychisch angeschlagen ist, setzt alles daran, Allie zu finden. Doch als bizarre Morde an weiteren Set-Mitarbeitenden verübt werden, gerät sie selbst unter Tatverdacht … Zwei Schwestern, gefangen in einem Alptraum aus Wahnsinn, Eifersucht und Hass: In diesem Thriller stellt Bestseller-Autorin Lisa Jackson schillernde und erbitterte Rivalinnen gegenüber. Der Thriller »Showdown – Ich bin dein Tod« ist unabhängig lesbar, ebenso wie Lisa Jacksons Bestseller »S – Spur der Angst«, »T – Tödliche Spur«, »Z – Zeichen der Rache« und »You will pay – Tödliche Botschaft«.
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Seitenzahl: 644
Lisa Jackson
Ich bin dein TodThriller
Aus dem amerikanischen Englisch von Heike Holtsch
Knaur eBooks
Am Set des Hollywood-Blockbusters »Dead Heat« wird die finale Szene gedreht: Die Jagd auf die flüchtende Heldin endet laut Drehbuch mit einem tödlichen Schuss. Der Schuss fällt, die Heldin stürzt zu Boden – doch sie steht nicht mehr auf. Das Double, das in letzter Sekunde einspringen musste, ist tot, und die berühmte Hollywood-Schauspielerin Allie Kramer spurlos verschwunden. Weil ihr das von ihrer älteren Schwester Cassie umgeschriebene Ende nicht gefiel, oder weil sie ahnte, dass sie in eine tödliche Falle tappen würde? Cassie, die seit dem Übergriff eines Fans psychisch angeschlagen ist, setzt alles daran, Allie zu finden. Doch als bizarre Morde an weiteren Set-Mitarbeitern verübt werden, gerät sie selbst unter Tatverdacht …
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Szene 1
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Szene 2
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Szene 3
Kapitel 25
Kapitel 26
Szene 4
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Szene 5
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Szene 6
Kapitel 37
Szene 7
Kapitel 38
Kapitel 39
Epilog
Lisa Jacksons Romane bei Knaur
Leseprobe »NEVER SAFE Wann wirst du sicher sein?«
Portland, Oregon
Januar
Er lag auf der Lauer.
Beobachtete alles ganz genau.
Achtete auf jedes Detail, das er in dieser regnerischen Nacht im schwachen Licht der Straßenlaternen erkennen konnte.
Die beiden Frauen rannten, wurden immer schneller. Er lächelte, als die erste im Lichtkegel erschien. Angst spiegelte sich in ihrem hübschen Gesicht. Es war geradezu verzerrt vor Panik.
Genau wie er es sich vorgestellt hatte.
Gut. Sehr gut sogar.
Die zweite Frau lief etwas langsamer. Immer wieder warf sie einen Blick über die Schulter, als fühle sie sich von etwas oder jemand Mörderischem verfolgt.
Genau so hatte er es sich gedacht.
Na, los doch. Lauft weiter.
Als hätten sie ihn gehört, rannten die beiden Frauen noch schneller.
Geradezu perfekt.
Er ballte die Fäuste. Vor Aufregung schnürte sich ihm die Kehle zu.
Nur noch ein paar Schritte.
Atemlos blieb die langsamere Frau stehen. Genau unter einer der Straßenlaternen. Sie presste eine Hand auf ihre Brust und rang nach Luft. Strömender Regen ergoss sich vom nächtlichen Himmel. Das Haar klebte ihr in nassen Strähnen am Gesicht, und auch ihre weiße Jacke war vollkommen durchnässt. Abermals warf sie einen gehetzten Blick über die Schulter auf den verlassenen Gehsteig und die dunklen Schaufenster in diesem ausgestorbenen Teil der Stadt. Sie war ebenso hübsch wie die schnellere Frau. Beide waren exzellente Exemplare ihrer Art, deshalb hatte er sie für genau diesen Moment ausgesucht.
Adrenalin schoss ihm durch die Adern und ließ sein Herz rasen. In freudiger Erregung verzog er die Lippen zu einem Grinsen.
Gut. Wirklich gut.
Er durfte keinen Laut von sich geben. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die erste Frau an ihm vorüberlief. Genau wie er gehofft hatte. Den Blick starr nach vorn gerichtet, konnte sie ihn nicht sehen. Aber sie spürte, dass er da war, dass er jede ihrer Bewegungen beobachtete, ihre Angst in allen Facetten sehen wollte. Wilde Entschlossenheit und schieres Entsetzen sprachen aus ihrem Gesicht, aus jedem ihrer keuchenden, flachen Atemzüge, aus jedem ihrer hastigen Schritte.
Dann war sie aus seinem Blickfeld verschwunden.
In die Dunkelheit am anderen Ende der Straße.
Er konzentrierte sich voll und ganz auf die zweite Frau, denn sie war es, um die es ihm eigentlich ging. Sie warf einen gehetzten Blick in seine Richtung, als spüre auch sie, dass er in der Nähe war. Als sei ihr bewusst, dass er in dem dichten Gebüsch hockte, wo ihm nichts entging.
Sein Herz setzte einen Schlag aus.
Sieh mich nicht an. Du darfst mich nicht ansehen. Sieh mich bloß nicht an.
Das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich im regennassen Asphalt und ließ ihr Gesicht verschwommen erscheinen. Aber ihre Angst war deutlich erkennbar. Todesangst. Genau so musste es sein.
Du sollst sie spüren, diese Angst.
Du sollst dich verfolgt fühlen und den Horror erleben, weil du weißt, dass du sterben wirst.
Die Frau erstarrte, als habe sie plötzlich etwas gehört. Hastig wandte sie den Kopf und spähte in die Dunkelheit.
Na also! Endlich.
Er verspürte ein wahres Triumphgefühl.
So ist es gut. Weiter so. Weiter!
Panisch rannte sie weiter. Sie rutschte aus und verlor einen ihrer High Heels. Ohne stehen zu bleiben, streifte sie hastig den anderen Schuh ab und lief barfuß weiter, mit klatschenden Schritten auf dem nassen Asphalt.
Weiter so.
Er verlagerte das Gewicht, damit er sie besser sehen konnte. Nicht das kleinste Detail durfte ihm entgehen.
Perfekt.
Sie lief genau dorthin, wo er sie haben wollte.
In dem Moment löste sich eine dunkle Gestalt aus dem Schatten eines Hauseingangs und stellte sich der Frau in den Weg.
Mit einem entsetzten Schrei geriet sie ins Stolpern, wäre beinahe ausgerutscht. Aber sie fing sich wieder und setzte alles daran, zu entkommen.
Zu spät!
Sie sah in den Lauf einer Pistole.
Bamm! Bamm! Bamm!
Drei Schüsse hallten durch die verlassene Straße, die für einen kurzen Moment vom Mündungsfeuer der Waffe grell erleuchtet wurde.
Die Frau krümmte sich, brach zusammen und blieb auf dem nassen Asphalt liegen. Blut lief ihr aus den Mundwinkeln. Auf ihrer weißen Jacke zeigte sich ein dunkler Fleck.
Perfekt, dachte er voller Genugtuung.
Endlich. Jahrelang hatte er es geplant, und nun war es vollbracht.
Shondie Kent war tot.
Er wartete einen Moment lang und betrachtete ihren reglosen Körper. Musste sichergehen, dass sie sich nicht bewegte, nicht einmal zuckte.
Hervorragend.
Er zählte rückwärts, so, wie es ihn die jahrelange Erfahrung gelehrt hatte: fünf, vier, drei, zwei, eins. Keine Regung. Der leblose Körper lag auf dem regennassen, dampfenden Asphalt, während sich der dunkle Fleck auf der weißen Jacke ausbreitete.
»Schnitt!«, rief er und sprang von seinem Regiestuhl auf, nachdem die Kamera herangezoomt war. Dann stieß er einen tiefen Seufzer aus. So albern es war, er fühlte sich jetzt regelrecht befreit. Endlich hatten sie die Szene fehlerfrei im Kasten. Himmel! Was für eine Erleichterung. Zigmal hatten sie die Todesszene am Tag zuvor gedreht, aber er war einfach nicht zufrieden gewesen. Immer wieder hatte etwas nicht gestimmt, mal an den Bewegungsabläufen, mal an der Atmosphäre. Aber heute lief nach einigen gescheiterten Versuchen endlich alles wie am Schnürchen. Perfektes Timing bei Schauspielern und Crew, genau die richtige Stimmung, Hochspannung bis zum Schluss. »Wir haben es!«, rief er und fügte in gedämpftem Ton hinzu: »Gott sei Dank.« Diese Szene war schlichtweg die Hölle gewesen.
Kurz darauf war die Straße in Portland hell erleuchtet. Der Asphalt schimmerte noch feucht von den Sprinklern, die für einen Wolkenbruch im ohnehin regnerischen Norden gesorgt hatten. Nach der angespannten Stille herrschte nun eine Kakofonie aus Stimmengewirr und allen möglichen Geräuschen. Kulissen wurden abgebaut und Fassaden aus dem Weg geschoben, damit die abgesperrte Straße wieder freigegeben werden konnte. Und sogleich wirkten Gehwege, Hauseingänge und Schaufenster weitaus weniger bedrohlich.
Sig Masters, der den Killer gespielt hatte, riss sich die Skimaske vom Kopf und steckte sich eine Zigarette an. Die Mitglieder der Crew zerstreuten sich langsam in verschiedene Richtungen – alle bis auf Lucinda Rinaldi, das Bodydouble von Allie Kramer, das noch immer reglos auf dem Asphalt lag.
Dean Arnette, seines Zeichens Regisseur von Dead Heat, hatte ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. Der Film wurde todsicher ein Blockbuster. Rasante Story, spritzige Dialoge, fesselnde Spannung bis zum Schluss. Und Allie Kramer, die Hauptdarstellerin, war der kommende Superstar. Ihre Leinwandpräsenz war atemberaubend und ihr Privatleben genau der richtige Stoff für die Klatschpresse. Sie hatte eine berühmte Mutter, eine schwierige Vergangenheit, ein intensives Liebesleben und gerade so viel vom Image eines Bad Girls, dass sie sich nicht die Mühe machte, etwas daran zu ändern. Eine Mischung, die ihre Fans bei Laune und die Zuschauer bei der Stange hielt. In den Internetforen war Allie Kramer absolut angesagt.
Auch das lief also perfekt.
Immer noch erleichtert, griff er in die Brusttasche seines Hemds und suchte nach der nicht vorhandenen Packung Zigaretten. Tag für Tag vermisste er das Rauchen aufs Neue, besonders nach dem Sex, nach dem Essen oder, so wie jetzt, nach einem gelungenen Take bei Dreharbeiten, die sich insgesamt schwierig gestaltet hatten.
»Da stimmt etwas nicht«, flüsterte seine Assistentin ihm zu.
»Unsinn. Die Szene war perfekt.«
»Ich weiß, aber …«
»Aber was?«, gab Arnette genervt zurück. Beatrice Little fand doch immer ein Haar in der Suppe. Knapp dreißig, nicht einmal eins sechzig groß, brachte sie selbst mit durchnässter Kleidung kaum fünfzig Kilo auf die Waage. Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr Pferdeschwanz hin und her schwang.
»Mit Lucinda.«
Wenn er als Regisseur mit der Szene zufrieden war, konnte der Rest der Crew es ja wohl erst recht sein, dachte Arnette. Das galt auch für Little Bea, wie sie von fast allen genannt wurde. »Was stimmt denn nicht mit Lucinda?« Arnette warf einen Blick auf das Bodydouble, das noch immer reglos am Boden verharrte. »Sie war doch toll.«
»Ich weiß, aber …«
»He!«, ertönte eine energische Frauenstimme. »Das war’s. Wir sind hier fertig.« Sybil Jones, eine Co-Produzentin, ging auf Lucinda zu und klatschte in die Hände. Als sie keine Antwort erhielt, verdrehte sie unter ihrer Baseballkappe die ausdrucksvollen Augen und sagte zu Arnette: »Vielleicht solltest du ihr selbst Bescheid sagen, Dean. Mich beachtet sie mal wieder nicht.«
Lucinda, allenfalls ein B-Movie-Sternchen, arbeitete stets daran, sich ins Gespräch zu bringen. Sie wollte ganz nach oben, auch wenn sie in diesem Film nur als Stand-in eingesetzt wurde. Lucinda war bekannt dafür, dass sie sich auch in die kleinsten Nebenrollen furchtbar hineinsteigerte und nach dem Dreh nicht so schnell wieder herauskam.
»Du kannst aufstehen!«, rief Arnette und ging zu ihr hinüber. »Wir sind fertig, Lucy.«
Aber sie drehte nicht einmal den Kopf in seine Richtung. Arnette spürte ein leichtes Kribbeln auf der Haut. Lucinda zeigte keinerlei Reaktion, und das war ihm nun doch nicht ganz geheuer. Von Anfang an waren diese Dreharbeiten nervenaufreibend gewesen. Ständig hatten die Stars sich in den Haaren gelegen, dann die Rivalität zwischen den Kramer-Schwestern, und erst auf den letzten Drücker hatten sie es geschafft, diese Szene abzudrehen. »Du darfst dich ruhig wieder bewegen«, sagte Arnette und fügte lauter hinzu: »Du warst großartig, Lucinda. Wir haben die Szene im Kasten.«
Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper und starrte weiter mit glasigen Augen gen Himmel, sogar dann noch, als eine der Absperrungen direkt neben ihr vorbeigeschoben wurde.
Arnette wurde flau im Magen.
Und dann fiel ihm auf, dass der dunkelrote Fleck auf ihrer Jacke deutlich größer war als durch den Farbbeutel überhaupt möglich.
Verflucht!
»Lucinda?« Er ging neben ihr in die Hocke. Mit beschleunigtem Herzschlag und wachsendem Unbehagen sah er ihr in die Augen. Ihr Blick war auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne gerichtet. Was sollte das denn nun wieder?
»Es reicht, Lucinda«, sagte er und beugte sich dicht über sie, in der Hoffnung, ihren Atem zu spüren oder sie blinzeln zu sehen. Mittlerweile wünschte er sich geradezu, sie würde allen nur etwas vormachen.
Aber sie bewegte sich nicht. Kein bisschen.
Scheiße!
Er legte zwei Finger an ihren Hals, und als er keinen Puls spürte, zuckte er entsetzt zusammen.
Sybil und Beatrice waren ihm gefolgt und standen jetzt direkt hinter ihm. Er drehte sich um und warf Sybil einen panischen Blick zu. »Hol den Sanitäter!«, wies er sie an. »Und zwar schnell!«
Sybil nickte nur. »Wir brauchen den Sanitäter!«, rief sie den anderen zu. »Sofort! Wo steckt Jimmy, verflucht noch mal?«
»O nein«, flüsterte Little Bea, während Dean Arnette sich wieder der reglosen Frau zuwandte. Er presste seine Finger fester auf ihren Hals, um vielleicht wenigstens einen schwachen Puls zu finden.
»O mein Gott!«, ertönte eine weibliche Stimme. Es war Holly Dennison, eine Set-Designerin. Sie schlug die Hand vor den Mund und lief mit entsetzt aufgerissenen Augen auf ihn zu. »O Gott!«
Er beachtete sie nicht weiter und drehte sich wieder zu dem Bodydouble um. Was zum Teufel war hier passiert? Unfälle bei anderen Dreharbeiten schossen ihm durch den Kopf, während sich um ihn herum hektisches Stimmengewirr ausbreitete. »Herrgott noch mal! Kann denn nicht endlich jemand einen Krankenwagen holen?«
»Ist schon unterwegs!«, rief der Produzent.
Das Mobiltelefon noch am Ohr, in der freien Hand seinen Erste-Hilfe-Koffer, näherte sich im Laufschritt der Sanitäter.
»Machen Sie Platz!«, schrie der junge Mann.
Dankbar stand Arnette auf und trat zur Seite. Bestimmt war es schon zu spät. Grelles Scheinwerferlicht leuchtete Lucinda Rinaldis hübsche Gesichtszüge perfekt aus. Offenbar war sie tot – genau wie Shondie Kent, die Rolle, die sie so überzeugend gespielt hatte.
Mercy Hospital
April
Es war ein endloser Albtraum.
Wie ein düsterer Nebel, der unter der Tür hindurchkroch und durch die Fensterrahmen zog, machte er sich überall im Klinikzimmer breit und legte sich auf Cassies Gemüt, schlich in ihr Unterbewusstsein, wenn sie verzweifelt versuchte einzuschlafen.
Sie konnte noch so viele Medikamente schlucken und noch so viel Willenskraft aufbieten, immer wieder schob sich das Kaleidoskop aus schmerzhaften Bildern vor ihr inneres Auge. Auch heute Nacht sah sie die Szene wieder in allen Einzelheiten vor sich: grelle Blitze am schwarzen Himmel. Krachender Donner. Strömender Regen.
Sie und Allie, ihre jüngere Schwester, rannten verzweifelt um ihr Leben.
Bamm!
Ein Schuss hallte durch die Nacht, und sie schreckte auf, starr vor Entsetzen über die Bilderflut und die Geräusche, die so echt erschienen, so verflucht real. »Nicht schon wieder«, flüsterte sie und stieß den Atem aus, den sie unbewusst angehalten hatte.
Benommen warf sie einen Blick auf die digitale Anzeige ihres Weckers: 3.00 Uhr. Wieder einmal. Jede verdammte Nacht. Zitternd, wie immer nach diesen Träumen, rollte sie sich aus dem Krankenhausbett und ging zum Fenster. Strömender Regen lief die Scheiben hinunter. Ihr Zimmer lag im vierten Stock eines Gebäudeflügels, der noch aus dem vorherigen Jahrhundert stammte. Sie spähte in die Dunkelheit. Sah hinunter auf den Parkplatz, der von hundert Jahre altem Rhododendron umgeben war. Am Fuß der Hügel entlang des Willamette River erstreckten sich die Millionen Lichter von Portland.
Lichtstreifen flimmerten über dem dunklen Fluss – die Scheinwerfer der Autos und Lastwagen, die über die Brücken aus Stahlbeton rasten. Sie verbanden den flach auslaufenden Osten der Stadt mit dem hügeligen Westen. Auf einem der Hügel gelegen, bot das Mercy Hospital eine spektakuläre Aussicht – wenn man ein Auge dafür hatte.
Cassie zeichnete die Spur eines Regentropfens nach und spürte die kühle Glasscheibe unter ihren Fingerspitzen. Allmählich, so wie jedes Mal, beruhigte sich ihr Herzschlag, und der Traum zog sich zurück in die verborgenen Winkel ihres Unterbewusstseins. »Lass mich in Ruhe«, flüsterte sie, als könne man mit Träumen sprechen. »Verschwinde endlich.« Sie war es leid, in dieser Klinik festzusitzen, geplagt von Albträumen, ausgelaugt von schlaflosen Nächten.
Wütend auf sich selbst, auf die gesamte Situation, legte sie sich ins Bett und zog sich die Decke bis unter das Kinn. Sie konnte ohnehin nicht wieder einschlafen, das wusste sie. Vielleicht sollte sie das Buch weiterlesen, das sie angefangen hatte, den Mysteryroman, der auf ihrem Nachttisch lag, neben einem Plastikbecher mit Wasser und einem Telefon, das aussah, als stünde es schon seit den 1980er-Jahren dort. Ihr Blick schweifte zum Fenster. In dem wässrigen Film auf der Scheibe spiegelte sich etwas – eine dunkle Gestalt, die sich im Lichtkegel der geöffneten Tür abzeichnete.
Cassie blieb fast das Herz stehen.
Hastig wandte sie den Kopf, in der Erwartung, dass es nur Einbildung war, ein Zusammenspiel von Licht und Schatten. Aber sie irrte sich. In der Tür stand eine hochgewachsene Frau in Schwesterntracht, die aussah wie aus den 1950er- oder 1960er-Jahren: spitze Haube, gestärkte weiße Schürze, helle Nylonstrümpfe, weiße Schuhe mit Kreppsohle und ein kleiner Ohrring, an dem ein rotes Kreuz baumelte. Mit einem altmodischen Klemmbrett in der Hand näherte sie sich Cassies Bett. Ein schwacher Geruch nach Zigarettenrauch und Parfüm umgab sie.
Was für eine gruselige Szene!
»Arbeiten Sie hier?«, fragte Cassie, noch immer nicht sicher, ob das Ganze vielleicht doch nur ein Traum war. Mit ihrer bleichen Haut und den tief liegenden Augen hatte die Krankenschwester etwas Geisterhaftes.
Und offenbar war sie nicht hier, um Cassie den Puls zu messen oder ihr Medikamente zu verabreichen. Die Frau starrte nur auf sie herunter.
»Wer sind Sie?«, fragte Cassie und tastete nach dem Klingelknopf. An der blütenweißen Tracht konnte sie kein Namensschild entdecken.
»Ihre Schwester lebt noch.«
»Was?«
»Ihre Schwester.« Die Stimme der Frau klang hohl, das Gesicht mit den tief liegenden Augen schien ausdruckslos. »Sie ist nicht tot.«
»Woher wollen Sie das wissen?« Es musste wohl doch ein Traum sein. Allie war nicht zum letzten Dreh von Dead Heat erschienen, und seitdem war sie verschwunden. »Haben Sie mit ihr gesprochen? Oder haben Sie sie gesehen?«
Schweigen.
»Wo ist sie?«, fragte Cassie. Als sie abermals keine Antwort erhielt, fügte sie mit Entschiedenheit hinzu: »Natürlich lebt sie noch.« Allie musste noch am Leben sein. Einen anderen Gedanken wollte Cassie nicht aufkommen lassen. Sie weigerte sich schlichtweg, sich den Zweifeln anzuschließen, die die Boulevardpresse bereits gestreut hatte und die von diesen schrecklichen Blogs und Fan-Websites aufgegriffen wurden. Immer wieder hatten sie es in den Medien durchgekaut: Allie Kramer, eine der vielversprechendsten Schauspielerinnen auf dem Weg zum Hollywoodstar, war verschwunden und möglicherweise längst tot. Von Entführung über Selbstmord bis hin zu Mord kursierten die wildesten Gerüchte. Aber das war nichts weiter als Klatsch. Niemand wusste, wo Allie Kramer steckte, am allerwenigsten Cassie, und das machte ihr gehörig zu schaffen. Allie war ein so liebes, feinfühliges Mädchen gewesen, bis das Scheusal in ihr zum Vorschein kam. Vor vielen Jahren, in einem der strengsten Winter, die Oregon je erlebt hatte, war ihre Welt aus den Angeln gehoben worden, und Allie hatte sich nie ganz davon erholt. Cassie selbst auch nicht. Wieder spürte sie die eisige Kälte, und ihre Finger krallten sich in die Decke.
Sie lebt noch, dachte sie und kehrte in die Realität zurück. Doch die Krankenschwester hatte das Zimmer bereits auf leisen Sohlen verlassen – vorausgesetzt, sie war überhaupt da gewesen.
Cassie spürte ein Kribbeln auf der Haut.
Dann meldete sich wieder die verhasste innere Stimme, die ihr Nacht für Nacht zu schaffen machte.
Du hast dir diese Krankenschwester nur eingebildet, Cassie. So läuft doch heute kein Mensch mehr herum. Sie sah aus wie aus einem dieser alten Schinken, die du dir dauernd ansiehst. So etwas passiert dir nicht zum ersten Mal. Wieder ein Blackout. Seit den schrecklichen Erlebnissen vor zehn Jahren kannst du Fantasie und Realität nicht mehr auseinanderhalten. Manchmal weißt du nicht einmal, was du in den letzten Stunden getan hast. Du bist auf dem besten Weg, verrückt zu werden. Und wer weiß, wozu du in solchen Momenten fähig bist.
»Schluss damit!«, zischte Cassie und warf sogleich panisch einen Blick zur Tür. Ihr Zimmer lag direkt gegenüber dem Empfangsschalter, wo die Schwestern immer saßen. Die sollten nicht hören, wie sie wieder einmal Selbstgespräche führte oder, schlimmer noch, mit einer imaginären Krankenschwester sprach.
Du spinnst wirklich. Hier war niemand. Kein Gespenst und auch keine Krankenschwester. Also reiß dich zusammen.
Cassie gab sich alle Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. Dieses Mal war es anders gewesen, nicht so wie bei den Halluzinationen, die dazu geführt hatten, dass sie sich hier, in der Psychiatrie, befand. Oder hatte sie sich den Geruch nach Zigarettenrauch und Parfüm etwa auch nur eingebildet?
Cassie bekam Gänsehaut. Ein eisiger Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Vielleicht wurde sie tatsächlich verrückt. Sie musste sich diese seltsame Erscheinung eingebildet haben. Oder es lag an Schuldgefühlen? Oder an den Medikamenten, mit denen sie hier vollgestopft wurde und die sie eigentlich hätten beruhigen und stabilisieren sollen? Aber nein, sie war nicht verrückt. Bloß weil die Zeitungen behaupteten …
»Miss Kramer?«
Hastig wandte sie den Kopf zur Tür. Nun kam tatsächlich eine Krankenschwester herein, in der üblichen hellblauen Montur. Cassie kannte sie. Es war Leslie Keller, die auf der Station arbeitete.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie mit einem Blick auf den Monitor neben dem Bett. Sie war groß und schlank, mit schwarz gelocktem Haar und dunkler Haut. Wie immer konzentrierte sie sich auf das Wesentliche. »Ich habe gehört, wie Sie mit jemandem gesprochen haben.« Schwester Keller ließ den Blick durchs Zimmer schweifen – wo natürlich niemand zu sehen war.
»Ich habe schlecht geträumt«, sagte Cassie.
»Schon wieder?« Kopfschüttelnd stieß die Schwester einen Seufzer aus. »Aber da ich schon einmal hier bin, können wir auch gleich Ihren Blutdruck messen.« Sie zog Cassie die Manschette über den Arm.
»Hat jemand angerufen?«, fragte Cassie. »Oder nach mir gefragt?«
Schwester Kellers gezupfte Augenbrauen schossen in die Höhe. Sie warf Cassie einen Blick zu, als halte sie eine solche Frage für einen Scherz. »Um drei Uhr nachts?«
»Nein, aber vorher vielleicht.«
Mit wippenden Locken schüttelte Schwester Keller den Kopf und runzelte dann die Stirn. »Ein wenig erhöht«, sagte sie mehr zu sich selbst und notierte Cassies Blutdruckwerte.
»Wahrscheinlich von dem Albtraum«, erklärte Cassie.
»Hm.«
Bevor sie darüber nachdenken konnte, fragte Cassie: »Hier trägt doch keiner mehr eine dieser altmodischen Schwesterntrachten? Mit weißer Haube und Schürze?«
»Du lieber Himmel! Am besten noch mit blau-rot gestreiftem Umhang?« Die Schwester bedachte Cassie mit einem verständnislosen Blick. »So etwas trug man in den Fünfzigerjahren. Warum?«
»Ach, nur so.«
»Zum Glück sind wir im einundzwanzigsten Jahrhundert angekommen, im Zeitalter der praktischen Kittel.« Schwester Keller glich die Werte, die sie sich notiert hatte, mit dem Monitor ab. Cassie hätte sie gern wegen der altmodisch gekleideten Schwester befragt, aber mit Sicherheit hätte sie dadurch noch verwirrter gewirkt, als es ohnehin schon der Fall war. Verwirrt. Das war der Begriff, mit dem man sie hier betitelte.
Sie räusperte sich und gähnte demonstrativ. Es war besser, wenn sie sich nicht um Kopf und Kragen redete. Denn genau das war ihr Problem, genauer gesagt, eines von vielen. Sie war einfach zu direkt, stellte zu viele Fragen, sprach immer aus, was sie dachte. Die meisten Leute, insbesondere die Ärzte und das Pflegepersonal hier im Mercy Hospital, konnten mit einer solchen Offenheit nichts anfangen. Also hielt sie lieber den Mund. Vorerst zumindest.
»Brauchen Sie noch etwas?«, fragte Schwester Keller.
»Nein, ich glaube nicht. Alles … bestens.«
Die Schwester schien wenig überzeugt, und Cassie hielt den Atem an, während aus dem Flur die gedämpften Stimmen des übrigen Pflegepersonals zu hören waren. »Okay, wenn doch noch etwas ist, melden Sie sich einfach.«
»Die Klingel habe ich ja in Reichweite«, sagte Cassie und hielt das Kabel mit dem elektronischen Schalter hoch, das an der Seite ihres Bettes befestigt war.
»Gut.« Mit einem unverbindlichen Lächeln wandte sich Schwester Keller zur Tür.
»Ach, Moment noch. Hier sind keine Kameras installiert, oder? Hier in diesem Zimmer?«
An den zusammengezogenen Augenbrauen der Krankenschwester erkannte Cassie, dass diese Frage ein Fehler gewesen war.
»Zur Überwachung der Patienten, meine ich.«
»Im Mercy Hospital wird das Recht auf Privatsphäre respektiert. Von daher sind Privatzimmer genau das, was der Name sagt: privat.«
»Ah, gut. Ich hatte auch nichts anderes erwartet«, gab Cassie lächelnd zurück, obwohl ihr ganz und gar nicht nach Lächeln zumute war. Dann gähnte sie noch einmal demonstrativ.
»Stimmt etwas nicht?«
»Nein, nein. Hat mich nur interessiert.«
Schwester Keller kaufte ihr die Antwort nicht ab. Das war Cassie sofort klar.
Nach kurzem Zögern sagte die Krankenschwester mit kaum merklichem Kopfschütteln: »Versuchen Sie zu schlafen.« Damit verließ sie das Zimmer, und kurz darauf verhallten ihre Schritte.
Cassie stieß einen Seufzer aus. In der Klinik war sie so etwas wie eine Berühmtheit, obwohl eigentlich ihre Schwester die Berühmtere war. Wie Jahre zuvor ihre Mutter stand Allie in der Gunst des Publikums ganz oben und hatte Hollywood im Sturm erobert. Cassie selbst war das nie richtig gelungen. Hier, im Mercy Hospital, wusste allerdings fast jeder, wer Cassie war.
Nicht, dass ihr das wichtig gewesen wäre.
Manchmal hörte sie, wie das Klinikpersonal oder Leute, die sie nicht kannte und von denen sie nur hoffen konnte, sie gehörten zum Personal, über sie tuschelten. Ein paar Gesprächsfetzen hatte sie aufgeschnappt. Und dabei war es nicht in erster Linie um ihre physische oder psychische Verfassung gegangen, obwohl das eine wie auch das andere reichlich Stoff für die Klatschpresse geboten hätte. Aber seit Allie verschwunden und Cassie freiwillig in die Psychiatrie gegangen war, hatte es den Anschein, Cassie wäre so berühmt, besser gesagt berüchtigt, wie nie zuvor. Doch nach all den Jahren, in denen sie vergeblich versucht hatte, im Filmgeschäft Fuß zu fassen, interessierte sie das nur noch herzlich wenig.
Erneut sah sie zum Fenster. Der Regen hatte aufgehört, nur noch einzelne Tropfen liefen an der Scheibe hinunter. Plötzlich wurde es in ihrem Zimmer heller. In der Fensterscheibe sah sie, dass die Tür einen Spaltbreit geöffnet wurde.
Erneut schlich jemand herein.
Und abermals blieb Cassie fast das Herz stehen.
Hastig wandte sie den Kopf zur Tür, die nun leise wieder geschlossen wurde. »Wer ist …?« Voller Panik griff sie nach dem Klingelknopf. Doch dann hielt sie inne, als sie Steven Rinko erkannte.
Sie atmete auf. Rinko war ein ziemlich seltsamer Junge. Er war schon wesentlich länger hier als sie und besaß die Fähigkeit, sich unbemerkt überall hineinzuschleichen. Er war ein eher schweigsamer Teenager von ungefähr dreizehn Jahren mit dichtem Blondschopf und beginnender Akne, aber wenn er denn mal etwas sagte, hörte er sich eher an wie ein Genie als wie ein Fall für die Psychiatrie. Zu jedem Autofabrikat, das jemals in Amerika oder sonst irgendwo auf der Welt gebaut worden war, konnte er sämtliche Details herunterbeten, konnte Einzelheiten über Baseball-, Basketball- und Footballteams herunterleiern, ganz gleich, ob Collegemannschaft oder Profiliga, inklusive der Spielernamen und Ergebnisse. Meistens steckte er mit einer Gruppe Jugendlicher zusammen, deren Mitglieder ständig in Streit gerieten. Warum er in der Psychiatrie gelandet war, wusste Cassie nicht genau, und sie würde es wohl auch nie erfahren, denn sie hatte vor, sich am nächsten Tag selbst zu entlassen. Sie hatte die Nase voll von dieser Klinik. Und da sie aus freien Stücken hier war, konnte sie gehen, wann sie wollte.
Rinko schlängelte sich um das Bett herum, er bewegte sich wie immer lautlos wie ein Geist. »Sie war wirklich hier«, flüsterte er aufgeregt. Seine Stimme überschlug sich beinahe.
»Wer?«
»Ich habe sie auch gesehen.«
Cassie spürte ein Prickeln auf der Kopfhaut und hätte beinahe aufgeschrien, als er nach ihrer Hand griff und etwas Kaltes hineindrückte. Etwas Rotes. Einen Silberring mit einem kleinen Kreuz, der genauso aussah wie die Ohrringe, die die altmodisch gekleidete Krankenschwester getragen hatte.
»Woher hast du das?«
»Von der Krankenschwester«, antwortete er. Doch bevor sie weitere Fragen stellen konnte, schlich Rinko bereits auf leisen Sohlen aus dem Zimmer. Mit klopfendem Herzen schloss Cassie die Finger um das kleine rote Kreuz und spürte das kalte Metall in ihrer Hand. Es existierte. Das hieß, es war kein Traum gewesen, auch keine Halluzination infolge hoch dosierter Psychopharmaka. Die Realität war ihr nicht entglitten, trotz ihrer übermächtigen Angst, dass ihrer kleinen Schwester etwas Furchtbares zugestoßen war.
Allie, der Unschuldsengel.
Allie, das liebe Mädchen.
Allie, die Lügnerin.
Wie hatte dieses naive, schüchterne Mädchen zu einem so ichbezogenen Weibsstück werden können? Zu einer Egoistin, die gegen jeden ihre Ellbogen einsetzte, der ihr auf dem Weg zum Ruhm in die Quere kam? Zur Erzrivalin der eigenen Schwester?
Cassie holte tief Luft. Sie kämpfte gegen ihre Wut, Enttäuschung und Eifersucht an und hielt sich vor Augen, dass Allie verschwunden war, vielleicht sogar tot.
Alles lief schrecklich falsch. Einfach alles in ihrem Leben.
Das kleine Stück Metall in ihrer Hand schnitt ihr ins Fleisch.
Cassie schloss die Augen und atmete langsam aus, um sich zu beruhigen. Sie war nicht dabei, den Verstand zu verlieren, sagte sie sich. Alles würde wieder gut werden. Aber dafür musste sie erst einmal aus dieser Klinik herauskommen.
Morgen. Dann wirst du das Mercy Hospital samt seiner Psychiatrie auf ewig hinter dir lassen. Du wirst dich auf die Suche nach Allie machen. Und du wirst sie finden.
»Wie soll ich das nur schaffen?«, flüsterte Cassie leise. Sie öffnete die Augen. Das sterile Krankenzimmer jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
Sie war allein.
Aber bewegten sich die Vorhänge nicht ein wenig?
Das bildest du dir nur ein, Cassie. Du weißt doch: alles nur Einbildung.
Auf zwei Dinge konnte sie sich grundsätzlich verlassen, dachte Whitney Stone, als sie durch den morgendlichen Nieselregen fuhr. Zunächst einmal auf ihr gutes Aussehen. Das war ihr absolut bewusst. Und allen anderen auch. Mit ihren ebenmäßigen, herzförmigen Gesichtszügen, den großen Augen und dem dunklen Haar ähnelte sie Schneewittchen in dem alten Disney-Film. Ja, sie sah toll aus. Doch darüber hinaus war sie noch mit etwas weniger Offensichtlichem gesegnet, und zwar mit einem Verstand, auf den sie sich ebenfalls verlassen konnte. Sie war klüger, als man hätte vermuten können, weil sie nämlich nicht damit hausieren ging. Natürlich hielt man sie für clever, sogar für ziemlich raffiniert, und alle zollten ihr Respekt für das Engagement, das sie in ihrem Job an den Tag legte, für ihre Hartnäckigkeit und das Gespür für eine gute Story. Bei einem Sender, in dem traditionell Männer das Sagen hatten, war es ihr gelungen, ihre Duftmarke zu setzen. Zugegeben, dafür hatte sie die Wahrheit gelegentlich zurechtbiegen müssen. Sie war durch diverse Betten gehüpft und hatte die Gesetzgebung etwas großzügiger interpretiert, um das eine oder andere Telefonat aufzuzeichnen oder hier und da die Kamera laufen zu lassen. Anders wäre sie in diesem Haifischbecken, das sich Journalismus nannte, allerdings auch kaum so weit gekommen.
Aber Whitney hatte nicht nur überlebt und sich behauptet. Nein, sie hatte richtig Karriere gemacht. Hatte sich jedes Mal genau das Richtige einfallen lassen.
Aber diesmal … Dieses Mal war es ein wenig komplizierter.
Sie musste sich eine besonders umsichtige Vorgehensweise zurechtlegen. Verflucht noch mal, sie wurde schließlich nicht jünger. Sie wollte endlich die nächste Stufe der Karriereleiter erklimmen, auf der nationalen Bühne Fuß fassen. Das Ticket dafür hatte sie schon so gut wie in der Tasche: Allie Kramer.
Der Gedanke zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen, während sie ihren SUV auf dem Weg in die Stadt durch die Kurven des Terwilliger Boulevard in Richtung Freeway lenkte. Sie überholte einen Umzugswagen und drückte auf die Hupe, als er auf ihre Fahrbahn ausscherte. Daraufhin riss der Idiot am Steuer des anderen Fahrzeugs das Lenkrad herum und geriet bei der nächsten Kurve ins Schlingern. Hatte sie nicht auf den Hecktüren einen Aufkleber mit der Aufschrift Fahrstil okay? gesehen? Da konnte die Antwort doch nur lauten: Fahrstil beschissen. Hätte sie die Zeit gehabt, wäre sie langsamer gefahren, um ihn überholen zu lassen und diesen dämlichen Aufkleber mit der dazugehörigen Telefonnummer zu fotografieren.
Ein passender Anruf wäre für diesen Schwachkopf genau das Richtige gewesen.
Aber sie hatte keine Zeit für so etwas.
Dafür nicht, und für manches andere auch nicht.
Jetzt kamen der Willamette River und die Stadt in Sicht, die sich an den breiten Ufern entlangzog. Zwischen den Bäumen und den Hochhäusern tauchten die Brücken auf, die den Osten und Westen von Portland miteinander verbanden. Morgennebel umhüllte die Seilbahn, die vom Campus der Oregon Health and Science University an der South Waterfront zu den riesigen Klinikgebäuden in den westlichen Hügeln führte. Dort oben lag auch das Mercy Hospital, in dem sich Cassie Kramer derzeit als Patientin aufhielt.
Abermals zeigte sich ein Lächeln auf Whitneys Lippen. Cassie war also in der Psychiatrie gelandet.
Genau da gehörte sie auch hin.
Und in ihre nächste Story natürlich, als ein weiteres pikantes Detail.
Eigentlich gefiel es Whitney Stone in Portland. Derzeit war die Stadt ziemlich angesagt. Aber das ewige Regenwetter ging ihr allmählich auf die Nerven, ebenso wie die ständige Hin-und-Her-Fliegerei zwischen Portland und L. A.
Doch das wird sich auszahlen.
Schon sehr bald.
Bei dem Gedanken wurde ihr sogleich wärmer ums Herz. Sie setzte den Blinker und bahnte sich einen Weg zur nächsten Ausfahrt. Von dort aus war es nicht mehr weit bis zur Hawthorne Bridge, der stählernen Klappbrücke, unter der auch große Schiffe hindurchfahren konnten.
Whitney war spät dran. Sie hatte sich mit einer Quelle auf der Eastbank Esplanade verabredet, der Promenade für Fahrradfahrer und Fußgänger am Ostufer des Willamette River. Ihr Informant sollte Neuigkeiten über das Zerwürfnis zwischen der verschwundenen Allie Kramer und ihrer durchgedrehten Schwester liefern. Und über deren Mutter, Jenna Hughes, die mittlerweile völlig zurückgezogen lebte. Whitney versprach sich nicht allzu viel davon. Wahrscheinlich mündete das Ganze wieder einmal in eine Sackgasse. Aber sie musste jede Gelegenheit nutzen, um mehr über die Kramer-Schwestern und ihre berühmte Mutter zu erfahren.
Es war immerhin eine Chance, hielt sie sich vor Augen, als sie ihren SUV in eine der wenigen freien Parklücken manövrierte. Sie raffte Handy und Mikro zusammen und wich beim Aussteigen einem vorbeirasenden Radfahrer aus.
Während sie auf ihre Quelle wartete, erledigte sie ein paar Telefongespräche, recherchierte ein wenig und ließ zwischendurch den Blick über die Silhouetten der Hochhäuser vor den bewaldeten Hügeln schweifen. Eine Stunde später wurde ihr klar, dass man sie versetzt hatte. Wieder einmal hatte sich eine vielversprechende Quelle als Blindgänger erwiesen.
Verärgert ging sie zu ihrem Wagen zurück und setzte sich ans Steuer. Koste es, was es wolle, sie musste diese Story unter Dach und Fach bringen, dachte sie, als sie den Motor startete. Vielleicht sollte sie dafür einfach etwas … nun ja, kreativer werden. Und wie immer wäre sie sich nicht zu schade, der Wahrheit auf die Sprünge zu helfen und ein kleines Drama zu inszenieren.
In einem angemessenen Rahmen natürlich.
Es gab nämlich Grenzen, die selbst sie nicht überschreiten wollte. Schließlich hatte sie ihre Prinzipien. Aber sie hatte auch eine Story, die an den Mann gebracht werden sollte – und die sie einen großen Schritt weiter nach oben bringen würde.
Und das hatte sie weiß Gott verdient.
Das Leben war nicht immer fair zu ihr gewesen, aber dieses Mal wollte sie sich nicht wieder die Butter vom Brot nehmen lassen. Nicht, wenn sie so nah dran war.
Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und plante ihre nächsten Schritte.
Wie weit konnte sie gehen, um zu bekommen, was sie wollte?
Wieder verzogen sich ihre Lippen zu einem Lächeln.
Denn die Antwort lautete: ziemlich weit.
»Aber Sie sind noch nicht in der Verfassung, die Klinik zu verlassen«, eröffnete Dr. Sherling Cassie nach dem Frühstück. Eigentlich war sie ganz nett. Sie trug nie Make-up, ihr weißes Haar war stets ein wenig zerzaust, und ihre Wangen waren von Natur aus rosig. Obwohl sie bestimmt schon Mitte siebzig war, schien ihre Haut nahezu faltenlos zu sein. Schlank und durchtrainiert – Virginia Sherling war dem Tratsch des Pflegepersonals zufolge in jungen Jahren eine passable Skiläuferin gewesen. Sie wirkte sanftmütig und freundlich, doch hinter ihrem strahlend weißen Lächeln, der einfühlsamen Stimme und der zurückhaltenden Art verbarg sich ein eiserner Wille. Den hatte Cassie bereits zu spüren bekommen. Ein paarmal hatte sie die Psychiaterin herausgefordert, woraufhin deren Gesichtsfarbe noch rosiger und der leichte britische Akzent noch deutlicher wurden. Nun allerdings, als Dr. Sherling sah, dass Cassie ihre Sachen zusammenpackte, blieb die ältere Dame vollkommen ruhig. Äußerlich zumindest.
»Ich komme schon zurecht«, versicherte Cassie ihr.
»Haben Sie Ihrer Familie denn schon Bescheid gesagt? Also, Ihrer Mutter?«
Cassie hob den Kopf. »Haben Sie es ihr etwa erzählt?«, fragte sie und vergewisserte sich noch einmal, dass sie ihr Mobiltelefon samt Ladekabel in die Kosmetiktasche gepackt hatte. Im Seitenfach ihres Reisetrolleys steckten die Medikamente, die Dr. Sherling ihr verschrieben hatte, aber die brauchte sie jetzt nicht mehr. Sie zog die drei Packungen wieder heraus und warf sie nach einem Blick auf die Etiketten in den Mülleimer.
Die Ärztin verzog die Lippen zu einem schmalen Strich. »Die können Sie nicht einfach weglassen«, sagte sie. »Sie müssen langsam ausschleichen. Wirklich, Cassie, ich kann Ihnen nur ernsthaft raten, die Medikamente schrittweise abzusetzen.« Sie holte die Packungen aus dem Müll und steckte sie wieder in Cassies Trolley. »Das sind stark wirkende Präparate.«
»Eben deshalb.«
»Bitte! Seien Sie doch vernünftig!« Die Ärztin setzte einen ernsten Blick auf und rückte ihre Brille zurecht. »Sie wollen doch nicht auf einer Trage wieder eingeliefert werden.«
Cassie biss die Zähne aufeinander.
»Haben Sie Ihrer Mutter nun Bescheid gesagt oder nicht?«, erkundigte sich Dr. Sherling abermals.
Die Antwort lautete natürlich nein. Vermutlich war Dr. Sherling das längst klar, und sie ließ lediglich aus Prinzip nicht locker.
Doch dann fügte sie in mildem, fast schon verschwörerischem Tonfall hinzu: »Jenna macht sich bestimmt Sorgen.«
Für einen kurzen Moment hatte Cassie ihre Mutter vor Augen: Zierlich. Schwarzes Haar. Große grüne Augen. Jenna Hughes war eine Hollywood-Schönheit und jedem ein Begriff gewesen, lange bevor ihre Töchter in ihre Fußstapfen getreten waren. Lange bevor dieses Monster, dieser geistesgestörte Serienmörder, es darauf angelegt hatte, ihrer aller Leben zu zerstören. Cassie schauderte. Der Horror, den sie vor Jahren erlebt hatte, machte ihr nach wie vor zu schaffen. Er war die Quelle der Albträume, die sie wieder eingeholt hatten. Eine Zeit lang hatte sie es geschafft, sie in Schach zu halten. Aber dann war auf Allies Bodydouble geschossen worden, und Allie selbst war verschwunden. Daraufhin waren die Träume zurückgekehrt, schlimmer denn je.
»Sie sind freiwillig zu uns in die Klinik gekommen«, rief Dr. Sherling Cassie ins Gedächtnis, als hätte sie deren Gedanken gelesen.
Zugegeben, das stimmte. Aber sie hatte einfach nicht mehr weitergewusst.
»Ihnen ist doch bewusst, dass Sie noch einiges aufzuarbeiten haben.« Um ihren Worten Ausdruck zu verleihen, zog die Ärztin ihre ungeschminkten Augenbrauen hoch. »Albträume, Halluzinationen, Blackouts.«
»Ich bin auf dem Weg der Besserung«, gab Cassie zurück und musste augenblicklich an die altmodisch gekleidete Krankenschwester denken. Das war keine Halluzination gewesen. Der Ohrring war der Beweis dafür. Trotzdem erzählte sie nichts von der nächtlichen Besucherin. Sie würde den Mund halten, schon um Steven Rinko nicht in Schwierigkeiten zu bringen.
»Auf dem Weg der Besserung?«, wiederholte Dr. Sherling und bedachte Cassie mit einem zweifelnden Blick.
Cassie nickte. »Bei den Dreharbeiten wurde auf jemanden geschossen. Da war ich mit den Nerven ziemlich fertig. Das wissen Sie doch. Deshalb bin ich hierhergekommen. Freiwillig. Um mich wieder zu fangen.« Sie wich dem Blick der Psychiaterin nicht aus. »Der Killer hatte es auf Allie abgesehen, da bin ich mir nach wie vor sicher.«
»Es war ein Unfall.« Nicht zum ersten Mal versuchte Dr. Sherling, Cassie davon zu überzeugen. Aber daran konnte Cassie nicht glauben. Immerhin waren aufgrund dieses »Zwischenfalls« offizielle Ermittlungen eingeleitet worden. Der Schauspieler, der die Schüsse abgefeuert hatte, war noch geschockter gewesen als alle anderen. Also musste jemand die Waffe manipuliert haben. Wie konnte man da noch von einem Unfall sprechen? So etwas durfte an einem Filmset einfach nicht passieren. Dafür gab es Sicherheitsmaßnahmen.
Wie durch ein Wunder hatte Lucinda Rinaldi die Schüsse überlebt. Nachdem sie zwei Wochen im Koma gelegen hatte, befand sie sich nun in einer Rehaklinik auf der anderen Seite des Flusses. Und während sie dort versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, drohte sie der Produktionsfirma und allen anderen, die an Dead Heat beteiligt waren, mit einer Klage.
Ein Unfall! Das war doch lächerlich.
»Vielen Dank für alles.« Cassie ging zur Tür und verließ das Krankenzimmer. Dauerhaft. Und damit Punkt.
»Vergessen Sie nicht, Sie haben nächste Woche noch eine Sitzung!«, rief Dr. Sherling ihr hinterher.
Schon klar. Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging Cassie zu den Aufzügen und fuhr hinunter ins Erdgeschoss. Hastig durchquerte sie die Eingangshalle mit den großen Fenstern, und als sie die Marmorstufen zum Taxistand hinuntereilte, war sie froh, den leichten Regen auf der Haut zu spüren. Der Taxifahrer beendete seine Zigarettenpause, legte sein Handy beiseite und verstaute Cassies Trolley im Kofferraum seines zerbeulten Wagens, der dringend gewaschen gehörte.
»Moment noch.« Auf der Rasenfläche vor der Klinik hatte Cassie Steven Rinko erspäht. Er warf Ringe mit ein paar anderen Jugendlichen.
»Die Uhr läuft schon!«, rief der Taxifahrer.
»Dauert nicht lange«, gab sie zurück und eilte über den nassen Rasen zu dem Teenie, der sich ein Badehandtuch über die Schultern gelegt hatte. »Du gehst«, stellte er fest und warf einen enttäuschten Blick auf das wartende Taxi.
»Ja, ich gehe.«
»Kommst du zurück?«
Im Leben nicht. »Weiß ich noch nicht. Deshalb musst du mir jetzt sagen, woher du den Ohrring hattest.«
»Von der Krankenschwester.«
»Die du letzte Nacht gesehen hast?«
»Ja«, sagte Rinko und nickte.
»Die mit dem blauen Kittel?«, fragte Cassie, um ihn auf die Probe zu stellen.
Rinko schüttelte den Kopf. »Nein, die mit der weißen Schürze.«
Cassie bekam weiche Knie. Rinko hatte sie also tatsächlich auch gesehen. »Weißt du, wie sie heißt? Arbeitet sie hier?«
»He, Hosenscheißer, du bist dran!«, rief einer der Jugendlichen Rinko zu.
»Halt die Klappe, Sackgesicht«, gab dieser zurück, dann sagte er an Cassie gerichtet: »Ich muss jetzt wieder zu den anderen.«
»Kennst du die Krankenschwester?«, drängte Cassie.
Kopfschüttelnd zuckte Rinko mit den Schultern. »Die kennt hier keiner.«
»Gehört sie zum Klinikpersonal?«
»He, Stinko-Rinko, willst du verlieren?«, rief ein Junge. Auch der Taxifahrer verlor allmählich die Geduld und drückte auf die Hupe.
»Ich verliere nie«, gab Rinko zurück und lief zu den anderen auf die Wiese.
»Steven! Hat die Krankenschwester hier gearbeitet?«
Wieder ertönte die Hupe. »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!«, rief der Taxifahrer.
Cassie ging zum Taxi und stieg ein. Sie nannte dem Fahrer die Adresse, doch bevor sie die Wagentür zuzog, warf sie noch einen Blick auf das alte Backsteingebäude mit den großen Fenstern. Woher wusste die Krankenschwester in der altmodischen Tracht, dass Allie noch lebte?
Auf der Fahrt dachte sie an das Gespräch mit der Psychiaterin zurück. Ihre Mutter machte sich Sorgen, damit hatte Dr. Sherling recht. Große Sorgen sogar, wie Cassie wusste, ebenso wie Robert, ihr Vater. Cassie hatte lange mit ihm gesprochen. Und genau deshalb würde sie alles daran setzen, ihre Schwester zu finden.
Sie bekam Kopfschmerzen, als sie an den Zerfall ihrer Familie dachte. Ihre Mutter und ihr Stiefvater, ein ehemaliger Sheriff, wohnten in Oregon. Ihr heiratsfreudiger Vater lebte nach wie vor in Los Angeles, mit Felicia, seiner neuesten Frau, einer Möchtegernschauspielerin, die natürlich zwanzig Jahre jünger war als er.
Aber was spielte das schon für eine Rolle?
Cassie schloss die Augen und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Monatelang war sie sich vorgekommen wie ein Zombie. In der Klinik hatte man ihr vorgeschrieben, was sie wann und wo zu tun und wo sie wann zu sein hatte. Jetzt musste sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen.
Zunächst einmal brauchte sie eine Unterkunft, für wie lange, wusste sie noch nicht. Ein Auto wäre ebenfalls nützlich. Und sie musste dringend ihr Handy aufladen.
Du solltest dir eine Strategie zurechtlegen, sagte sie sich, als das Taxi an den unerschütterlichen Joggern und Fahrradfahrern vorbei auf der kurvigen Straße die westlichen Hügel hinunterfuhr.
Ihre Ambitionen in Hollywood hatte sie aufgegeben, als ihre Schwester ihr buchstäblich die Schau gestohlen hatte. Auch ohne die vernichtenden Kritiken wäre ihr wohl bald klar geworden, dass die Schauspielerei nicht das Richtige für sie war. Sie hatte sich immer schwer damit getan, in eine Rolle hineinzufinden. Allie hingegen war ein Naturtalent. Das Schauspielen lag ihr einfach im Blut und ließ sie jegliche Schüchternheit vergessen. Die Ironie bestand einzig und allein darin, dass sie, Cassie, es gewesen war, die ihre kleine Schwester in die Glitzerwelt von Hollywood gelockt hatte. Sie war es gewesen, die sie überredet hatte, Falls Crossing nach der Highschool hinter sich zu lassen.
Also war sie gewissermaßen für alles verantwortlich.
Hör auf damit. Schuldgefühle und Selbstmitleid bringen dich nicht weiter.
Das Taxi hatte die Talsohle erreicht. In Portland war der Verkehr auf der Interstate 5 oft genauso dicht wie in Los Angeles, aber heute war nicht allzu viel los, und der Wagen gelangte zügig über die Marquam Bridge auf die Ostseite des Flusses.
Eine Viertelstunde später füllte Cassie bereits den Vertrag für einen Mietwagen aus, einen kleinen, weißen Nissan. Heute würde sie in einem Hotel übernachten. Morgen würde sie sich um eine dauerhafte Bleibe kümmern.
Und dann würde sie herausfinden, was mit ihrer Schwester geschehen war.
Das Hotelzimmer war spartanisch eingerichtet: zwei Betten mit identischen Nachttischen und Decken, ein paar Bilder, ein Fernseher, ein Tisch und ein Stuhl mit Sitzkissen. Im Badezimmer waren auf engstem Raum Duschwanne, Toilette und Waschbecken untergebracht, ein langer Spiegel hing außen neben der Tür. Aber fürs Erste würde diese »Luxussuite« reichen. Beim Anblick des Telefons auf dem Nachttisch dachte Cassie kurz daran, ihre Mutter anzurufen, dann schob sie den Anflug von Schuldgefühlen beiseite, als sie beschloss, es nicht zu tun. Sie würde sich erst bei ihr melden, wenn sie eine dauerhafte Unterkunft gefunden hatte. Andernfalls hätte sie einen Schwall mütterlicher Fürsorge über sich ergehen lassen müssen. Es war nicht so, dass Jenna ihr ein schlechtes Gewissen einredete, jedenfalls nicht immer. Aber Cassie fühlte sich bei ihrer Mutter und ihrem Stiefvater auf der Ranch oberhalb des Columbia River einfach nicht wohl. Für ihren Geschmack war es dort zu einsam, zu ländlich, viel zu kleinkariert. Außerdem rief dieser Ort Erinnerungen hervor, die sie lieber unter Verschluss hielt.
Ihr Handy hing erst seit knapp einer Viertelstunde am Ladekabel, aber mehr Zeit hatte sie nicht. Nachdem sie eine gefühlte Ewigkeit untätig in der Klinik verbracht hatte, kam es ihr ohnehin vor, als liefe ihr die Zeit davon. Sie musste jetzt unbedingt etwas tun.
Sobald sie in dem Nissan saß, googelte sie die Adresse des Rehabilitationszentrums, in dem sich Lucinda Rinaldi derzeit befand. Allies Bodydouble hatte mehrere Operationen über sich ergehen lassen müssen, unter anderem an der Wirbelsäule und an der Leber. Aber zum Glück war alles erfolgreich verlaufen.
Nachdem sich Cassie durch das rechteckige Straßenraster im Osten Portlands manövriert hatte, stand sie schließlich vor dem Meadow Brook Rehabilitation Center. Der lang gestreckten Form und bräunlichen Farbe nach zu urteilen stammte das Gebäude mit der breiten Fensterfront aus den 1950er- oder 1960er-Jahren. Der Eingangsbereich befand sich in einem Vorbau des schlicht gehaltenen Bauwerks. Auf einer Seite des holprigen Fußwegs war ein Parkplatz, auf der anderen Seite ein verwilderter Rosengarten.
Am Empfangsschalter saß eine kräftige Frau mit rauer Stimme und freundlichem Lächeln, die nach einem Blick auf ihren Computerbildschirm fragte: »Sind Sie eine Verwandte?«
»Eine Bekannte.«
»Aber Sie stehen nicht auf der Besucherliste.«
»Ich war eine Zeit lang nicht vor Ort.«
»Sie hat gerade Physiotherapie.«
»Dann warte ich«, sagte Cassie in selbstverständlichem Ton. Bevor die Rezeptionistin Einwände erheben konnte, klingelte das Telefon, und das Gespräch forderte ihre gesamte Aufmerksamkeit.
»Moment bitte, wer spricht dort?«, sagte sie in den Hörer. »Um welche Art von Notfall handelt es sich?« Mit gerunzelter Stirn tippte sie etwas in den Computer ein, und Cassie nutzte die Gelegenheit. Sie tat, als wollte sie in einem der abgewetzten Sessel vor den Fenstern Platz nehmen, doch sobald die Rezeptionistin ihr den Rücken zukehrte, huschte sie an ihr vorbei und folgte den Schildern zur Physiotherapie. Falls die Frau es überhaupt bemerkte und den Sicherheitsdienst rief, konnte sie sich immer noch eine Ausrede einfallen lassen.
Cassie eilte durch die Gänge und landete in einem riesigen, grell beleuchteten Raum, der nach Schweiß, Kunststoff und Desinfektionsmitteln roch.
Auf zwei parallel verlaufende Geländer gestützt, machte Lucinda unter Anleitung eines Physiotherapeuten und einer Krankenschwester Gehübungen. Ihre ungekämmten Locken mit dem breiten Ansatz am Scheitel wurden von einem Haarband zurückgehalten, während sie sich schweißgebadet und mit hochrotem Kopf mühsam Zentimeter für Zentimeter vorwärtsarbeitete.
Als sie Cassie in dem großen Wandspiegel erkannte, geriet sie ins Stolpern. Hastig griff der Physiotherapeut nach ihrem Arm und stützte sie.
»Raus hier!«, zischte Lucinda aufgebracht.
»Hör mir doch erst einmal zu«, bat Cassie und näherte sich langsam, während Lucinda mithilfe des Therapeuten die Übung beendete und sich in den bereitstehenden Rollstuhl sinken ließ.
»Ich will nicht mit dir reden.«
»Aber warum denn nicht?« Perplex wollte sich Cassie an der Krankenschwester vorbeischieben, aber die verstellte ihr den Weg.
»Sie sollten lieber gehen«, sagte sie mit Bestimmtheit. Obwohl sie recht zierlich war, machte Louise-Marie, wie die Schwester laut ihres Namensschilds hieß, den Eindruck, als sei nicht mit ihr zu spaßen.
Doch Cassie blieb stehen und schenkte ihr keine Beachtung. »Ich wollte nur mal sehen, wie es dir geht und ob du Fortschritte machst«, sagte sie zu Lucinda.
Na klar doch, bedeutete Lucinda ihr mit einem Blick, dann legte sie los: »Weil deine dämliche Schwester bei den Dreharbeiten nicht aufgetaucht ist und ich als Ersatz herhalten musste, wäre ich fast gestorben!« Aufgebracht verzog sie das Gesicht. »Und das auch noch beim Dreh einer Szene, in der die Hauptfigur umgebracht wird. Was für eine Ironie des Schicksals! Wie kommt man nur auf so etwas?« Nach einem Blick in den Spiegel fügte sie hinzu: »Himmel, wo ist Laura Merrick, wenn man wirklich mal eine Maskenbildnerin braucht?«
»Aber es war ein Unfall.«
Lucinda bedachte Cassie mit einem weiteren finsteren Blick. »Es war ein Mordversuch! Aber der galt ganz bestimmt nicht mir! Jemand wollte Allie aus dem Weg räumen. Oder dich vielleicht.« Cassie wollte widersprechen, doch Lucinda war noch längst nicht fertig. »Und damit meine ich nicht Sig Masters, diesen Neandertaler. Der hat nur die Schüsse abgegeben. War zur falschen Zeit am falschen Ort, genau wie ich.« Sie zog sich das Haarband vom Kopf und wischte sich mit dem Ärmel ihres Sweatshirts den Schweiß von der Stirn. »Er hat mir einen Strauß Blumen geschickt. ›Sorry‹ stand auf der Karte.« Sie zog eine Grimasse und fügte hinzu: »Nicht zu glauben! Jemanden fast erschießen und dann denken, es wäre mit ein paar Blumen getan.«
Cassie schüttelte den Kopf. Sig Masters hatte sicher nichts mit der Sache zu tun. Das glaubten nicht einmal die Ermittler. Seine Akte war sauber, und abgesehen davon hätte er gar keinen Grund gehabt, Allie oder Lucinda etwas anzutun, und ihr schon gar nicht.
»Ich will doch nur meine Schwester finden«, beharrte Cassie.
Lucinda schnaubte verächtlich. »Ihr wart nicht gerade ein Herz und eine Seele. Angeblich hast du die Nebenrolle in Dead Heat nur bekommen, weil sie dir ein paar Krümel hingeworfen hat. Weil sie dachte, das brächte Publicity oder so.«
»Ach.«
»Nun tu nicht so! Das weiß ja wohl jeder.« Lucinda zuckte abfällig mit den Schultern und wischte sich erneut den Schweiß von der Stirn. »Deine Schwester finden! Die ist doch bestimmt längst tot.« Abermals wollte Cassie etwas entgegnen, aber Lucinda fuhr unerbittlich fort: »Eigentlich dachte ich, du wüsstest von allen am besten, was mit ihr passiert ist.« Sie löste die Bremsen des Rollstuhls und bewegte sich auf Cassie zu, die noch immer von Louise-Marie in Schach gehalten wurde.
»Wie kommst du denn darauf?«
Lucinda lachte höhnisch. »Es ist allgemein bekannt, dass du neidisch auf ihren Erfolg warst. Dann wird aus Versehen auf mich geschossen, sie verschwindet spurlos, und du landest im Irrenhaus.« Lucinda rollte immer näher zu Cassie. »Kommt doch alles sehr gelegen.«
»Was willst du damit andeuten?«, fragte Cassie bestürzt. »Soll das heißen … glaubst du etwa, ich wüsste, wo sie ist?«
»Wenn du dir diesen Schuh anziehen willst …«, gab Lucinda giftig zurück und blieb mit dem Rollstuhl an einer der Matten hängen, die unter den Übungsgeräten lagen. »Herrgott noch mal!«, fluchte sie in altgewohnter Manier. Als sie das Hindernis umrundet hatte und auf die Tür zurollte, die ihr von Louise-Marie aufgehalten wurde, setzte sie ihre Tirade fort: »Was willst du von mir, Cassie?«
»Ich will wissen, wo Allie ist.«
»Obwohl sie dir deinen Mann ausgespannt hat? Das glaube ich dir nicht!« Cassie fühlte sich, als hätte sie einen Schlag ins Gesicht bekommen. Beim Gedanken an Trent, ihren Nochehemann, brach ihr der Schweiß aus. Sie hatte ihn einst für ihre große Liebe gehalten, für ihren Seelenverwandten. Bis er sie hinterging. Sie musste an sich halten, um nicht die Fassung zu verlieren, denn sogleich hatte sie ihn wieder vor Augen: Trent, mit seinen markanten Gesichtszügen, den tief liegenden Augen und den fein geschwungenen Lippen, die er so gekonnt zu einem unwiderstehlichen, provokanten Lächeln verzog. Auf seine verwegene Art sah er unglaublich gut aus. Und sie in ihrer Naivität hatte ihn von ganzem Herzen geliebt.
Sie verdrängte das Bild und begegnete standhaft Lucindas hämischem Blick. »Mit Trent und mir war es ohnehin schon vorbei«, log sie.
»Trotzdem wundert es mich, dass die Cops dich im Zusammenhang mit Allies Verschwinden nicht genauer unter die Lupe nehmen. Das wäre doch naheliegend«, setzte Lucinda nach.
»Ich hatte damit nichts zu …«
»Nein, nein, natürlich nicht«, fiel Lucinda ihr ins Wort und lachte verächtlich.
Cassie musste sich zusammenreißen, damit sich ihre Wut, ihre Enttäuschung und ihre Angst nicht plötzlich Bahn brachen.
»Weißt du was? Mir reicht es jetzt«, sagte Lucinda, als hätte sie Cassies Stimmungswechsel bemerkt und fürchtete einen Gefühlsausbruch. »Ich darf sowieso mit keinem reden, der etwas mit Dead Heat zu tun hat – Anweisung meines Anwalts. Können wir jetzt endlich?«, fügte sie ungehalten an Louise-Marie gerichtet hinzu und rollte hinaus auf den Gang.
»Aber hier geht es doch gar nicht um juristische Fragen!«, rief Cassie ihr hinterher, woraufhin Lucinda eine Vollbremsung machte und den Rollstuhl um hundertachtzig Grad drehte.
»Auf welchem Planeten lebst du eigentlich? Die Erde kann es nicht sein, und Amerika erst recht nicht. Da geht es nämlich nur um juristische Fragen.« Eine weitere Hundertachtzig-Grad-Drehung, dann rollte Lucinda hocherhobenen Hauptes davon.
Schachmatt.
Mit offenem Mund stand Cassie da. Sie war kurz davor, hinter Lucinda herzulaufen und auf Antworten zu bestehen, aber damit hätte sie lediglich riskiert, achtkantig aus Meadow Brook hinausgeworfen zu werden. Abgesehen davon wusste Lucinda vermutlich auch nicht mehr als sie.
Auf dem Weg zum Ausgang rannte sie beinahe eine Frau mit Rollator um und wurde mit den Worten: »Passen Sie gefälligst auf, wo Sie hinlaufen!«, zurechtgewiesen.
Umso eiliger hatte sie es, das Rehabilitationszentrum zu verlassen. Sie stieß die Tür auf, holte tief Luft und eilte hinaus auf den Parkplatz.
Lucindas Anschuldigungen hallten ihr noch in den Ohren. Es war etwas Wahres daran. Sie und Allie waren in den letzten Jahren durch eine Art Hassliebe miteinander verbunden gewesen. Wütend und verletzt über die Scheidung ihrer Eltern, hatte Cassie als rebellischer Teenager ihre Mutter bei jeder sich bietenden Gelegenheit herausgefordert. Von Kalifornien nach Oregon zu ziehen, hatte ihr gehörig zu schaffen gemacht. Sie hatte alles an Falls Crossing gehasst. Selbst ihr damaliger Freund Josh war ihr auf die Nerven gegangen, und Jenna, nach der Scheidung selbst kein leuchtendes Beispiel in puncto Beziehungen, war ganz und gar nicht einverstanden mit ihm gewesen.
Auch Allie hatte unter der Scheidung ihrer Eltern und dem Umzug in den Norden gelitten. Aber sie war introvertierter und in Cassies Augen zu jener Zeit ohnehin noch ein kleines Mädchen, das sich in erster Linie vor der Schule drücken wollte. Erst auf der Highschool hatte sie sich auf die Hinterbeine gesetzt und bald alle anderen ausgestochen.
Cassie hatte es damals kaum glauben können. Die kleine, schüchterne Allie wurde nicht nur zu einer Musterschülerin, sondern gleichermaßen zu einer Sportskanone, die sogar ein Stipendium fürs College hätte bekommen können. Ihre Mutter war sehr stolz auf ihre jüngere Tochter, was Cassie, die gerade versuchte, in Hollywood Fuß zu fassen, furchtbar eifersüchtig machte. Noch heute spürte sie Ärger und Neid, wenn sie daran dachte, wie ihre Mutter damit angegeben hatte, an welche Colleges Allie hätte wechseln können.
All das war so absurd gewesen.
So falsch.
Cassie hatte sich in das Leben ihrer Schwester eingemischt, und das hatte sich als der größte Fehler erwiesen.
Hätte sie es nicht getan, wäre Allie vielleicht mit einem »ganz normalen« Leben zufrieden gewesen. Aber nein: Cassie hatte ihre jüngere Schwester ja überreden müssen, nach Hollywood zu kommen. Zunächst hatten sie sich recht gut verstanden, aber dann hatte es immer wieder Streit gegeben.
Verfluchter Mist, dachte Cassie seufzend, als sie wieder in den Mietwagen stieg. Die Empfangsdame mit der rauen Stimme stand auf dem Gehweg, rauchte eine Zigarette und sah skeptisch zu ihr hinüber. Cassie ignorierte sie und gab Vollgas.
Der Besuch bei Lucinda Rinaldi hatte sich als absoluter Reinfall erwiesen. Sie würde sich etwas Besseres einfallen lassen müssen.
Auf dem Weg zurück zum Hotel summte ihr Smartphone. Cassie warf einen Blick auf die Anruferkennung: ihre Mutter. Sie ließ die Mailbox anspringen und bog ab zu dem Starbucks, den sie auf dem Hinweg erspäht hatte. Am Drive-in-Schalter bestellte sie einen Caffè Latte und ein Himbeer-Scone und fuhr weiter zu ihrer Unterkunft.
In ihrem Zimmer stöpselte sie das Ladekabel ins Smartphone, schaltete den Fernseher ein und sprang unter die Dusche. Kurz darauf saß sie in sauberer Jeans und einem frischen Sweatshirt an dem kleinen Tisch, trank den Kaffee und aß das Scone, von dem sie natürlich nicht satt wurde. Später musste sie unbedingt etwas Anständiges essen, dachte sie und warf die Verpackung in den Papierkorb.
Und sie musste sich eine Strategie zurechtlegen, wenn sie ihre Schwester tatsächlich finden wollte. Es gab Dutzende von Vermisstenfällen. Menschen verschwanden von heute auf morgen und blieben wie vom Erdboden verschluckt. Aber nicht eine Sekunde lang glaubte Cassie, dass Allie zu diesen Fällen gehörte. Dafür schien das Timing viel zu perfekt. Es hatte fast den Anschein, als hätte Allie gewusst, dass an genau dem Tag am Set von Dead Heat etwas passieren und sie zur Zielscheibe werden würde.
War das zu weit hergeholt?
Möglicherweise.
Doch bei Allie war so einiges möglich. Auch die Inszenierung ihres eigenen Verschwindens?
Eine weitere von vielen unbeantworteten Fragen.
Cassie ließ sich aufs Bett sinken. Eigentlich hätte sie ihre Mutter zurückrufen sollen. Aber sie war noch nicht so weit, über all das mit Jenna zu sprechen, geschweige denn mit Shane Carter, ihrem Stiefvater. Mit dem hinterwäldlerischen Ex-Sheriff war sie nie richtig warm geworden. Und überhaupt, wie konnte man nur auf die Idee kommen, einen Polizisten zu heiraten?
Cassie war froh gewesen, als sie Falls Crossing endlich hinter sich lassen konnte. Mit fliegenden Fahnen war sie nach der Highschool zurück nach L. A. gegangen, wo Robert, ihr leiblicher Vater, lebte. Auch um seine Aufmerksamkeit hatte sie immer kämpfen müssen. Als Allie einige Jahre später nach Hollywood folgte, wollte er mit ihr und Cassie zu einem Dream-Team werden.
Wieder spürte Cassie die alte Eifersucht. Offenbar hatte sie ihre Gefühle noch immer nicht unter Kontrolle. Sie schloss die Augen und zwang sich, langsam ein- und auszuatmen. Es war noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden her, dass sie die Klinik verlassen hatte. War es vielleicht doch ein Fehler, die Medikamente so plötzlich abzusetzen? Aber Dr. Sherling hatte sie ja zum Glück wieder in ihre Tasche gesteckt.
Cassie öffnete die Augen und starrte auf den Fernseher. Die Tatsache, dass sie die Tabletten noch hatte, bedeutete nicht, dass sie sie auch nehmen musste. Sie änderten ohnehin nichts, waren lediglich eine Krücke, wie das Gerät, an dem Lucinda Rinaldi wieder laufen lernte.
Der Gedanke an Lucinda brachte sie erneut auf Allie. Allie mit ihrem elfenhaften Gesicht und dem glänzenden, leicht gewellten Haar, das in der Sonne zwischen golden und rötlich changierte. Allie mit ihren kaum erkennbaren Sommersprossen und den strahlenden, ausdrucksvollen braunen Augen. Rein äußerlich ähnelte sie mehr ihrem Vater, aber was ihre Leinwandpräsenz betraf, kam sie ganz auf Jenna. Beide waren ungeheuer telegen. Eine weitere Ironie des Schicksals, dachte Cassie. Hatte man ihr doch, seit sie klein war, immer wieder erzählt, sie sei das Ebenbild von Jenna Hughes. Ihr Haar war etwas heller, aber sie hatte Jennas grüne Augen, die hohen Wangenknochen, die geschwungenen Augenbrauen und das spitze Kinn. Genutzt hatte es ihr allerdings nichts.
Die Kamera liebte Allie, wie es so schön hieß. Sie fing ihren inneren Funken ein. So war es nun einmal. Und Cassie? Sie hatte nicht mithalten können. Allie war in L. A. aufmarschiert und hatte mit ein wenig Unterstützung seitens ihres Vaters, eines ehemaligen Filmproduzenten, bei einem Werbespot mitgemacht. Kurz darauf hatte sie eine kleine Rolle in einer Vorabendserie ergattert. Diese Nebenrolle nutzte sie als Sprungbrett für größere Fernsehrollen, und ein Jahr später hatte sie den Vertrag für einen Kinofilm in der Tasche. Das Drehbuch war extra für sie geändert worden, um ihre Rolle auszuweiten. So einfach ging das also! Allie Kramer, nicht ihre ältere Schwester, trat in die Fußstapfen ihrer berühmten Mutter.
Eine Zeit lang hatte sich Cassie noch weiter abgestrampelt und sich anschließend auf das Schreiben von Drehbüchern verlegt. Überraschenderweise sollte sich die Vorhersage von Mrs Crosby, ihrer Englischlehrerin in Falls Crossing, bewahrheiten, die behauptet hatte, Cassie besitze Talent zum Schreiben.
Das war doch immerhin etwas.