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Die Insel Olchon im Baikalsee ist der Ort, an dem Bernhild Halemeyer und ihr Lebensgefährte ihren besonderen Platz zum Leben finden. Beide sind sich einig: Hier wollen wir bauen, hier wollen wir leben - ohne Wasser und ohne Strom! Im ersten Teil beschreibt die Autorin ihre Reise zum Baikalsee und die vielen überraschenden Begegnungen, die sie unterwegs machen durfte. Im zweiten Teil erzählt sie von den 20 Jahren im Dorf Charanzi und ihren Hilfsprojekten, vom Wechsel der Jahreszeiten und dem Leben mit den Einheimischen, vom grandiosen Baikaleis, aber auch von den Schwierigkeiten nach der Perestroika.
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Seitenzahl: 347
Für Leonid
und meine Kinder
Martin, Christian, Dietrich
Oh, Russland, rote Himbeerweiten,
Azure, die durch Flüsse gehn,
ich liebe freudenvoll und leidend
die dunkle Schwermut deiner Seel.
Sergej Jessenin
Statt eines Vorwortes oder Wie alles anfing
SIBIRIEN BAIKAL OLCHON
Juli 1994
August 1994
September 1994
Oktober 1994
November 1994
Dezember 1994
SIBIRIEN BAIKAL OLCHON CHARANZI
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
2012
2013
2014
Statt eines Nachwortes oder Was davon bleibt
Wie hast du Leonid eigentlich kennengelernt? Und warum ausgerechnet Russland? Die beiden Fragen höre ich immer, wenn ich von meinem Leben in Sibirien erzähle.
Um mit der zweiten zu beginnen: »Als du geboren wurdest am 9.1.1940 morgens um 7 Uhr, zog dein Vater um 9 Uhr als Soldat in den Krieg«, wo er 1942 vor Moskau fiel. Dieses Mantra meiner Mutter hat sich dem Kind sicher eingeprägt, sodass ich im Unterschied zu meinen Schwestern immer einen unbewussten Draht zu Russland verspürte.
Die Frage, wie hast du Leonid kennengelernt, beantwortet sich durch diese Vorgeschichte. 1988 starb mein Mann, Pfarrer in Bielefeld, ganz plötzlich in einer Operation. Ich hing buchstäblich in der Luft. Mein Beruf als Pfarrfrau, damals noch die offizielle Version der evangelischen Kirche, war weg. Und da mein jüngster Sohn gerade Abitur gemacht hatte, endete auch meine Rolle als Familienmutter.
So verwirklichte ich 1990 einen lebenslangen Traum, hoch oben Dächer zu bauen und machte ein Praktikum in einer Zimmerei. Man muss wissen, dass ich Steinbock bin, gerne klettere und die Zimmerleute immer beneidet habe. Nach diesem Praktikum fiel mir ein Zeitungsbericht in die Hände: Lehmhausbau für Tschernobylfamilien in Weißrussland. Das interessierte mich natürlich, wie baut man ein Lehmhaus? Und so fuhr ich mit der ersten Zimmermannstruppe nach Lepel bei Minsk. Gleichzeitig mit uns baute eine russische Brigade unter der Leitung von Leonid Malinovskii auch Lehmhäuser in diesem Dorf, allerdings mit anderer Technologie. Als er danach bei unserem Zimmermann in Deutschland ein Jahr arbeiten konnte, freundeten wir uns an, stellten fest, dass wir beide einen Hang zum Weltenbummler haben und beschlossen, gen Osten zu reisen zum Baikalsee.
Wie sich unser gemeinsames Leben gestaltete, davon handelt dieses Buch. Der erste Teil ist ein Reisebericht und erzählt von der Fahrt von Minsk bis auf die Insel Olchon im Baikalsee. Der zweite Teil beschreibt unsere Autofahrt durch Sibirien, 1995 noch ein richtiges Abenteuer. In ihm erzähle ich von den zwanzig Jahren unseres Lebens in einem burjatischen Dorf auf der Insel Olchon, erzähle von den Schwierigkeiten nach der Perestroika, von den Burjaten und ihrer ganz anderen Kultur und von der grandiosen Landschaft und dem unbeschreiblichen Licht, das es nur auf der Insel Olchon gibt – mitten im Baikalsee.
Reisetagebuch zum Baikalsee
Donnerstag. 14.7.
Heute geht die Reise los mit der Transsibirischen Eisenbahn zum Baikalsee, heute am Unglückstag meines Mannes vor sechs Jahren, der vom Kirschenbaum fiel und in der Operation starb. Ist es Zufall? Mit Leonid Malinovskii, den ich beim Lehmhausbau für Tschernobylfamilien in Lepel, Weißrussland, kennengelernt habe. Wir wollen nach Osten zum Baikalsee. Wir wissen noch nicht, wie weit uns die Gemeinsamkeiten tragen, eine deutsche und eine russische Seele mit ihren Erkern und Balkons.
Ursprünglich planten wir mit einem umgebauten VW-Transporter zu fahren. Leonid hatte rechts und links extra schmale Fenster eingebaut. Damit uns die Leute die Scheiben nicht einwerfen, meinte er. Eine Fahrt durch Sibirien mit dem eigenen Auto ist nicht ohne Risiko. Doch als wir damit in Minsk ankommen, wo Leonid wohnt, heißt es, nun sieht er wirklich aus wie ein Geldtransporter. Also die Entscheidung, wir fahren mit dem Zug.
Zufällig sind auch mein Schwager Wolfgang und mein Sohn Martin in Minsk, die einen weißrussischen Künstler besuchen. Sie sind mit einem alten grünen Mercedes gekommen, wollen ebenfalls nach Osten, vielleicht Kirgisistan, Issyk Kul oder auch Baikal? Unterwegs werden sie in Nowosibirsk Inna abholen, eine Dolmetscherin, zum Schluss den Mercedes verkaufen und zurückfliegen. Vor einer Woche sind die Beiden gefahren mit ihrem alten Mercedes.
Leonid und ich starten heute Abend. Den ganzen Tag eingekauft, Piroggen gebacken, gepackt, dann mit dem Taxi und unserem großen Gepäck zum Bahnhof: Nachtzug Minsk-Moskau. Eine Fahrt durch die weißrussische Landschaft, viel Wald, kleine Dörfer, Datschen, mal ein Fluss, ein See und alles vergoldet von der Abendsonne. Wir machen uns schlaffertig, schauen in den Abendhimmel und wünschen uns »Spokoinoi Notschi«, Gute Nacht.
Freitag, 15.7.
Ich sitze den ganzen Vormittag in Moskau auf dem Gepäck, während Leonid oder Lonja, wie ich ihn nenne, sich um die Fahrkarten kümmert. Am Jaroslawer Bahnhof startet die Transsib. Wir haben sogar Luxusklasse gebucht, d.h. aus dem Viererabteil, rechts und links zwei Betten übereinander, wird ein Zweierabteil, indem man die oberen Betten hochklappt. Ein gemütlicher Abendimbiss bei einer Kerze und mit einer Flasche Rotwein. Leonid meint: Nächstes Jahr doch lieber mit dem Bulli, da man vom Zug aus nicht viel mehr sieht als Wald, Wald, Wald, mal ein Stückchen Feld und Häuser.
Nach einem schönen Mittagsschlaf wieder Halt auf einem kleinen Bahnhof. Wir stürzen uns ins Treiben. Junge und alte Frauen, die rufen, Bier, warmes Huhn, Eier, Zwiebeln, Piroggen, Eskimoeis. Wir kaufen ein halbes Huhn und eine Flasche Kefir, unser Mittagessen. Dann müssen wir sehen, dass wir zurückkommen. Die Treppenstufen unseres Abteils sind schon eingefahren.
Sonntag, 17.7.
Gestern Abend haben wir bis 23.30 Uhr ins Dunkle geschaut und versucht, einen weißen Obelisken zu sehen, der die Grenze zwischen Europa und Asien markiert oben auf dem Ural. Als der Zug dann tiefer und tiefer fuhr, meinte Leonid, nur eine kleine weiße Säule gesehen zu haben, echt enttäuschend. Ich hatte mir den Ural als ein hohes Gebirge vorgestellt. Aber es ist eher eine langsam ansteigende und langsam abfallende Hochfläche, oben zig kilometerbreit, ein uraltes Gebirge.
Heute morgen, ich bin noch ungewaschen, weil die Toilette verschlossen ist, kauft Leonid das erste russisch-asiatische Brot. Es ist heller, nicht so säuerlich wie in Minsk und Moskau. Gemütliches Frühstück in unserem 2er-Abteil. Dann der Luxus des Haarewaschens mit warmem Wasser, denn wir haben extra eine Plastikschüssel mitgenommen. Und wieder sitzen, lesen, schreiben.
Nach Omsk weite Landstriche mit toten Birken, weiße Wälder ohne Laub. Die Zugbegleiterin meint, das Wasser sei vergiftet. Aber wodurch? Sie weiß es nicht. Das Gebiet hinter dem Ural ist das schlimmste, das ich kenne. Schlamm, Regen, kalt, öde, sumpfig, und das nicht im Frühjahr oder Herbst, sondern im Sommer.
Dienstag,19.7.7.
Als wir morgens in Krasnojarsk ankommen, telefonieren wir nach Nowosibirsk. Martin und Wolfgang sind angekommen mit ihrem alten grünen Mercedes. Gott sei Dank! Als nächstes rufen wir Gleb an, Freund eines Minsker Kunstschmiedes, bei dem ich zwei Wochen gearbeitet habe. Ich erzählte ihm von unserer Reise, und dass wir in Krasnojarsk die Zugfahrt mit der Transsib unterbrechen und durch Chakassien nach Kysyl fahren wollten, dem geographischen Zentrums Asiens am Jenissei. Er sagte, ich gebe euch die Telefonnummer von Gleb, einem Freund von mir. Ruft ihn an, er wird euch alles zeigen.
Gleb kommt zum Bahnhof. Im Taxi fahren wir zum Kunstinstitut. Der Direktor hat Geburtstag. Alle Lehrer, etwa 15, sind im Lehrerzimmer versammelt. Wodka, Champagner, Kuchen, Johannisbeeren und natürlich Brot. Wir werden herzlich aufgenommen. Nach zwei Stunden gehen einige und der Direktor Sachar, ein Grafiker, zeigt uns nebenan seine Bilder. Immer wieder Kamtschatka. Er ist oft dagewesen, hat im Zelt kampiert, die Einheimischen beobachtet. Ein echter Sibirjak. Inzwischen ist der Rest nebenan so weit, dass lautstark gesungen wird.
Langsam brechen wir auf, der Wagen des Instituts mit unserem Gepäck und Gleb und Sachar und wir. Ich habe das Gefühl, sie streiten sich, bei wem wir bleiben sollen. Mit meinen geringen Russischkenntnissen verstehe ich kaum etwas. Gleb ist ziemlich hinüber. So fahren wir zu Sachar. Er zeigt uns seine »Masterskaja«, Werkstatt, in der riesige Holzspielzeuge stehen, unzählige Figuren und anderes, was sich dreht und hebt und irgendwie bewegt, wenn man es schiebt oder zieht. Er lebt aber nicht davon, sondern ist Vorsitzender der Künstlervereinigung im Krasnojarsker Gebiet.
Abends als wir zu viert noch sitzen, singt seine Frau Tosja zu alten Texten selbst komponierte Melodien, wie improvisierte Musik, die von Wiederholungen lebt. Um 24 Uhr gehen wir zu Bett, doch Leonid und Sachar haben wohl noch bis 2 Uhr nachts gesessen und getrunken.
Mittwoch, 20.7.
Morgens mit Gleb zum Institut. Die Arbeiten der Studenten scheinen mir sehr gut. Allerdings werden sie streng klassisch unterrichtet, sodass es sicher schwierig ist, sich davon zu lösen und Eigenes zu machen. Zum Mittagessen in eine Künstlerkneipe.
Nachmittags Isomatten kaufen, da wir nur Schlafsäcke dabei haben. Es gibt ein Gewitter, ein Wolkenbruch und Krasnojarsk steht unter Wasser. Wir laufen durch riesige Pfützen, erst in die falsche Richtung, müssen zurück, schaffen noch alles, Blumen für Tosja, Champagner für Sachar und Gleb, das Gepäck umpacken, Abendessen und ab zum Bahnhof zur Fahrt nach Kysyl.
Donnerstag, 21.7.
Morgens um neun Uhr in Minusinsk, Chakassien. Hier endet die Zugstrecke, weiter geht es nur per Bus, der allerdings erst abends fährt. So ist Zeit für einen Museumsbesuch. Ein Ehepaar, dessen Besuch nicht mit dem Zug gekommen ist, bietet sich als Taxi an und fährt uns zum alten Museum. Beide sehen aus, als kämen sie aus Bünde oder Bielefeld. Nein, sie ist aus Riga. Vor dem Museum abseits der Straße in der Sonne eine Bank, wie geschaffen für unser Frühstück.
Um 9.45 Uhr, als das Museum öffnet, kommt die Museumsdame schon auf uns zu, geleitet uns nach hinten und bemitleidet uns, dass wir so viel schleppen müssen. Das Museum ist wirklich interessant, viele alte Funde. Zwei Dinge gefallen mir besonders. Einmal riesige Steinskulpturen, ganz einfach mit archaischen Zeichnungen, die Andeutung eines Gesichts vielleicht, zum anderen die Schamanenecke. Ein Gewand mit Trommel und allem Brimborium in Erdfarben und Rosttönen. Welch ein Geschmack früher.
Die Abfahrt nach Kysyl wird ein Chaos. Der Bus, der um 19 Uhr fahren sollte, fährt um 18 Uhr. Die Leute, die hinter Leonid in der Schlange standen, um Fahrkarten zu kaufen, sitzen schon drin. Er konnte nur ein Ticket kaufen, das zweite müssen wir uns schwarz besorgen. Die Fahrt mit dem alten wackligen Bus ist ein Abenteuer. Manchmal denke ich, wir kippen um und stürzen in eine steile Schlucht.
Freitag, 22.7.
Nachts um 4 Uhr sind wir in Kysyl. Der Busfahrer ist so nett, uns noch zum Denkmal am Jenissei zu fahren, ein hoher weißer Obelisk. Ich stehe andächtig davor. Es ist das Zentrum Asiens, Nabel der Welt genannt. Nicht weit davon machen wir unter den Bäumen ein Heulager, cremen uns tüchtig ein und werden trotzdem von Mücken geplagt.
Frühmorgens kommen zwei Frauen vorbei. Ich frage nach einer Sauna, Banja. Sie meinen, es sei gefährlich, hier am Jenissei als Ausländerin zu nächtigen. Als sie jedoch hören, dass Leonid russisch spricht, sieht die Sache schon anders aus.
Inzwischen regnet es richtig. Wir packen in aller Eile zusammen und machen uns auf zur Kunstschule, Adresse und Telefon des Direktors haben wir von Sachar. Sie ist tatsächlich geöffnet morgens um 7 Uhr, und Leonid traut sich auch, den Direktor anzurufen. Während wir auf ihn warten, frühstücken wir schon mal, können auch heißes Wasser bekommen. Als Viktor kommt, ein kleiner, quirliger Mann, lädt er uns gleich zu sich nach Hause ein.
Nach dem Mittagessen schlägt er vor, mit ihm in die Taiga zu fahren. Er ist ein echter Taigianer mit lustigen braunen Augen, ein Naturbursche, ein Jäger, der mit seiner Kiste durch dick und dünn fährt. Er erzählt, dass man sich im Winter dicken Filz auf den Nacken packt. Bären gehen ihrer Wege, wenn sie einen Menschen riechen, aber der Luchs sitzt oben im Baum und springt den Menschen von hinten an. Dann kann man nur noch sein langes Messer ziehen und zustechen. Ob er es selbst erlebt hat und ob es so stimmt?
Samstag, 23.7.
Heute ein Ausflug nach Süden mit Viktors Bulli oder Landrover, wie man will. Auch seine Tochter Ina fährt mit, die in Omsk studiert. Sie verrät mir, dass sie nie einen Tuwinen heiraten würde, weil sie riechen und nur Nasenküsse üblich sind.
Ich erlebe zum ersten Mal die russische Steppe, graugrüne, sanfte Hügel, grenzenlos, der Blick stößt nirgends an. Wir fahren lange, bergauf, bergab, inzwischen regnet es wieder. Ich wundere mich, dass wir auf den schlammigen Steppenwegen nicht steckenbleiben. Schließlich landen wir an einem See, ein Basislager für Fischer. Hier können wir übernachten.
Ein kleines Haus, in dem die Fischer wohnen und essen. Ein Eingangsraum mit Tisch und ein paar Stühlen, zwei Räume mit je acht Feldbetten an der Wand. Es gibt ein zweites Haus und ein drittes. Letzteres eine winzige Banja mit einem Riesenofen, daneben Ställe mit Schweinen, Gänsen und Hühnern, die draußen herumlaufen. Die Wiesen stehen teilweise unter Wasser, um die Häuser Schlamm.
Abends nimmt Viktor sein Akkordeon. Es wird getrunken, gesungen und gespielt bis spät in die Nacht. Offensichtlich um Geld. Sie schimpfen und lachen abwechselnd. Es geht um nicht wenig Geld. Ich würde gerne das Buch von Dostojewski »Der Spieler« lesen.
Sonntag, 24.7.
Morgens laufen Leonid und ich am See entlang und schwimmen zurück. Man merkt eine starke Strömung zur anderen Seite, vor der Viktor uns gewarnt hatte, schwimmen und schwimmen und kaum vorwärts kommen. Als wir im Fischerhaus ankommen, hat Ina Kartoffeln, Fleisch und Speck gekocht und gebraten, sehr fett und sehr schmackhaft, dazu Salat. Nach der Kälte im Wasser schmeckt es mir. Doch nachmittags habe ich Kreislaufbeschwerden und mir ist kotzübel. Erst als ich abends bei Viktor erbrochen habe, nachts noch einmal und einige Durchfälle hatte, geht es mir besser. Anderthalb Tage verfolgt mich dieses Essen.
Die Fahrt zurück nach Kysyl wird abenteuerlich. Nicht weit vom Fischerlager stecken zwei Männer mit ihrem Auto in einer Schlammschlucht fest. Beide Fahrer haben getrunken. Viktor zieht sie heraus, doch zwei Stunden brauchen sie, um den Auspuff zu säubern und hochzubinden. Das nächste Hindernis ist eine Brücke, die plötzlich aufhört. Nur Bretter liegen dort, wo die Räder fahren. Je nach Autogröße muss die Bretterlage verändert werden. Die Fischer, die hinter uns sind, fahren um ein Haar daneben. Aber sie schaffen es und kommen sogar unbehelligt von der Miliz – Alkohol am Steuer – nach Hause, wie Viktor am nächsten Tag berichtet.
Jetzt fährt er mit uns noch auf Schlammwegen quer über die Steppe zu zwei Jurten, die wir von ferne sehen. Drei Menschen liegen in ihren Betten und schlafen. Zwei Frauen und zwei Männer hantieren. Wir müssen uns setzen, selbstgemachten Quark probieren und gemahlenes Getreide mit Smetana, Viktor bietet Wodka an. Der Vater zeigt uns stolz eine Urkunde, in der steht, dass Jelzin ihm einen Mähdrescher schenkt. Jelzin war voriges Jahr mit dem Hubschrauber hier und hat ihn als einen noch nach alter Art lebenden Nomaden besucht. Kühe als Geschenk wären vielleicht besser gewesen.
Im Sommer wohnen sie hier auf der Steppe, im Winter auf der Seeseite in den Bergen. Im Sommer ist es dort wegen der Mücken nicht möglich. Er besitzt 56 ha Land. Die Kinder gehen in Kysyl zur Schule und leben dann bei Verwandten.
In einer Jurte könnte ich vielleicht leben. Jedoch nicht mit so vielen Töpfen und Schüsseln voll von rohem Fleisch, Innereien, Häuten, Blut und was es sonst noch an tierischen Dingen gibt.
Montag, 25.7.
Wir sind in Tuwa, wo der Schamanismus noch eine große Rolle spielt, und haben uns um 8 Uhr mit einem Schamanen verabredet. Er ist noch nicht da. Wir sollen um 10 Uhr wiederkommen. Leonid fährt zum Busbahnhof nach Billetts, ich bleibe und warte. Langsam kommen Leute. Ich werde in ein Zimmer geholt und darf zusehen, wie eine Frau einen Mann behandelt, indem ihre Hände 5 cm von seinem Körper entfernt ihn abstreichen. Dann massiert sie seinen Kopf. Um 9.30 Uhr kommt der Schamane, etwa 45 Jahre alt. Ich sage ihm, was ich möchte. Wir sollen um 12 Uhr wiederkommen, denn inzwischen sind die Warteräume rappelvoll.
Um 12 Uhr stehen wir Vier wieder da, Ina, Viktor, Leonid und ich, warten eine halbe Stunde. Der Schamane kommt und beantwortet einige Fragen. Dann verschwindet er zu seiner Mittagspause. Zwei junge Schamanen mit ihren Kostümen und Trommeln stehen schon da und warten. Das Ritual beginnt. Jeder Schamane hat seinen eigenen Rhythmus. Sie passen nicht zusammen, Polyrhythmik. Es kommt die Stimme dazu. Sie werden schneller und schneller, zum Schluss scheucht einer noch das Böse zur Tür hinaus. Die Selbstheilungskräfte des Menschen sollen so gestärkt werden.
Abends in Viktors Familie ein gemütliches Abendbrot auch mit der Babuschka, die von 1941 bis 1945 in der Roten Armee war, um Russland zu helfen, wie sie sagt. Zuerst war sie in Weißrussland, dann in der Ukraine, dann Polen, dann Berlin. Sie war damals 18 Jahre alt. Sie fragt mich: Berlin, so eine kultivierte Stadt, warum mussten die Deutschen nach Russland, wo es nichts gibt?
Dienstag, 26.7.
Morgens der Abschied. Es wird Zeit, dass wir weiterkommen. Eine tolle Erfahrung, von fremden Menschen, die nicht einmal wussten, dass wir kamen, so empfangen zu werden. Um 7 Uhr zum Bahnhof und mit dem Bus über Minusinsk zurück nach Abakan. Diesmal am Tage mit herrlichen Aussichten. Die Steppe hängt mir an. Sie ist wie die Wüste, nur steilere Berge und statt Sand graugrünes Gras. Als es dunkel wird, sehen wir einige dieser besonderen großen Steine, die wie Stelen auf der Steppe stehen, sicher auch mit uralten Zeichnungen wie im Museum.
Mittwoch, 27.7.
Von Abakan nach Krasnojarsk weiter mit dem Zug. Statt 10 Uhr morgens sind wir erst um 16 Uhr da. Das Gepäck zur Aufbewahrung, dann zu Tosja und Sachar, wo wir Geld deponiert haben. Tosja lässt nicht locker, ein schneller Abendimbiss und zurück zum Bahnhof. Wir bekommen Karten für den Nachtzug um 2.30 Uhr, haben also noch viel Zeit. Wir geben das restliche Gepäck ebenfalls ab und laufen zum Jenissei. Es ist ein schöner warmer Abend. Wir sitzen im Kies am Fluss, liegen im Park auf und unter Heu und wandern ganz gemütlich zum Bahnhof zurück.
Donnerstag, 28.7.
Abends spät sind wir in Irkutsk und erfahren am Telefon, dass Martin und Wolfgang mit der Dolmetscherin vor einer Woche aus Nowosibirsk abgefahren sind.
Sonntag, 7.8.
Ich sitze im Zelt auf der Insel Olchon. Es tröpfelt, die Sonne scheint, nachdem eben ein heftiges Gewitter niedergegangen ist. Ich schreibe weiter Tagebuch und sehe, der letzte Eintrag stammt vom 28.7. abends in Irkutsk. Was ist inzwischen alles passiert?
Als wir spät in Irkutsk ankommen, geben wir die Hälfte des Gepäcks nach bewährter Methode am Bahnhof ab. Die andere Hälfte, Rucksäcke und Futtertasche, nehmen wir mit zum Fluss, der Angara. Wir laufen an abgestellten Wagons vorbei und suchen eine Stelle zum Schlafen. Nach Auskunft der Frau in der Gepäckaufbewahrung sollte man hier nicht schlafen, nach Auskunft der Miliz möglich. Unter einem Baum auf einer Anhöhe hoch über dem Fluss finden wir einen herrlichen Schlafplatz, nur die Mücken stören.
Am nächsten Morgen mit dem Bus zur Schiffsanlegestelle der »Raketa«, einem Tragflächenboot, das nach Listwianka fährt, einem kleinen Dorf am Baikalsee, 65 km von Irkutsk entfernt. Wir kommen dort an, fragen nach dem Künstlerhaus, das uns Sachar in Krasnojarsk empfohlen hatte. Da wir kein Zelt haben, brauchen wir ein Zimmer. Niemand kennt es. Leonid geht zur örtlichen Verwaltung, um zu telefonieren und, es ist nicht zu glauben, Wolfgang telefoniert und Martin sitzt im Auto an der Straße. Man stelle sich das vor, nach 14 Tagen und 5000 km Entfernung treffen wir uns zufällig hier in Listwianka wieder. Die Überraschung ist perfekt.
Ergebnis: Wir gehen mit Wolfgang und Martin zu einem Ehepaar, wo die beiden wohnen. Katja ist Englischlehrerin, Russin, Andrè arbeitet in der Werft und fährt Touristen. Er ist ein Tatar mit diesen hellblauen, traurigen Augen. Die Dolmetscherin Inna ist im Dorf untergebracht in einem alten Holzhäuschen. In drei Tagen fahren die drei zurück, Inna nach Nowosibirsk, Martin und Wolfgang nach Deutschland, denn die Schulferien sind zu Ende. Dann können wir unten in dem Holzhäuschen wohnen. Im Augenblick tummelt sich alles bei Katja und Andrè, die noch zwei halbwüchsige Söhne haben. Auch Ludmilla, eine Makramee-Künstlerin, ist da. Nie kann ich ihre Erscheinung vergessen, eine blonde wunderschöne junge Frau in einem roten Kleid.
Als Martin, Wolfgang und Inna abgefahren sind, sagt Andrè: Ich muss am Wochenende auf die Insel Olchon und Touristenjachten betanken. Außerdem wollen wir Preiselbeeren suchen. Wollt ihr mit? Ursprünglich hatten wir geplant, mit einem Schiff die Lena abwärts bis nach Jakutsk. Doch das kann warten. Wir haben ja Zeit.
Also fahren wir mit Andrè, seinem Sohn Klima, seinem Bruder Vitali und dessen Frau Gera in seinem Pickup nach Olchon, nicht ahnend, dass es unsere Lebenswende bedeuten würde. Katja will nicht mitkommen. Später verstehe ich warum. Es ist die schlechte Straße und der Alkohol. Da, wo wir von der Trasse zur Insel abbiegen, beginnt die Schlaglochpiste über Berge und durch tiefe Täler. In Moräs an der Fähre angekommen ist es längst dunkel. Keine Fähre geht mehr, obwohl Saison ist. Die anderen übernachten im Auto, wir in einem winzigen Holzhäuschen auf Brettern. Abendbrot gibt es nicht.
Am anderen Morgen, als wir übersetzen, zum ersten Mal der Blick auf den Baikal. Das tiefblaue klare Wasser, dahinter die schroffen steilabfallenden Felsen der Insel in verschiedensten Farben und etwas entfernt das Festlandsgebirge. Wunderschön. Auf der Insel zuerst Steinwüste, dann Steppe, diese sanftgrüne Steppe, und wieder denke ich, Pferde, eine Jurte und in der Steppe wohnen, das wäre mein Ding.
Ein Wochenende mit Andrè und Klima, Vitali und Gera in Chujir am »kleinen Meer«, wie die Burjaten sagen, da es nur 250 m tief ist. Ein schöner Platz in der Bucht mit Sand, Kies, alten Kiefern, Felsen und jede Menge Müll. Flaschen gibt es nur als zerbrochene. Da die Russen viel trinken, liegt viel Glas herum. Wir haben uns häuslich eingerichtet mit Zelt, Tisch und Bänken und einer wunderbaren Feuerstelle unter einer alten Kiefer. Ein Wochenende mit Wodka und Fisch. Vitali und Andrè trinken viel. Ich wundere mich, dass Gera nichts dagegen hat.
Montag, 8.8.
Zweimal waren sie im Wald, um Beeren zu pflücken, Preiselbeeren und Blaubeeren. Beim zweiten Mal fuhr ich mit. Eine halsbrecherische Fahrt durch den Wald, zwischen den Bäumen hindurch, Zentimeterarbeit. Andrè ist ein Meister darin, aber abends war er auch total geschafft. Viele Beeren haben wir gepflückt. Nun hat Katja in Listwianka zu tun und wird Marmelade kochen, denn heute sind die vier abgereist. Am nächsten Wochenende wollen sie wieder Beeren pflücken und wir können in ihrem Zelt solange hier bleiben.
Heute Nachmittag war ich im Dorf. Gleich am ersten Haus über zwei Hügel frage ich nach Kefir, aber die Frau sagt, sie hätten nur eine Kuh und zeigt mir ein anderes Haus. Auf dem Weg zurück frage ich im anderen Haus bei Asja. Ich muss hereinkommen und bekomme Dickmilch. Morgen kann ich Quark holen, und da ihr Mann Fischer ist, dann auch frischen Fisch bekommen. Als ich weg bin, kommt sie mir noch nachgelaufen. Wenn es tüchtigen Regen gibt, können wir auch bei ihnen in der Mansarde wohnen, Platz ist genug. Solch eine Gastfreundschaft und Herzlichkeit, ist bei uns nicht vorstellbar.
Nachmittags sind Lonja und ich am Strand unterwegs, um einen neuen Platz zu finden. Frühmorgens kam eine ganze Sippe mit zwei Autos, zwei Schlauchbooten und Autoradio. Nichts ist schlimmer, als den ganzen Tag fremde Musik zu hören. Weit weg finden wir schöne Sanddünen, teilweise mit jungen Lärchen bewachsen.
Dienstag, 9.8.
Nun sind wir an unserem neuen Platz. Überall kleine Lärchen zum Aufhängen der Sachen. Als ich aus dem Dorf zurückkomme, wo ich bei Asja diesmal Quark, Sahne, Milch, Fisch und sogar ein Glas selbstgekochte Marmelade bekommen habe, hat Leonid schon Feuerstelle und Essplatz eingerichtet. Das Zelt liegt noch, aber die Pflöcke sind schon gespitzt. Es gibt ein leckeres Omulgericht, ganz frisch gebraten, eine Köstlichkeit. Der berühmte Omul ist ein lachsrosa Fisch im Baikalsee.
Mittwoch, 10.8.
Seit gestern starker Wind und Wellengang. Die herrlichste Aussicht hilft nicht, wenn der Kaffee vom Löffel weht. Leonid ist heute ins Dorf gegangen, um sich eine Spritze für seinen Rücken verpassen zu lassen. Jetzt ist es 13.30 Uhr. Ich will eigentlich kochen, habe aber keine Streichhölzer.
Donnerstag, 11.8.
Als Leonid gestern aus dem Dorf zurückkam, brachte er Gurken und Kräuter mit von Luba. Luba und Alec Sotnikow sind Studienfreunde von Andrè aus Listwianka. Sie waren unsere erste Anlaufstelle, als wir letzte Woche hier ankamen. So gab es abends ein leckeres Essen, Kartoffeln und Spiegeleier, dazu Gurkensalat mit frischen Kräutern. Nach dem Fisch- und Wodkawochenende mit Andrè und Vitali tut das Grüne richtig gut.
Freitag, 12.8.
Den ganzen Morgen Regen bis nachmittags. Frühstück im Minizelt, es geht, aber schlecht. Abends koche ich Tomatensuppe für uns und die Listwiankaleute, die heute kommen werden. Doch als sie uns an unserem neuen Platz finden, haben sie bei Luba und Alec schon gegessen und schlafen dort auch. Sie fahren mit Alec und seinem Sohn Goscha bald zurück, wollen Netze aufrollen. Leonid fährt mit zum Helfen.
Ich sitze den ganzen Abend am Feuer, dann auf einer Sanddüne hoch über dem See. Die Berge auf der anderen Seite haben mindestens drei Heiligenscheine.
Samstag, 13.8.
Morgens kommen Alec und Andrè und bringen Fisch. Sie trinken einen Kaffee, wollen gleich weiter. Andrè muss um 12 Uhr an der Fähre sein, die Touristenschiffe, zwei Jachten, mit Treibstoff versorgen. Alec will mit Sohn Goscha, seinem Nachbarn und Gera und Vitali Blaubeeren pflücken. Doch diesmal mit einem Motorrad mit Beiwagen, d. h. fünf Leute auf diesem Gefährt 8 km durch die Taiga. Ein 6. Platz für mich ist da wirklich nicht drin.
Dafür wandere ich am Vormittag durch den Wald, Urwald. Umgestürzte Baumriesen und dann wieder herrliche Grassteppe mit Felsen, die aus dem Boden wachsen. Als ich die letzte Anhöhe hinaufsteige, tut sich vor mir ein Blick auf wie im Märchen. Links der Baikal mit seinem weißen Festlandsgebirge, die Alpen. Geradeaus die Bucht und die Steppe, ähnlich wie Schottland. Rechts der Wald, wie das Wiehengebirge bei Nettelstedt, dem Dorf, in dem ich geboren bin. Und am Ufer eine kleine Insel. Ein schmaler Grasweg schlängelt sich die Steppe hinunter. Es ist wie in einem alten Park: bizarre Baumriesen, Kiefern und Lärchen, halb abgestorben treiben sie stellenweise neu aus.
Unten am Wasser ein kleiner Kiesstrand. Ich versuche, an dieser Stelle zur Insel zu schwimmen und merke, es ist eine Furt. Nur in der Mitte 2 m tief. Ich klettere die steile Anhöhe zur Insel hinauf. Doch die Möwen, die scharenweise und aufgeregt über mir fliegen, lassen mich umkehren. Wer weiß, in meinem Bikini und ohne Stock könnten sie mich hacken. Ein Mensch kommt wohl selten hierher. Später erfahren wir, dass die Dorfkinder aus Charanzi, die Insel heißt ebenfalls Charanzi, im Frühjahr in den Klippen die Möweneier sammeln.
Als ich um 14 Uhr zurück bin, Leonid hat mich am langen Strand schon kommen sehen, ist die erste Portion Omul schon knusprig und duftend auf dem Tisch. Ich erzähle ihm von diesem wunderbaren Platz. Ja, wenn man hier bauen könnte.
Sonntag, 14.8.
Morgens Regen und lange schlafen. Als wir den Motor von Alecs Boot hören, ziehen wir uns schnell an. Goscha kommt und bringt uns mindestens 10 Fische. Danach gehe ich ins Dorf, gebe Asja das Glas zurück. Wir tauschen Adressen aus. Sie lädt uns ein, wenn wir im Winter wieder hier sein sollten, bei ihnen zu wohnen. Gegen 17 Uhr bin ich zurück, zwei Stunden dauert der Weg vom Dorf. Nun kann ich das Zelt hüten und Leonid zu der kleinen Insel und der Steppenlandschaft wandern.
Deutsche, die morgens vorbeikamen und nicht weit von uns zelten, erzählen, dass im September in Irkutsk die erste Klasse einer Waldorfschule beginnt. Eine Waldorfschule für behinderte Kinder, durch Elterninitiative entstanden, soll ebenfalls anfangen. Das bedeutet für uns, dass wir uns mit diesen Leuten auf jeden Fall treffen sollten.
Abends kommen Andrè, Vitali und Gera. Es gibt viel gebratenen Fisch und Wodka. Zum Glück habe ich morgens eine Flasche Rotwein gekauft, sodass mir der Wodka erspart bleibt.
Montag, 15.8.
Andrè holt uns ab. Wir fahren zu Alec, wo zwei große Bottiche mit Fisch gefüllt werden, bestimmt 200 bis 300 Stück. Wenn man von der Insel kommt, so wie Andrè, Vitali und Gera jetzt, erwartet die ganze Verwandtschaft Fisch. Mit Andrès Pickup geht es zur Fähre. Wir setzen über und warten auf die Touristenjachten, die Andrè betanken soll.
Die Touristen steigen hier um in einen Bus, der auf die Insel fährt. Die Jachten fahren leer zurück nach Listwianka. Darum hatte Andrè uns angeboten, mit den Jachten zurückzufahren. Leonid ist Feuer und Flamme, ich bin etwas gespalten, weil ich schnell seekrank werde. Beide Nächte müssen wir in einem Hafen anlegen wegen starker Wellen. Aber ich schaffe es, nicht zu erbrechen. Eine der Anlegestellen ist Goloustnoe, ein riesiger verlassener Platz mit großen Hebekränen, dahinter das Dorf. Früher war hier ein großes Sägewerk. Auch wurden ganze Baumstämme nach Irkutsk geflößt. Jetzt ist der Wald rundum abgeholzt und aus Umweltgründen das Flößen verboten.
Mittwoch, 17.8.
Mit den Jachten zurück in Listwianka. Unser Häuschen, wo wir mit Inna gewohnt haben, ist besetzt. So schlafen wir bei Andrè und Katja.
Donnerstag, 18.8.
Heute fahren wir mit der ganzen Familie nach Irkutsk zur Babuschka, Katjas Mutter. Es ist 9 Uhr. Sie hat wohl nicht so früh mit uns gerechnet, wird dann aber sehr freundlich. Abends fahren wir mit Andrè zu Vitali, seinem Bruder, wieder warm essen, oh. Danach fährt Vitalis Familie zu ihrer Datscha, fünf Minuten entfernt, damit wir in ihrem Bett schlafen können. Wir beteuern immer wieder, dass wir auf dem Fußboden schlafen wollen. Aber sie haben Schweine und Hühner dort, müssen also auch füttern, wollen Wodka kaufen, also auch trinken.
Freitag, 19.8.
Wir haben uns in der Waldorfschule zum Helfen angemeldet. In einem zweistöckigen Holzhaus soll nach den Sommerferien mit der 1. Klasse begonnen werden. Eine alte Frau arbeitet mit, Schweizerin, Holzbildhauerin. Sie ist seit sechs Wochen hier, hat das große Waldorfschild geschnitzt, Kleiderhaken, Türgriffe, Toilettenpapierrollen und Klodeckel gemacht. Sie freut sich, dass Leonid beim Regal anfängt, ich schleife und öle Fußleisten. Um 14 Uhr ein leckeres Mittagessen mit der ganzen Gruppe und weiterschleifen.
Ich wundere mich, dass ich im fernen Sibirien auf eine Waldorfinitiative treffe. Jenny, eine pensionierte finnische Lehrerin, hat vor Jahren hier einen Kindergarten gegründet und Seminare in Waldorfpädagogik angeboten. Nun soll es weitergehen.
Abends fahren wir zurück zu Gera, Eier kochen und ab zum Bahnhof, denn wir wollen mit dem Nachtzug nach Ulan Ude, der Hauptstadt Burjatiens. Unser Plan ist folgender: Wir fahren von Ulan Ude zu dem berühmten buddhistischen Kloster Tarzan, weiter an der Ostseite des Baikal hoch nach Norden bis Ust Bargusin, wo die Halbinsel »Swjatoe Nos«, Heilige Nase beginnt. Dort gibt es laut unseres Reiseführers heiße Quellen im See.
Samstag, 20.8.
Von Ulan Ude aus geht´s mit dem Bus zum Kloster Tarzan, einer großen tibetischen Klosteranlage mit mehreren Gebäuden und dem reichverzierten Tempel. Wir nehmen an einem Ritual teil und hoffen auf ein Gespräch mit dem Lama. Doch es sitzen schon viele Leute dort, die Hilfe suchen. So sehen wir uns nur den Tempel an mit seinen vielen goldenen Buddha-Statuen, die Wände von oben bis unten mit bunten Patchwork-Decken behängt. Das, was ich mir vorgestellt hatte, ein tibetisches Kloster mit Meditation und verschiedenen Sitzungen am Tag, ist es nicht. Auch das Gästehaus, von dem in unserem Reiseführer die Rede ist, und in dem wir vielleicht zwei, drei Tage bleiben wollten, gibt es nicht. Also warten wir auf den Bus zurück.
In Ulan Ude rufen wir eine Frau an, die wir auf der Busfahrt zum Tarzan kennengelernt haben, eine Burjatin. Sie hörte, dass wir dort zwei Nächte bleiben wollten und sagte, wenn es nicht klappt, könnten wir bei ihr übernachten. Sie ist jetzt, 16 Uhr, nicht zu Hause. Also weiter zum »Rinok«, Markt, und Vitamine kaufen, Tomaten, Gurken, Paprika. Leonid besorgt es, während ich ein Museum besuche, damit wir unser Gepäck abstellen können. Um 18 Uhr rufen wir abermals an. Diesmal ist sie zu Hause. Ins nächste Taxi mit allem Gepäck und hin.
Morgens im Bus lernen wir uns kennen, abends stehe ich in Galjas Küche, schneide Gurken und Paprika. Sie meint, Kartoffeln müssten sein, sonst ist es kein richtiges Essen. Ja, die sibirische Gastfreundschaft. So spachteln wir unser Gemüse, eingelegte Tomaten und Gurken von ihr, Brot und Käse und Fisch aus der Dose von uns und Champagner, den wir noch schnell gekauft haben und stoßen an auf »Druschba«, Freundschaft.
Dienstag, 23.8.
Nach zwei regenreichen Tagen und einer Übernachtung an einem Schilfsee landen wir in Ust Bargusin. Noch am Busbahnhof fragen wir nach einem Lehrer der Schule, hoffen, von ihm ein Zelt zu bekommen. Denn dort, wo wir hinwollen, zu den heißen Quellen auf der Halbinsel »Swjatoe Nos«, gibt es nichts. Ein alter Mann hört unsere Frage und nimmt uns mit. Pavel ist Pensionär, hat ein altes Zelt, das er uns leihen will, und lädt uns ein, bei ihm zu übernachten. Ich muss schon sagen, wir sind Glückspilze.
Spätabends gehen wir mit Pavel, seinem Sohn und den beiden Hunden zum Baikal. Pavel ist ein echter »Sibir«. Er geht mit kurzer Hose ins Wasser, ich ein Stück weiter nackt und nass in die Klamotten. Es wird schon dunkel. Der Sohn geht abends noch weg. Er trinkt, sagt die Mutter, er hat es in der Armee angefangen.
Mittwoch, 24.8.
Heute Morgen Lebensmittel kaufen, dann zum Nationalpark »Swjatoe Nos«. Ein Häuschen, eine Schranke, drei Männer. Wir setzen uns zu ihnen und warten auf ein Auto, denn bis zur Halbinsel sind es etwa 40 km. Einer der Männer hatte sich gleich so vorgestellt, ich bin Jegor, die Mafia der Halbinsel. Wir holen unser Riesenbrötchen und Tomaten hervor, teilen unseren Imbiss und müssen auf Jegors Onkel trinken, der gestorben ist. Aber dann wird es weniger schön. Jegor ist schon ein bisschen hinüber und versteht nicht, dass wir am helllichten Tag nicht trinken wollen. Er gießt den Wein bei mir auf die Erde, bei Leonid auf die Hose. Die folgende heftige Auseinandersetzung verstehe ich nicht. Fast schlagen sie sich.
Nach sechs Stunden etwa, wir wollen uns gerade zu Fuß auf den Weg machen, kommt ein Auto. Die beiden Männer zögern, als sie unser Gepäck sehen, nehmen uns aber mit. Der Weg ist eine Zumutung. Loch an Loch oder Sand, rechts und links Sumpf, danach durch die Berge, hoch und runter. Ein ausländisches Auto würde das nicht schaffen.
Abends sind wir im Dorf Kurbulik. Ein Fischer will uns für 50.000 Rubel zu den heißen Quellen fahren, 20 Minuten mit dem Boot. Ein unverschämter Preis. Schließlich würde er es für 20.000 machen mit einer Flasche Wodka, doch Leonid will 10.000. Das lehnt er ab. So nächtigen wir auf dem Fußboden eines verlassenen Hauses. Es soll mal ein Büro gewesen sein, und nach dreimaligem Fegen mit Kiefernzweigen geht es einigermaßen, obwohl es immer noch schmutzig ist. Es gibt sogar einen Ofen, den Leonid anheizt. Zuerst qualmt er fürchterlich, aber dann tut er´s.
Donnerstag, 25.8.
Das Geschäft in Kurbulik ist am nächsten Morgen geschlossen, schade, kein Brot. Wir machen uns zu Fuß auf durch die Berge, Stunden unterwegs durch Sumpf und kniehohes Moos, ein riesengroßes Gebiet zwischen zwei Flüssen. Blaubeeren noch und noch. Nur schade, dass wir kein Gefäß haben. Lange geht es durch diesen Sumpf bis wir nach sechs Stunden am Baikalsee ankommen. Vor uns herrlicher Strand, hinter uns der Sumpf mit Bäumen. Ob hier die heißen Quellen sind? Aber nichts. Wir stapfen weiter über zwei Bergrücken. In der ersten Bucht nur Sumpf, in der zweiten ein Platz, wo gerade so unser Zelt hinpasst, und Mücken, Mücken. Schnell eincremen, Kapuze auf, es wird schon dunkel. Leonid spitzt die Holzpflöcke zu, und endlich steht das Zelt.
Freitag. 26.8.
Eigentlich wollen wir am anderen Morgen zurück und glauben, dass wir die heißen Quellen irgendwo im Sumpf verpasst haben. Doch dann sehen wir ein Stück weiter im dicken Nebel die schwachen Umrisse eines großen Schiffes. Leonid geht hin ohne Gepäck und kommt zurück. Dort sind tatsächlich die heißen Quellen. Also los. Ein herrlicher Platz. Ein überdachtes Rondell mit Tisch, Sitzbänken, Feuerstelle und zwei Holzkisten, eine im Meer, eine neben dem Rondell. Es dampft und riecht nach faulen Eiern, Schwefelwasserstoff, und 40° heißes Wasser.
Eine Gruppe junger Männer verlässt das Schiff, taucht in den Baikal. Ein älteres Ehepaar kommt zu uns ins Rondell, die Besitzer des Schiffes. Sie erzählen, es sind Bankiers aus Moskau, die dieses Schiff gemietet haben, 200 Dollar pro Tag. Das Ehepaar hat zwei Schiffe dieser Größe von der Verwaltung gekauft und zu Kreuzfahrtschiffen umgebaut. Es sind neun Mann Besatzung, zwanzig Touristen und drei Leute, die sich um die Touristen kümmern.
Nachdem alle weg sind, steigen wir ins heiße Wasser, danach Wäsche waschen und kochen. Abends wandern wir mit unserem Gepäck zur nächsten Bucht. Ein Tipp des Kapitäns vom Kreuzfahrtschiff. Hier ist zelten und Feuermachen verboten. Außerdem gibt es viele Schlangen durch das heiße Wasser.
Samstag, 27.8.
Nachts Regen. Unser Zelt ist nicht dicht. Die Kleidung, die an den Seiten lag, nass, die Schlafsäcke auch. Morgens Nebel, aber es bleibt trocken und wir können alles aufhängen. Zweimal am Tag wandern wir fünf Minuten durch den Wald zu den heißen Quellen, Schlangen sehen wir nicht. Dafür rundum verschiedenfarbige Gebirgszüge bis 2600 m hoch.
Sonntag, 28.8.
Wie ein altes Ehepaar fühlen wir uns, wenn wir in unserer Schwefelkiste kuren. Es ist herrlich, ins eiskalte Wasser, dann ins 40° heiße und zurück. An den Geruch gewöhnt man sich. Zum Frühstück gibt es keinen Kaffee mehr, gestern war der letzte Schluck.
Um 11 Uhr kommt ein Schiff zu den heißen Quellen. Sie nehmen Leonid mit nach Kurbulik. Eine Frau wollte dort für uns in der Zwischenzeit Brot einkaufen. Nun, während ich schreibe, ist Leonid sicher auf dem Weg zurück, will Blaubeeren pflücken und Pilze sammeln. Hoffentlich findet er einen guten Weg und muss nicht kreuz und quer durchs Unterholz wie wir am ersten Tag.
Nachmittags war ein Fischkutter in meiner Bucht, Jegor vom Schlagbaum, die Mafia, wieder betrunken und noch drei Männer. Ich soll an Bord kommen, will aber nicht. So kommt er an Land, sitzt kurz. Kaffee und Tee habe ich nicht mehr. Er klettert wieder in sein Schiff und sie dampfen ab. Um 21 Uhr kommt endlich Leonid, enttäuscht, dass ich ihn an den heißen Quellen nicht abgeholt habe, ich erleichtert, dass er den Weg zurück gefunden hat.
Nachts gibt es weiter weg ein heftiges Gewitter mit prasselndem Regen. Wir liegen in unserem Zelt rechts und links von einem Holzbrett und Plastik geschützt, so meinen wir. Doch dann bricht das Gewitter über uns herein, und ich liege buchstäblich auf meiner Matte im Wasser. Ich laufe, das erste Mal im Schlafanzug, das zweite Mal nackt vom Zelt quer durch kniehohes Gras zu einer Blechhütte. Alle zwei Sekunden gleißende Blitze. Ich bin froh, dass ich so wenigstens etwas sehen kann. Die Tür klemmt, also zur zweiten Blechkiste, dreckig und stinkend. Ich rufe Leonid zu, wo ich bin und warte. Vielleicht muss ich noch einmal durch den prasselnden Regen. Aber er kommt, hat inzwischen die Tür der anderen Blechhütte aufbekommen, wo ein großer Holztisch steht. Dort liegen wir auf Leonids Schlafsack, der einigermaßen trocken ist, zittern vor Kälte. Und erst unter dem Schlafsack, nur auf der Isomatte ist es auszuhalten.
Montag, 29.8.
Morgens früh werden wir durch Klopfen an unserer Blechhütte geweckt. Es ist wieder Jegor mit seiner Besatzung. Sie waren abends nur 7 m vom Ufer entfernt liegengeblieben. Ich dachte schon, sie wollten sich mit Leonid wegen des Wodkatrinkens am Schlagbaum anlegen. Aber es passierte nichts außer dem Jahrhundertgewitter. Eine Stunde lang Blitz auf Blitz, da rundum hohe Berge sind. Jegor fragt nach Wodka. Sie sind zwar nicht nass geworden wie wir, aber durchgefroren auf ihrem Schiff. Leonid gibt ihnen eine Flasche. Dafür wollen sie uns am Mittwoch abholen. Wenn das nichts ist.
Dienstag, 30.8.
Heute liegt ein großes Schiff an den heißen Quellen mit Familienbesatzung, Großmutter, zwei Söhne, deren Frauen und Kinder. Sofort werden wir zum Frühstück eingeladen.
Mittwoch, 31.8.
Es ist Mittwoch, von Jegor und seinem Schiff nichts zu sehen. Um 11 Uhr legt ein Inspektionsschiff an den heißen Quellen an. Sie sind bereit, uns bis Kurbulik mitzunehmen. Auf dem Uferpfad weiter mit allem Gepäck, durch dicken Sand, am Steilufer entlang, durch die Taiga, 6 km bis zum nächsten Dorf. Hier müssen wir fast über ein Dach klettern, um weiterzukommen, so hoch steht das Wasser.
Im übernächsten Dorf treffen wir auf ein Auto, aber vollbeladen, kein Platz für uns. Im letzten Haus, das leer steht, richten wir uns ein zum Übernachten. Ein Ehepaar aus Ulan Ude, unser Alter etwa, sucht auch einen Platz zum Nächtigen. Es schläft im Auto, wir im leeren Haus auf dem schmutzigen Fußboden. Gut, dass wir das Zelt unterlegen können. Lange sitzen wir draußen am Feuer, essen zusammen und erzählen, eine Kerze brennt.
Donnerstag, 1.9.
Wir brechen früh auf und haben Glück. Einmal nehmen uns Fischer mit, die mit 4-5m langen Stäben Zedernzapfen abgeschlagen und in Säcke gesammelt haben, einmal ein Jeep mit Vater, Mutter, Kind und eimerweise Pilzen. Sie nehmen uns mit bis zu einem Brotgeschäft in Ust Bargusin.
Brot kommt immer abends, vielleicht um 18 Uhr, vielleicht um 19 Uhr, jetzt ist es 17 Uhr. Ein Ruf, der Brotwagen kommt, und alles stürzt ins Geschäft, aber kein Brotwagen. Leonid nimmt eine Hälfte des Gepäcks schon mal mit zu Pavel. Anderthalb Stunden warte ich mit den Frauen. Sie sagen, es kommt auch vor, dass um 19 Uhr das Geschäft geschlossen wird und kein Brot da ist. Leonid kommt zurück mit der Nachricht, bei Pavel gibt es Brot genug.
Dort ist heute ein großes Fest. Pavels Neffe wird 18 Jahre alt. An seiner Straßenecke kommt Pavel uns schon entgegen, voll des Wodkas. Abendessen natürlich. Wir haben Wein und Likör mitgebracht, und mit der Begründung, dass wir noch in die Banja wollen, brauchen wir keinen Wodka zu trinken. Großvater Pavel, Großmutter und der Sohn Viktor picheln ganz schön.