Operation Doppeltes Spiel - Arne Molfenter - E-Book

Operation Doppeltes Spiel E-Book

Arne Molfenter

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Beschreibung

Die unglaublichsten Geschichten schreibt immer das Leben. Johann-Nielsen Jebsen und Duško Popov – nachweislich reale Vorbilder für Ian Flemings James Bond – lernen sich in Nazi-Deutschland kennen und werden enge Freunde. Beide genießen ihr luxuriöses Leben, beide geraten als Doppelagenten für das Dritte Reich und Großbritannien zwischen die Fronten des Zweiten Weltkriegs. Und beide spielen als die erfolgreichsten Doppelagenten des D-Days eine entscheidende Rolle bei der Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944. Ohne sie hätte der Zweite Weltkrieg vielleicht eine andere Wendung genommen. Der Journalist Arne Molfenter zeichnet zum ersten Mal im deutschen Sprachraum ihre Geschichte nach. Action pur – spannender als Casino Royale.

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Seitenzahl: 307

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Arne Molfenter

Operation Doppeltes Spiel

Wie zwei Agenten den Sieg über Nazi-Deutschland retteten

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf

Umschlagmotiv: © mauritius images / Trinity Mirror / Mirrorpix / Alamy Stock Photo

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster

ISBN Print 978-3-451-39582-6

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83128-7

Für Mia, Annika und Henry

Inhalt

Prolog

Lissabon, November 1943

Kapitel 1: Der Klub der Ausländer

Freiburg, Sommer 1936

Kapitel 2: Ein Rätsel

Dubrovnik/Belgrad, Februar 1940

Kapitel 3: Ankunft in der Stadt des Lichts

Lissabon, November 1940

Kapitel 4: Im goldenen Käfig

London, Dezember 1940

Kapitel 5: Agent Tricycle

Lissabon, 3. Januar 1941

London, 4. Februar 1941

Kapitel 6: Alice im Wunderland

Lissabon, 15. März 1941

Lissabon, 28. Juni 1941

Kapitel 7: Tod am Times Square

New York City, 18. März 1941

Lissabon/New York, 10. August 1941

Kapitel 8: Zwischen Hoffen und Bangen

New York, September 1942

Kapitel 9: Zurück im Spiel

Lissabon, 14. Oktober 1942

Kapitel 10: Agent Freak

London, 21. Oktober 1942

Kapitel 11: Artist und die Angst

Madrid, 18. September 1943

Lissabon, 16. Oktober 1943

Kapitel 12: Düstere Stimmung

Lissabon, 10. November 1943

Kapitel 13: Auftritt der ersten Geigen

London, Januar 1944

Kapitel 14: Hase und Igel

Lissabon, 14. Februar 1944

Lissabon, 26. Februar 1944

Kapitel 15: Ein Verräter

London, 13. April 1944

Lissabon, April 1944

Kapitel 16: Dora

Lissabon, 30. April 1944

London, Anfang Mai 1944

Kapitel 17: Falsch gezählt

Berlin, Mai 1944

London, Ende Mai 1944

Kapitel 18: Löcher im »Atlantikwall«

Englische Südküste, Mai 1944

Berchtesgaden, 27. Mai 1944

Kapitel 19: Dunkle Wolken

Portsmouth, 4. Juni 1944

Normandie, 6. Juni 1944

Berchtesgaden, 6. Juni 1944

London, Anfang Juni 1944

Berlin, Ende Juli 1944

London, Juli–August 1944

Kapitel 20: Wo ist Johnny?

London, August 1944

Paris, August 1944

Zossen, September 1944

Berlin, Ende April 1945

Epilog

Editorische Notiz

Danksagung

Quellen und Literatur

Archive/Museen

Bücher/Sammelbände

Zeitschriften/Zeitungen

Sonstige Quellen

Abbildungsnachweis

Anmerkungen

Über den Autor

»In Kriegszeiten ist die Wahrheit so kostbar, dass sie immer von einer Leibwache von Lügen beschützt werden sollte.«

Winston Churchill, britischer Premierminister

»Alles, was ich schreibe, hat seinen Ursprung in der Wahrheit.«

Ian Fleming, Autor der James-Bond-Romane und Offizier des britischen Marine-Geheimdienstes im Zweiten Weltkrieg

Prolog

Lissabon, November 1943

Er sah keinen anderen Ausweg, als ihn jetzt zu töten. Endlose Minuten hatte er nach seiner Ankunft in dem großen Salon der Villa an der portugiesischen Riviera auf ihn gewartet. Duško Popov war sich sicher, dass sein Gegenüber inzwischen genug Beweise gegen ihn gesammelt hatte und längst wusste, dass Popov ihn verraten hatte und ein doppeltes Spiel trieb.

Bevor er von London nach Lissabon aufgebrochen war, hatten ihn die Mitarbeiter des britischen Geheimdienstes noch eindringlich gewarnt, äußerst vorsichtig zu sein. Wie sollte Popov den Deutschen erklären, dass er ihnen in den letzten elf Monaten nur wenige brauchbare Details geschickt hatte? Warum er sich so lange nicht gemeldet hatte? »Wahrscheinlich bist du doch längst aufgeflogen, Duško«, hatte sein britischer Agentenführer, Colonel Tommy Robertson, vor dem Abschied auf dem Rollfeld noch gesagt. Popov versuchte sich in Optimismus. »Na, die werden mich nicht gleich erledigen.« Robertson sah ihn düster an. »Wenn du ihnen erst gegenüberstehst, wirst du vielleicht den Tod noch herbeiwünschen.«1

Popov schüttelte den Kopf und täuschte den Mut vor, den er schon lange nicht mehr besaß. »Dann werde ich es eben selbst feststellen müssen. Wenn ich nicht zurückkomme, könnt ihr auf meinen Grabstein schreiben: ›Hier ruht Duško Popov, der keine Ungewissheit ertrug.‹« Robertson hatte ihn zum Schluss noch umarmt. »Ich wusste, dass du es tun würdest. Um ganz offen zu sein, Duško: Dein Einsatz in Lissabon ist äußerst wichtig, aber wir konnten dir nicht einfach den Marschbefehl erteilen. Als dein Freund bin ich dagegen. Als dein Vorgesetzter bin ich dankbar für deinen Mut.« Dann stieg Popov die Gangway hoch, und die Flugzeugtür wurde hinter ihm verriegelt.

Entgegen allen Vorschriften hatte er eine Luger-Pistole mit im Gepäck. Für alle MI5-Agenten galt der Grundsatz, keine Waffen bei sich zu tragen, da allein das sie schon verraten konnte.2 Doch Popov glaubte, nicht mehr viel verlieren zu können, und wollte eines vermeiden: endlose Qualen unter Folter. Und die leichte Pistole war seine Versicherung dagegen. Sollte das Treffen in Lissabon eskalieren, würde er sich seinen Weg freischießen oder eben bei dem Versuch sterben.

Nachdem er gelandet war, ging er in der Dunkelheit die Landstraße von Lissabon nach Estoril entlang. Bis zu der Stelle, an der ihn ein Auto der Deutschen abholen sollte. Die Pistole hatte Popov inzwischen in einem Schulterholster verstaut. Im Gehen übte er einige Male, sie möglichst schnell aus dem Holster zu ziehen und auf ein imaginäres Ziel zu richten.

Es dauerte nicht lange, bis sich wie vereinbart ein Wagen näherte und an seiner Seite stoppte. Popov atmete erleichtert auf. Am Steuer saß eine junge Frau, die er nie zuvor gesehen hatte. »Herr Iwan?«, sprach sie ihn durch das offene Fenster der Beifahrerseite an, als er die Hand nach dem Türgriff ausstreckte. Popov war erleichtert, nur die junge Frau zu sehen, die ihn mit seinem korrekten Tarnnamen angesprochen hatte. Wenigstens erwarteten ihn nicht hier schon die »Leute von der Müllabfuhr«, um ihn auf der Stelle zu töten. So nannte der britische Inlandsgeheimdienst MI5 die Tötungskommandos der Gestapo.

Beide fuhren zu einer weißen Villa im maurischen Stil und passierten die weitläufige Einfahrt mit einem schmiedeeisernen Tor. Die Frau steuerte das Mercedes-Coupé direkt in eine der offen stehenden Garagen und führte ihn über eine Wendeltreppe ins Haus, hinein in einen der Salons im Erdgeschoss. »Ich werde Herrn von Karsthoff sagen, dass Sie eingetroffen sind.« Dann ging sie und ließ Popov allein.

Der Salon war groß, viele Male hatte er hier mit seinem deutschen Agentenführer, Ludovico von Karsthoff, gesessen und seine Aufträge für den deutschen Geheimdienst besprochen. Noch nie hatte ihn interessiert, wie er am schnellsten diesen Raum verlassen könnte, sollte es darauf ankommen. Er hatte den Raum von der Eingangshalle her durch eine hohe, zweiflügelige französische Tür betreten. An der Seite gab es noch zwei weitere Türen. Die eine an der rechten Wand, das wusste er von früheren Besuchen, führte in den Speisesaal. Durch die linke gelangte man in den Garten. Das war sein bester Fluchtweg. Er entsicherte seine Pistole und ging auf die linke Tür zu, um zu sehen, wo er landen würde, wenn er hinaussprang.

Dusan Popov

Hinter seinem Rücken nahm er plötzlich ein schrilles, andauerndes Fiepen wahr, bis eine Stimme sagte: »Dreh dich ganz langsam um, Duško! Und keine raschen Bewegungen!«3 Hinter sich hörte er von Karsthoff, leise, aber energisch. Er war fast lautlos durch die Flügeltür von der Halle eingetreten. Popovs Hand tastete nach der Pistole. Er war nun bereit, sich ruckartig umzudrehen und abzudrücken, doch dann sah er in der Fensterscheibe von Karsthoffs Spiegelbild. Er war allein und unbewaffnet. Auf seiner Schulter hockte ein kleines Makaken-Äffchen mit einem goldenen Halsband und einer Leine, die er fest in der Hand hielt. Es hatte die seltsamen, hohen Töne erzeugt. Beide, von Karsthoff und der Affe, sahen Popov mit großen Augen erwartungsvoll an. Popov zog seine Hand langsam wieder aus dem Inneren seines Jacketts und drehte sich um.

»Ein Agent aus Südwestafrika hat ihn mir vor einigen Tagen geschenkt«, flüsterte von Karsthoff. »Er heißt Benito und ist noch nicht zahm. Wenn er erschrickt, könnte er beißen.« Dann ließ er den Affen von seiner Schulter gleiten und band die Leine an der Armlehne eines Ledersessels fest. Von Karsthoff ging zum Barwagen, goss zwei doppelte Brandys ein und reichte Popov eines der Gläser. »Du kommst mir so sonderbar vor, so nervös. Ist irgendetwas geschehen?«

Popov blickte von Karsthoff an, im Geist sah er ihn von einer Kugel getroffen blutüberströmt gegen die Tür zurücktaumeln. Sein Herz raste, hastig nahm er einen Schluck Brandy. Er wusste, dass die Gefahr noch lange nicht vorüber war. Auch nicht für seinen besten Freund, Johnny Jebsen, der zuletzt ebenfalls in Lissabon gesichtet worden war, von dem aber seit Wochen jede Spur fehlte. Als Popov von Karsthoff zuprostete, überkamen ihn immer größere Zweifel, ob Johnny überhaupt noch am Leben war.

Kapitel 1

Der Klub der Ausländer

Freiburg, Sommer 1936

Im Schwarzwald trafen sie zum ersten Mal aufeinander, an der Universität Freiburg. Eine ungewöhnliche Beziehung war sie von Anfang an, die Freundschaft zwischen Johann Nielsen Jebsen, genannt »Johnny« und Dušan »Duško« Popov, zweier Söhne privilegierter Elternhäuser. Jebsen, der Student aus Hamburg, gehörte nicht zu den oberen Zehntausend, er war einer der oberen Tausend. Auch Popov kannte das Leben in Luxus seit seiner Geburt. Er war am 10. Juli 1912 in Titel, in Serbien, auf die Welt gekommen. Im Besitz der Familie waren Fabriken, Minen und Handelsunternehmen. Mit seinen beiden Brüdern vertrieb er sich die Zeit beim Segeln, Wasserball, Reiten und Tennis.

In Frankreich und England hatte er wie seine Brüder Internate besucht, in Belgrad Jura studiert, nun wollte er in Freiburg promoviert werden. Die Wahl war auch deswegen auf die Stadt im Schwarzwald gefallen, weil sein Vater seit 1935 enge Geschäftsbeziehungen mit dem Dritten Reich entwickelt hatte. So lieferten einige seiner Firmen Stoffe an das Bekleidungsunternehmen von Hugo Ferdinand Boss, der für SA, SS, Hitlerjugend und die Wehrmacht seit den 1930er Jahren in der Nähe von Stuttgart Uniformen schneiderte.1 Es war ein riesiges und profitables Geschäft, und Popovs Vater versprach sich vom Studienaufenthalt seines Sohnes in Freiburg einige Vorteile. So konnte er nicht nur seine Deutschkenntnisse verbessern, sondern auch nützliche Kontakte knüpfen.

Popov zeigte viele Qualitäten, nur keinen akademischen Ehrgeiz. Immer wieder korrespondierte er mit dem Prüfungsamt der Universität, forderte Aufschub für seine Arbeit, wollte gewisse Themen gar nicht lernen und wurde stets aufgefordert, nachzubessern. Seine Doktorarbeit wird unter der Rubrik »nicht abgeschlossene Promotionen« in Freiburg aufbewahrt.2 In seiner Heimat stellte er sie später doch noch fertig.

Popov besaß neben einem riesigen Selbstbewusstsein und viel Gelassenheit noch weitere besondere Eigenschaften. Als er auf Jebsen traf, half dieser ihm nach und nach, sie zu entwickeln. Bevor Popov in Freiburg ankam, war Jebsen, der dort Volkswirtschaft und Jura studierte, um später das Familienunternehmen zu übernehmen, bereits stadtbekannt.

Jebsen war ein Mann des schwarzen Humors, besaß großen Intellekt und später auch viele Schwächen. Seine Eltern waren von Dänemark erst nach Flensburg und später nach Hamburg gezogen. Dort war Jebsen am 22. Juni 1917 geboren worden, betonte aber stets, dass er sich trotzdem als Däne fühle und sein deutscher Pass lediglich eine »Fahne der Bequemlichkeit« für seine künftigen, selbstverständlich gewaltigen Geschäftsvorhaben sei: »Ein Teil meiner Liebe zu meinem Land hat damit zu tun, dass so viel davon eigentlich mir gehört«, behauptete er.3 Seine Eltern verlor Johnny in den Dreißigerjahren und wurde Erbe der Hamburger Reederei Jebsen und Sohn, die später unterging. Er galt als hochintelligent, übersprang die vorletzte Schulklasse und bestand am Realgymnasium Flensburg das Abitur mit Auszeichnung.4 Jebsen, ein anglophiler junger Mann, sprach häufig lieber Englisch als Deutsch, verbrachte zwei Jahre in Großbritannien und hob stets seine »englischen Manieren« hervor.

In der kleinen Stadt im Schwarzwald, die durch hohe Berge mit mächtigen Tannen eingerahmt ist, spielte Jebsen die Rolle des vermeintlichen Aristokraten und Dandys. Ohne Regenschirm und Monokel im linken Auge verließ er nie seine Wohnung, ließ sich für die damals gewaltige Summe von 500 Reichsmark einen Anzug aus englischem Tuch maßschneidern und wollte mit dem immer deutlicher zutage tretenden kleinbürgerlichen Gehabe brauner Ideologie nichts zu tun haben. In Freiburg war er als Provokateur gegen die Nazis bekannt und bereits als Schüler gegen sie aktiv gewesen. Mit Sorge hatte seine Mutter zu dieser Zeit bemerkt, dass er drei Tage lang gebraucht hatte, um verdächtige Dokumente im Ofen in seinem Zimmer zu verbrennen.5

Johann Jebsen im Alter von 20 Jahren

Als er mit seinem Mercedes 540k zum Studienbeginn in Freiburg eintraf, war das Erste, was er erledigte, eine Fahrt zum Polizeipräsidenten. Dem legte Jebsen einen Umschlag mit Geld auf den Tisch und sagte: »Es spart Zeit, wenn ich meine künftigen Verkehrssünden schon vorab bezahle.«6 Das Studium absolvierte er nebenbei. Denn Jebsen führte bereits als Student seine eigene Im- & Exportfirma in Berlin. Als die Universität Freiburg ausstehende Prüfungsgebühren von ihm eintreiben wollte, ließ der Student Jebsen über das Sekretariat seiner Firma mitteilen, dass er geschäftlich im Ausland unterwegs sei. Seine Geschäfte führten ihn unter anderem auf den Balkan und den Vorderen Orient.7

Die Wege von Jebsen und Popov kreuzten sich erstmals im Sommer 1936, im Klubhaus der Deutsch-Ausländischen Gesellschaft in der Schwimmbadstraße. Dort war die Gesellschaft in einem Prachtbau aus der Kaiserzeit untergebracht. Die Gesellschaft war ein Verein, der ausländischen Studenten die deutsche Sprache und Kultur näherbringen sollte. All das interessierte Popov und Jebsen aber nur am Rande. Am Bildungsprogramm nahmen sie meist geistig abwesend und ohne wahren Eifer teil. Ihre volle Konzentration galt den geselligen Teilen. Regelmäßig stiegen Partys »mit den schönsten Mädchen«, wie sich Popov an diese Zeit erinnerte.8 Am Wochenende fuhren die Mitglieder die wilden Serpentinen der kleinen Landstraße zum Gipfel des Schauinsland hinauf, der Freiburg überragt. Dort fuhren sie Ski, manchmal zog es sie auch in die Alpen nach Garmisch-Partenkirchen, wo im Februar 1936 die Olympischen Winterspiele abgehalten worden waren und sich das Nazi-Regime der Welt in einem falschen Schauspiel bewusst weltoffen und tolerant gegeben hatte. Eine Täuschung, die beim Propagandaspektakel im Sommer 1936 im Berliner Olympiastadion in noch größerem Maß inszeniert worden war.

Jeden Freitagabend hielt die Gesellschaft, die bei den Studenten nur »Ausländerklub« hieß, ein Rededuell ab. Popov war fassungslos, wie unkritisch die deutschen Debattierenden für den Nationalsozialismus schwärmten. Schnell fand er heraus, dass alle deutschen Redner eigens ausgewählte Parteimitglieder der NSDAP waren, die jedes Thema vorab erfahren hatten und sich, akribisch vorbereitet, stets flammend für Hitler und seine Pläne aussprachen. Die Debatten zwischen deutschen und ausländischen Studenten nahmen immer hitzigere Fahrt auf, was Jebsen und Popov mit allen Kräften befeuerten. Denn Jebsen war es ebenfalls gelungen, die geplanten Debattenthemen zu erfahren, und er gab diese an britische und US-amerikanische Kommilitonen weiter. Zur diebischen Freude Jebsens und Popovs wurden die Konfrontationen zwischen deutschen und ausländischen Studenten über Hitlers Pläne somit immer schärfer. Beide ergriffen auch häufig selbst das Wort, argumentierten stets für den Erhalt der Demokratie, steigerten sich in ihren Reden immer klarer in strikte Opposition zum NS-Regime und verhöhnten die studentischen Nazis.9 Jebsen verachtete ganz offen die Aggressivität der führenden Nationalsozialisten, während Popov keine Gelegenheit ausließ, die akademischen Unterstützer Hitlers in ihren braunen Hemden zu verhöhnen. Schon bald sorgte das außerhalb des »Ausländerklubs« für Zorn.

In den deutschen Universitätsstädten wie Freiburg hatte sich schon zu Beginn der Machtergreifung Hitlers der NS-Einfluss stärker bemerkbar gemacht als anderswo. Die meisten Professoren, die nicht mit dem Regime sympathisierten, waren bereits aus dem Dienst entfernt worden. Diejenigen, die noch ihre Lehrstühle besaßen, mussten stets vorsichtig sein und streng nach der vorgegebenen offiziellen Ideologie lehren. Allen jüdischen Professoren war die Lehrerlaubnis entzogen worden, doch gab es damals noch einige Vorlesungen für jüdische Studenten – auch, um international das Gesicht zu wahren. Aber für die jüdischen Studenten gab es keine gleichen Bedingungen mehr, an der Universität wurden sie noch geduldet, um sie dann im Examen meistens durchfallen zu lassen.

Der neuen »Weltanschauung« in Deutschland brachten Jebsen und Popov nur Spott entgegen. Das einte sie. In anderer Hinsicht konnten Jebsen und Popov kaum unterschiedlicher sein. Während Duško agil und charismatisch war, litt Johnny unter Kurzsichtigkeit und auffälliger Blässe. Während der eine athletisch war, hatte der andere mit Krampfadern zu kämpfen und humpelte leicht.

Von Anfang an idealisierte Johnny seinen ungleichen Freund Duško, der fünf Jahre älter war als er und ein wahrer Überflieger zu sein schien – egal, was er anpackte. Besonders, wenn es darum ging, Frauen zu erobern. Duško bewunderte im Gegenzug Johnnys Unabhängigkeit und sein weltmännisches Auftreten. Der eine besaß, was dem anderen fehlte. Sie wurden unzertrennlich, und später erwähnte Popov, dass niemand sein Leben mehr beeinflusst habe als Jebsen.

Popov war sich seiner Wirkung stets sicher. In London analysierte der britische Geheimdienst MI5 später diese Wirkung mit kühler Distanz: »Er zieht sich elegant, aber lässig an. Die Hosen scheinen immer ein wenig zu lang, er bevorzugt weiße, seidene Hemden mit weichem Kragen und schicke Krawatten. Er lächelt völlig unverkrampft und zeigt dabei all seine Zähne. Sein Gesicht ist nicht unangenehm, aber ganz sicher nicht hübsch«, hieß es in den Akten.10

Popov und Jebsen machten die kleine Stadt im Süden Deutschlands unsicher, fuhren ihre schnellen Autos, Jebsen sein Mercedes 540K Cabriolet, mit chromblitzenden, aus der Kühlerhaube herausragenden Auspuffrohren, Popov einen schweren BMW. »Beide hatten wir die große Vorliebe für flotte Wagen und flotte Mädchen gemeinsam und besaßen genug Geld für das eine wie für das andere«,11 berichtete Popov später, der mit seinen oft wechselnden Begleiterinnen lieber die Sonne genoss, anstatt sein Studium zu verfolgen. Frauen fanden ihn unwiderstehlich, »mit seiner lockeren Art, seinem sinnlichen Mund, seinen grünen Augen unter schweren Lidern und einem anziehenden Schlafzimmerblick«, wie viele seiner Bekanntschaften, die er in den folgenden Jahren traf, bezeugten.12 Und tatsächlich stand das Schlafzimmer häufig im Mittelpunkt seines Interesses. Bereits als Student galt er als kaum zu stoppender Frauenheld.

Im August 1936 entspannte sich Popov im Freiburger Schwimmbad zusammen mit einer jungen Frau. Als einer seiner Kommilitonen, Karl Laub, vorbeikam und Popovs Begleiterin unverhohlen nach einer Verabredung fragte, murmelte Popov, auf dem Bauch liegend, nur: »Geh weg, Karl. Du stehst mir in der Sonne. Entschuldige dich und hör auf, für Schatten zu sorgen!« Popovs Provokation führte wie beabsichtigt zu einem Wortgefecht. Am Ende forderte Laub den ausländischen Studenten zu einem Duell heraus: einem Kampf mit Säbeln, um die verletzte Ehre wiederherzustellen. Popov, dem dieser Brauch fremd war und der keine Lust verspürte, sich sein Gesicht durch einen Schmiss verunstalten zu lassen, wandte sich an seinen Freund Jebsen, um Rat einzuholen. Jebsen erklärte sich sofort bereit, als Popovs Sekundant zu dienen. Und dann heckten beide einen Plan aus. Als der Termin für das Duell näher rückte, teilten sie Laub mit, dass auch in Popovs Heimat Duelle bekannt seien, nicht aber mit Säbeln gekämpft würde. Stattdessen dürften wahre Männer nur eine Waffe in Betracht ziehen: die Pistole.

Der Plan ging auf. Laub und sein Sekundant schienen sich von dieser unerhörten Forderung beeindrucken zu lassen und schreckten zurück. Noch nie waren Pistolen in einem akademischen Duell benutzt worden. Sie riefen das studentische Schiedsgericht an und baten um ein Urteil. Der Schiedsspruch fiel wie von Popov und Jebsen gewünscht aus, mit einem gesichtswahrenden Kompromiss für beide Duellanten: Popov behielt sein Recht auf freie Wahl der Waffen, eine Entscheidung durch Pistolen wurde jedoch nicht erlaubt. Das Duell wurde stillschweigend abgesagt, und Laub blieb am Leben.13

Johnny und Duško, die zwei frühen antifaschistischen Playboys, traten in den nächsten Monaten immer selbstbewusster auf und verspotteten die Nazis nun auch öffentlich. Im Sommer 1937 hatten sich vor ihrer Lieblingskonditorei, dem Café Birlinger in der Bertoldstraße, seit mehreren Tagen SA-Männer postiert, die das Café rund um die Uhr »bewachten«. So wollten sie unverhohlen Druck auf den Konditormeister Albert Birlinger ausüben. Diesen Einschüchterungsversuch hatte seine Ehefrau Rosa durch ihre Widerspenstigkeit verursacht, denn als die Nazis sie hatten zwingen wollen, an ihrer Ladentür ein Schild mit der Aufschrift »Hunde und Juden nicht erlaubt« aufzuhängen, hatte sie nur trocken geantwortet: »Deren Geld ist auch rund«, und sich strikt geweigert. Das ließen die Nazis nicht auf sich sitzen. Fortan musste jeder, der das Café betreten wollte, der SA seinen Namen angeben. Für die normalen Kunden war das abschreckend genug, kaum einer wagte es noch, hineinzugehen und etwas bei den Birlingers zu kaufen. Doch Popov und Jebsen trauten sich nicht nur das, sie gingen sogar noch einen Schritt weiter.

Unerschrocken näherten sie sich dem Café, gaben, ohne zu zögern, bereitwillig ihre Namen an, setzten sich dann demonstrativ an einen Tisch in der Nähe des großen Schaufensters und bestellten Kaffee und Kuchen, um so gegenüber den standhaften Besitzern ihre Sympathie zu bekunden. Die Aktion wurde zum Stadtgespräch, und die Nationalsozialisten verloren nun endgültig die Geduld mit den zwei aufrührerischen Studenten.

Im Juni 1937 plante Popov, sich von seinem akademischen Leben durch einen Ausflug nach Paris zu erholen. Einige Tage vorher hatte er eine weitere prodemokratische Rede im »Ausländerklub« gehalten. Zu seiner Abreise nach Paris kam es nicht mehr. Am nächsten Morgen hörte er um 6 Uhr morgens schlaftrunken ein Hämmern an seiner Wohnungstür. Es wurde lauter und lauter. Als Popov öffnete, stürmten ihm vier Gestapo-Mitarbeiter entgegen. Während einer der Männer ihn nicht aus den Augen ließ, durchsuchten die anderen drei seine Wohnung, leerten Schubladen und Schränke, warfen seine Bücher und Studienunterlagen achtlos auf den Boden, durchwühlten die Taschen seiner Kleidung und untersuchten auch die Papierkörbe. Popov wusste, wie sinnlos es war, jetzt Protest zu erheben. Trotzdem fragte er, was sie genau bei ihm suchten. Sie antworteten nicht und fuhren unbeirrt fort. Als sie fertig waren, zerrten sie ihn das Treppenhaus hinunter, stießen ihn in einen Wagen, der vor der Haustür parkte, und fuhren mit ihm zur Freiburger Gestapo-Zentrale.

Im Verhörraum erschienen ihm die Vorwürfe zunächst lachhaft. Popov musste sich anhören, dass er ein Mädchen getroffen hatte, das in einer Fabrik arbeitete – ohne Zweifel ein Beweis dafür, dass er Kommunist sei. Später wurden die Vorwürfe konkreter und hatten mit seinen »aufrührerischen Reden« im »Ausländerklub« zu tun.14 Acht Tage und acht Nächte wurde er verhört. Die Gestapo befragte auch alle, die mit ihm Kontakt hatten. Studenten, Professoren und Bekannte sagten aus, auch Jebsen war an der Reihe. Nur er und eine weitere Kommilitonin verteidigten Popov. Dann wurde Popov ins Freiburger Gefängnis verlegt. Jebsen war in tiefer Sorge, wochenlang hörte er kein Lebenszeichen von seinem Freund. Irgendwie musste er Popov da herausbekommen, und er beschloss in seiner Verzweiflung, das Problem nach Art der oberen Tausend zu lösen.

Er fuhr mit seinem Cabriolet in die nahe Schweiz, um beim Telefonieren nicht abgehört zu werden, und erreichte Popovs Vater. Der wandte sich an den jugoslawischen Ministerpräsidenten, der die Angelegenheit wiederum direkt mit Hermann Göring klärte, der seit 1936 die Führung des Reichswirtschaftsministeriums übernommen und die Vorbereitungen für den deutschen Angriffskrieg begonnen hatte. Dann ging alles schnell: Die Gestapo entließ Popov aus der Haft und gab ihm 24 Stunden, das Land zu verlassen.

Popov merkte schnell, dass ihn bis zu seiner Abreise Gestapo-Agenten rund um die Uhr beschatteten. Es blieb ihm keine Zeit, seinen Abschied zu regeln, geschweige denn, Johnny noch Lebewohl zu sagen. Er bezahlte die ausstehende Monatsmiete, gab seinem Vermieter als letzte Anweisung, seinen Wagen und seine Bücher zu verkaufen, und verließ Freiburg Hals über Kopf.

Im Morgengrauen stieg er in den Zug in Richtung Schweizer Grenze. Zwei Studentinnen hatten noch von seiner überstürzten Abreise erfahren und verabschiedeten ihn unter Tränen auf dem Bahnsteig. Popov stieg in einen Waggon der ersten Klasse und winkte – von Johnny keine Spur. Ein greller Pfiff, dann zog die Lokomotive fauchend an. Popovs Studienzeit war jäh zu Ende gegangen.

Nur wenig später erreichte der Zug die Landesgrenze. Der nächste Halt war der deutsch-schweizerische Grenzbahnhof in Basel. Hier musste Popov umsteigen. Als er seinen schweren Koffer aus dem Waggon wuchtete und die Fußspitze auf den Bahnsteig setzte, traute er seinen Augen nicht: Vor ihm stand Johnny. Auch er hatte noch versucht, in Freiburg auf den Bahnsteig zu kommen, um sich zu verabschieden, war aber von Gestapo-Agenten am Eingang festgehalten worden. Ohne zu zögern war er in sein Auto gesprungen und mit dem Zug, in dem Popov saß, ein Wettrennen bis Basel gefahren. Und Johnny hatte das Rennen um Längen gewonnen. Atemlos berichtete er Popov, welche Rolle er dabei gespielt habe, ihn doch noch freizubekommen. Popov dankte ihm von Herzen, und beide fielen sich wehmütig in die Arme. Für Popov wurde die Zeit bis zur Abfahrt seines Zugs nach Belgrad knapp, und den Freunden stand nun ein Abschied wider Willen bevor. »Wenn du je etwas brauchst – eine kurze Nachricht genügt. Ich meine es ehrlich, und du weißt, dass ich Wort halte«, sagte Popov, noch ehe er in den Zug nach Belgrad stieg und in sein Abteil verschwand.15 Durch das Fenster des Waggons winkte er Jebsen ein letztes Mal, und der Weg der beiden Freunde trennte sich. Drei Jahre dauerte es, bis Jebsen seinen Freund Popov an sein Versprechen erinnern würde.

Kapitel 2

Ein Rätsel

Dubrovnik/Belgrad, Februar 1940

Zurück in seiner Heimat Dubrovnik hatte Duško Popov schnell Fuß gefasst. Aus dem ehemaligen Jurastudenten war ein erfolgreicher, aber nur mäßig ehrgeiziger Anwalt für Handelsrecht geworden. Er besaß eine große Zahl von Mandanten, unter ihnen auch viele Diplomaten der Deutschen Botschaft in Belgrad, mit denen er vor allem Verträge über den Import und Export von Maschinen aushandelte. Aber Popov wollte sich keinesfalls überarbeiten. Mit mindestens vier Frauen gleichzeitig unterhielt er Affären. Wochentags war er oft nur von 10 bis 12 Uhr in seiner Kanzlei anzutreffen, war aber stets bereit, seinen Klienten für etwaige »Extraleistungen und Gefallen« zur Verfügung zu stehen. Er war aufgrund seiner Herkunft bestens vernetzt und besaß Kontakte zu den höchsten Stellen in Politik und Verwaltung, besorgte, wenn es sein musste, rasch Lizenzen für die Ein- und Ausfuhr und kümmerte sich geräuschlos darum, dass Zollgebühren manchmal erneut geprüft und im besten Fall »angepasst« wurden. Das Leben schenkte ihm, was er erwartete. Er lebte in einer Villa mit Meerblick und besaß ausreichend Personal. Wenn Popov nicht Tennis spielte, wartete am Liegeplatz des exklusiven Orsan-Segelklubs von Dubrovnik die Nina auf ihn – seine Yacht. Schon seit seiner Jugend war Popov Mitglied des Klubs. »Ich bin in der Sonne geboren, und werde in der Sonne sterben«, sagte er stets lachend.1 Frauen, Segeln und Tennis – er genoss sein leichtes Dasein und besaß fast alles, was er sich jemals gewünscht hatte, reiste quer durch Europa und verbrachte mindestens einen ganzen Monat pro Jahr in Paris, wo er sich – abgesehen von seinen zahlreichen anderen Bekanntschaften – mit Pinta de la Rocque, einer französischen Marquise, traf. Sie wusste nicht, wie wenig exklusiv seine Liebe zu ihr war, er ahnte nicht, wie sehr verheiratet sie war.

Doch Popovs Idylle war brüchig. Im September 1939 hatte der Zweite Weltkrieg begonnen. Hitler hatte Polen überfallen und bereitete schon weitere Angriffe auf die Nachbarstaaten Deutschlands vor. Jugoslawien war es bisher mühsam gelungen, seine Neutralität zu wahren. Im Februar 1940 bereiteten sich die Einwohner von Dubrovnik auf den Höhepunkt des Jahres vor. Die Feiern zu Ehren des Stadtpatrons, des Heiligen Blasius, standen an. Auch Popov spürte seit Tagen die Vorfreude auf die aufregendste Zeit des Jahres in sich. Es warteten Straßenfeste, Dinner und außergewöhnliche Maskenbälle auf ihn. Am Morgen des 3. Februar 1940 betrat einer seiner Diener sein Schlafzimmer, weckte ihn jäh und reichte ihm ein Eiltelegramm. Mit müden Augen und glasigem Blick ging Popov die Zeilen durch. Es war in Berlin abgeschickt worden, von seinem Freund Johnny.

»ICH MUSS DICH DRINGEND SEHEN. SCHLAGE DEN 8. FEBRUAR VOR. TREFFEN IN BELGRAD. IM HOTEL ›KÖNIG VON SERBIEN‹. JOHNNY.«2

Als Popov wenige Tage später die holzvertäfelte Bar des König von Serbien betrat, war ihr Wiedersehen voller Freude, der Alkohol floss in Strömen. Sie zogen durch die Bars von Belgrad und nahmen schließlich noch zwei Tänzerinnen eines Nachtclubs mit. Das Ganze endete im Morgengrauen dort, wo ihre Tour begonnen hatte, und gipfelte in einem erbitterten Streit mit dem Hoteldirektor, der ihnen drohte, sie und ihre Begleiterinnen hinauszuwerfen. Nicht aus moralischen Gründen, sondern weil sie unter großem Geschrei um 5 Uhr morgens darauf bestanden hatten, im Speisesaal zum Frühstück Steaks und Champagner serviert zu bekommen. Am Ende der langen Nacht studierte Popov seinen Freund. Jebsen zeigte noch immer seine scharfe Intelligenz und war wie immer schlagfertig, aber er schien seltsam angespannt, stürzte einen doppelten Whiskey nach dem anderen hinunter und rauchte ohne Unterlass. In den drei Jahren, in denen sie sich nicht mehr gesehen hatten, war Johnny erschreckend gealtert. Seine Haare waren länger und struppiger als früher, die Falten auf seiner Stirn zahlreich und seine dunklen Augenringe unübersehbar. Das Einzige, was gleichgeblieben war, war der tadellose Schnitt seines Maßanzugs.

Nach seiner Zeit in Freiburg war Jebsen wieder nach England gereist, hatte verkündet, an der Universität von Oxford zu studieren und Bücher über Philosophie schreiben zu wollen. Aus all dem war nichts geworden, obwohl er später behauptete, beides getan zu haben. Endlich kam Jebsen zum Grund seines Besuchs und bat Popov um Hilfe. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland war er ins Reedereigeschäft eingestiegen und wollte nun einen riskanten Deal durchziehen, der ihn in Schwierigkeiten mit den Nationalsozialisten bringen konnte. Fünf deutsche Handelsschiffe, eines davon gehörte zur Flotte der Jebsens, lagen im Hafen von Triest wegen einer Blockade der Alliierten fest. Zwar hatte Jebsen die Erlaubnis der Deutschen bekommen, die Schiffe an ein neutrales Land zu verkaufen, aber nur, wenn sie nicht für den Handel mit England oder Frankreich genutzt würden. Nun wollte er seinen Freund Duško und seine Kontakte nutzen, um sie so rasch wie möglich zu verkaufen – bevor die deutsche Regierung merken würde, dass alle Garantien, keinen Handel mit den Alliierten zu betreiben, wertlos waren, wenn sie erst einen neuen Besitzer hatten. Vor großen Geschäften schreckten beide nicht zurück, bei den Schiffen ging es um eine Summe von 14 Millionen US-Dollar (heute knapp 300 Millionen US-Dollar).

Aber Jebsen trieb noch eine andere Motivation. Er wollte in jedem Fall verhindern, dass alle Schiffe in deutsche Hände gerieten. Plötzlich wechselte Jebsen abrupt das Thema und kam auf die politische Lage zu sprechen. »Hitler ist der unangefochtene Herrscher über Europa. In ein paar Monaten wird er wahrscheinlich England fertigmachen, und dann werden Amerika und Russland froh sein, sich mit ihm zu arrangieren«, sagte Jebsen, und in seiner Stimme lag Besorgnis.3

Popov musste nicht lange überlegen. Der schnellste Weg, die Schiffe loszuwerden, war, eine jugoslawische Firma als angeblichen Käufer zu präsentieren, sie aber heimlich den Briten anzubieten. Beide waren sich schnell einig. Während Popov seine Kontakte aktivierte, flog Jebsen zurück nach Deutschland, um alle Dokumente zu besorgen. Zwei Wochen später trafen sie sich erneut und wickelten das Geschäft ab. Zurück in Belgrad, wartete Jebsen mit einer weiteren Überraschung auf. Er hatte sich, so gestand er seinem Freund, freiwillig der Abwehr angeschlossen, dem deutschen Militärgeheimdienst. »Ich habe keine Lust, von der Wehrmacht eingezogen und an die Front geschickt zu werden«, gestand Jebsen.4 Popov war vom Schritt seines Freundes entsetzt.

Jebsen war von einem engen Freund für die Abwehr angeworben worden, dem Juristen und Abwehr-Offizier Hans von Dohnanyi, der später als Widerstandskämpfer hingerichtet wurde. Zu Jebsens Freunden gehörte auch Hans Oster, er war Stellvertreter des Abwehr-Chefs Wilhelm Canaris und später einer der aktivsten Widerstandskämpfer.5 Nun gehörte Jebsen offiziell zur 400-Mann starken Sondereinheit des Regiments Brandenburg. Diese Einheit war in Wahrheit »ein Konstrukt von Canaris, um eine Reihe junger Männer vor dem Militärdienst zu bewahren«.6 Jebsen hatte die persönliche Zusicherung von Canaris erlangt, niemals eine Uniform tragen und niemals in den Krieg ziehen zu müssen. Als sogenannter »Forscher« besaß er die Freiheit, »quer durch Europa zu reisen und seine Geschäfte und Finanztransfers zu betreiben, solange er der Abwehr zur Verfügung stand, wenn diese danach verlangte, und er Informationen über seine Handelspartner weitergab.«7

Wilhelm Canaris als Korvettenkapitän

Schnell wurde Popov klar, dass Jebsen mit einer weiteren Bitte nach Belgrad gereist war. Sein erster Auftrag als »Forscher« für die Abwehr war es, unabhängige Informationen zu sammeln, welche französischen Politiker am wahrscheinlichsten mit dem Dritten Reich zusammenarbeiten würden, wenn Frankreich besiegt worden war. »Meinst du nicht eher, falls Frankreich besiegt worden ist?«, fragte Popov.8 Jebsen schüttelte den Kopf. Er war sicher, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis es geschehen würde.

Deutschlands Feinde unterschätzten Hitlers Aggressivität und die Stärke seiner Armee. Ob Popov, der die besten Kontakte in Frankreich besaß, ihm bei seiner Analyse helfen könne? Popov zögerte und sagte nach einigem Überlegen schließlich zu – aber nur wegen ihrer Freundschaft. Er musste Johnny helfen, das hatte er ihm damals in Freiburg versprochen. Und er hielt sein Wort.

In den kommenden Wochen befragte er, so diskret es ging, Geschäftspartner, die mit Frankreich Handel trieben, ebenso Freunde der Familie, Diplomaten und Regierungsbeamte. Er tat das vor allem während gesellschaftlicher Anlässe, möglichst zufällig, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und hatte nach einiger Zeit viele Details und Meinungen gesammelt. Interessant war, dass sich die Sicht auf die Lage zu ähneln schien. Pierre Laval, der ehemalige französische Ministerpräsident, schien für die meisten derjenige zu sein, der sofort bereit sein würde, Frankreich im Namen Deutschlands zu regieren. Schon oft hatte er sich dafür ausgesprochen, mit dem Dritten Reich ein militärisches Bündnis einzugehen. Popov machte sich daran, seinen Bericht mit der Schreibmaschine zu tippen – einen Durchschlag behielt er vorerst für sich.

Kurz darauf überreichte Popov seine Informationen Jebsen. Dieser erzählte ihm später nur knapp, dass die Analyse sehr gelobt worden sei, und übermittelte ihm noch den Dank der deutschen Seite. In den nächsten Wochen blieben Popov und Jebsen nur lose in Kontakt, doch schon jetzt machte Popov eine erstaunliche Entdeckung, als er in der Deutschen Botschaft in Belgrad für einen seiner Mandanten über eine Lizenz zur Produktion von Sprengstoffen verhandelte, wofür dieser Maschinen aus Deutschland importieren wollte. In der Vergangenheit waren die deutschen Diplomaten meist kühl und abweisend zu Popov gewesen. Das, so vermutete er stets, musste damit zu tun haben, dass sie von seiner Verhaftung durch die Gestapo in Freiburg erfahren hatten. Doch jetzt war alles anders, die Deutschen überschlugen sich vor Freundlichkeit. Bürokratische Hürden, die es zuvor immer gegeben hatte, lösten sich in Luft auf, stattdessen boten die Diplomaten ihm sogar kleine Gefälligkeiten an und fragten beflissen, ob sie ihm noch mit weiteren Diensten zur Seite stehen könnten. Popov war verwundert, er war sicher, dass sein Name als Autor des Laval-Berichts gefallen war, und begann mit einigem Missfallen den Verdacht zu entwickeln, dass die Deutschen in ihm nun einen Sympathisanten sahen. Einer der Botschaftssekretäre, ein Herr von Stein, sprach ihn wiederholt darauf an, dass er ja stets Zutritt zu britischen Kreisen besitze, um ihn danach erwartungsvoll anzusehen – Popov zog es vor, nie darauf einzugehen, er beließ es bei einem Lächeln und schwieg.

In diesem Sommer tauchte Jebsen immer öfter in Belgrad auf. Offiziell, um Firmen- und Finanzprojekte voranzutreiben. Eines Tages fragte er ohne weitere Erklärung, ob er einen Bekannten zum Dinner in Popovs Stadtwohnung mitbringen könne, der ihn unbedingt kennenlernen wolle. Popov sagte leicht widerwillig zu, denn er spürte, dass Jebsen wieder irgendetwas im Schilde führte.

Jebsens Bekannter stellte sich als Major Müntzinger vor, ein äußerst korpulenter Bayer und Abwehr-Offizier auf dem Balkan. Nachdem die drei bei Brandy und Zigarren Platz genommen hatten, kam Müntzinger direkt zur Sache, wobei er kaum subtil vorging. Er sprach über die Pläne der Deutschen, die die Invasion Großbritanniens unter dem Codenamen »Seelöwe« vorbereiteten. »Kein Land kann der deutschen Armee Widerstand leisten«, prahlte Müntzinger und wendete sich direkt an Popov. »In ein paar Monaten wird die Landung in England beginnen. Sie könnten uns dabei helfen, die Sache leichter zu machen und eine Invasion weniger verlustreich zu gestalten – damit weniger deutsches und britisches Blut vergossen wird.«9 Popov begriff, dass Müntzinger gerade ganz offen dabei war, ihn als einen seiner Agenten anzuwerben. »Ich kann nicht wirklich sagen, dass ich schockiert oder überrascht war«, erinnerte er sich an diesen Abend, »unbewusst hatte ich mit einem solchen Angebot gerechnet, aber ich spürte, wie ein Adrenalinstoß durch meinen Körper schoss.«10 Der fremde Gast wechselte zu Komplimenten, gab sich jovial, redete weiter ohne Punkt und Komma und lobte Popovs Geschäftsbeziehungen. Seine Kontakte seien die ideale Tarnung, um nach Großbritannien zu reisen, schließlich treffe er doch regelmäßig wichtige und einflussreiche Leute. Ob er nicht den Herzog von Kent persönlich kenne? Popov traute seinen Ohren nicht. Was nur hatte sein Freund Johnny diesem Müntzinger über ihn erzählt? Popov wollte nicht zugeben, dass er nur als Internatsschüler in Großbritannien gewesen war und den Herzog von Kent lediglich einmal für einige Minuten im Orsan-Yachtclub von Dubrovnik getroffen hatte. Müntzingers Redefluss war nicht zu stoppen: »Wir haben viele Agenten in England, eine ganze Reihe von ihnen sind exzellent. Aber Ihre Verbindungen würden viele Türen öffnen und uns großartige Dienste erweisen. Und wir würden uns natürlich revanchieren. Das Reich versteht es, seine Wertschätzung zu zeigen, Herr Doktor Popov.«11

Jebsen trank unterdessen einen Brandy nach dem anderen, nickte und lächelte hin und wieder – aber nur, wenn der Abwehroffizier ihn ansah. Müntzinger blieb im Ungewissen, welche Art von Informationen Popov in Großbritannien sammeln sollte. »Allgemeine. Politische.« Und dann nach einer Pause: »Militärische. Johnny wird Sie mit den richtigen Leuten zusammenbringen, wenn Sie unser Angebot akzeptieren.«12 Popov wusste nicht, wie er reagieren sollte, und bat um Bedenkzeit.

Nach einer unruhigen Nacht entschloss er sich aber bereits am nächsten Morgen, dass Angebot anzunehmen. Müntzinger war hocherfreut und ließ über Jebsen mitteilen, dass er von vornherein gewusst habe, dass Popov diese Gelegenheit nicht ausschlagen könne. Schließlich sei er selbst ein ausgezeichneter Psychologe und habe von Anfang gewusst, dass Popov klar erkennen werde, wer seine Interessen am besten fördern könne. Johnny sollte fortan als Mittelsmann agieren und hatte so seinen ersten Spion für den deutschen Geheimdienst angeworben. Er sollte keinen weiteren mehr rekrutieren.