Silberdrache - Angie Sage - E-Book

Silberdrache E-Book

Angie Sage

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Beschreibung

Drachenfantasy vom Feinsten!

Ein spannendes Fantasy-Abenteuer von Bestsellerautorin Angie Sage („Septimus Heap“). Der erste Band einer fantastischen Serie um Drachen, Freundschaft und Magie für Jungen und Mädchen ab 11 Jahren.

Ein geheimnisvolles Drachenei ist erst der Anfang

Ein silbernes Drachenei! Der Waisenjunge Joss traut seinen Augen kaum, als ihm das kostbare Ei einfach so vor die Füße fällt. Sind Silberdrachen nicht längst ausgestorben? Wer sich mit einem silbernen Drachen verbündet, sagt die Legende, kann unermessliche Macht erhalten. Bald schlüpft Silberdrache Lysander aus dem Ei. Doch der skrupellose Clan der Lennix ist hinter dem Drachen her. Und sie schrecken vor nichts zurück.

In einer ganz anderen Welt, zur selben Zeit: Die elfjährige Sirin ist mit den Erzählungen über Drachenreiter aufgewachsen, die über Generationen weitergegeben wurden. Doch als ihre Mutter schwer krank wird, hat Sirin Mühe, noch an Magie und an Wunder zu glauben ... bis sie einen geheimnisvollen Silberstreifen am Nachthimmel über London leuchten sieht.

Bald stehen Joss, Lysander und Sirin im Mittelpunkt eines Kampfes zwischen den Drachen, welche die Menschheit beschützen – und denjenigen, die sie zerstören wollen ...

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Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

Text-Copyright © 2019 by Scholastic Inc.

Originaltitel: Rise of the Dragons

Die Originalausgabe ist 2019 im Verlag Scholastic Inc., USA, erschienen.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück, 30161 Hannover

© 2019 der deutschsprachigen Ausgabe arsEdition GmbH, Friedrichstraße 9, 80801 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Text: Angie Sage

Covergestaltung: Frauke Schneider

Übersetzung: Bernd Stratthaus

ISBN eBook 978-3-8458-3526-6

ISBN Printausgabe 978-3-8458-3397-2

www.arsedition.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

1

Sirin Sharma

2

Ein Schwarm Raptoren

3

Joss

4

Kaffee

5

Allie

6

Eierzählen

7

Lysander

8

Edward und Decimus

9

Besuchszeit

10

Flüge und Fantasien

11

Das erste Portal

12

Silberne Pläne

13

Demara und Crane

14

Das Zoll-Anwesen

15

Ein Kauf

16

Eine Reise

17

Gefangene

18

Mitgenommen

19

Kaan Lennix

20

Sirin allein

21

Kaans Reise

22

Silberträume

23

Joshua Lennix

24

Bellacrux

25

Bundesgenossen

26

In der Halle der Obersten

27

Ein Abschied

28

Vollidiot

29

Der Appell

30

Eine zerquetschte Eule

31

Flugpläne

32

Eine Stunde

33

Kämpfe und Geschwader

34

Auf Messers Schneide

35

Mitternachtsquerungen

36

Verfolgung

37

Rachegeschwader

38

Schlacht unterm Sternenzelt

39

Ein Mord

40

Der letzte Wurf

41

Nach Hause

Über die Autorin

Leseprobe zu "Roman Quest - Flucht aus Rom"

Über London brach die Nacht herein. Dicke graue Wolken rollten von Osten heran und trugen den Duft des fernen Meeres mit sich. Im ältesten und heruntergekommensten Wohnblock südlich des Flusses schaltete Sirin Sharma das Licht in der winzigen Dachwohnung an, die sie sich mit ihrer Mutter und ihrer Katze Sammi teilte.

Ein herzzerreißendes Maunzen ertönte zu Sirins Füßen und sie nahm die kleine schwarz-weiße Katze auf den Arm.

»Hey, Sammi«, flüsterte sie und sah in die hereinbrechende Dunkelheit hinaus.

Sirin drückte Sammi an sich und ließ den Blick über die langen Dachreihen weit unter sich schweifen, die sich schlängelnd in einem dunstigen Zwielicht verloren. Sie nahm den dumpfen gelblichen Schein der Straßenlaternen wahr und die Autoscheinwerfer, die wie kleine Dämonenaugenpaare blinzelten.

Dann hob sie den Kopf wieder und starrte in den Nieselregen. Als sie die Nase gegen die kalte Fensterscheibe presste und die Augen dabei zusammenkniff, meinte sie, in der Ferne die Küstenlinie zu erkennen.

Wie aus dem Nichts rüttelte plötzlich eine heftige Windbö am Fenster und Sammi sprang von Sirins Arm hinunter auf den Boden. Sirin zog die dünnen Vorhänge zu und kehrte in die Wirklichkeit zurück, in das kalte, kleine Zimmer, in dem ihre Mutter in eine Decke gehüllt auf dem abgenutzten Sofa saß, wo es sich nun auch Sirin bequem machte.

»Was möchtest du denn gern machen, mein Schatz?«, fragte ihre Mutter. Der Zusatz an unserem letzten gemeinsamen Abend hing unausgesprochen und schwer in der Luft.

Sirin hatte sich bereits entschieden. »Erzähl mir von den Drachen«, erwiderte sie sofort, »und von unserem Stein.«

Ihre Mutter lächelte. »Das hab ich schon vermutet.«

Sie griff in ihre Tasche und zog einen Lederbeutel hervor. Ihre Hand war so zart und fein wie der Fuß eines Vogels und so dünn, dass Sirin jeden Knochen sehen konnte. Aus dem Beutel nahm sie einen schönen runden Stein, um den sich ein dicker silberner Ring mit einer Öse schlang. Der blaugrüne metallische Glanz des Steins schien sich wie Öl auf Wasser zu bewegen.

»Bitte, mein Schatz«, sagte ihre Mutter und legte den Stein in Sirins ausgestreckte Hand.

Sirin schloss die Finger darum. Sie liebte es, wenn er in ihrer Hand warm wurde. Dann stellte sie sich vor, dass das immer noch die Hitze längst verloschenen Drachenfeuers war, und sie war jedes Mal wieder verblüfft über sein Gewicht. Ihre Mutter behauptete, er sei schwerer als Gold – »denn das passiert mit jedem Stein, wenn er in Drachenfeuer gerät«.

Gemeinsam kuschelten sich Sirin und Sammi nun unter die Decke und machten es sich gemütlich, während sie der Drachengeschichte lauschten.

»Früher einmal gab es Drachen.« Ihre Mutter sprach die vertrauten Worte aus und hielt dann inne, um Luft zu holen. Sirin hörte das Rasseln in der Lunge ihrer Mutter und spürte, wie sich ihr Magen angstvoll zusammenzog. Sie schloss die Hand fester um den Drachenstein und versuchte, sich wieder auf die Stimme ihrer Mutter zu konzentrieren.

»Vor langer, langer Zeit, es ist so lang her, dass die meisten Menschen sich nicht mehr daran erinnern, lebten Menschen und Drachen in Eintracht miteinander. Es gab Walddrachen, Seedrachen, Bergdrachen und Drachen aus den weiten Ebenen, später sogar Stadtdrachen.« Ihre Mutter musste husten. Sirin sprang auf, um ihr ein Glas Wasser zu holen, und als der Husten sich wieder gelegt hatte, sagte ihre Mutter schwach: »Erzähl du mir doch den nächsten Teil, Liebes.«

Also kuschelte sich Sirin wieder unter die Decke, zog Sammi auf ihren Schoß und versuchte, die Geschichte weiterzuerzählen, die sie so sehr liebte und so gut kannte.

»Die Drachen waren weise, uralte Geschöpfe, die mit uns jungen und streitlustigen Menschen sehr geduldig waren. Manche Menschen hatten das Glück, mit einem Drachen so vertraut zu werden, dass sie ihr ganzes Leben lang mit ihm zusammenblieben. Sie konnten sogar die Gedanken des anderen hören. Wenn das geschah, sprach man davon, dass sie einen ›Bund geschlossen‹ hatten.« Sirin hielt inne und sah ihre Mutter an. »Wäre das nicht fantastisch, einen Bund mit einem Drachen zu schließen?«

Ihre Mutter blickte Sirin in die dunkelgrünen Augen, die vor Aufregung glänzten. Dann strich sie ihrer Tochter durch die kurzen braunen Locken und entgegnete: »Auf jeden Fall. Aber ich bin mir nicht sicher, ob Sammi das gefallen würde. Katzen und Drachen kommen nicht so gut miteinander aus.«

Wie um diese Aussage zu unterstreichen, sprang Sammi von der Decke und stolzierte mit als Ausdruck des Missfallens hoch erhobenem Schwanz aus dem Zimmer.

Jetzt, mit elf Jahren, wusste Sirin natürlich, dass sie niemals einem Drachen begegnen würde, egal wie sehr sie es sich wünschte. Drachen waren schon lange verschwunden und würden auch nicht wiederkehren. Ohnehin glaubten die meisten Menschen, dass es sie niemals gegeben hatte.

Sirin lächelte betrübt. »Na ja, darum muss Sammi sich ja keine Sorgen machen.«

»Wahrscheinlich nicht«, stimmte ihre Mutter ihr zu. »Nun, wo waren wir stehen geblieben?«

Sirins Mutter übernahm nun wieder und erzählte die Geschichte weiter.

Und als die Nacht hereinbrach und den Raum in Dunkelheit hüllte, sodass nur noch ein kleiner heller Lichtkegel um das Sofa herum blieb, erlaubte sich Sirin, ihre Sorgen zu vergessen und sich an einen Ort zu träumen, an dem Menschen und Drachen im Einklang Seite an Seite lebten. Sie lauschte der vertrauten Geschichte ihrer Mutter über die wunderbare Welt, die Drachen und Menschen gemeinsam errichtet hatten, und wie diese dann – das war der traurige Teil – wieder zerfiel. Sie lauschte, wie eine Gruppe von Drachen und Menschen sich an der Macht berauschte und begann, die anderen zu jagen. Diese Drachen nannten sich Raptoren und entwickelten – ermutigt von den Menschen, die mit ihnen einen Bund geschlossen hatten – eine Vorliebe für Menschenfleisch, sodass die Welt zu einem Ort des Schreckens wurde, an dem stets die Gefahr am Himmel lauerte. Sirin schmiegte sich eng an ihre Mutter und beobachtete, wie sich die Farben des Drachensteins im Schein der Lampe veränderten.

»Meinst du, der hier ist aus Raptorenfeuer entstanden?«, flüsterte sie.

»Wer weiß?«, antwortete ihre Mutter. »Ich stelle mir gern vor, dass er einem unserer Vorfahren gehört hat, der in einen Kampf mit einem Drachen verwickelt war, und dass er ihn überlebt hat, um davon zu erzählen. In den letzten Tagen der Drachenzeit gab es viele Schlachten.«

»Die letzten Tage der Drachenzeit …«, murmelte Sirin schläfrig.

Mit leiser, tiefer Stimme beendete ihre Mutter die Geschichte. »In den letzten Tagen der Drachenzeit, so heißt es, kam ein silberner Drache durch die Wolken, so hell wie das Sonnenlicht auf dem Wasser und so schnell wie ein Silberpfeil. Und dieser Silberne hat uns gerettet. Er lockte die Raptoren in den Himmel und führte sie für immer weg von hier. Man sagt sogar, eines Tages wird ein Silberner wiederkommen …«

Als wäre Sammi zufrieden darüber, dass die Drachen endlich verschwunden waren, tauchte die kleine Katze wieder auf. Sie sprang auf das Sofa und kuschelte sich leise schnurrend in die Decke. Sirins Mutter musste ans Krankenhaus denken. Es war dort so hell, so laut und so voll – und doch auch so leer. In wenigen Stunden würde sie dorthin gebracht. Sie wusste, dass es etwas gab, das sie sagen musste. »Sirin, du weißt, dass du und Sammi, solange ich im Krankenhaus bin, bei Ellie bleibt, oder?«

Sirin nickte. Eigentlich hatte sie sich darauf gefreut, bei ihrer Freundin Ellie zu wohnen. Doch jetzt, wo es so weit war, wollte sie dort nicht mehr hin. Sie wollte einfach nur bei ihrer Mutter bleiben.

Ihre Mutter hustete und fuhr fort. »Ich weiß, dass es dir dort gut gehen wird. Aber, Liebes, ich will dir nur sagen, dass ich, was auch immer passiert, immer bei dir sein werde. Das weißt du doch, oder? Denn Mütter sind wie Drachen – für immer.«

Da sie sich nichts darauf zu erwidern traute, schwieg Sirin.

Sie saßen noch ein wenig still beieinander, hörten auf die fernen Verkehrsgeräusche, die von den Straßen weit unter ihnen heraufdrangen, und schließlich schlief Sirin ein. Ihre Mutter blickte auf Sirin hinab, wie sie da zusammengerollt unter der Decke lag und wie ihre Augen beim Träumen unter ihren Lidern flatterten. Sie beschloss, ihre Tochter dort schlafen zu lassen, wo sie lag, und sie blieb dicht und still neben ihr liegen. So würden sie ihre letzte gemeinsame Nacht geborgen und warm im sanften Lampenlicht zusammen verbringen – denn wer wusste schon, was die Zukunft bringen würde?

In einer anderen Welt schritt hoch oben auf dem Berg eine schmale Gestalt über einen breiten, windigen Platz auf der Lennix-Festung. Die Gestalt trug einen eng anliegenden Waffenrock, Hosen mit leuchtend blauem Bund und einen langen Mantel, der ihr um die Knöchel wehte. Demara Lennix, Oberhaupt des Lennix-Clans, war auf dem Weg zu einer Gruppe von Drachen. Jeder von ihnen war ein gefürchteter Raptor. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages wurden in allen Regenbogenfarben von den grünen, roten, gelben und blauen Drachen reflektiert. Demara bemerkte mit Wohlwollen, dass die Sonne nun hinter dem Bergmassiv von Mount Lennix unterging, dem Berg, der hinter der Festung aufragte und der nun einen dunklen Schatten auf die Drachen warf. Das hier war das Erste Geschwader, die Elitetruppe der Lennix-Festung, und Demara mochte es nicht, wenn das Sonnenlicht auf die Drachenschuppen strahlte und sie wie Edelsteine funkeln ließ. Für Demara Lennix waren Drachen ernste, mächtige und finstere Geschöpfe. Sie blickte zu den Bergkuppen auf, die die Festung umgaben, und nahm zufrieden die Stille der Luft und den klaren Himmel zur Kenntnis.

Heute war eine gute Nacht für einen Raubzug.

Ihre spitzen Stiefel mit den Stahlkappen klackerten eilig über den Landeplatz, der die gesamte obere Fläche der Lennix-Festung einnahm, ein massives quadratisches Bauwerk aus Granit, das seine Fundamente tief in den Fels des Gebirgspasses viele Hundert Meter unter ihnen bohrte.

Hier, in einem unterirdischen Labyrinth, das durch ein Gewirr von Gängen verbunden war, lebten die Drachen der Lennix-Festung. Viele Drachen waren in der Festung aufgewachsen und aus Eiern geschlüpft, die in ihren einst friedlichen Heimatorten geraubt worden waren. Ihre friedfertige Drachennatur war durch ihre Erziehung zu Raptoren verdorben worden. Andere hatten sich aus Machthunger und Abenteuerlust von ihren Stämmen losgesagt, und einige von ihnen hatten Ahnen, die mit Mitgliedern der Familie Lennix einen Bund geschlossen hatten, damals, in grauer Vorzeit.

Wie es bei jeder Gruppe ehrgeiziger, aggressiver Kreaturen vorkommt, die auf engem Raum miteinander leben, hatten sich unter den Raptoren Lager gebildet. Bis vor Kurzem waren sie fein austariert und für die Familie Lennix selbst nicht bedrohlich gewesen. In letzter Zeit jedoch war Demara auf eine Gruppe jüngerer, ungeduldiger Raptoren aufmerksam geworden, die allmählich gefährlich unruhig wurde. Sie verspürte zum ersten Mal einen Anflug von Furcht, als sie über den breiten, windigen Hof auf das Raubkommando zuging. Dabei war sie sich unangenehm bewusst, dass eine junge Rote namens Valkea, von ihren Anhängern umgeben, jeden ihrer Schritte genauestens verfolgte.

Zum Ersten Geschwader gehörte auch ein Mensch: Edward Lennix, Demaras Ehemann, der den Raubzug heute Nacht anführen würde. Edward war ein gut aussehender, kräftiger Mann mit leichten O-Beinen. Er trug seine Drachenreiter-Montur und einen roten Kummerbund und sah Demara ungeduldig entgegen. Er scharrte mit seinen gespornten Reitstiefeln unruhig auf dem Pflaster, da er den Aufbruch nicht erwarten konnte.

»Ich habe keine Ahnung, warum sie schon wieder so ein Theater macht, Decimus«, raunte er dem mächtigen roten Drachen voller Kampfesnarben zu, mit dem er einen Bund geschlossen hatte. »Ich wünschte, sie ließe uns einfach losfliegen. Ich schätze mal, wir haben eine ziemlich ergiebige Jagd vor uns.«

Decimus blickte auf den Mann hinab, den er besser als jedes andere Wesen kannte, ganz gleich ob Drache oder Mensch. Wie alle Drachen verständigte sich Decimus in der seiner Spezies eigenen Sprache, einer beschwingten, melodischen Tonfolge, die als »Drachenlied« bekannt war. Edward war es nie gelungen, sie ganz zu meistern. Die einzigen Wörter, die er verstand, waren die für töten, Feuer und – seltsamerweise – Kätzchen.

Also schickte Decimus, wie es nur Bundesgenossen können, eine Nachricht direkt in Edwards Bewusstsein: Alles zu seiner Zeit, Lennix. Genieß den Augenblick. Das Warten auf diese Grünen wird sich lohnen.

Dann schickte er noch einen Schwall heißen, nach Schweinefleisch riechenden Atem auf Edwards stachligen Schnauzbart hinab. »Du hast ja recht, wie immer«, räumte Edward ein. »Bitte um Erlaubnis, an Bord zu kommen.«

Es wäre ausgesprochen unhöflich gewesen, einen Drachen zu besteigen, ohne vorher zu fragen – selbst wenn man mit ihm einen Bund geschlossen hatte –, und Edward Lennix war sehr pingelig, wenn es um gute Umgangsformen ging.

Erlaubnis erteilt, Lennix, erhielt er als Antwort.

Edward schwang sich daraufhin in die Vertiefung gleich unterhalb des Drachenhalses. Dann lehnte er sich zurück und setzte sich auf Decimus’ breiten Schulterblättern ordentlich zurecht. Es gefiel ihm, dass er so seine geringe Körpergröße ausglich, bevor Demara herangekommen war.

»Guten Abend, Demara«, begrüßte er sie und hob dabei den linken Arm aus dem Ellbogen zum Lennixgruß. Aus Achtung davor, dass es sich bei Demara um ein Familienmitglied handelte, ballte er nicht die Faust, sondern kehrte die offene Handfläche nach außen.

»Guten Abend, Edward. Guten Abend, Decimus«, antwortete Demara und erwiderte den Gruß. Von Decimus hielt sie einen Sicherheitsabstand, denn dieser hatte – anders als Edward – keine Angst vor ihr. Ab und zu erlaubte sich Decimus, Demara scheinbar unabsichtlich auf den Fuß zu treten, als Retourkutsche für die Beleidigungen, die sie seinem Bundesgenossen regelmäßig entgegenschleuderte.

Demara begutachtete die beeindruckenden Drachen, die hinter Edward und Decimus Aufstellung genommen hatten. Sie konnten es nicht mehr erwarten loszufliegen und scharrten mit ihren Krallen so auf dem Pflaster, dass die Funken sprühten. Mit ihrem heißen Atem schickten sie dabei Dampfwolken in die Abendluft.

Sosehr sie das mächtige Aufgebot vor ihren Augen auch faszinierte, war Demara doch nicht ganz zufrieden. »Edward, wo sind die anderen Reiter?«, wollte sie wissen.

»Ich leite diesen Raubzug, Demara, nicht du«, entgegnete Edward mit dem Selbstvertrauen, das von seiner Einheit mit Decimus herrührte. »Wenn wir einmal aufgebrochen sind, möchte ich, dass keine Anweisungen außer meinen eigenen befolgt werden.«

Demara reagierte gereizt. Edward schien nicht klar zu sein, wie wichtig diese Mission war. »Edward, Decimus, hört mir zu«, sagte sie eindringlich. »Ihr wisst doch beide, wonach ihr Ausschau halten müsst, richtig?«

Decimus ließ sich zu keiner Antwort herab, doch Edward war beleidigt. »Nach Eiern«, knurrte er.

»Sehr witzig, Edward«, blaffte Demara zurück. Sie machte ein paar Schritte nach vorn, und einen verwegenen Augenblick lang dachte Edward, sie würde ihm vielleicht einen Abschiedskuss geben. »Denk einfach an das, was ich dir über die Verbindung zwischen Grünen und Silbernen erzählt habe. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Grünen ein silbernes Ei horten. Ein Silberner!«, schärfte Demara ihm ein. »Du musst dieses Nest ausheben, bis zum Dreck an seinem Boden. Du musst alles ausräumen. Alles. Hast du dem Geschwader das gesagt?«

»Das Geschwader hat die Anweisung, das Nest auszurauben und es auszuheben. Und genau das wird das Geschwader auch tun«, antwortete Edward kühl. Dann lehnte er sich hinunter und fügte in leisem, verärgertem Tonfall hinzu: »Ich dulde es nicht, öffentlich auf diese Weise verhört zu werden, Demara. Vor allem dann nicht, wenn es um diese fixe Idee von dir geht.«

Demaras stahlharte dunkle Augen glitzerten wütend unter ihren schweren Lidern. Ihre kompliziert ineinander verflochtenen Zöpfe schienen sich noch straffer zu ziehen, wie kleine schwarze Schlangen kurz vor dem Zubeißen. »Ich werde dich genauso befragen, wie ich es für richtig halte, Edward Lennix. Hol mir den Silbernen. Er muss da sein. Das muss er einfach.«

Demara knirschte missmutig mit den Zähnen. Eigentlich wollte sie den Raubzug selbst anführen, doch ihr eigener Drache, Crane, erholte sich gerade von dem gefürchteten Schuppenfieber und einen anderen wollte sie nicht fliegen.

Edward lehnte sich zurück und blickte starr in die Ferne.

»Demara«, sagte er eisig, »ich habe dir gesagt, dass wir das silberne Ei holen werden, das dir so viel bedeutet – falls es wirklich da ist. Wir holen es und bringen es hierher. Darauf gebe ich dir mein Wort und mein Wort ist ein Versprechen.«

Demara blickte sich unauffällig zu Valkea und ihrem Gefolge um, die sie argwöhnisch beäugten. »Es könnte für uns dabei um Leben und Tod gehen. Für unsere ganze Familie, Edward.«

Edward schnaubte spöttisch. »Ach wirklich, Demara, sei doch nicht so melodramatisch. Ich weiß doch, dass es dir nur um ein weiteres Schmuckstück geht.« Edward bemerkte, wie Demaras Gesicht einen furchterregenden Ausdruck annahm, und ruderte deshalb hastig zurück. »Wir kriegen deinen Silbernen schon«, versprach er.

»Sieh zu, dass du das hinkriegst«, erwiderte Demara kurz angebunden. Dann machte sie auf ihrem metallenen Absatz kehrt und stürmte davon.

Im tiefen Schatten verborgen, beobachtete ein riesiger, schon etwas verblasster grüner Drache, wie Demara sich davonmachte. Bellacrux, der Obersten des Lennix-Clans und ältesten aller Lennix-Drachen, war daran gelegen, über alles Bescheid zu wissen, was in der Lennix-Festung vor sich ging. Mit ihrem scharfen Gehör hatte sie jedes Wort mitbekommen, das Demara und Edward miteinander gewechselt hatten, und nun überschlugen sich in ihrem Kopf die Möglichkeiten, die ein silbernes Ei bieten würde. Ein Silberner! Darauf hatte sie unzählige Jahre gewartet.

Bellacrux sah Demara die Tür zu den Lennix-Gemächern aufstoßen und dahinter verschwinden. Der aufmerksame Blick des alten Drachen folgte Demaras schnellen Schritten die Stufen hinauf ins Turmzimmer, wo sich ihre schlanke Gestalt vor dem warmen gelben Licht der Lampe abzeichnete. Als Demara dann am verdunkelten Fenster ihres Zimmers ganz oben im Aussichtsturm erschien, schärfte Bellacrux sorgfältig ihre Krallen an einem der Schleifsteine, die am Fuß jedes Bogens angebracht waren. Ein Silberner war etwas, worauf man sich vorbereiten musste.

Nun war es an der Zeit für das Erste Geschwader aufzubrechen. Sie hoben auf die übliche Weise ab – über den breiten frei schwebenden Steinsteg, der wie ein riesiges Sprungbrett aus den Wehrmauern des Landeplatzes hervorragte.

Der Erste, der losflog, war natürlich Decimus. Der schwerfällige Drache donnerte über den Steg, und in allerletzter Sekunde – Edward fragte sich bereits, ob dies der Tag sei, an dem Decimus wie ein Stein über die Kante plumpsen würde – erhob sich der Drache langsam in die Lüfte, kreiste hoch oben und beobachtete, wie auch der Rest des Geschwaders einer nach dem anderen aufstieg.

Bellacrux schärfte ihre letzte Kralle und blickte zu den kreisenden Drachen hinauf, wie sie sich um die Position hinter Decimus zankten und sich dabei zu der typischen Pfeilformation ordneten. Auf ihren weißen Bäuchen prangte stolz die dreizackige Raptorentätowierung.

Mit Argusaugen beobachtete Bellacrux das Erste Geschwader, wie es durch den engen Pass flog, der aus dem Gebirgsmassiv zum geheimen Tal der Grünen führte. Das Tal war allerdings – zum Unglück der Grünen – nicht mehr geheim.

Bellacrux sah den Drachen hinterher, bis sie nur noch weit entfernte Flecken in der Dunkelheit waren. Dann stampfte sie über die breite Rampe zu ihrer Halle hinab, die im obersten Stockwerk des Raptorenhorstes lag. Langsam schritt sie durch den Großen Lichthof, und als sie endlich die gewaltigen, reich verzierten Flügeltüren zu ihrer Halle erreichte, schickte sie einen kurzen Schwall heiße Luft auf die Stiefel ihres alten Dieners Harry, der gerade ein Nickerchen machte. Dieser sprang auf und zog sogleich an den riesigen Türen. Bellacrux wartete und trommelte ungeduldig mit ihren frisch geschärften Krallen auf den Marmorboden. Als die Türen schließlich aufschwangen, verbeugte sich Harry und Bellacrux betrat ihre prächtige grün-goldene Kammer. Sie war blitzblank geputzt, mit weichen Teppichen und voluminösen, bestickten Kissen ausgelegt, inmitten derer ein niedriger Tisch voller Obst und magerem Fleisch auf sie wartete – genau wie es der Obersten des Lennix-Clans gebührte.

Bellacrux ließ sich auf den Kissen nieder, umschloss mit einer eleganten Kralle eine Lammzunge und ließ sie in ihr Maul fallen, während sich die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen. Ein Silberner! Ein Silberner könnte alles ändern …

Joss Moran schreckte aus dem Schlaf hoch. Er lag auf seiner schmalen Pritsche in seinem Schäferwagen und starrte verängstigt zum Dach hinauf. Ein synchrones Flügelschlagen ließ sein Gefährt wie ein Boot auf hoher See schaukeln.

Über ihm flogen Drachen.

Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, und Joss lag stocksteif auf seinem Lager, denn er fürchtete, dass die kleinste Bewegung die Drachen auf ihn aufmerksam machen könnte. Und die Drachen, die gerade über ihn hinwegflogen, gehörten nicht zu der Sorte, von der man sich Aufmerksamkeit wünschte. An dem rhythmischen, kriegerischen Flügelschlag erkannte Joss, dass es sich um ein Raptorengeschwader handeln musste. Er dachte an die Schafe, die er bei Dämmerung eingepfercht hatte, und hoffte inständig, dass sie nicht in Panik geraten und aus ihrem getarnten Gehege ausbrechen würden. Ein Raptorengeschwader konnte innerhalb von Minuten eine ganze Herde zerfleischen – inklusive des Schäfers.

Allerdings wäre es wohl das Beste, wenn die Raptoren auch ihn erwischten, falls sie seine Schafe abschlachteten. Er wollte sich gar nicht ausmalen, was mit ihm passieren würde, wenn er Seigneur und Madam Zolls kostbare Schafe verlor.

Zu Joss’ Erleichterung flogen die Raptoren schnell weiter und bald war die Luft wieder so ruhig und still wie zuvor. Er zog die kratzige Decke fester um sich und dachte an glücklichere Zeiten, zu denen nicht alle Drachen, denen er begegnete, bösartige Raptoren gewesen waren. Als seine Eltern noch lebten, hatte er zahlreiche freundliche Drachen gekannt, die Menschen tatsächlich mochten. Es hatte eine junge Gelbe gegeben, einen zarten Sanddrachen, die ihm die Grundlagen des Drachenliedes beigebracht hatte. Doch an dem Tag, an dem die Gelbe ihn auf seinen ersten Drachenflug hatte mitnehmen wollen – etwas, wonach Joss sich lange gesehnt hatte –, hatte ein Raptorengeschwader seine Eltern, den Sanddrachen und all seine kleinen Geschwister getötet.

Joss unterdrückte seine Sehnsucht nach den glücklichen alten Zeiten und schloss die Augen. Doch sobald er das tat, tauchte vor seinem Geist ein furchtbares Bild auf: die dreizackige Tätowierung auf den weißen Bäuchen der Raptoren, als sie sich im Sturzflug seine Eltern holten, und das Blitzen ihrer scharfen Krallen, gebogen und tödlich, die sie ausfuhren, bevor sie zuschlugen.

Joss rutschte weiter unter die Decke und begann, sich mit dem melodischen Klang des Drachenliedes selbst zu beruhigen.

Bald schon ließ ihn das Wiegenlied, das der Sanddrache einst seinen Schwesterchen vorgesummt hatte, in einen tiefen und glücklicherweise traumlosen Schlaf fallen.

Es kam ihm vor, als wären nur Sekunden vergangen, als das Licht der aufgehenden Sonne durch die Ritzen in den Brettern seines Schäferwagens schien und ihn aufweckte. Noch ganz verschlafen rappelte Joss sich von seiner Pritsche hoch, klatschte sich zum Aufwachen ein paar Handvoll eiskaltes Wasser ins Gesicht und fuhr sich dann mit den Fingern durch seine wirren dunklen Locken. Dann öffnete er die klapprige Tür seines Wagens und blickte in einen schönen Morgen hinaus.

Der Wagen stand inmitten eines uralten Steinkreises. Joss hatte ihn selbst dorthin geschoben, denn er fühlte sich hier sicher, als ob die großen Monolithen über ihn wachten – obwohl das, wenn er darüber nachdachte, überhaupt keinen Sinn ergab. Allerdings ergab, sobald er nachdachte, nicht allzu viel in Joss’ Leben Sinn, weshalb er normalerweise ganz ausdrücklich nicht nachdachte, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Allem voran dachte Joss nicht über die kommenden neunzehn Jahre nach, die er und seine Schwester Allie noch in Vertragsknechtschaft dem Ehepaar Zoll dienen mussten.

Der Ausblick, der sich Joss bot, zauberte ein Lächeln in sein Gesicht. Die Luft war klar und kalt und den Boden bedeckte ein Schleier aus Reif. Etwa zwanzig Meter vor ihm erhoben sich fünf große Monolithen. Die winzigen Kristalle, die in den Steinen eingeschlossen waren, funkelten wie Diamanten in den ersten Sonnenstrahlen. Jenseits dieser glitzernden Wächter erhob sich eine sanfte Hügellandschaft, die mit weißem Frost bestäubt und vom Sonnenaufgang in ein rosa Licht getaucht war.

Joss bibberte, er war mager und fror leicht, und sein fadenscheiniges Wams und die Hose konnten gegen die eisige Morgenluft nichts ausrichten. Er schnappte sich seine Decke, band sie sich als provisorischen Umhang um den Hals und eilte die Stufen hinab, wobei er seine abgenutzte runde Türschwelle streifte – das sollte ihm Glück bringen. Dann machte er sich auf den Weg zum Schafstall.

Joss lief über das offene Gelände, als er mit Schrecken erkannte, wie sich vor dem blassen Morgenhimmel der unverkennbare Pfeil dunkel abzeichnete: Das Raptorengeschwader war auf dem Rückweg.

Er warf sich in das kurze, weiche Gras und rollte sich unter seiner Decke zusammen. Vor Angst bebte er am ganzen Körper. Die synchronen Flügelschläge ließen die Luft erneut erzittern. Das Geschwader flog so tief, dass Joss den rasselnden Atem der Drachen und das Knarzen der Flügel hören konnte. Er machte sich bereits darauf gefasst, dass das Nächste, was er spüren würde, die rasierklingenscharfen Krallen sein würden. Er wusste nur zu gut, dass kein Raptor die Gelegenheit, leichte menschliche Beute zu machen, einfach so vorbeiziehen lassen würde.

Doch Joss hatte Glück: Die Raptoren hatten ihre Klauen voll. Wenn er sich getraut hätte, nach oben zu schauen, hätte er bemerkt, dass jeder der Drachen ein schillerndes grünes Ei bei sich trug – außer dem jüngsten Drachen, einem Blauen am hinteren Ende des Geschwaders. Sein Ei war von einem zarten Silbergrau.

Am Kopf des Geschwaders rief Edward Lennix triumphierend: »Nun, Decimus, das war doch wirklich eine großartige Nacht. Wir haben dieses Nest vollkommen ausgeräumt.«

Ein paar von den Grünen haben wir auch an den Flügeln erwischt, Lennix, erwiderte sein Bundesgenosse.

»Ein bisschen Spaß muss schließlich auch sein«, gab Edward zurück. »Und ich glaube, wir haben doch auch Demaras silbernes Schmuckstück. Ich hab gesehen, wie dieser junge Blaue es sich zusammen mit einem Haufen Drachenmist geschnappt hat.«

Ha! Drachenmist, hörte er seinen Bundgenossen kichern. Das wird ihn lehren, nicht so schüchtern zu sein. Wenn man ein Nest ausraubt, muss man schnell und konzentriert zu Werke gehen. Es nützt nichts, wie ein Huhn mit Verstopfung in den Ecken herumzuhüpfen.

Edward musste lächeln. Decimus pflegte eine geschliffene Ausdrucksweise, die ihn immer amüsierte. Er warf einen Blick zurück auf den alten Schäferwagen, der auf seinem Fahrgestell schaukelte, und auf den verängstigten Hirtenjungen, der sich unter seinen Mantel geduckt hatte und so tat, als wäre er ein Stein. Edward Lennix brach in lautes Gelächter aus. An einem Morgen wie diesem fühlte es sich gut an, ein Lennix zu sein.

Als das Geschwader über die Hügel hinter dem Steinkreis flog, sah der junge Blaue namens Ramon nach unten auf die Beute, die er in seinen Klauen hielt. Beim Ausrauben des Nests war es dunkel gewesen, sodass Ramon die unterschiedliche Färbung des Eis nicht aufgefallen war. Doch nun enthüllte die aufgehende Sonne die schreckliche Wahrheit: Er hatte einen furchtbaren Fehler begangen und einen Stein mitgenommen. Panisch dachte er daran, wie lächerlich er dastehen würde, wenn er mit einem Stein nach Hause zurückkehrte. Er entschied, dass er lieber als ein Drache mit glitschigen Krallen denn als dumm gelten wollte. Er entschloss sich, den Stein loszuwerden. Also ließ Ramon, während sie über die Hügel hinter dem Schafsgehege flogen, seine Last einfach fallen und setzte seinen Weg unbeirrt fort, wobei er inständig hoffte, dass niemandem etwas aufgefallen war.

Unter seiner Decke vernahm Joss einen dumpfen Aufprall auf dem Boden. Er erstarrte. War einer der Raptoren gelandet? Kam dieser nun mit ausgebreiteten Schwingen und vor Drachenspucke glänzenden Zähnen den Hügel hinabgestürmt, in Vorfreude auf das Frühstück, das im Gras auf ihn wartete? Joss wurde es ganz flau vor Angst. Er wusste, er sollte aufstehen und losrennen, doch wo hätte er sich schon verstecken können? Er hatte keine Chance. Er war allein und wehrlos und konnte nichts tun. Also lag er einfach nur da und wartete auf den markerschütternden Schrei des Raptors, kurz bevor dieser ihn verschlang. Nach einer kleinen Weile war Joss dann allerdings doch mutig genug, um vorsichtig einen Zipfel seiner Decke anzuheben und nach draußen zu spähen. Er seufzte vor Erleichterung: Auf ihn wartete kein geifernder, hungriger Raptor.

Tatsächlich war das Geschwader jetzt meilenweit weg, nicht mehr als ein entfernter v-förmiger Fleck am Himmel, der auf die dunkle, zerklüftete Berglinie am Horizont zusteuerte.

Joss rappelte sich hoch, beschirmte seine Augen vor den schrägen Sonnenstrahlen und bemerkte zu seinem Erstaunen, dass ein großer Stein den Hügel hinab- und auf ihn zurollte. Durch den steilen Abhang nahm der Stein immer mehr Fahrt auf, hüpfte den Hügel herab, wobei er sich immer wieder überschlug.

Fasziniert starrte Joss ihn an, und erst als der Stein von einem herausstehenden Felsen in die Luft geschleudert wurde, kam ihm in den Sinn, dass er vielleicht besser aus dem Weg gehen sollte. Also sprang Joss beiseite, während der Stein wie eine altertümliche Kanonenkugel auf ihn zuflog. Dann folgte ein dumpfer Knall, der Stein landete im Gras und blieb liegen.

Neugierig eilte Joss zu ihm hinüber und kniete sich daneben, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Der Stein hatte die Form eines riesigen Eis, war aber rau und mit Mulden übersät. Quer über die Mitte hatte er einen tiefen Riss. Joss nahm an, dass dieser von seinem Sturz herrührte. Als er den Stein eingehender musterte, bemerkte er, dass dieser nicht einfach langweilig grau, sondern mit kleinen silbrigen Flecken durchsetzt war, die im Sonnenlicht schimmerten.

Der würde Allie gefallen, dachte er. Joss betastete einen der Flecken und wunderte sich gerade, wie glatt er sich anfühlte, da riss er wie von einer Tarantel gestochen die Hand wieder weg und sprang auf die Füße.

Etwas in dem Stein hatte sich bewegt! Joss starrte den Stein an und hörte nun auch ein Pochen tief aus ihm hervordringen: klopf-klopf-klopf … klopf-klopf-klopf-klopf-klopf … klopf …

Gespannt und auch ein bisschen ängstlich beobachtete er, wie sich der tiefe Riss langsam ausbreitete und es dahinter silbern aufblitzte.

Zu seinem Schrecken fuhr unvermittelt eine scharfe, im Sonnenlicht wie ein Dolch glänzende Klinge hervor. Joss machte einen Satz rückwärts, verlor das Gleichgewicht und landete unsanft auf seinem Hinterteil. Dabei ließ er den Stein nicht eine Sekunde aus den Augen. Wie hypnotisiert sah er, wie der Dolch den Riss aufsägte – auf und ab und auf und ab – und die Öffnung immer größer wurde.

Der vernünftige Teil in Joss drängte ihn, davonzulaufen, sich aus dem Staub zu machen, bevor der- oder dasjenige, was mit dem Dolch hantierte, aus dem Stein hervorkam, aber irgendetwas hielt ihn wie gebannt an Ort und Stelle.

Dann, als der silberne Dolch es endlich geschafft hatte und sich als ein scharfer Eizahn auf der Schnauze eines winzigen silbernen Drachen entpuppte, wusste Joss genau, warum er nicht geflohen war: Der zerschrammte graue Stein war ein Drachenei.

Nun arbeitete sich das glatte Köpfchen des silbernen Drachen daraus hervor. Joss kniete sich hin, hielt den überraschend schweren Kopf fest und stützte so den kleinen Drachen, der sich abmühte, sich von der dicken Eierschale zu befreien. Dies geschah mithilfe seiner zwei kurzen Vorderbeinchen und wurde von den erschreckend langen, gebogenen silbernen Klauen unterstützt.

Mit einem letzten Ruck schaffte es der silberne Drache endlich, und Joss war bei ihm und fing das kleine, glitschige, glänzende Geschöpf auf, bevor es auf der Erde aufschlug.

Glücklicher, als er sich jemals gefühlt hatte, blickte er in die tiefgrünen Augen des silbernen Drachen.

»Hallo«, wisperte er dann. »Ich heiße Joss.«

Joss. Wie ein Echo drängte sich sein eigener Name zurück in seinen Kopf. Es fühlte sich an, dachte Joss, als würde der Drache ihn aussprechen. Doch er sagte sich, dass das unmöglich sei.

Joss, erklang die Stimme erneut. Und dann, ganz aufgeregt: Joss, Joss! Hallo.

Joss lächelte den kleinen Drachen an, den er auf dem Arm hielt. »Hey, bist du das?«, fragte er.

Ja, ja, ich bin’s!, erklang die Stimme aufs Neue, rasch und piepsig kullerte sie in seine Gedanken. Joss, ich bin’s – Lysander!

Kurz vor Morgengrauen wachte Sirin auf. Ihr war kalt und das Sofa war unbequem. Und sie war allein. Sie sprang auf, in Sorge, dass ihre Mutter schon fort war.

»Mum … Mum. Wo bist du, Mum?«, rief sie und stolperte in den Flur.

»Sirin?« Die Stimme ihrer Mutter kam schwach aus der winzigen Küche. Sirin drückte die Tür auf und sah ihre Mutter an dem wackligen kleinen Tisch sitzen, Sammi hatte es sich zufrieden auf ihrem Schoß bequem gemacht.

»Hallo, mein Schatz«, begrüßte ihre Mutter sie. »Warum bist du so früh auf?«

»Ich bin aufgewacht und du warst weg«, sagte Sirin und sah, wie ihrer Mutter Tränen in die Augen traten, also fügte sie rasch hinzu: »Da hab ich nach dir gesucht. Soll ich uns Kaffee machen? Einen richtigen? So einen, wie du ihn zu Hause immer getrunken hast, als du noch klein warst?«

Ihre Mutter lächelte wehmütig. »Das wäre wunderbar, mein Schatz«, antwortete sie, »aber ich glaube nicht, dass wir welchen haben.«

»Doch!«, sagte Sirin triumphierend. »Ich hab gestern noch welchen gekauft. Extra für dich.«

Sirin griff ganz hinten in den Küchenschrank und holte ein in braunes Papier gewickeltes Päckchen hervor. Dann zog sie das dunkelblaue Siegel ab und öffnete es. Genüsslich sog sie das Aroma des gemahlenen Kaffees ein und trug dann das Päckchen zu ihrer Mutter hinüber. Der Geruchssinn ihrer Mutter war inzwischen fast vollständig verschwunden, doch Sirin wusste, dass sie Kaffee noch immer riechen konnte, wenn sie einen tiefen Atemzug nahm.

Sirin sah ihr dabei zu, wie sie die offene Packung an ihr Gesicht hob und genießerisch daran roch. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.

»Ah, Sirin. Das ist eine gute Mischung, die du da gekauft hast. Sie riecht … hmmm … süß und nach Sonnenschein.«

Sirin blickte zum Fenster und in das graue Morgenlicht, das sich durch den Schmutz zu drängen versuchte. Sie konnten gar nicht genug Sonnenschein abbekommen, dachte sie bei sich.

Sirin brühte den Kaffee auf, wie sie und ihre Mutter ihn am liebsten mochten. Mit sicheren Handgriffen gab sie den fein gemahlenen Kaffee und drei Löffel Zucker in die winzige kupferne Cafetiere mit dem langen Stiel und füllte alles mit Wasser auf. Dann stellte sie, genau wie ihre Mutter es ihr beigebracht hatte, den Topf vorsichtig auf die Gasflamme und beobachtete, wie das zähflüssige Gemisch zu sieden begann. Kurz bevor es überkochte, nahm sie es vom Herd. So verfuhr Sirin drei Mal und bemerkte dabei, wie ihre Mutter jede ihrer Bewegungen mit anerkennendem Blick verfolgte. Während Sammi weiter ruhig schnurrte, saßen Sirin und ihre Mutter dann zusammen in der kleinen Küche – die mittlerweile von der Zubereitung des Kaffees aufgewärmt war – und nippten an dem dickflüssigen, süßen Gebräu aus zwei zarten Porzellantassen, die früher einmal der Mutter ihrer Mum gehört hatten.

Hätte Sirin die Zeit genau in diesem Moment anhalten können, hätte sie es getan. Doch Kaffee wird kalt und die Zeit schreitet unerbittlich voran. Sirin wusste, dass sie mit jeder Sekunde dem Moment näher kamen, in dem es an der Tür klingeln würde. Und dann würden die Sanitäter mit dem Fahrstuhl nach oben fahren und ihre Mum im Rollstuhl abholen.

Joss’ Schwester Allie war ebenfalls bereits vor Tagesanbruch auf. Sie schlief in dem zur Küche gehörenden Schuppen im Hof des Zoll-Anwesens. Wenn sie nicht rechtzeitig aufstand, um den Gänsen ihr Korn zu geben, würden diese bei Sonnenaufgang zu schnattern anfangen. Und es gab nichts, was Madam Zoll mehr hasste, als von einer Schar schlecht gelaunter Gänse aus ihren Träumen gerissen zu werden.

Also fütterte Allie die Gänse und machte sich dann an den Berg von Arbeit, den sie im Laufe des Tages zu erledigen hatte. Sie feuerte den Ofen an, holte Wasser vom Brunnen, schichtete das Holz und entzündete das Feuer im Kamin der großen Halle. Dann wandte sie sich der einzigen Aufgabe zu, auf die sie sich jeden Tag freute: Sie packte den Korb für den Schäfer. Allie hatte klare Anweisungen bezüglich der Dinge, die in diesen Korb gehörten: kein Fleisch, kein Brot, das weniger als drei Tage alt war, keine Butter, keine frische Milch und auf keinen Fall irgendetwas Süßes. Obwohl sie sich sehr vor Madam Zoll fürchtete, war dies der seltene Fall, in dem Allie sich gegen sie auflehnte. Für Joss konnte ihr gar nichts gut genug sein.

An diesem Morgen war der Korb mit besonders leckeren Dingen gefüllt: einer dicken Scheibe Schinken, zwei eingelegten Zwiebeln, drei Brötchen vom Vortag, einem großen Stück Käse, zwei kleinen Äpfeln und einem Rest Früchtebrot.

Lächelnd wickelte Allie diese Schätze in ein Tuch und schloss den Deckel des Korbs. Sie eilte aus der Küche – und machte augenblicklich kehrt und lief wieder nach drinnen. Sie hatte das unverkennbare Geräusch eines nahenden Raptorengeschwaders vernommen.

Während die Erinnerungen sich in Allie überschlugen, kauerte sie im Schatten der Eingangstür. Sie rieb sich heftig die Augen und redete sich ein, dass der von den Schwingen aufgewirbelte Staub daran schuld war, dass ihr die Tränen kamen, dann zwang sie sich hochzusehen. Sie erkannte die dreizackigen Tätowierungen auf den weißen Drachenbäuchen sowie den Glanz gestohlener Dracheneier.