Sieh ihn nie an - Arne Molfenter - E-Book

Sieh ihn nie an E-Book

Arne Molfenter

4,1

Beschreibung

Eins, zwei - Ich hab’ den schwarzen Wolf gesehen. Drei, vier - Er lässt die Mädchen um ihr Leben flehen. Fünf, sechs - Leise tötet er und bringt sie fort. Sieben, acht - Eins davon an einen unbekannten Ort. In Berlin herrscht Panik, als der Serienmörder Eric Bennett aus der größten Psychiatrie der Stadt fliehen kann. Noch immer umgibt ihn und sein letztes Opfer ein düsteres Geheimnis, denn das Mädchen wurde nie gefunden. Die neue Ermittlerin im Landeskriminalamt Berlin, Lucy Westerberg, muss um jeden Preis verhindern, dass er wieder zuschlägt. Dieser Fall ist ihre Chance zu beweisen, dass auch die grausamsten Mörder gestoppt werden können.

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Gut verbrachte Zeit

Hab das Buch in einem Rutsch durchgelesen. Hat richtig Spaß gemacht. Gute Charaktere,Daumen hoch:)
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Arne Molfenter

Sieh ihn nie an

Berlin-Thriller

Zum Buch

Die Angst ist zurück Als es dem berüchtigten Serienmörder Eric Bennett – genannt der Wolf – gelingt, aus der größten Psychiatrie der Stadt zu entkommen, wird Berlin von einer lähmenden Welle des Schreckens überrollt. Alles scheint von neuem zu beginnen. Wann wird der Wolf wieder zuschlagen? Noch immer umgibt ihn und sein letztes Opfer ein düsteres Geheimnis, denn das Mädchen wurde nie gefunden. Die neue Ermittlerin im LKA Berlin, Lucy Westerberg, steht vor einer schwierigen Aufgabe. Sie muss um jeden Preis verhindern, dass der Wolf erneut mordet. Dieser Fall ist ihre Chance zu beweisen, dass auch die grausamsten Täter gestoppt werden können. Zur Not, indem sie den Boden des Gesetzes verlässt …

Arne Molfenter wurde in Leonberg geboren. Nach seinem Studium der internationalen Politik und der Wirtschaftswissenschaften sowie seiner Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule war er als Reporter, Redakteur und Korrespondent unter anderem in London und Berlin für Zeitungen, Fernsehsender und den Hörfunk tätig.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Mezzalira Davide / fotolia.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-5972-6

Widmung

Für Mia, Annika und Henry.

Vers

Eins, zwei – Ich hab’ den schwarzen Wolf gesehen.

Drei, vier – Er lässt die Mädchen um ihr Leben flehen.

Fünf, sechs – Leise tötet er und bringt sie fort.

Sieben, acht – Eins davon an einen unbekannten Ort.

-1-

Etwas war anders heute Nacht. Das fühlte er sofort. Ein kräftiger Luftzug war zu spüren, als er den Gang erreichte, in dem die »ständigen Gäste« ihre Zimmer hatten. So nannten die Ärzte und Pfleger die Insassen, die als extrem gefährlich galten und hier, in der Psychiatrie des Landeskrankenhauses, auf unbestimmte Zeit untergebracht worden waren. Mörder, Vergewaltiger, Männer und Frauen mit schweren Wahnvorstellungen – sie alle sollten nie wieder in Freiheit kommen, so hatten es die Gerichte im Namen des Volkes entschieden.

Heiner Abt, der Krankenpfleger, war hier seit 20 Jahren im Dienst. Kurz tippte er den Lichtschalter an, damit der gesamte Gang hell ausgeleuchtet war. Im Abstand von wenigen Sekunden flackerte eine Neonröhre nach der anderen grellblau auf. Es war lange her, seit die Wände gestrichen worden waren. Überall waren Risse zu sehen.

In dieser Nacht hatte Abt nur einen jungen Praktikanten mit in seiner Schicht, der erst vor einer Woche begonnen hatte. Gleich war es 1 Uhr morgens. Der zweite Kontrollgang stand an. Ein ruhiger Abend, es hatte keine Neuaufnahmen gegeben. Niemand verlangte nach zusätzlichen Medikamenten.

»Verdammt. Draußen ist es kalt, hier drinnen ist es fast genauso eiskalt.« Abt schüttelte sich voller Unbehagen. »Sieh mal dahinten nach, ob alles in Ordnung ist«, sagte er zu seinem Praktikanten. Der nickte stumm und verschwand in einem Seitengang. Es war eine dunkle Oktobernacht, der Regen war wieder stärker geworden, und der Wind drückte das Wasser mit solcher Wucht gegen die Scheiben, dass es sich auf dem Glas sofort in mehrere kleine Tropfen teilte. Abt ging den Gang weiter entlang. Dann sah er es.

Eines der alten Holzfenster am Ende des Ganges stand offen. Auf dem grauen Linoleumboden stand eine große Wasserpfütze. Er fluchte leise vor sich hin, als er das Fenster schloss und durch die dicken Gitterstäbe hinaus in den Garten der Anstalt sah. Er schüttelte den Kopf und rückte seinen Pflegerkittel wieder zurecht. Für eine Sekunde blitzte darunter etwas hervor. Sein junger Kollege sollte in keinem Fall mitbekommen, dass er in dieser Nacht unter seinem grünen Hemd eine Pistole trug.

Abt drückte die Taste seines Funkgerätes. »Alles ok hier. Geh schon mal weiter. Ich komme gleich. Mach’ alles so, wie wir das besprochen haben. Drück’ regelmäßig die Kontrollknöpfe, geh ans Telefon und lass dir nichts anmerken. Und denke immer dran: Ich bezahle dich dafür.«

»Ja, ist gut, Heiner. Ich warte gleich unten.« Dann herrschte wieder Stille.

Abt sah sich noch einmal um. Der erste Teil seines Plans war aufgegangen. Der lästige Helfer war beschäftigt. Nun kam Teil zwei. Direkt gegenüber dem offenen Fenster war das Zimmer, in dem der gefährlichste Patient der Anstalt seinen Platz hatte. Auch Heiner Abt hatte trotz seiner vielen Dienstjahre ein leichtes Schaudern verspürt, als er ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Sein Name war Eric Bennett. Sie nannten ihn den Wolf. Über die Jahrzehnte hinweg hatte Berlin einige Serienmörder erdulden müssen. Doch wie der Wolf die gesamte Stadt durch seine Taten in abgrundtiefe Furcht gestürzt hatte, das hatten selbst die abgebrühtesten Berliner Polizisten noch nie zuvor erlebt.

Abt wusste nicht viel über ihn. Nur so viel wie alle anderen Menschen in Berlin: dass er Mädchen auf bestialische Weise umgebracht haben soll. Sie erst quer durch die Stadt gehetzt und dann mit einem Biss in den Nacken getötet hatte, bis die Mädchen verblutet waren. Die Boulevardpresse war schnell mit einem Vergleich zur Hand – er hatte es so getan, wie ein richtiger Wolf jagt, der sie erst bis an den Rand des Todes hetzt und dann eiskalt zuschlägt. Zeugen gab es damals nur wenige. Eine alte Frau, die ihm in die Augen blicken konnte, erinnerte sich an seine bernsteinfarbenen Augen. Auch deswegen hatte Eric Bennett von den Berlinern den Namen »Wolf« bekommen.

Wenige Wochen nach seiner letzten Tat war der Wolf in einer Fischerhütte am Crossinsee von einem Zimmermädchen gefunden worden. Halb verblutet, neben sich einen entsicherten und durchgeladenen Browning-Revolver. Ein Projektil steckte direkt in seinem Kopf. Der Wolf überlebte, die Polizei ging von einem Selbstmordversuch aus. Seitdem konnte er nur noch auf einem Auge sehen, sein rechtes Lid ging nur noch halb auf.

Heiner Abt wollte nicht länger warten. Er atmete kurz durch, so als ob er dadurch ein wenig seine aufkeimende Furcht abschütteln könnte. Er steckte den Schlüssel in das Sicherheitsschloss, drehte zwei Mal um und öffnete langsam die Tür. Alles war dunkel. Dort lag er: der Wolf. Er schlief und atmete schwer, als Abt das Zimmer betrat. Abt blickte ihm direkt ins Gesicht, sah die Narbe auf der linken Stirnseite von Eric Bennetts Kopf. Dort war damals die Kugel wieder ausgetreten. Bennett ächzte leise und drehte Abt den Kopf zu, der plötzlich zwei schnelle Schritte nach vorne machte und direkt ans Bett trat. Er drückte Bennett die Hände mit aller Kraft, die er besaß, auf den Rücken und dann nach oben, zog ihm Handschellen um die Handgelenke und ließ die Schlösser mit einem Ruck zuschnappen, bis das Metall den Blutfluss an Bennetts Handgelenken abschnürte. Der Wolf stöhnte leise auf. Schlagartig war er wach. Abt drückte seine beiden Arme ruckartig noch ein Stück höher. Der Wolf wimmerte erneut vor Schmerz.

»Heute Nacht ist es so weit«, zischte Abt ihm zu. »Wir fahren gleich an einen Ort, an den du dich wohl noch erinnern kannst. Die Hütte am Crossinsee. Da, wo es passierte, verstehst du?«

Eric Bennett drehte seinen Kopf auf die rechte Seite und versuchte Abt, der hinter ihm an seinem Bett stand, in die Augen zu blicken. Der Krankenpfleger ließ ihn für einen kurzen Augenblick los, er spürte genau, welche Kraft in Bennett bebte. Dann zog er seine Waffe unter dem Hemd hervor und lud durch. Mit einem leisen Klicken schob sich die erste Patrone in die Kammer. Der Wolf schien durch ihn hindurchzusehen. Er zeigte keine Reaktion und wollte abwarten.

Jetzt weiß ich, warum sie ihn den Wolf nennen. Es sind diese furchterregend bernsteinfarbenen Augen, die einen zu fixieren scheinen, dachte Abt und spürte ein stetig wachsendes Unbehagen in sich. Hatte er die richtige Entscheidung getroffen? Er musste das hier bis zum Ende bringen. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

»Die Mädchen …«, flüsterte Bennett und drehte sich noch ein Stück weiter zu Abt, der die Pistole im Anschlag hielt.

»Was sagst du? Ich kann dich nicht hören.«

Der Wolf holte noch einmal Luft. Dann richtete er sich plötzlich auf. Für einen kurzen Moment war Abt schockiert, wie groß sein Gegenüber war, gut einen Kopf größer als er selbst, mindestens 1,90 Meter. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Sollte er das hier wirklich alleine durchziehen?

Der Wolf schien seine aufkommenden Ängste zu erahnen. Langsam beugte er sich zu dem Krankenpfleger vor.

»Die Mädchen … Nun gut. Wenn du es denn so willst«, flüsterte Bennett. »Es wird nicht lange dauern. Und dann bist du bei den Mädchen.«

Langsam erhob sich der Wolf von seinem Bett und ging voran.

-2-

»Verdammt noch mal! Das darf doch nicht wahr sein!« Lucy Westerberg traute ihren Augen nicht. Direkt vor ihr stürzte ein zwei Meter hoher Turm aus Umzugskartons ein und begrub ihre geliebte grüne Wohnzimmerstehlampe, ein Erbstück ihrer Großmutter, unter sich. Glas splitterte, überall verteilten sich der Staub und die Kartons, mit Tellern und Tassen darin, platzten auf und verteilten sich klirrend auf den Steinfliesen in der Küche. An diesem noch sehr frühen Morgen war das Chaos beim Umzug in ihr neues Haus vollkommen.

Lucy Westerberg wischte sich mit der einen Hand den Staub von der Stirn, mit der anderen strich sie sich eine ihrer dunkelbraunen Haarlocken aus dem Gesicht. Ihr Pferdeschwanz hatte sich schon bedrohlich aufgelöst. Sie blickte an sich herunter, ihre Converse Chucks hatten nach nur zwei Stunden im neuen Haus einige schwarze Striemen abbekommen.

»Wo soll ’n die nächste Fuhre hin, Frau Kommissarin?«, fragte sie einer der vier Möbelpacker, die ihren LKW direkt vor der Tür geparkt hatten. Sie brachten mit ihren Sackkarren Karton nach Karton.

»Einfach alles immer da rüber«, Lucy machte mit dem Daumen eine mutlose Bewegung und deutete hinter sich in Richtung des Wohnzimmers in ihrem kleinen, weißen Altbauhaus in der Potsdamer Innenstadt. Es würde Tage, ach was, Wochen dauern, bis das Chaos vorübergehen würde. Das Wohnzimmer glich inzwischen mit den Wänden aus über 60 Kartons einem Irrgarten. Drei Gänge hatte Lucy gebaut, um später wenigstens irgendwie an die einzelnen Kartons gelangen zu können.

Und das hier sollte der Beginn eines neuen Lebens sein? Nie wieder hatte sie umziehen wollen. Nie hatte sie Köln jemals wieder verlassen wollen – aber nun war alles in ihrem Leben anders gekommen. 43 Jahre war sie alt und Oberkommissarin. Und hätten ihr Kollegen vor einem Jahr erzählt, wie sehr sich ihr Leben ändern würde, sie hätte es für unmöglich gehalten. Eins wusste sie: Würde sie den neuen Job in Berlin genauso wie den letzten in Köln an die Wand fahren, dann wäre für sie mit einem Schlag endgültig alles aus.

Ihr Mann Robert hatte sich von ihr getrennt. Er empfinde keine Liebe mehr für sie, hatte er ihr knapp gesagt, nachdem er von einer seiner Dienstreisen zurückgekommen war. Und kurz darauf folgte dann die Sache mit Lucys Kollegen. Eigentlich ein ganz normaler Einsatz. Es ging darum, die Personalien eines Verdächtigen zu überprüfen. Sie waren zur Wohnung des Mannes im Kölner Norden gefahren. Die Wohnungstür war aufgegangen, als der Mann plötzlich und ohne Vorwarnung drei Schüsse abgab. Ihren Kollegen erwischte es mit einem Bauchschuss. Er brach zusammen, während Lucy sich an die Wand duckte und nicht zurückfeuerte. Das machten ihr die Ermittler der Untersuchungskommission später zum Vorwurf. Wegducken anstatt das Feuer zu erwidern – ein schwerer Fehler, der einer so erfahrenen Polizistin niemals hätte passieren dürfen. Das wusste Lucy selbst am besten. Doch es half nichts, ihr gingen die Bilder nie mehr aus dem Kopf. Kein Tag, keine Stunde, an dem sie nicht auf irgendeine Weise daran erinnert wurde. Wochen und Monate der Gegenwehr vergingen. Es änderte sich nichts. Den wachsenden Schuldgefühlen folgten mehrere Therapien. Die Kollegen flüsterten hinter ihrem Rücken. Die Vorgesetzten schlugen eine Versetzung vor. »Wir wollen nur das Beste für Sie, Frau Westerberg«, hatten sie ihr gesagt – mit einer Mischung aus Mitleid und wachsender Ungeduld. Und Lucy nahm nach einigem Zögern und schweren Herzens schließlich an. Also zurück in ihre Heimatstadt Berlin. Eine neue Stelle als Oberkommissarin. Eine neue Rolle als alleinerziehende Mutter. Ein neues, altes Haus in Potsdam. Und seither ein nicht enden wollendes Gefühl des Verlassenseins. Ein Gefühl, das nichts im Leben so gelaufen war, wie sie es sich erhofft hatte. Nicht die Ehe. Und nicht der Job. Und manchmal auch nicht das Zusammenleben mit ihrer Tochter Helen. Das konstante Hintergrundrauschen eines verfehlten Lebens. Lucy versuchte die Gedanken aus ihrem Kopf zu verjagen.

»Hast du meine grünen Leggins gesehen, Mama?« Ihre Tochter Helen kam mit sichtbar schlechter Laune die alte Holztreppe herunter. Auf Lucys Stirn bildete sich eine tiefe senkrechte Falte.

»Glaubst du, es gibt gerade nichts Wichtigeres als deine grünen Leggins?«

Helen lief durch einen Gang der Kartons im Wohnzimmer. Um den Kopf hatte sie ein Handtuch gewickelt.

»Boah ey, chill mal, Mama. Hab’ ja nur gefragt.«

Lucy verdrehte die Augen. Die typische Antwort einer 14-Jährigen. Sie konnte diese beiden Sätze nicht mehr hören.

»Was hast du da oben gemacht?« Lucy sah ihre Tochter an. Unter dem Handtuch leuchteten ein paar blonde Haarsträhnen hervor. Blonder als sonst, dachte Lucy noch, als Helen plötzlich das Handtuch abnahm und ihrer Mutter ihren ganzen Kopf präsentierte.

»Das sieht stark aus, was?«

Sie hatte sich ihre Haare wasserstoffblond gefärbt. Na wenigstens nicht rot oder grün, dachte Lucy noch, aber sie verkniff sich weitere Kommentare, zuckte kurz mit den Schultern und lächelte ihre Tochter müde an.

Die Männer mit den Umzugskisten wuchteten einen schweren alten Holzschrank in den ersten Stock.

Lucy sah aus dem Fenster in ihren neuen Garten. Da schnüffelte Tap herum, ihr schwarz-weißer Border Collie, dessen Vorderpfoten weiß und die Hinterpfoten schwarz waren und der immer so aussah, als habe er kleine schwarz-weiße Stiefel an. Er war nach den vergangenen Tagen noch genauso aufgeregt wie Lucy und Helen und musste erstmal die neue Umgebung und alle fremden Duftmarken anderer Hunde erkunden.

Plötzlich klingelte es. Helen hatte schon aufgemacht, bevor Lucy sich aus dem Wohnzimmer auf den Weg zur Tür gemacht hatte. Es waren ihre neuen Nachbarn, Fred und Antje Färber.

»Guten Morgen! Dürfen wir mit einem kleinen Begrüßungsgeschenk für unsere neuen Nachbarn hereinkommen?«, fragte Antje Färber. Ihr Mann stand direkt hinter ihr. Er trug eine, so schien es, schwere Metallplatte auf beiden Händen, über die er ein Küchentuch gedeckt hatte. Beide waren etwa Anfang 60, schätzte Lucy. Sie hatte sie vor zwei Tagen am Gartenzaun kennengelernt. Er war bereits pensioniert und früher Chemiker bei den Schering-Werken gewesen, sie war Verwaltungsbeamtin in der Potsdamer Stadtverwaltung, mit nur noch ein paar Jahren bis zum Ruhestand. Beide waren Lucy sofort sympathisch gewesen.

»Aber natürlich. Das ist ja mal ein Willkommen«, sagte Lucy. Sie freute sich aufrichtig, die beiden wiederzusehen.

»Überraschung, Frau Nachbarin«, sagte Fred Färber und zog das blaue Küchentuch weg. »Butterkuchen. Selbstgemacht. Wäre das etwas?« Er blickte Lucy mit einem erwartungsvollen Lächeln an und war sich ihrer Antwort sicher.

»Und ob. Das ist an einem solchen Tag die Rettung. Und unsere erste Mahlzeit! Helen, hol doch bitte Teller und Gabeln. Und ich mach’ gerade mal Kaffee für unsere Gäste. Gehen wir doch alle in die Küche. Das einzige Zimmer, das wir schon halbwegs fertig haben und in dem wir sitzen können.«

Sie ging vor, den Flur entlang. Noch bevor sie die Küche erreicht hatte, hörte Lucy den Klingelton ihres neuen Diensthandys. Nur wenige Sekunden später ging auch auf ihrem privaten Handy eine SMS ein. Was hatte das zu bedeuten? Lucy schnappte sich ihr Diensthandy und klickte die Nachricht an. Was sie las, ließ ihr den Atem stocken:

»EILT! ERIC BENNETT ENTFLOHEN. ALLE VERFÜGBAREN KRÄFTE IN DIE ZENTRALE. SOFORT!«

-3-

Lucy rannte zum Auto, ihrem alten dunkelgrünen Landrover Defender Geländewagen. Ungeduldig suchte sie den Autoschlüssel an ihrem Schlüsselbund, ließ den Motor aufheulen und blickte in den Rückspiegel. Zügig ließ sie den Defender rückwärts aus der Einfahrt vor ihrem Haus rollen. Als sie noch einmal nach vorne auf den Boden sah, entdeckte sie eine kleine, bunt schillernde Öllache auf dem Boden. Keine Zeit, jetzt nachzusehen, aber sie fürchtete: auch von ihrem so geliebten Auto würde es wohl bald Zeit sein, sich zu trennen.

Der Defender machte einen gewaltigen Ruck nach vorne, aus dem Auspuff drang eine schwarze Wolke. Sie gab Vollgas und erreichte schon bald die Autobahn Richtung Berlin. Knapp 20 Minuten später war sie im Westteil der Stadt. Sie fuhr vorbei an türkischen Gemüseläden, heruntergekommenen Spielhallen und den vielen Friseursalons. Dann erreichte sie das massive Haus mit fünf Stockwerken. Ihre neue Dienststelle lag in einer Seitenstraße des Tauentzien. Vor der Steintreppe stritten sich zwei Tauben um einen halben Döner, der auf der Straße lag, und pickten hektisch um die Wette die Fleischreste auf. Am Eingang mit den zwei wuchtigen Säulen hing ein tiefblaues Schild. Darauf die Aufschrift: »Polizei – Landeskriminalamt 1, Delikte am Menschen«. Es war eine vornehme Beschreibung für all die kleinen und großen Grausamkeiten, die Menschen anderen Menschen antun können, hatte Lucy noch gedacht, als sie sich in der vergangenen Woche das erste Mal ihr neues Büro angesehen hatte.

Sie hatte viel länger für die Fahrt gebraucht, als sie gedacht hatte. Eilig hetzte sie die Treppen hoch in den ersten Stock. Der große Besprechungsraum war überfüllt. Es schien, als ob wirklich jeder, der im Polizeidienst in Berlin tätig war, auch gekommen war. Einige ihrer neuen Kollegen standen auf dem Flur.

Lucy drängelte sich durch die Menge vor dem Raum. Sie ärgerte sich, dass sie anscheinend die Letzte war, die nun eintraf. Vorne im Raum sah sie die Zivilfahnder sitzen. Leicht zu erkennen mit ihren Turnschuhen, Holzfällerhemden und Freizeitjacken. Davor an den Tischen die Herren aus den obersten Etagen des Polizeipräsidiums, in dunklen Anzügen, weißen Hemden und dezenten Krawatten. Und auch das »Management« war geschlossen anwesend: So hießen die Politessen der Stadt Berlin im Polizei-Jargon. Männer und Frauen in blauen Uniformen, auf dem Rücken die Aufschrift »Parkraum-Management«. Eine seltsame Bezeichnung, dachte Lucy. Was wollen die hier? Wollen sie dem Wolf einen Strafzettel ausstellen, wenn er bei seiner Flucht falsch parkt? Fehlt nur noch, dass die Schülerlotsen auch noch kommen.

Lucy versuchte sich zu konzentrieren. Ihr Blick wanderte weiter. In der vorletzten Reihe saß jemand, der völlig aus der Reihe stach. Der Mann war ungefähr Ende 30. Er trug ein lila Hemd und ein Sakko aus schwarzem Samt mit Einstecktuch. Elegant war er, schlank und hatte schwarze Locken. Lucy wunderte sich. Jemand, der bei der Polizei arbeitete und Manschettenknöpfe trug in Weiß-Rot-Grün – der Landesfarbe Italiens und dazu lilafarbene Wildlederslipper. Unauffällig ist anders, dachte sie.

Vorne an der Spitze des Raumes erkannte sie ihren neuen Vorgesetzten wieder. Kriminaldirektor Taner Sadik. Er schaute mit ernstem Blick auf alle Kollegen und hatte sich, als Lucy eingetreten war, kurz geräuspert. Beide hatten an ihrem ersten Arbeitstag kurz ein paar freundliche Worte miteinander gewechselt. Viel wusste sie noch nicht über Sadik. Nur, dass er in Berlin-Kreuzberg aufgewachsen war, dort lange als Streifenpolizist gearbeitet und nun der erste deutsch-türkische Leiter der LKA-Abteilung 1 geworden war. Seine Ernennung war noch immer für manche bei der Berliner Polizei eine riesige Überraschung. Und das in einer Stadt, in der knapp eine halbe Million Deutsch-Türken leben.

Sadik umklammerte mit beiden Händen das Rednerpult. Er sah kurz auf die Pultfläche vor ihm, dann hob er den Kopf. »Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist nun seit ein paar Stunden traurige Gewissheit: Eric Bennett hat es geschafft, aus dem Psychiatrischen Krankenhaus zu fliehen. Es ist ihm gelungen, ohne nennenswerte Gegenwehr und ohne dass Alarm ausgelöst worden ist, das Gelände zu verlassen. Viel mehr wissen wir leider noch nicht.« Sadik blickte betreten auf das Pult.

»Das darf nicht wahr sein«, zischte ein groß gewachsener Polizist in blauer Uniform, der mit verschränkten Armen neben Lucy stand und nun unaufhörlich den Kopf schüttelte.

»Es kommt leider noch schlimmer, Kollegen«, fuhr Sadik fort.

»Von einem der Pfleger, der in der vergangenen Nacht Dienst hatte, fehlt jede Spur. Sein Name ist Heiner Abt. Die Fahndung nach ihm läuft.«

Die Anspannung, die im Raum herrschte, war zu spüren. Die Männer und Frauen blickten ihren Vorgesetzten fassungslos an.

Der Mann mit den dunklen Haaren und den lilafarbenen Slippern reckte sich. »Haben wir Spuren, Chef?«

Sadik machte eine lange Pause. Er blickte den Mann ein wenig hilflos an und versuchte auszuweichen.

»Das, was vor uns liegt, schaffen wir nur gemeinsam, Kollegen. Bennett ist hochgefährlich. Er ist in Berlin zu Hause. Und er hat immer im Westteil der Stadt getötet. Zwei Dinge sind also entscheidend: Er soll Berlin nicht verlassen können. Aber er soll vor allem auch nicht nach Westen gelangen.«

»Straßensperren? Personenkontrollen? Fahrzeugkontrollen, also?«, fragte der Mann.

»Der Kollege Seghetti ist ein heller Kopf.« Sadik schien dankbar, dass ihm der Mann ein paar Stichwörter lieferte. Er sah müde aus. Aber ebenso blitzte in ihm nun neue Entschlossenheit auf.

»Machen Sie aus ganz Berlin einen verdammten nervösen Ameisenhaufen. Suchen Sie nach möglichen Zeugen, befragen Sie Anwohner. Erhöhen Sie die Zahl der Streifenpolizisten und machen Sie Tag und Nacht Verkehrskontrollen. Wir wissen nicht viel. Noch nicht. Aber jeder in dieser Stadt soll sicher sein, dass wir den Wolf unbarmherzig jagen werden. Also: an die Arbeit!«

Sadik lockerte seine Krawatte. Er hatte sich in Rage geredet, auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Dann hatte er Lucy in der Menge entdeckt und sah sie eindringlich an.

-4-

Die Wärme hatte sich gestaut, alle waren froh, dass es vorbei war, der große Besprechungsraum leerte sich zügig. Sadik ging direkt auf Lucy zu, die nun an der Tür stand.

»Kommen Sie bitte einen Moment mit in mein Büro, Frau Westerberg«, sagte er und ging mit raschen Schritten den Flur mit seinem grünen Linoleumboden entlang. Sie lief ihm hinterher, bemühte sich, ihn im Gewühl der herausströmenden Kollegen nicht aus den Augen zu verlieren. Mit seiner linken Hand deutete er auf sein Büro und ließ sie vor ihm eintreten. Knapp deutete er auf vier schwarze Ledersessel in der Ecke seines Büros und ließ sich in einen von ihnen mit einem leichten Seufzen fallen.

»Ich will, dass Sie von Anfang an im Bild sind, Frau Westerberg.« Sadik beugte sich mit dem Rücken leicht nach vorne, so als ob er Schmerzen unterdrücken wollte. »Bennett hat vor seiner Festnahme in den letzten Jahren wahrscheinlich drei Mädchen getötet. Wir sagen wahrscheinlich, weil wir beim dritten Opfer nicht ganz sicher sein können. Die jungen Frauen hatten eins gemeinsam: Die Leichen wiesen jeweils einen Biss in den Nacken auf, was zu immensem Blutverlust führte. Sein vermutlich letztes Opfer, Sophie Reinhard, tauchte nie wieder auf. Wir vermuten, dass er auch sie getötet hat. Sie ist seine Cousine und wurde kurz vor ihrem Verschwinden mit ihm gesehen. Am Crossinsee. Bennett hatte sie von zu Hause abgeholt.«

Plötzlich klopfte es an der Tür. Es war der schwarzhaarige Mann, der vorhin die Fragen an Sadik gestellt hatte. Er hatte einen Pappträger mit drei Espressobechern in der Hand. Sadik bedeutete ihm wortlos, in einem der Sessel vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Der Mann griff in die linke Tasche seines Sakkos und zog eine Packung Bacci heraus, kleine italienische Nusspralinen.

»Auch eine, Chef? Ob das vielleicht Ihrer Laune hilft? Und Sie vielleicht auch?« Er lächelte Lucy freundlich an und reichte ihr die Hand: »Enzo Seghetti, zweiter Oberkommissar im LKA. Freut mich sehr.« Lucy wollte gerade Luft holen und ihm antworten, aber dazu kam sie nicht mehr. Sadiks Miene verdüsterte sich.

»Nein, Seghetti. Keine Kohlenhydrate, kein Zucker. Eine neue Diät meiner Frau, fünf Kilo bis zur Silberhochzeit in drei Monaten. Wollen Sie mich mit Psychofolter in den Wahnsinn treiben?«

Seghetti lächelte und schwieg, er reichte die Packung auf die andere Seite zu Lucy, die zugriff.

»Und noch etwas, Seghetti. Als Ihr Vorgesetzter: Der Dresscode des Landeskriminalamts schreibt gedeckte, unauffällige Farben vor. Etwas dezenter wäre schön.«

»Ach kommen Sie, Chef. Sie wollen einem echten Italiener jetzt nicht etwa Modetipps geben, oder? Wer versteht mehr von diesem Thema als unsere Nation? Will ich wie einer dieser öligen Handyverkäufer am Kotti aussehen? Individuell. Schick. Bellezza. Das bin ich. Ganz große Klasse. So muss es sein, oder?«

»Mmhh.« Lucy sah die beiden mit einem Lächeln an. »Ich weiß nicht, ob Sie mit den lila Schuhen und dem leicht schimmernden Samtsakko nicht gerade so wie diese Leute vom Kotti aussehen. Aber davon abgesehen: Lucy Westerberg, erste Oberkommissarin seit letzter Woche für das LKA im Dienst. Gebürtige Berlinerin. Und noch ziemlich überfordert. Freut mich.«

Seghetti sah sie mit großen Augen an. »Äh. Enzo Seghetti. Äh. Ja. Auch Berliner!«

»Und hoffnungsloses Modeopfer!«, unterbrach Sadik mit einem Lächeln Seghetti, der schnell wieder versuchte, seine Fassung zu erlangen.

»Auf gute Zusammenarbeit.« Seghetti reichte Lucy die Hand. Äh. Guten Tag.«

Seghettis Augen wurden größer. Was? Das ist mein neuer Chef? Oh, Chef«, er schluckte und wandte sich erneut Sadik zu, »das ist … ähm.«

»Überraschend?«, fragte Sadik und freute sich diebisch im Stillen, dass es dem sonst so vorlauten Seghetti für einen Moment die Sprache verschlagen hatte.

»Nun gut, da Sie beide sich nun kennengelernt haben, zur Sache: Abgesehen von der Wahl seiner Schuhfarbe sind Sie, Frau Westerberg, beim Kollegen Seghetti in den allerbesten Händen. Vorausgesetzt, Sie ignorieren alle seine Modetipps. Sie beide werden einen wichtigen Aspekt bei der Jagd nach Eric Bennett zu analysieren haben. Studieren Sie die vergangenen Fälle und sehen Sie sich die Akten dazu genau an. Hat die Polizei irgendetwas übersehen? Hatte der Wolf Helfer?«

»Ist das wirklich entscheidend?« Lucy sah Sadik skeptisch an. »Oder wollen Sie uns beide erst einmal elegant aus dem Weg räumen, damit wir die Ermittlungen nicht behindern?«

»Nur ruhig, Frau Westerberg. Sie sind ganz neu wieder in der Stadt. Ihre und Seghettis Zeit kommt dann, wenn sich der Wolf tatsächlich nach Westen bewegen sollte. Dann brauche ich die, die ihre Nerven immer im Griff behalten und mit solchen Situationen professionell umgehen können.«

Lucy sah durch Sadik hindurch. Meinte er das gerade ernst? War das eine zweideutige Anspielung auf die Gründe ihrer Versetzung von Köln nach Berlin? Sie beschloss, sich nichts anmerken zu lassen.

»Sie beide sollten diese Aufgabe nicht unterschätzen. Er ist da draußen. Und er wird, wenn wir es nicht alle gemeinsam verhindern, wieder töten.« Sadik machte eine Pause und blickte hinaus in Richtung Bahnhof Zoo. »Warum? Weil er es tun muss. Also beginnen Sie mit Ihrer Arbeit! Und zwar jetzt! Nichts wird ab jetzt leichter für uns alle werden. Aber hoffentlich wird auch nicht alles anders.«

-5-

Lucy und Seghetti machten sich als Erstes in die Psychiatrische Klinik auf, nachdem sie die Akte zu den früheren Mordfällen aus dem Archiv geholt hatten.

Draußen im Hinterhof stand eine Reihe von LKA-Autos. Die beiden warteten auf die Schlüssel für den nächsten freien Wagen. Sie sahen, wie ein gutes Dutzend uniformierter Kollegen mit Maschinenpistolen in einen Bus stiegen. Nach ein paar Minuten kam Seghetti mit dem Autoschlüssel. Beide stiegen ein, Lucy legte den roten Ordner mit den Akten auf ihrem Schoß ab und öffnete den Deckel. Der Verkehr war so dicht wie immer, Berlin sehnte sich in die Mittagspause, sie war sicher, dass in der Klinik einige Antworten zu finden waren. Sie blätterte die Akte durch, während Seghetti von der Seite und mit schrägem Blick auf die vergilbten Bögen starrte.

Die Mordserie des Wolfs lag knapp zwei Jahre zurück. Sein Muster war stets dasselbe gewesen: Einige Zeugen hatten ihn gesehen. Oft berichteten sie von einem schwarz gekleideten Mann, manchmal glaubten sie, dass er auch eine schwarze Mütze oder Maske getragen habe. Das erste Mädchen, das der Wolf getötet hatte, hieß Isabell Hertel. Sie war 13 Jahre alt, hatte lange blonde Haare und war schlank. Bennett hatte sie offenbar gezielt in einer Einkaufspassage in der Nähe des Gesundbrunnens ausgesucht. Er war ihr für mehrere Stunden gefolgt, quer durch die gesamte Stadt. Das belegten verschiedene Aufnahmen von Videokameras. Dann, als Isabell die U-Bahn Station Dahlem-Dorf im Westen erreicht hatte, es war inzwischen früher Abend, hatte er schließlich zugeschlagen. Die Rekonstruktion ergab, dass sie in ein Gebüsch gezogen worden war. Todesursache: Ein tiefer Biss in den hinteren Hals und mehrere Schläge auf den Kopf. Letztendlich war sie verblutet. Der Tod musste langsam und qualvoll eingetreten sein.

Lucy blätterte weiter. Das zweite Opfer folgte nur wenige Wochen später. Es war die 16-jährige Lisa Graven. Ein zierliches Mädchen, knapp 1,60 Meter groß, sie hatte lange Haare und Sommersprossen. Auch sie stammte aus dem Westteil Berlins, aus Wilmersdorf. Sie war erst Praktikantin und später Schwesternschülerin in einem Krankenhaus gewesen. Der Wolf musste sie auf dem Nachhauseweg abgepasst haben. Die Todesart ähnelte der des anderen Mädchens, aber bei Graven hatte es eine weitere, verstörende Merkwürdigkeit gegeben. Neben den Bissen in den Hals war in der Akte von den damals ermittelnden Beamten rot unterstrichen worden: »Linkes Handgelenk. Kettenartiges Muster mit dem Namen Lisa in der Mitte. Eingeritzt mit metallenem Gegenstand. Messer? Skalpell?«

Plötzlich schreckte Lucy hoch. »Ganz ruhig da hinten, Streifenhörnchen!«, schimpfte Seghetti und blickte wütend in den Rückspiegel. Direkt hinter ihrem Auto ertönte das Signalton eines Martinshorns. Der Fahrer eines Streifenwagens hinter ihnen drückte hektisch auf die Lichthupe. Lucy war so sehr vertieft in die Akte gewesen, dass sie das grelle Signal völlig überrascht hatte. Jetzt gab der andere Fahrer Vollgas und raste auf der linken Spur mit Blaulicht vorbei.

Lucy ärgerte sich über ihre Schreckhaftigkeit, sie zwang sich, langsam auszuatmen, dann sah sie sich ein paar Zeitungsauschnitte an, die der Akte beigelegt waren. Die Berliner Boulevardpresse hatte Eric Bennett schnell mit sensationellen Schlagzeilen seinen Namen verpasst: