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Jana ist auf der Suche nach Hilfe - für die Vergangenheitsbewältigung, für das Überwinden ihrer Sucht. Sie kommt zu einer christlichen Gemeinschaft, deren Leiter sie in ein neues Leben in Freiheit begleiten möchte. Voller Vertrauen lässt sie sich darauf ein. Doch bald gerät sie unter Druck und in eine wachsende Abhängigkeit. Sie verliert auf dem Weg in die vermeintliche Freiheit jegliche Selbstbestimmung und schließlich - ihre Würde und das an einem Ort an dem sie sicher sein sollte. Doch gleichzeitig ahnt sie, dass Gott größer sein muss als das, was Menschen aus ihm gemacht haben. Und sie kämpft für ihren Weg in die Freiheit.
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Seitenzahl: 274
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JANA SCHMIDTerzählt ihre Geschichte unter Pseudonym und arbeitet heute erfolgreich für eine Bundesbehörde.
DR. (UNISA) MARTINA KESSLERist Theologin und psychologische Beraterin. Sie ist in der Leitung der AcF, Studienleiterin bei der Stiftung TS und leitet den EAD-Arbeitskreis Religiöser Machtmissbrauch. Sie ordnet Janas Erlebnisse fachlich ein und hilft, mögliche Ursachen und begünstigende Strukturen für religiösen Missbrauch frühzeitig zu erkennen und ihm vorzubeugen.
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»Die Freiheit atmet deine Seele wieder groß«
Jana Schmidt ist auf der Suche nach Hilfe – für die Vergangenheitsbewältigung, für das Überwinden ihrer Sucht. Sie kommt zu einer christlichen Gemeinschaft, deren Leiter sie in ein neues Leben in Freiheit begleiten möchten. Voller Vertrauen lässt sie sich darauf ein. Doch bald gerät sie unter Druck und in eine wachsende Abhängigkeit. Sie verliert auf dem Weg in die vermeintliche Freiheit jegliche Selbstbestimmung und schließlich ihre Würde. Und das an einem Ort, an dem sie sicher sein sollte. Doch gleichzeitig ahnt sie, dass Gott größer sein muss als das, was Menschen aus ihm gemacht haben. Und sie kämpft für ihren Weg in die Freiheit.
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»Erschütternd! Eine junge Frau, die Annahme, Heilung und Freiheit im Glauben in der Begegnung mit Christen erleben sollte, erfährt Manipulation, Unterdrückung und erneute, ganz andersartige Abhängigkeit. Lektüre, die unter die Haut geht.«
EKKEHART VETTEREhem. Vorsitzender der Evangelischen Allianz in Deutschland
»Eine Story zum Gruseln: Der seelisch angeschlagenen Jana wird ›im Namen Gottes‹ ihre Würde genommen. Das ist beim Lesen schwer auszuhalten, doch das Buch ist ein Eye-Opener! Hilfreich zum Einordnen sind die eingestreuten theologischen Kommentare.«
LUITGARDIS PARASIEPastorin, Autorin, Familientherapeutin
»Dieses Buch gehört nicht nur, aber auch in die Hand von geistlichen Leitern. Die strikte Betroffenenperspektive regt zum Nachdenken darüber an, wie das eigene ›geistliche‹ Leiten wohl vom Gegenüber wahrgenommen wird. In christlichen Gruppen darf das zwischenmenschliche Beziehungsgeschehen niemals aus dem Blick geraten. Dafür öffnet das Buch die Augen.«
MICHAEL UTSCHReligionspsychologe, Berlin
JANA SCHMIDT
MIT MARTINA KESSLER
Sie predigtenWasser undtranken Wein
Mein Weg aus religiösem Missbrauch in die Freiheit
SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
Die Erzählung dieser Lebensgeschichte beruht auf der subjektiven Erinnerung der Autorin, wie sie die Geschehnisse erlebt und wahrgenommen hat, sowie ihren Tagebuchaufzeichnungen aus dieser Zeit.
Zu ihrem Schutz verwendet die Autorin bei der Erzählung das Pseudonym »Jana Schmidt«.
Alle weiteren Namen (und teilweise Orte) wurden ebenfalls aus Schutzgründen geändert.
ISBN 978-3-7751-7602-6 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-6161-9 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
© 2023 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]
Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006
SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen.
Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.grafikbuero-sonnhueter.de
Titelbild: shutterstock; Anastasiia Pavlyuk
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
Über die Autorinnen
Über das Buch
Stimmen zum Buch
Einleitung: Jana Schmidt
Einleitung: Martina Kessler
Prolog
Erste Kontakte
Faszination
Erste Erfahrungen
Jesuserlebnis
Sehnsuchtsort Familie
Rückfall
Bekehrung
Lebensbeichte
Nachwehen
Die Taufe
Festessen für Flüchtlinge
Arbeiten gehen
Besuch meiner Mutter
Die ewige Hilfesuchende
Glaubensgrundlagen für Anfänger
Von Robert erotisiert
Befreiung vom »Geist der Perversion«
Eine neue Welle des Heiligen Geistes
Psychosomatische Reaktionen
Mitarbeiterschaft
Lichtstunde
Große Visionen
Die Band
Der Vollzeitjob
Zurück in den Schoß der Gemeinschaft
Die Schulung
In einem Land Ostafrikas
Wieder daheim
Heilungsveranstaltungen
Prediger und Propheten
Amerika
Zurück in der »alten« Welt
Die Evangelisationsschule
Neue WG und neuer Dienst
Wer ist Gott?
Israel
Der innere Ausstieg
Der physische Ausstieg
Epilog
Nachwort von Martina Kessler
Dank
Anschriftenliste
Anmerkungen
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Dieses Buch erlebte seine Geburt im schönen Norden Amerikas, bei einem Aufenthalt in dem wirklich beeindruckenden Anwesen meiner ebenso beeindruckenden Freunde. Sie empfahlen mir einfach, meine Erlebnisse zu Papier zu bringen. Vielleicht könne es mir helfen, meine schwere Zeit weiter zu verarbeiten. So ging ich mit ein paar weißen Blättern in den Händen auf die große Terrasse und konnte selbst nicht glauben, in welcher Geschwindigkeit sich Blatt für Blatt zu füllen begann. Dass ein Buch daraus entstehen könnte, hatte ich zu diesem Zeitpunkt gar nicht im Sinn. Dennoch, die Sätze purzelten nur so aus mir heraus. Ich schrieb und schrieb. Dabei war ich nicht unkontrolliert, sondern merkte beim Schreiben, dass mein Unterbewusstsein mich schützte und nur in Abständen weitere Erinnerungen freigab. Letztendlich dauerte es zwei bis drei Jahre, weil ich zwischendurch immer wieder Erholungsphasen brauchte. Denn beim Schreiben riss manche längst verheilt geglaubte Wunde schmerzhaft wieder auf. Auch wenn ich ab und zu den Austausch mit engen Freunden suchte, waren es viele einsame Stunden, in denen ich immer wieder vor der Herausforderung stand, das aalglatte Gesicht der Manipulation, mit dem religiöser Missbrauch getarnt ist, als Gewalt sichtbar zu machen.
Mit diesem Buch möchte ich dazu beitragen, dass Menschen für dieses Thema sensibilisiert und darüber aufgeklärt werden. Mein großer Wunsch ist es, Betroffenen zu vermitteln, dass sie nicht allein sind und dass Hilfe für ihre Situation möglich ist. Ich wünsche mir von Herzen, dass Sie durch meine Geschichte hellwach gegenüber Menschen und Gruppen werden, die Ihnen, Ihren Familienmitgliedern oder Freunden den Käfig als Freiheit verkaufen wollen. Mein höchstes Ziel ist es, diejenigen zu ermutigen, die selbst betroffen sind. Glauben Sie mir: Es gibt ein Leben außerhalb solcher Gruppen. Sie können sich wieder ein selbstbestimmtes Leben aufbauen. Dabei werden Sie vermutlich Hilfe und Unterstützung brauchen. Am Ende des Buches finden Sie dazu einige Anschriften. Ich möchte Ihnen Mut machen. Es ist nie zu spät. Ich bin das beste Beispiel dafür.
Sehr wichtig ist mir auch zu sagen, dass es mir in keinster Weise um ein generelles Anprangern oder Verurteilen von freikirchlichen oder charismatisch geprägten Gruppen und Gemeinden geht. Mir ist bewusst, dass es viele Gemeinschaften mit gesunden Strukturen und guten Führungskonzepten gibt, durch deren Dienst und Engagement vielen Menschen geholfen wird. Dem stehe ich mit großem Respekt gegenüber. Den gleichen Respekt wünsche ich mir auch für meine Geschichte und gegenüber anderen Betroffenen, die Ähnliches durchlitten haben oder noch mittendrin stecken.
Zu helfen bedeutet aber auch, über schwarze Schafe im christlichen Umfeld zu reden, anstatt wegzuschauen, Dinge unter den Teppich zu kehren oder zu bagatellisieren. Denn sonst nehmen wir in Kauf, dass weiterhin Menschen verletzt werden. Ich wünsche mir, dass meine Geschichte dazu beiträgt, religiösen Missbrauch besser zu verstehen, damit er erkannt wird und notwendige Hilfe und Veränderung für Betroffene herbeigeführt werden kann.
In diesem Buch habe ich den Namen der Gruppe, in der ich jahrelang religiösen Missbrauch erlebte, sowie die Namen aller Beteiligten geändert. Damit soll nicht zuletzt verhindert werden, dass die hier beschriebenen Erfahrungen als Einzelfall gewertet und nur auf diese eine spezielle Gemeinschaft bezogen werden. Religiösen Missbrauch gibt es an vielen Stellen. Mir ist es wichtig aufzuklären, damit Menschen, die durch religiösen Missbrauch großen Schaden erleiden oder erlitten haben, gestärkt werden und diese Art von Machtmissbrauch abnimmt.
Leider ist religiöser Missbrauch im christlichen Kontext manchmal ein Treibhaus, in dem Ausbeutung wachsen und gedeihen kann. An vielen, an zu vielen Stellen wird Macht durch Menschen ausgeübt, die andere Menschen im Namen Gottes dafür missbrauchen, sich ihre eigenen Träume und Visionen zu erfüllen.
Zum besseren Verständnis meiner Geschichte abschließend noch ein paar kurze Erläuterungen:
Die Gemeinschaft, zu der ich viele Jahre gehörte und die ich hier im Buch als »die Gruppe« oder »die Gemeinschaft« bezeichne, wurde von einem Mann geleitet, den ich Paul nenne. Es gab innerhalb der Gemeinschaft auch Wohngruppen. Die WG, in der ich wohnte, heißt im Buch »die Insel«. Die Leiter der »Insel« nenne ich Robert und Christina.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Sie halten ein bewegendes Buch in den Händen. Was Jana erlebt hat, ist schrecklich. Sie beschreibt ihre eindrucksvolle Geschichte des religiösen Machtmissbrauchs, den sie in einem christlichen Werk erlebte – einem Ort, an dem verletzte Menschen heilen sollten. Die tiefe Verletzung, die sie gerade dort erfahren hat, zeigt, dass es nicht ausreicht, belasteten Menschen allein mit viel gutem Willen und einer geistlichen Begründung helfen zu wollen. Ein ums andere Mal bin ich beim Lesen traurig oder auch wütend geworden auf ein System, das es ermöglicht, so mit Menschen umzugehen.
Janas Defizite, die schon in jungen Jahren gewachsen waren, führten zu nachvollziehbaren Sehnsüchten nach Liebe, Annahme, Geborgenheit und Anerkennung. In der Gemeinschaft, in der sie lebte, bekam sie durchaus Zuwendung und Nähe, allerdings in Kombination mit extremer Bevormundung und Kälte. Durch das Prinzip von »Zuckerbrot und Peitsche« wurde sie immer verwirrter, ohnmächtiger und schutzloser. Das alles geschah im Namen Gottes. Eine entsetzliche Vorstellung! Gerade da, wo Gnade und Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden sich küssen sollten (vgl. Psalm 85,11), erlebte sie Erniedrigung, Manipulation, Unterdrückung, Entmündigung und Machtmissbrauch.
Jana erklärt in ihrem Buch aber auch, was ihr beim Ausstieg aus der Gemeinschaft geholfen hat, und beschreibt ihren fortschreitenden Erkenntnisweg.
Häufig wird in Bezug auf solche Erlebnisse von »geistlichem Missbrauch« gesprochen. Wenn Menschen missbraucht werden, ist dies jedoch immer religiös, weil es keinen Missbrauch geben kann, der geistlich ist. Missbrauch entspringt immer einem religiösen, nie einem geistlichen oder geistgeleiteten Verhalten.
Mein Beitrag zu diesem Buch ist es, Janas Erleben theologisch und seelsorglich aus der Perspektive von religiösem Machtmissbrauch zu kommentieren. Hier und da habe ich deshalb Hintergründe und vertiefende Erläuterungen eingefügt. Beim Kommentieren habe ich Janas, möglicherweise subjektive, Perspektive eingenommen.
Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass religiöser Machtmissbrauch in allen Religionen und Gemeinschaften auftreten kann. Immer dann, wenn die Würde eines Menschen, das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit oder die Freiheit eingeschränkt werden, evtl. auch die Glaubens-, Gewissens-, Religionsfreiheit oder die Freiheit in ihrer Weltanschauung (Grundgesetz, Art. 1) kann religiöser Machtmissbrauch naheliegend sein.
Dabei sind Menschen, die in irgendeiner Weise vorbelastet sind, möglicherweise intensiver betroffen. Aber es kann genauso auch Menschen treffen, die keine problematische Vergangenheit haben, weil missbrauchende Menschen oft intuitiv erkennen, wie sie Menschen unter ihre Kontrolle bringen können. Oft geschieht das nicht über die Schwachpunkte, sondern die Stärken von Menschen werden so umgedeutet, dass es zu einer Verunsicherung kommt.
Janas Geschichte kann zu der Erkenntnis führen, dass Sie oder Ihnen nahestehende Personen auch von religiösem Machtmissbrauch betroffen sind. Am Ende des Buches haben wir daher einige Anschriften zusammengetragen, an die Sie sich wenden können.
Die Anmerkungen der Co-Autorin Martina Kessler sind in diesem Buch immer als eingerückter serifenloser Text gesetzt.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Meine Mutter entband bei meiner Geburt nicht nur mich, sondern zugleich auch ihre Fürsorgepflicht dem neuen Leben gegenüber. Geboren wurde ich als jüngstes von drei Kindern. Unsere Mutter war nicht länger als ein paar Monate Teil unseres Lebens. Mein Vater war und blieb unbekannt. Aufgrund offensichtlicher Vernachlässigung schaltete sich das Jugendamt ein und übergab uns in die Obhut eines Kinderheims, wo ich und mein nächstältester Bruder fast vier Jahre zusammen lebten. Was mit unserem ältesten Bruder geschah, konnte ich nie in Erfahrung bringen.
Schon bald gab unsere Mutter uns Kinder zur Adoption frei. Mit vier Jahren wurde ich von einer Frau adoptiert, allerdings ohne meinen Bruder. Ich erinnere mich noch an den Tag des Abschieds. Mein Bruder, damals fünf Jahre alt, stand oben an einer mir riesig erscheinenden Treppe und schrie:
»Das ist meine Schwester! Sie gehört zu mir! Sie gehört zu mir!«
Mit meinen vier Jahren konnte ich noch nicht wirklich begreifen, was an diesem Tag geschah, aber ich spürte eine Traurigkeit, die mich nicht mehr loslassen wollte.
Meine Adoptivmutter war alleinstehend, und so blieb ich weiterhin ohne Vater. Zwischen meiner neuen Mutter und mir entstand keine positive emotionale Bindung. Oft war ich mir selbst überlassen. Das Gefühl, beschützt und geborgen zu sein, vermisste ich schmerzlich.
In meinem Verhalten glich ich eher einem Jungen als einem Mädchen. Gerne zog ich Lederhosen an und kletterte auf die höchsten Bäume. Dorthin konnte mir meine Adoptivmutter nicht folgen, was ich innerlich feierte. Sie war streng katholisch, und so musste ich jeden Sonntag mit ihr in die Kirche gehen und deswegen ein Kleid tragen. Ich behielt meine Lederhose bis zum Pfarrhaus an und zog das verhasste Kleid erst in der Toilette vor Ort an. Der schönste Moment war für mich, wenn ich am Ende des Gottesdienstes endlich wieder meine geliebte Hose überstreifen konnte.
Weil ich eher wie ein Junge unterwegs war, spürte ich später auch Unsicherheit bezüglich meiner sexuellen Orientierung. Meine Gefühle waren wie ein undurchdringlicher Nebel, und ich wartete darauf, dass er sich eines Tages auflösen würde. Klarheit zu haben, wäre für mich wie ein Geschenk gewesen.
Die Sehnsucht danach, in einer richtigen Familie willkommen zu sein, pochte unermüdlich in meinem Herzen, und ich vermisste es intensiv, keinen Vater zu haben. Die Differenzen mit meiner Adoptivmutter wurden über die Jahre immer größer und unüberbrückbarer.
So verlor ich mich regelrecht in Tagträumereien. Ich erschuf mir in meiner Fantasie einen Papa und eine Mama. In diesen großen und knallbunten Welten lebte ich auf und verschaffte mir damit etwas Erleichterung. Doch jedes Mal erwachte ich aus diesen Träumereien mit einer leeren Seele. Meine Kindheit und Jugend waren geprägt von dem Versuch, einen – meinen – Platz im Leben zu finden. Das permanente Erleben kindlicher Ohnmacht förderte eine unbändige Lawine der Wut nach oben. Wenn der Druck zu groß wurde, verletzte ich mich selbst. Dann schlug ich meine Hände so lange gegen Steinpfosten, bis sie bluteten. Beim Arzt konnte ich die wahren Gründe jeweils gut verbergen.
Als ich älter wurde, kam es auch zu Konflikten mit der Polizei. Mit siebzehn Jahren kam ich sogar für drei Monate ins Gefängnis wegen staatsfeindlicher Äußerungen. Ich hatte, deutlich alkoholisiert, einem Polizisten Witze über Polizisten erzählt. Das führte zum Ausbildungsabbruch. Denn nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis gab es keinen Weg zurück. Mein Leben war nun sichtbar aus den Fugen geraten. Weil ich in der engen Dorfgemeinschaft, in der ich aufgewachsen war, sowieso für ein missratenes Heimkind gehalten wurde, zog ich schließlich in eine andere Stadt.
Auf einmal stand mir eine neue Welt offen. Ich dachte: Ich bin jung und ich kann noch eine Menge in meinem Leben erreichen!
Dann allerdings wurde ich eines Nachts zum Opfer einer Vergewaltigung. Wieder erlebte ich die starken Gefühle von Entwertung. Da ich die Tat noch in derselben Nacht anzeigte, konnte ich auch Details zum Täter mitteilen. Er war der Kopf einer Gang, die sich meistens am Bahnhof aufhielt. Irgendwie muss er von der Anzeige erfahren haben, denn die Gang begann, mich zu verfolgen. Selbst wenn ich bei Freunden übernachtete, wussten sie am nächsten Tag davon. In der Stadt zu sein und bei Freunden unterzukommen, war also für mich und meine Freunde gefährlich.
Da der Alkohol schon länger mein Freund war, half er mir, die Erinnerungen an die Vergewaltigung unscharf zu machen und die schmerzhaften Gefühle zu hemmen. Aber ich fühlte mich permanent in Gefahr. Es setzte mir immer mehr zu, je länger es dauerte.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Eines Nachts streifte ich durch die dunklen Straßen meiner Stadt und begegnete einem Mann, den ich ab und zu in der Innenstadt gesehen hatte. Dort hatte er mit seiner Gruppe öfter evangelisiert. Ich wusste, dass er Pastor einer christlichen Gemeinschaft war. Da ich Alkohol getrunken hatte, war meine Zunge locker und ich erwähnte ihm gegenüber einige schwierige Situationen aus meiner Vergangenheit. Er erzählte mir von seinen Kontakten zu einer christlichen Gemeinschaft. Dort könne man mir helfen, meinte er. Die Gruppe nehme Menschen mit allen möglichen Nöten bei sich auf, für Alkohol- und Drogenabhängige gebe es dort auch Therapieangebote. Damit seien sie sehr erfolgreich.
Innerhalb kurzer Zeit arrangierte er für mich einen Termin in dieser Einrichtung, und in meinen dauerbewölkten Geist fielen ein paar Sonnenstrahlen der Hoffnung. Während ich dorthin reiste, sprangen meine Gedanken wie auf einem Trampolin hin und her. Was erwartet mich dort wohl? Welche Menschen werden mir begegnen?
Endlich angekommen wurde ich freundlich von einer Mitarbeiterin empfangen und in einen Aufenthaltsraum geführt. Er gehörte zu einem Haus, in dem Mitarbeitende und Hilfesuchende zusammenwohnen konnten. In dieser »Insel« kümmerte man sich um »gestrandete« Menschen wie mich – so jedenfalls war es mir angekündigt worden.
Nach einer Tasse Kaffee erläuterte mir jemand die Hausordnung mit allen Regeln, zeigte mir einen Plan mit dem üblichen Tagesablauf und eine Wochenübersicht.
Ich staunte über die Strukturiertheit. Da ich seit etwa einem Jahr arbeitssuchend war und meistens ohne Sinn und Ziel in den Tag hineinlebte, bekam ich Zweifel, ob ich das schaffen würde. Auch irritierten mich manche Regeln. Ich wusste zwar, dass es sich um eine christliche Einrichtung handelte, war aber doch ziemlich überrascht zu hören, dass es dort untersagt war, »weltliche« Musik zu hören oder entsprechende Bücher und Zeitschriften zu lesen.
Natürlich kann jeder Organisation eigene Hausregeln erstellen. Eine Klinik kann zum Beispiel Regeln aufstellen, die den Heilungserfolg fördern, und daher ihren Patienten Handlungen untersagen, die dem Heilungsverlauf widersprechen.
Beispielsweise müssen Menschen, die wegen Süchten klinisch behandelt werden, auf den Konsum jedweder Suchtmittel verzichten. Diese Regelungen erschließen sich aus dem Therapieangebot und sind damit transparent.
Die oben beschriebenen Pauschalregelungen suggerieren jedoch: »weltlich« = schlecht, »christlich« = gut. Diese pauschale Einteilung ist ein Eingriff in die Privatsphäre von Menschen und steht in keinem nachvollziehbaren Zusammenhang mit einer Therapie.
Aber ich hinterfragte das nicht weiter. Noch war ich ja nicht eingezogen, sondern erst mal nur zum gegenseitigen Kennenlernen angereist. Mittlerweile war es an der Zeit, am gemeinsamen Abendbrot teilzunehmen. Ich war aufgeregt, denn es war die erste Gelegenheit, die anderen Hilfesuchenden kennenzulernen. Sorgfältig beobachte ich jeden einzelnen und baute vorsichtig erste Kontakte auf. Ich hörte aufmerksam zu, denn ich war neugierig zu hören, warum diese Menschen in der Insel waren. Diese bunt gemischte Truppe aus Männern, Frauen und Mitarbeiterfamilien gefiel mir.
Plötzlich ging die Tür auf und ein Mann mittleren Alters kam herein. Alle sahen sofort zu ihm hin und unterbrachen ihre Gespräche. Er schien gerade vom Sport zu kommen, denn er trug einen Jogginganzug und ein Handtuch um den Hals.
Offensichtlich handelt es sich bei dem Dazugekommenen um eine wichtige Persönlichkeit für die Gruppe. Alle richten sich auf ihn aus. Jana geht davon aus, in einer therapeutischen Einrichtung zu sein. Daher wirkt das äußerliche Erscheinungsbild des Leiters verwirrend und zwingt die Frage auf, was der Leiter damit demonstrieren will.
Sein Blick fiel auf mich. Er kam direkt auf mich zu und sagte:
»Komm doch nach dem Essen mal in mein Büro.«
Dann verließ er den Raum.
Meine innere Unruhe stieg und die Minuten erschienen mir wie Stunden. Endlich war es so weit. Eine Mitarbeiterin führte mich zu ihm.
»Hallo Jana«, begrüßte er mich, »ich bin Robert, der Leiter der Insel. Erzähl mir doch mal, was dich zu uns bringt.«
Zögerlich begann ich davon zu berichten, dass der Alkohol ein guter Vertrauter für mich geworden war, der mir helfe, die Realität besser zu ertragen.
Robert unterbrach mich:
»Da kenne ich einen viel besseren Freund für dich: Jesus!«
Er begann darüber zu reden, dass nur Jesus mich retten, heilen und befreien könne. Erstaunt hörte ich zu und wusste nicht so recht, was ich dazu sagen sollte. Daher schwieg ich und behielt meine inneren Regungen für mich.
»Ich habe es am eigenen Leib erfahren«, schloss Robert seine Rede. »Denn ich war früher selbst drogensüchtig.«
Jetzt war ich wirklich beeindruckt. Bisher hatte ich immer mal wieder Berührungspunkte mit dem christlichen Glauben. Ich kannte auch einige Stellen aus der Bibel und war sogar zur Kommunion gegangen, bevor ich dann die Kirche für immer verließ. Aber hier im Gespräch war Jesus auf einmal überall – oben, unten, links, rechts und in der Mitte. Das musste ich erst einmal verdauen.
Doch Robert ließ mir keine Zeit zum Nachdenken.
»Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Wenn du weiter saufen willst, dann kannst du hier in der Nähe in eine Kneipe gehen. Ich werde dir den Weg dorthin genau beschreiben. Oder du entscheidest dich dafür, dein altes Leben hinter dir zu lassen. Und dann ist das hier genau der richtige Ort, um frei zu werden.«
Er sagte das mit so großer Bestimmtheit, dass ich in diesem Moment wohl jede andere Therapiemöglichkeit über Bord geworfen hätte, wenn ich Alternativen gehabt hätte.
»Ich will mit dem Alkohol aufhören«, antwortete ich, obwohl ich es mir nicht so richtig vorstellen konnte. Aber er bemerkte meine Zweifel nicht und äußerte sich lobend darüber, dass ich vom Alkohol loskommen wollte.
»Ich werde das mit den anderen Mitarbeitern im Haus besprechen und darüber beten, ob Gott hier wirklich einen Platz für dich hat«, erklärte er mir. Dann forderte er mich auf, meine Augen zu schließen und meine Hände zu öffnen.
Ich tat, was er mir sagte, denn irgendwie strahlte dieser Mann eine unglaubliche Überzeugung aus. Er wusste offenbar, was Gott in meinem Leben tun wollte. Es schien mir, als habe er einen direkten Draht nach oben. Das imponierte mir.
»Ich werde jetzt den Heiligen Geist bitten zu kommen, um an dir zu wirken.«
Er ließ mir nicht eine Sekunde Zeit zu überlegen, ob ich das überhaupt wollte, sondern begann sofort zu beten. Ich fühlte mich überrumpelt, traute mich aber nicht, ihn zu unterbrechen. So ließ ich das Gebet einfach über mich ergehen.
Anschließend fragte mich Robert:
»Hast du etwas gefühlt?«
»Nein, nichts«, sagte ich wahrheitsgemäß.
»Ich bin mir aber ganz sicher, dass Gott etwas an dir getan hat«, meinte er. »Weißt du, wenn man Gott erleben will, muss man auch ganz offen für ihn sein.«
In diesem Gespräch gibt es bezogen auf religiösen Machtmissbrauch drei Auffälligkeiten:
Alkoholiker müssen mit ihrer Sucht konfrontiert werden und ihnen muss klar sein, dass sie vor der Wahl stehen: Therapie oder keine Therapie. Hier wirkt es so, als solle die Alkoholsucht mit »Jesus« ersetzt werden. Sicherlich kann der christliche Glaube eine therapeutische Wirkung haben, auch bei einer Alkoholsucht. Und in einzelnen Fällen sind Menschen auch schon durch eine Jesus-Begegnung von ihrer Sucht befreit worden. Die Mehrheit der alkoholsüchtigen Menschen muss jedoch angemessene therapeutische Maßnahmen erhalten.
Es unterstreicht die Machtposition des Leiters, dass Janas Aufnahme in die Insel abhängig ist von Gottes Antwort auf sein Gebet. Entweder es ist ein Platz frei oder nicht. Entweder er will Jana aufnehmen oder nicht. Er hat die Wahl! Dass er ihr gegenüber mit einer externen Autorität (Gott) argumentiert, macht seine Entscheidung jedoch unangreifbar. Hier beginnt religiöser Machtmissbrauch.
Religiöser Machtmissbrauch ist es auch, ungefragt durch ein Gebet in Janas Leben einzugreifen. Ein solches Gebet ist grenzüberschreitend und damit übergriffig. Legitim wäre ein stilles Gebet gewesen oder die Bitte um Janas Erlaubnis. Robert entschied jedoch über Janas Kopf hinweg, was für sie richtig sei. Und sie passte sich seinem Willen an.
Janas widersprüchliche Gefühle unterstreichen die Spannung von Menschen bei religiösem Machtmissbrauch: Sie sind fasziniert und zugleich irritiert über den Umgang mit ihnen. Oft können das hilfesuchende Menschen aber erst einmal nicht in Worte fassen und lassen es geschehen.
Am nächsten Tag fuhr ich mit einem Rucksack voller Eindrücke an meinen Wohnort zurück. Nun war ich wieder in meiner Realität und ständig in Gefahr durch die Gang, die mich verfolgte. Ich hatte kaum Ruhe, um über alles nachzudenken und mich auf das Wesentliche zu besinnen. Aber ich merkte sehr schnell, dass ich bei meiner Entscheidung bleiben wollte, in diesem Haus eine Therapie zu beginnen – falls sie mich überhaupt aufnehmen würden. Wie lange wird es wohl dauern, bis sie mir ihre Entscheidung mitteilen?
Nach zwei Wochen kam schließlich die Antwort: Ja, ich war aufgenommen. Und so packte ich meine wenigen Habseligkeiten zusammen und flüchtete mich in die Insel. Ich war so erleichtert, meinen Wohnort mit all seinem Schrecken hinter mir lassen zu können.
Da sich in der Insel alle Abläufe immer wiederholten, gewöhnte ich mich relativ schnell an die neuen Strukturen. Nach wenigen Tagen wurde mir Roberts Frau Christina als feste Bezugsperson zugeteilt. Alle Mitglieder der Gruppe waren verpflichtet, eine Bezugsperson zu haben, die Anlaufstelle für Fragen oder Probleme war. Das gefiel mir, denn ich erlebte dadurch Zugehörigkeit und fühlte mich sicherer.
Zu meiner Verwunderung stellte ich nach kurzer Zeit fest, dass es in der Gemeinschaft keine ausgebildeten Therapeuten oder Therapeutinnen gab. Die meisten verrichteten ihren Dienst an den Hilfesuchenden, weil sie sich von Gott dazu berufen fühlten.
In Deutschland darf nur therapieren, wer eine staatliche Zulassung hat. Jana dachte, sie komme in eine therapeutische Einrichtung und könne dort eine Therapie machen. Sie kam aber in eine religiöse Lebensgemeinschaft, die Hilfesuchende willig und engagiert aufnahm. Solche Unklarheiten führen leicht zu Missverständnissen und Enttäuschungen. Oft bezeichnen sich die Mitarbeitenden solcher Institutionen als »Berufene«. Schwierig ist es, wenn sich Menschen von Gott – der allerhöchsten Autorität – berufen fühlen und damit rechtfertigen, ihre »Berufung« mit wenig oder gar ohne fachliche Kompetenz auszuführen. Dann kommt es leicht zu Grenzüberschreitungen. Denn mangelnde Kompetenz wird häufig unreflektiert mit einem nicht transparenten Regelwerk oder mit Druck kompensiert und entsprechend mit Gottes Willen oder bestimmten Bibelversen begründet.
Der nächste Schritt bestand für mich darin, Sozialhilfe zu beantragen, weil ich mich ja irgendwie finanzieren musste. Sobald der Antrag genehmigt war, wurde monatlich Geld für Kost und Logis auf das Konto der Insel überwiesen. Für mich blieb dabei leider nicht viel übrig.
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Durch alle Gruppentreffen zog sich ein roter Faden:
»Du sollst dein Leben so radikal wie möglich für Gott leben.«
Daher waren Kompromisse mit »der Welt da draußen« unerwünscht. Nur wenn es sich gar nicht vermeiden ließ, wurde es geduldet, »in die Welt« zu gehen – beispielsweise um zu arbeiten und Geld zu verdienen. Das Einkommen sollte dann aber dem Reich Gottes zur Verfügung gestellt werden.
Irgendwie wirkte es auf mich, als hätten die Mitglieder, die vollzeitlich der Gruppe – und damit Gott – dienten, einen höheren Stellenwert. Sie vertrauten sich ganz Gott an und gehörten nicht zu denen, die ihr Leben verplemperten, um dem »schnöden Mammon« zu dienen. Sie lebten von den finanziellen Zuwendungen einiger Bewunderer. So war es ihnen möglich, völlig unabhängig von einem gewöhnlichen Job zu leben und ganz für die Gruppe zu arbeiten. Für mich hatte das etwas Wildes und Unkonventionelles an sich. Ich war begeistert davon, und es bestätigte mich in der Annahme, dass die Ansichten meiner Mutter doch veraltet waren. Denn sie hatte immer wieder gesagt, dass ich Sicherheit durch einen Job benötige. Schnell war in mir der Wunsch geboren, die Welt zu verbessern, etwas Wichtiges zu bewirken und durch meinen persönlichen Einsatz Dinge nachhaltig zu verändern. Die Aussicht, durch einen Einsatz andere Länder kennenlernen und vor Ort mit anpacken zu können, roch nach Abenteuer.
Das Leben für Gott, wie es in der Insel verstanden wurde, war der komplette Gegenentwurf zum traditionellen und meist privaten Christentum, das den Höhepunkt seiner Beweglichkeit im Sonntagstreff erlebte. So jedenfalls die Ansicht von Paul, dem Hauptleiter der Gemeinschaft. Immer wieder hörte ich den Satz:
»Christen dieser Art sind langweilig! Sie haben keine Existenzberechtigung, besonders dann nicht, wenn sie noch nie jemanden zu Jesus geführt haben!«
Seiner Ansicht nach tauchten diese Christen nur sonntags zum Gottesdienst auf und führten im Alltag ein ganz und gar weltliches Leben. Diese Aussagen veränderten mein Denken. Irgendwie gehörte ich jetzt zu den Radikalen, konnte zu etwas Gigantischem wachsen und war dadurch ein bisschen elitär.
Paul vermittelte uns immer wieder:
»Wir sind eine besondere Gruppe. Gott hat uns auserwählt, weil nur wir verrückt genug sind, seine Anliegen hemmungslos voranzutreiben! Gott hat einfach niemand anderen gefunden.«
Nach solchen Worten kam ich mir sehr bedeutungsvoll vor.
Die Grenze zwischen der Ermutigung zu konsequentem Christsein und christlich motiviertem Druck ist schnell überschritten. Sichtbare Zeichen für Druck sind Formulierungen wie »radikal« oder »ganz für Gott leben« sowie die Aufforderung, »keine Kompromisse mit der Welt da draußen« einzugehen. Diese Einteilung in »wir« und »die Welt« zeigt genauso ernst zu nehmende sektiererische Züge wie eine Atmosphäre von »Wer zu uns gehört, gehört zur Elite.«
Es ist bei vielen Non-Profit-Organisationen normal, dass sowohl die Organisation als auch die Mitarbeitenden von Spenden leben. Das kann also nicht als Maßstab für besondere christliche Auszeichnung dienen. Daraus ist kein elitäres Verständnis für die eigene Organisation abzuleiten als eine »besondere, von Gott auserwählte Gruppe«. Trotzdem wird neben der Abwertung anderer Christen so die eigene Gruppe gleichzeitig erhöht – und mit ihr die Gründer und Leiter.
Ebenso schwierig ist, dass Christen außerhalb der Gemeinschaft beurteilt und abgewertet werden, weil sie nicht so leben, wie Paul das für angemessen hält. Machtmenschen leben von der Abwertung anderer (vgl. Kessler & Kessler 2017; S. 66-67)1. Die Gestaltung des eigenen Christseins, inklusive des persönlichen Engagements, ist von jedem Menschen selbst vor Gott zu verantworten.
Unsere Veranstaltungen waren oft elektrisierend. Die Atmosphäre knisterte förmlich vor gespannter Erwartung der Teilnehmenden. Alle Mitglieder waren im Glauben an Gott vereint und beseelt von dem Auftrag und der Vision, dass alle Menschen gerettet werden müssen. Gemeinsame Ziele und Inhalte sowie die gleiche Interpretation wörtlich verstandener Bibelstellen verbanden uns auf einer tieferen Ebene.
Wir waren nicht nur eine charismatische Gemeinschaft, sondern zugleich eine Bewegung, die im deutschsprachigen Raum zu einer Art Trendsetter wurde. Wir hatten weltweite Kontakte und standen im Austausch mit ähnlichen Werken. Durch die wechselseitigen Predigtdienste wurde das Erwählt-Sein besonders hervorgehoben. Immer wieder war davon die Rede, dass wir eine besonders gesalbte Gruppe seien – wahre Christen, die sogar noch größere Dinge vollbringen konnten als Jesus, so wie es schon in der Bibel steht. Kranke sollten geheilt und Dämonen ausgetrieben werden. Sogar Tote würden durch uns wieder ins Leben zurückkommen.
Vieles war für mich zunächst gewöhnungsbedürftig. Zum Beispiel die sogenannten »Anbetungszeiten«: Sie wurden innerhalb der Gottesdienste von einer Band gestaltet und dauerten recht lang. Die mitreißenden Lieder sprachen unsere Gefühle an und erzeugten eine auffallende Innigkeit. Es war beeindruckend, wenn mehrere Hundert Menschen gemeinsam sangen. Im ganzen Raum herrschte eine große Erwartung an das, was Gott an diesem Abend Wunderbares tun würde. Es war oft wie ein Rausch der Emotionen, eine Art Feiermentalität, mit der man sich Gott entgegenschwang und darauf hoffte, dass er einen ganz persönlich berühren würde. Bei alldem verlangte Paul, dass wir stets lächelten und Freude ausstrahlten.
»Jemand, der keine Freude ausstrahlt, ehrt unseren Gott nicht!«, so sein Urteil.
Sicherlich können Christen und Christinnen durch ihre Lebenshaltung etwas von der Freude über die Erlösung durch Jesus Christus ausstrahlen. Es ist allerdings unzumutbar und führt zu Heuchelei, wenn Menschen verpflichtet werden, Freude auszustrahlen, die nicht von Herzen kommt.
Die Predigten wurden dynamisch und anschaulich in der Sprache des Alltags vorgetragen. Bei jeder Veranstaltung wurde auch eine Kollekte eingesammelt, das sogenannte »Opfer«. Dabei jubelten und klatschten die Anwesenden immer laut, um damit auszudrücken, wie toll sie es fanden, Gott mit einem solchen Opfer ehren zu können.
Bei jedem Gottesdienst bekamen Besucher die Gelegenheit, ihr Leben »Gott zu übergeben«. Das wurde Bekehrung genannt. Wenn Menschen sich bei uns bekehrten, brachten wir ein sogenanntes »Klatschopfer« dar – also einen besonderen Applaus – und flankierten das Ganze mit einem lauten »Halleluja«. Für mich war das jedes Mal prickelnd und regelrecht atemberaubend. Ich fand es so unglaublich cool, jetzt zu dieser Gruppe zu gehören. Gott hat mich an den einzig richtigen Ort gebracht – Halleluja, dachte ich oft und war voller Erwartung auf eine große, verheißungsvolle Zukunft. Die wollte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen.
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Nach einigen Wochen hatte ich mich akklimatisiert und etwas eingelebt. Die Tagesabläufe wurden mir vertrauter, und ich fügte mich gut in die Gruppe ein. Die klare Struktur mit den festgelegten Essens- und Arbeitszeiten war für mich ein Gerüst, das mir Halt gab. Langeweile gab es nicht, denn wir hatten während der Woche viele große und kleinere Treffen, die es mitzugestalten galt.
Allerdings gab es keine therapeutischen Gespräche, was mich anfangs noch wunderte. Nirgendwo ging es um Erlebnisse aus der Vergangenheit, um Ursachen für die eigenen Probleme und mögliche Lösungsansätze. Alles lief irgendwie intuitiv. Wenn sich mir eine Verletzung oder belastende Erinnerungen aufdrängten, ging ich zu meiner Bezugsperson Christina. Sie betete dann für mich und bat Gott einzugreifen. Jedes Mal lief es ähnlich ab, egal womit ich kämpfte. Jedes Thema, jedes Problem wurde ausschließlich mit Gebet beantwortet.
Auf ein Problem mit Gebet zu reagieren, ist nicht falsch. Allerdings sollte es eine Therapie nicht ersetzen, sondern eher ergänzen. Denn Menschen mit Problemen oder so schwierigen Hintergründen wie bei Jana brauchen qualifizierte psychologische Hilfe. Wer diese durch Gebet ersetzen will, handelt fahrlässig und unprofessionell.
Eines Tages teilte mir Robert mit, dass wir am Nachmittag alle zusammen in die Stadt gehen würden, um dort gemeinsam zu evangelisieren. Ich fühlte mich gar nicht wohl bei dem Gedanken, in der Öffentlichkeit mit fremden Menschen über Jesus reden zu müssen. Ich war selbst erst seit Kurzem dabei und noch unsicher, ob ich von Gott überzeugt war. Aber irgendwie konnte ich mich der ganzen Sache auch nicht entziehen. Es half alles nichts, ich musste mit. Als wir auf einem zentralen Platz der Stadt ankamen, sollten wir in Zweierteams auf die vorbeischlendernden Leute zugehen und die »Frohe Botschaft« an den Mann oder die Frau bringen. Wie angewurzelt blieb ich stehen. Es war, als könnten meine Beine nicht losgehen. Das blieb Robert nicht verborgen. Er kam zu mir und sagte:
»Jana, ich ermutige dich, jetzt das zu tun, was auf deinem Herzen ist.«