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Im Juni 1828 erreicht ein Schiff die irische Hafenstadt Cove – an Bord sieben brutal ermordete Crewmitglieder und Passagiere. Drei Lehrlinge, zwei Matrosen und der elfjährige Sohn des Reeders haben das Massaker überlebt, der Kapitän ist verschwunden. Noch vor der offiziellen Untersuchung bekommt der berühmte Arktisforscher und Theologe William Scoresby die Gelegenheit, mit allen Überlebenden und Zeugen zu sprechen. Aus den Aussagen ergibt sich nach und nach ein lückenloses Bild der grauenvollen Ereignisse, und doch bleibt der unheimliche Fall rätselhaft: Wer lügt? Wer sagt die Wahrheit? War die Besatzung der Mary Russell in einen mörderischen Plan verwickelt oder wurden die sieben Männer Opfer eines Wahnsinnigen? Die Ermittlungen führen Scoresby in einen Abgrund aus Zweifeln, Aberglauben und mitternächtlichen Trugbildern. Sieben Lichter beruht auf einer wahren Geschichte, einem der sonderbarsten Kriminalfälle des 19. Jahrhunderts.
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Seitenzahl: 210
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Alexander Pechmann
Roman Steidl
Purpurne See weissagt der Sonne Nahn –
Eh sie emporsteigt, sei die Tat getan!
Lord Byron
William Scoresby war ein außergewöhnlicher Mann. Heute ist er so gut wie vergessen, doch damals kannte jedes Kind seine Geschichte: Als zehnjähriger Knabe hatte er seinen Vater auf Walfang begleitet. Rund zwanzig Jahre später, nach unzähligen Grönlandfahrten, hatte er seine Seemannsstiefel in die Ecke gestellt und seine Teerjacke gegen einen Talar getauscht, um Theologie zu studieren, Latein und Griechisch zu lernen. Nach dem Tod seiner ersten Frau schien er irgendwo dort draußen in der weiß schimmernden Leere des Eismeers Gott gefunden zu haben. Nun predigte er auf der Floating Chapel, einem Schiff im Hafen von Liverpool, das man zu einer schwimmenden Kirche umgebaut hatte. Er gab sein Bestes, gutherzige Matrosen vom Schnaps und von Geschlechtskrankheiten fernzuhalten, und ich glaube, er hatte sogar Erfolg damit. Zumindest besaß er diese Art unbezwingbarer Zuversicht, ohne die man keinen Erfolg haben kann. Eine Zuversicht, die mir fast unheimlich war und rätselhaft blieb. Weder das abscheuliche Verbrechen auf der Mary Russell, das uns in jenen Sommertagen des Jahres 1828 beschäftigen sollte, noch die nachfolgenden Ereignisse konnten sein Vertrauen in die Güte seines Schöpfers erschüttern.
Ich habe mein Leben lang an dieser Güte gezweifelt. Obwohl ich in meiner kleinen Welt Rang und Namen geerbt und errungen hatte, blieb Zufriedenheit mir ein Fremdwort, und von dem Moment an, da Scoresby unser großes Haus an der Küste bei Roche’s Point betrat und um die Hand meiner Schwester Elizabeth anhielt, musste ich mich endgültig mit dem Gedanken abfinden, vollkommen unbedeutend zu sein. Nicht dass er es darauf angelegt hätte, mich, meine zahlreichen Geschwister, die ganze Familie oder die anderen, durchaus gebildeten und weltgewandten Gäste in den Schatten zu stellen, denn eigentlich wirkte er eher zurückhaltend und bescheiden, und seine dunklen Augen blickten oft nachdenklich durch das Fenster aufs Meer hinaus, als warteten dort unerledigte Aufgaben auf ihn. Doch sein Ruf als unermüdlicher Forschungsreisender, vielgepriesener Autor eines zweibändigen Standardwerks über die Arktis und mitreißender Prediger war ihm vorausgeeilt und sorgte unweigerlich dafür, dass jedes Wort, jede noch so belanglose Frage in Richtung seiner hageren, ernst und freundlich dreinschauenden Gestalt gelenkt wurde und er fast unentwegt im Mittelpunkt unserer von Seelenfeuer und Geistesblitzen geblendeten Gesellschaft stand.
Er bemühte sich, all unsere Fragen ausführlich und gewissenhaft zu beantworten, sogar jene, die den Fragenden als hoffnungslosen Provinzler und Kindskopf erscheinen ließen: Ob es am Nordpol denn wirklich so kalt sei oder ob es dort, wie etliche Gelehrte behaupteten, unbekannte Länder mit mildem Klima gebe? Wie lange ein Mensch wohl überleben könne, wenn er in die eisigen Fluten des Polarmeers fiele? Ob es dort draußen nicht recht einsam sei, ohne Frauen?
Obwohl ich Scoresby genau beobachtete und seinen stets eloquenten Antworten aufmerksam lauschte, konnte ich nie einen gelangweilten oder gequälten Ausdruck in seinen Augen erkennen und kein noch so geringes Maß Ironie oder Boshaftigkeit aus seinen geduldigen Erläuterungen heraushören. Er war ein Gentleman. Er spielte diese Rolle nicht, so wie ich und meine Kameraden an der Militärakademie dies mit jener unbeschwerten Herablassung, die man bei unsereinem für mondän hielt, seit jeher getan hatten. Er war ein echter, reiner, unverfälschter Gentleman, wie man ihn sonst nur aus seichten Romanzen kennt. Vielleicht sogar mehr als einer: Denn jeden Morgen, wenn er sich höflich grüßend neben seiner frisch angetrauten Ehefrau am Frühstückstisch niederließ, meinte ich, den bühnenreifen Auftritt von einem halben Dutzend Scoresbys zu beobachten: einem geborenen Seemann mit schwieligen Händen, einem Naturforscher, der mühelos über rätselhafte Phänomene wie Magnetismus und Elektrizität dozieren konnte, einem Bücherwurm, der aus den Balladen Sir Walter Scotts zitierte, einem gottesfürchtigen Kleriker, der angeblich eine Einladung Sir Walters ausgeschlagen hatte, weil er unter keinen Umständen die heilige Sonntagsruhe verletzten wollte, einem Schwärmer, der über Frauen sprach wie ein Gärtner über seine Lieblingsblumen, und einem Philosophen, der nicht an den Zufall glaubte.
Mit ihm konnte ich mich nicht messen, da machte ich mir keine Illusionen. Meine ruhmlose Karriere beim Militär hatte mir den Rang eines Colonel eingebracht, der Einfluss meiner wohlhabenden Familie bescherte mir das Ehrenamt eines Magistrats. Meine interessanten Erlebnisse beschränkten sich indes auf Jagdabenteuer, Angelausflüge und Streitereien mit den Pächtern unseres Anwesens, das mein älterer Bruder zusammen mit dem Titel nach dem frühen Tod unseres Vaters geerbt hatte. Kurzum, mein Leben war so durchschnittlich und langweilig wie das eines jeden zweitgeborenen Sohnes eines Baronets. Ich war überflüssig. Das Einzige, was ich hätte tun können, um bei Tisch zu glänzen, wäre gewesen, hin und wieder eine halbwegs intelligente Frage in die rege Konversation zu werfen, um zu beweisen, dass wir Fitzgeralds, wir Iren, wir armen barbarischen Provinzler aus Corkbeg, ebenfalls die eine oder andere Reise unternommen, das ein oder andere Buch gelesen hatten. Doch wie armselig würde dies alles im Vergleich zu Scoresbys Großtaten erscheinen! Und natürlich kam mir keine wirklich intelligente Frage in den Sinn. Als mir dann doch etwas annähernd Geistreiches einfiel, kam ich nicht zu Wort, und wenig später war ich froh darüber, mich nicht als dilettantischer Schwätzer blamiert zu haben.
Elizabeth kannte mich zu gut, um mir mein Schweigen übel zu nehmen, doch eines Tages vertraute sie mir an, dass ihr Mann sich deswegen Sorgen mache.
»Er macht sich Sorgen?«, fragte ich verblüfft, als wir einige Tage nach der Hochzeit endlich einmal die Gelegenheit fanden, unter vier Augen zu sprechen. »Mir schien, er hätte Wichtigeres im Sinn.«
»Sorgen ist wohl nicht das treffende Wort. Er macht sich so seine Gedanken. Ob er wirklich von der Familie seiner Frau mit offenen Armen empfangen und respektiert wird. Ob jemand Ressentiments gegen ihn hegt.«
»Ressentiments? Sind das die Worte eines Seemanns aus Yorkshire?«
Sie lachte und boxte mich spielerisch, sodass ich einen kurzen und gleichzeitig ewigen Moment lang daran glaubte, unsere Kindheit könnte in solchen unmerklichen Gesten fortdauern.
»Ich habe ihm gesagt, dass du seine Arbeit bewunderst und ihn einerseits nicht mit belanglosen Floskeln langweilen möchtest. Andererseits willst du die anderen Gäste nicht mit hochtrabenden Fachsimpeleien irritieren. Dann habe ich ihm versprochen, dass wir in den nächsten Tagen etwas gemeinsam unternehmen. Etwas weniger Formelles. Ein Picknick bei der Ruine. Eine kleine Bootsfahrt. Einen Ausflug nach Cove.«
Ich stellte mir uns als schweigendes, appetitloses, peinlich berührtes Trio im Schatten der moosbewachsenen Mauern der alten Burg vor. Scoresby hätte sich sicherlich bemüht, aus dem Picknick einen Erfolg zu machen, doch ich hätte aus reiner Gewohnheit alles verdorben. Ein, zwei Gläser Wein hätten mir zynische Kommentare zu seiner frommen Weltweisheit entlockt. Scoresby hätte mich nicht einmal dafür verachtet, denn er war so entsetzlich gütig und verständnisvoll, aber ich hätte mich zweifellos selbst verachtet, da ich meinen eigenen Ansprüchen und den Erwartungen meiner Familie nicht gerecht wurde. Gern hätte ich mich herzlich und liebenswürdig wie meine Geschwister gezeigt, doch während meiner Jahre in Internat und Kaserne hatte sich bei mir eine schützende Hornhaut aus beißender Ironie gebildet, die ich kaum je abstreifen konnte.
Elizabeth hatte sich noch nicht mit der Tatsache abgefunden, dass in ihrem neuen Leben kein Platz für einen Grübler und Langweiler wie mich war. Sie, deren weltliches Streben schon immer auf eine glänzende Partie abgezielt hatte, würde in Liverpool eine neue Familie gründen und etliche neue, mustergültige Scoresbys vom Stapel lassen. Ich hingegen würde weiterhin meine Tage mit Banalitäten vergeuden und mich gelegentlich, aber nicht allzu oft fragen, wozu ich eigentlich auf dieser Welt, in dieser Zeit gestrandet war.
»Du hast Recht. Zweifellos. Ich bewundere Scoresby. Er ist einer der interessantesten Menschen, denen ich je begegnet bin. Ich habe in den nächsten Tagen einige geschäftliche Dinge in Cove zu erledigen. Ich würde mich freuen, wenn ihr zwei mich begleiten und anschließend mit mir Gertrud und ihre Kinder besuchen würdet.«
Elizabeth runzelte die Stirn. Meine Antwort musste in ihren Ohren zu formell geklungen haben. Ich aber hatte bewusst diesen Ton gewählt, um hervorzuheben, dass es sich eher um eine Pflicht als um ein Vergnügen handelte. Nicht, um sie zu kränken, sondern um es mir leichter zu machen, den höflich distanzierten Gastgeber zu spielen. Denn ein neunmalkluger kleiner Teufel flüsterte mir ständig ins Ohr, ich solle die naive Frömmigkeit Scoresbys auf die Probe stellen. Das war es wohl auch, was mich wirklich gereizt hätte, doch meine Rolle als fürsorglicher Bruder der Braut duldete die Frage nicht, die ich diesem untadeligen Gottesmann eines Tages dennoch stellen würde: »Warum hat der Allmächtige in all seiner Güte so viel Leid über seine Kinder gebracht?«
»Ich habe Irland schon immer geliebt«, sagte Scoresby, der sich an Bord der Barkasse, die uns nach Cove bringen sollte, sichtlich wohlfühlte: ein Seemann durch und durch. Meine Gedanken schweiften ab, während er davon sprach, welch herrliche Urlaubstage er hier verbracht habe und dass er nun durch seine Heirat mit Elizabeth gewissermaßen auch mit Irland verheiratet sei. So hätten sich für ihn zwei Herzenswünsche auf einmal erfüllt.
Ich begnügte mich damit, belanglose Floskeln zu murmeln. Tatsächlich kämpfte ich gegen einen Anflug von Seekrankheit an, der umso beschämender war, als ich mich in Gesellschaft eines namhaften Seefahrers und noch dazu in vertrauten Gewässern befand. Eigentlich pendelte ich mehrmals die Woche zwischen Corkbeg und Cove oder Cork Harbour. Der Seegang in diesem großen natürlichen Hafen war nie bemerkenswert stark, und der Vormittag des 26. Juni war heiter und beinahe windstill, sodass unsere Fährmänner rudern mussten, während die Sonne die kleinen Wellen zum Funkeln brachte. Sonst war in dieser Gegend der Himmel meist bedeckt und grau; ein helles, diesiges Grau, das sich kaum vom etwas dunkleren Grau des Meeres unterschied, während die Küste von Corkbeg damals noch ein moosiges Grün zeigte, derweil sich vor Cork Harbour ein blattloser Wald aus Schiffsmasten unterschiedlichster Größe abzeichnete. In meiner Kindheit hatten hier zwischen vier- und sechshundert Schiffe geankert. Große Konvois hatten sich hier versammelt, um unter dem Schutz der Royal Navy zu den Westindischen Inseln auszulaufen. Inzwischen waren die Zahlen deutlich zurückgegangen.
An diesem Donnerstag im Juni war es ungewohnt sommerlich. Das Grün der Küste sah heller und freundlicher aus, der Schiffswald des Hafens, der noch ein, zwei Meilen entfernt lag, schimmerte golden wie ein falsches Versprechen. Vielleicht war es dieses Gefühl, dieses Trugbild, das die leichte Übelkeit ausgelöst hatte.
Als wir uns dem Hafen von Cove näherten, deutete unser Bootsführer auf eine Brigg, die neben einem amerikanisch beflaggten Schoner vor Anker lag. »Auf diesem Schiff«, rief er, »wurde angeblich die ganze Crew ermordet!«
All Blicke richteten sich auf das ansonsten gewöhnliche und unauffällige Schiff. Es war, wie wir später erfuhren, die Mary Russell aus Cork. Niemand sprach ein Wort. Ich fragte mich unwillkürlich, wer derlei Gerüchte in Umlauf brachte. Die ganze Crew ermordet! – Gemäß meiner von überspannten Federfuchsern wie Shelley und Godwin geprägten Vorstellung hätte ein solches Verbrechen die Sonne verfinstern oder zumindest für einen unheilvoll raunenden Wind sorgen müssen. Auch die Möwen schrien nicht lauter als üblich.
Elizabeth, die von Natur aus viel seetauglicher war als ich es je sein würde, zeigte unverändert rote Wangen. Ihr Lächeln war jedoch zu einem Ausdruck erstarrt, in dem sich Zweifel und Abscheu zu mischen schienen. Scoresby fragte schließlich, ob jemand ein Fernglas dabei habe. Als niemand auf seine Bitte reagierte, wandte er sich an den Bootsführer: »Wissen Sie mehr darüber?«
Der Seemann schüttelte den Kopf. »Die Brigg ist gestern Abend zusammen mit der Mary Stubbs eingelaufen. Es heißt, man habe einige schrecklich verstümmelte Leichen an Bord entdeckt, ein halbes Dutzend oder mehr. Nach dem Coroner wurde geschickt, aber ich weiß nicht, ob er den Fall schon untersucht hat.«
»Sie sind doch Magistrat«, sagte Scoresby zu mir. »Sind Sie nicht verpflichtet, der Sache nachzugehen?«
Die Vorstellung, einen Mordfall zu untersuchen, reizte mich ebenso sehr wie sie mich insgeheim abstieß und ängstigte. Allerdings kannte ich die engen Grenzen meiner amtlichen Befugnisse: »Nein, ich habe bestenfalls mit Bagatellen zu tun. Diebstahl, Einbruch, Wirtshausschlägereien und alberne, kleine Streitigkeiten. Kühe, die auf der falschen Seite des Zaunes grasen, Matrosen, die gefälschte Papiere vorzeigen und dergleichen. Mord und andere Kapitalverbrechen werden vom Crown’s Court bearbeitet – oder vom Admiralty Court, wenn die Tat auf See begangen wurde. Hier ist zweifellos der Coroner zuständig.«
»Aber Sie hätten unter gewissen Umständen das Recht, das Schiff zu betreten?«
»Das hängt weniger von meinem Rang ab, als davon, ob man uns an Bord lässt.« Ich antwortete ausweichend, obwohl mir klar war, dass mein Rang und ein paar Münzen wohl ausreichen würden, uns Zugang zu verschaffen. Irische Zollbeamte sind nicht für übermäßige Strenge und Unbestechlichkeit bekannt. Und wenn mein Einfluss nicht ausreichte, würde Scoresbys Berühmtheit den Ausschlag geben. Andererseits konnten wir unmöglich Elizabeth zumuten, in der Barkasse zu warten, während die wackeren Gentlemen loszogen, um die Spuren einer abscheulichen Gewalttat zu besichtigen. Es wunderte mich schon ein wenig, dass mein weltmännischer Schwager seine Pflichten gegenüber seiner Angetrauten vergessen zu haben schien.
Natürlich hatte er sie nicht vergessen: »Elizabeth«, sagte er unvermittelt, »wäre es sehr unverschämt von mir, dich am Kai abzusetzen und eine Droschke zu bestellen, die dich zum Haus unserer Cousine bringt?« Bevor sie antworten konnte, fügte er hinzu: »Dein Bruder und ich würden dieser Sache gern nachgehen, wenn es möglich ist. Wir würden dann ein, zwei Stunden später nachkommen.«
Ich erwartete Widerspruch oder jenes trotzige Schmollen, das sie mir gegenüber unzählige Male aufgesetzt hatte, aber nicht diesen treuherzigen Blick, mit dem sie ihren Mann anschaute und nickte. Ich hatte das verheerende Ausmaß ihrer Verliebtheit unterschätzt.
Mein eigener Widerspruch fiel allerdings auch nur halbherzig aus. Zwar gefiel mir die Dreistigkeit nicht, mit der Scoresby mich für seine Zwecke eingespannt hatte, doch war meine Neugier auf das, was sich auf diesem seltsamen Totenschiff abgespielt hatte, um einiges ausgeprägter als meine Empörung. Mit wenigen Worten hatte Scoresby mich überredet, Elizabeth an Land zu bringen, um sogleich zur friedlich in der leichten Dünung stampfenden Mary Russell zurückzukehren.
»Ich hoffe, Sie halten mich nicht für jemanden, der sich am Unglück anderer weidet. Doch etwas derart Außergewöhnliches unbeachtet zu lassen, die Gunst des Augenblicks nicht zu nutzen, wäre für mich geradezu sündhaft.«
»Denken Sie nicht, dass der Coroner der Erste sein sollte, der sich um Opfer und Täter kümmert?«
»Er wird der Erste sein. Der erste offiziell bestellte Beamte, der vor Gericht aussagen wird. Doch wenn wir mit einem Schulterzucken auf etwas reagieren, das uns der Himmel direkt vor die Nase gesetzt hat, verlassen wir den Weg, den uns der Herrgott weist. Wir sind nicht zufällig hier, wir müssen die Prüfung, die auf uns wartet, akzeptieren und bestehen.«
Ich habe bereits erwähnt, dass Scoresby nicht an den Zufall glaubte. Er gehörte zu jenen, die meinen, die Welt bestünde aus Zeichen, die man entziffern müsse. Aus Zeichen, die, wenn man sie zu lesen verstand, den richtigen Weg durch das Labyrinth des Lebens wiesen.
Seine felsenfeste Überzeugung, die Zeichen richtig deuten zu können, bereitete mir Unbehagen. Wie konnte er, wie konnte irgendjemand so sicher sein?
Falls die Tatsache, dass wir unwillentlich auf die Mary Russell gestoßen waren, ein Zeichen Gottes war, hätte unsere Prüfung schließlich auch in der Entscheidung bestehen können, ob wir unserer natürlichen Neugier nachgeben würden oder nicht.
Und diese Prüfung hätten wir nicht bestanden.
Weniger als eine Stunde später, nachdem wir Elizabeth und zwei weitere Passagiere abgesetzt hatten, näherten wir uns der Brigg erneut von den geschäftigen Kais von Cove. Inzwischen war es bereits spät am Vormittag, und die Sommersonne strahlte von einem fast wolkenlosen Himmel. Unsere Barkasse ging längsseits des rahgetakelten Zweimasters, und als ich die Augen mit der flachen Hand gegen das gleißende Licht abschirmte und nach oben blickte, sah ich die undeutliche Gestalt eines Mannes, der an Deck patrouilliert und unsere Ankunft bemerkt hatte und nun zum Fallreep schlenderte.
Die ungewohnte Hitze und das Schaukeln machten mir zu schaffen. Ich riss mich jedoch zusammen und kletterte als Erster das Fallreep hinauf, um wie verabredet meine amtliche Würde ins Spiel zu bringen. Notfalls konnte ich auf ein paar Münzen in meiner Westentasche zurückgreifen.
Der Mann an Deck erwies sich als Zollbeamter, der zweifellos den Auftrag hatte, sensationslüsterne Einfaltspinsel abzuwimmeln. Ich kannte ihn vom Sehen: Joseph Barnes, ein dürres altes Männlein, dessen gerader Rücken und hochgestrecktes bartloses Kinn von einem selbstherrlichen Stolz kündeten, der eher zu Nelsons Flaggschiff als zu diesem kleinen irischen Kauffahrer gepasst hätte. Zu nervös, um Höflichkeiten auszutauschen, fragte ich ohne Umschweife, ob dies das Schiff sei, auf dem ein Mord begangen wurde.
»Ja, Sir.« Barnes reagierte einsilbig. Seine aufrechte Haltung war an diesem Tag wohl eher dem gestärkten Kragen und dem eng anliegenden Halstuch zu verdanken als einem unerschütterlichen Naturell. Überraschenderweise schien er froh über die unangemeldeten Besucher zu sein und machte keine Anstalten uns fortzuschicken.
»Dürfen wir einen Augenblick an Bord kommen, Barnes? Darf ich Ihnen meinen Schwager, Reverend Scoresby, vorstellen?«
Der Zollbeamte riss die Augen auf und blickte zum wiederholten Mal über die Reling auf unsere Barkasse hinunter: »Käptn Scoresby, Sir? Reverend? Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie nicht sofort erkannt habe. Kommen Sie nur. Kommen Sie an Bord.«
Scoresby kletterte das Fallreep hinauf. Sein Blick schweifte über das Deck und fiel auf zwei bleiche, ausgemergelte Gestalten, die in Barnes’ Kielwasser aufgetaucht waren. Zwei Knaben in Segeltuchhosen und schmutzigen Baumwollhemden, der eine vielleicht fünfzehn, der andere zehn oder zwölf Jahre alt. Scoresby nickte ihnen freundlich zu, und sie kamen langsam näher, hielten aber einen gewissen Abstand.
»Hier ist also ein Mord geschehen?«, wiederholte er meine erste Frage an Mr. Barnes, der zunächst schweigend nach achtern deutete. »Ja, ja, es ist entsetzlich. Wir haben das Oberlicht der Kajüte abgenommen, jemand hatte das Glas eingeschlagen. Ich darf Sie nicht hineinlassen, ehe der Coroner mir entsprechende Anweisungen gegeben hat. Aber wenn Sie möchten, können Sie vom Achterdeck in die Kajüte hineinschauen. Ich werd Sie nicht davon abhalten, Sir. Aber ich will Ihnen raten, es nicht zu tun. Um Ihres Seelenfriedens willen, tun Sie’s nicht. Jesses, mir hat’s den Magen umgedreht, obwohl ich schon so manches gesehen hab, und ich wünschte bei Gott, ich hätte dieses Schiff nie betreten.«
Auch wenn diese Worte in meinen Ohren allzu dramatisch klangen, spürte ich, dass Barnes es ernst meinte. Scoresby nickte abermals. Ich hatte zunächst vermutet, dass ihn nur die blanke Neugier antrieb – welcher Teufel mich geritten hatte, vermochte ich nicht so leicht zu benennen –, doch sein erst zögernder, dann strenger Blick verriet, dass er sich tatsächlich überwinden musste, aber den nächsten Schritt für seine Pflicht hielt.
Wir gingen langsam in die Richtung, die uns der Zollbeamte gewiesen hatte. Weder Barnes noch die beiden Schiffsjungen folgten uns. Der Eingang zur Kajüte befand sich backbords in der Nähe der Heckreling, so weit achtern, dass man von Deck oder von der Takelage aus nicht in die Kajüte hineinsehen konnte. Um zum Oberlicht zu gelangen, musste man zunächst über eine schmale Treppenleiter an Steuerbord auf das Achterdeck klettern. Die Öffnung war zu klein, um uns beiden gleichzeitig einen Einblick zu gewähren. Ich winkte also Scoresby zu, er solle den Anfang machen. Bevor er sich hinkniete, um in die Kajüte zu schauen, zog er ein Taschentuch hervor und hielt es vor seine Nase. Er schien eine Ewigkeit dort zu verharren.
Ich wartete unruhig. Das Knarren der Takelage, das Schlagen der kleinen Wellen gegen den Schiffsrumpf, die fernen Schreie der Möwen: all diese alltäglichen Geräusche wirkten auf einmal unwirklich wie eine Erinnerung an einen halbvergessenen Traum. Als ich Scoresbys Platz am Oberlicht einnahm, war meine anfängliche Neugier längst verflogen. Ich wollte nicht mehr wissen, was dort unten lag und Fliegen anlockte. Es gab eine unsichtbare Grenze zwischen meiner kleinen vorhersehbaren Welt aus Familienangelegenheiten und lokalen Geschäftsbeziehungen und der großen unbegreiflichen Welt, in der Willkür und Chaos regierten, die ich nicht zu überschreiten wagte. Und dennoch sah ich durch die Luke hinunter in einen Raum, der durch das Licht, das durch die Heckfenster einfiel, nur allzu großzügig erhellt wurde.
Im nächsten Moment hatte ich mich bereits abgewandt, war zu Reling geeilt und hatte mein reichhaltiges Frühstück hustend und würgend ins Meer gespuckt. Ich schämte mich dessen nicht, denn es war für mich die einzig denkbare Reaktion; das Taschentuch, das Scoresby mir reichte, lehnte ich jedoch dankend ab. Mein Schwager, der sonst nie um ein Wort verlegen war, schwieg und schien in Gedanken versunken. Er hatte dasselbe gesehen wie ich: einen engen Raum voller blutverkrusteter Leichen, bei denen bereits die Verwesung eingesetzt haben musste – wenn ich den süßlichen Geruch, der mir den Magen umgedreht hatte, richtig deutete. Doch an Scoresbys nachdenklichem Gesichtsausdruck konnte ich ablesen, dass er wirklich, nicht nur flüchtig hingesehen hatte und nun versuchte, das Gesehene zu verarbeiten und zu verstehen.
Er kehrte zurück zum Oberlicht. Nicht, um noch einmal in die Kajüte zu sehen, sondern um gesenkten Hauptes ein kurzes Gebet zu sprechen und sich zu bekreuzigen.
»Es gehört zu meinen Aufgaben, Menschen auf den Tod vorzubereiten«, sagte er wenig später mit leiser Stimme zu mir, als wolle er sich für sein Verhalten, das eher einem katholischen als einem protestantischen Geistlichen entsprach, entschuldigen. »Das ist der Grund, warum die Seeleute meine Kirche besuchen. Sie wissen, dass viele von ihnen nicht heimkehren werden. Für sie ist jede Welle der Grabstein eines Kameraden. Der Tod durch Schiffbruch, Krankheit oder Arbeitsunfälle ist für sie alltäglich. Die meisten von ihnen können nicht einmal schwimmen. Obwohl sie nicht fromm in unserem Sinne sind, sind sie sehr abergläubisch, und sie suchen Halt in jedem Wort, das ich ihnen predige.«
Scoresby schwieg erneut und sah mir unvermittelt in die Augen. »Aber das hier … das hier!« Er zuckte die Schultern und wandte sich ab.
»Es hat wohl einen Kampf gegeben«, warf ich ein, um die bedrückende Stille zu brechen. »Ein Streit. Vielleicht ein Angriff. Piraten. Meuterei.«
Scoresby schüttelte den Kopf. »Haben Sie denn nicht gesehen, dass die Männer gefesselt waren?«
Ich hatte nicht gesehen, dass die Männer gefesselt waren. Ich hatte sie nicht gezählt. Hätte ich nicht den Verwesungsgeruch wahrgenommen und gewusst, dass sie allesamt tot waren, hätte ich sie auch für eine Schar zerlumpter und schmutziger Matrosen halten können, die nach einer blutigen Schlägerei eng nebeneinander liegend ihren Rausch ausschliefen.
»Vielleicht kann Barnes uns erklären, wer diese Leute sind und was sich hier zugetragen hat.« Scoresby quittierte meinen Vorschlag mit einem kurzen Nicken, und wir verließen das Achterdeck, um mittschiffs mit dem Zollbeamten und den beiden Knaben zu sprechen.
Der Anblick der Schiffsjungen hatte mir von Anfang an Unbehagen bereitet. Nicht dass ich von ihnen saubere Fingernägel und sorgfältig gescheiteltes Haar erwartet hätte, aber ihre verwaschenen Baumwollhemden und Hosen waren schweißgetränkt und voller Flecken, und während der Jüngere mit leerem Blick in der Nase bohrte, zwinkerte und grinste der Ältere, als wolle er uns ein kleines, schmutziges Geheimnis verraten. Bald stellte ich jedoch fest, dass es kein vertrauliches oder gar anzügliches Grinsen war, sondern eine freudlos verzerrte Maske, hinter der man sich trefflich verstecken konnte.
Wir wechselten zunächst ein paar Worte mit Barnes. Er hatte nur wenig zu berichten. Die Mary Russell habe Maultiere nach Barbados gebracht und sei mit einer Ladung Zucker zurückgekehrt. Matrosen der Mary Stubbs, jenes Schoners, der in Rufweite ankerte, hätten die Brigg dreihundert Meilen vor der Südküste Irlands beigedreht vorgefunden und in den Hafen gebracht. Einige Verwundete befänden sich nun auf dem amerikanischen Schoner, während der Kapitän der Brigg, William Stewart, angeblich geflohen sei. Die Überlebenden hätten ihm die Schuld an dem Massaker gegeben.
»William Stewart?«, rief ich überrascht. Ich kannte diesen Kapitän als schmächtigen, unauffälligen, stets freundlichen, bei den Seeleuten und Hafenbeamten beliebten Mann um die fünfzig. Er wohnte mit seiner Frau Betsy und vier Kindern, das fünfte war unterwegs, in Cove, nicht weit von meiner Cousine. Es gelang mir nicht, sein schmales, großäugiges Gesicht mit den blutigen Bündeln in der Kajüte in Verbindung zu bringen.
Doch Barnes nickte bedächtig. »Stewart hat sich anscheinend ziemlich merkwürdig verhalten. Der Kapitän, der ihn aufgelesen hat, kann Ihnen sicher mehr sagen. Kapitän Robert Callendar aus St. Andrew’s, New Brunswick. Die Jungs hier sind verstockt. Tun so, als ginge sie das alles nichts an. Stimmt’s oder hab ich recht?«
Die beiden Schiffsjungen, Lehrlinge, fast noch Kinder, zuckten auf Barnes’ Zuruf hin zusammen. Es dauerte lange, ehe der ältere ein trotziges »Ja, Sir« über die Lippen brachte.
Scoresby hatte die beiden Knaben nicht aus den Augen gelassen. Er lächelte und kramte in seiner Westentasche. Dann holte er einen Sixpence oder eine andere kleine Münze hervor und warf sie dem älteren Jungen zu, der sie geschickt aus der Luft fischte.
»Das war doch sicher nicht deine erste Fahrt?«, fragte Scoresby beiläufig und blickte über die Reling aufs Meer.
»Nein, Sir. Hab meine Lehrzeit fast fertig, Sir.«
»Und dein Freund?« Scoresby warf auch dem Jüngeren einen Sixpence zu.
»Scully hat noch ein paar Jahre zum Absitzen, Sir.«
Scully schien es nicht zu gefallen, dass man derart über ihn sprach, ohne ihn selbst anzusprechen. Er nahm den Finger aus der Nase, seine fahlen Wangen röteten sich. »Dank Ihnen, Sir. Recht schönen Dank, Sir«, murmelte er, ohne weiter auf die Fragen einzugehen, und biss geistesabwesend auf die Münze.
»Mr. Scully und Mr. …«
»Deaves, Sir, John Deaves.«
»Gab’s noch andere Lehrlinge auf dem Schiff?«
»Nur Henry Rickards, Sir, unser Jüngster. Aber der ist drüben bei den Jonathans – na, bei den Johnnies, den Amerikanern, Sir«, fügte Deaves hinzu, als Scoresby verständnislos die Augenbrauen hochzog. Der Reverend schlenderte über das Deck und lehnte sich über die Reling, um den amerikanischen Schoner in Augenschein zu nehmen. Das Schiff, ein Zweimaster, war nicht viel größer als die Mary Russell,