Falkenreiter - Das Kind des Magiers - Angie Sage - E-Book

Falkenreiter - Das Kind des Magiers E-Book

Angie Sage

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Beschreibung

Die letzten Magier kämpfen um ihre Zukunft Nachdem der König ihren Vater, den Zauberer Hagos RavenStarr, gefangen genommen hat, ist Alex ohne ihn auf der Suche nach dem magischen Tau. Denn nur damit kann sie die schrecklichen Kreaturen des Königs besiegen, die alle Magier jagen und töten sollen. Alex‘ abenteuerliche Reise führt sie über wogende Meere, in einen verwunschenen Mitternachtszug und immer näher zu den Geheimnissen der Falkenreiter. Doch die größte Überraschung erlebt sie, als ihr klar wird, wer ihr bei der Lösung ihrer Aufgabe helfen muss!

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Seitenzahl: 353

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Bisher bei Schneiderbuch erschienen: Maximilian Flügelschlag Falkenreiter – Flucht aus Luma (Band 1)Falkenreiter – Das Kind des Magiers (Band 2)

Deutsche Erstausgabe © 2022 Schneiderbuch in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Alle Rechte für die deutschsprachige Ausgabe vorbehalten

© 2021 by Angie Sage Originaltitel: »Enchanter’s Child, Book Two: Midnight Train« Erschienen bei Katherine Tegen Books, an imprint of HarperCollins Publishers, New York Covergestaltung und Vignetten von Melanie Korte Coverabbildung von Grunge Frame, Wind, Falke / shutterstock E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783505144356

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Widmung

Für Poppy Strover, von Herzen

1. Kapitel

1. Kapitel

EIN TRAUM WIRD WAHR

Monster. Monster, überall Monster. Alex RavenStarr rannte, doch ihre Füße bewegten sich nicht. Schakalköpfige Ungeheuer, zwei Meter groß, mit weißen Mäulern, spitzen rosa Ohren und gelben Augen umzingelten sie. Sie ragten hoch über ihr auf, sabberten und geiferten auf ihr Haar und bleckten die schmutzigen, messerscharfen Zähne. Alex konnte den Gestank von verwesendem Fleisch riechen. »Nein!«, schrie sie. »Nein! Nein!«

»Schhh, Alex, alles ist gut.« Ein heller Lichtstrahl fiel ihr in die Augen.

Alex setzte sich auf. Schlaftrunken starrte sie den zerzausten Jungen an, der eine kleine Laterne in der Hand hielt und sie besorgt musterte. »Hallo, Benn«, flüsterte sie.

Hinter dem Lichtkreis der Laterne sah Alex nichts als Dunkelheit. Wo bin ich? Alles, was sie hören konnte, waren das Heulen des Windes und das Klatschen der Wellen. Und es war kalt, saukalt. Ah. Jetzt erinnerte sie sich. Sie war in einer Höhle hoch oben auf dem Orakelfels und versteckte sich vor genau den Monstern, die in ihre Träume eingedrungen waren.

»Schlecht geträumt?«, fragte Benn.

Alex nickte. »Von der Schakalerie.«

»Bäh«, machte Benn schaudernd. Auch Alex grauste es beim Gedanken an die Schakalerie – die halb menschlichen, halb tierischen Leibwächter, die König Belamus von Rekadom beschützten und jeden Befehl des Königs skrupellos ausführten. Und im Augenblick lautete der Befehl des Königs, Benn und sie zu finden und in den Kerker zu werfen.

Im hintersten, dunkelsten Winkel der Höhle vergruben Alex und Benn sich wieder unter ihren Decken und lauschten dem Heulen des Sturms. Nach einigen Minuten verriet Benns gleichmäßiger Atem, dass er wieder eingeschlafen war, doch Alex konnte den Schrecken ihres Albtraums nicht abschütteln. Leise stand sie auf, wickelte sich in ihre Decke und schlich auf Zehenspitzen zum schmalen Höhleneingang, um hinauszuspähen.

Die Höhle befand sich hoch oben auf dem glockenförmigen Orakelfels, und die dunklen Wolken, die rasch über den Himmel zogen, gaben Alex das Gefühl, ein auf dem Wind gleitender Vogel zu sein. Eine plötzliche Sturmbö wehte Regen auf ihre Füße, und sie wich einen Schritt zurück. Mit einem Mal hellwach, blickte sie auf die schäumende See, die tief unten gegen die Steine schlug. Jenseits des aufgewühlten Wassers, das den Orakelfels vom Festland abschnitt, sah sie die hoch aufragenden Klippen, auf denen sich die Festungsstadt Rekadom in den Nachthimmel hob. Irgendwo in der Stadt – vermutlich tief unten im Kerker – befand sich ihr lang verschollener und gerade erst wiedergefundener Vater, Hagos RavenStarr.

Alex lehnte sich an die kalte Felswand und nahm aus der Geheimtasche ihrer breiten grünen Schärpe, die sie um die Taille trug, ein kleines, erstaunlich schweres Buch, das in abgewetztes blaues Leder gebunden war. Sie schlug das Buch auf und strich mit der Fingerspitze über einen flachen Stapel oblatendünner sechseckiger Karten, die ordentlich in einer Innentasche im vorderen Einband steckten. Beim Anblick ihrer wertvollen Karten musste sie unwillkürlich lächeln. Sie waren ihre ständigen Begleiter, seit ihre Mutter und ihr Vater sie als ganz kleines Kind einer gewissen Mirram D’Arbo überlassen mussten – eine mürrische Frau, die sich seitdem ohne große Begeisterung um Alex gekümmert hatte. In den letzten beiden verrückten Wochen hatten die Karten ihr so viele neue Entdeckungen beschert, dass es ihr immer noch schwerfiel, das alles zu verdauen.

Weil sie so tröstlich vertraut waren, nahm Alex die Karten heraus, und während sie die dünnen Scheiben mit geschickten Fingern mischte, erstellte sie in Gedanken eine Liste aller Dinge, die sie über sich erfahren hatte.

Erstens: Ihre Mutter hieß Pearl. Sie war vor acht Jahren im Kerker von Rekadom gestorben.

Zweitens: Ihr Vater war Hagos RavenStarr.

Drittens: Ihr Vater war vor langer Zeit der Oberste Magier des Königs gewesen.

Viertens: Folglich war sie das Kind eines Magiers. Und das war nichts, was man im Augenblick sein wollte. Ganz und gar nicht.

Es ist schon komisch, dachte Alex, dass ich nun selbst am Orakelfels bin, genau da, wo vor zehn Jahren das Orakel König Belamus prophezeit hatte, er werde »durch das Kind eines Magiers getötet« werden. Bis dahin war nichts dabei gewesen, ein Magierkind zu sein, doch einige wenige Worte hatten das für immer verändert.

Alex schauderte und zog die Decke enger um die Schultern. Dann lugte sie noch etwas weiter aus der Höhle hinaus und folgte mit dem Blick dem steilen Pfad, der von ihrem Versteck abwärtsführte. Sie wollte sehen, ob die Sandbank, die den Orakelfels mit dem Festland verband, schon frei lag. Doch der beinahe volle Mond war hinter einer dicken Sturmwolke verschwunden, und sie konnte es nicht erkennen. Der Wind blies ihr unangenehm ins Gesicht, und Alex zog sich wieder in den Schutz der Höhle zurück. Was macht es schon für einen Unterschied, dachte sie. Früher oder später würde die Flut zurückgehen, und sie war sicher, dass der König dann seine Schakale über den Dammweg schicken würde, um sie zu holen. Es war nur eine Frage der Zeit. Sie hatte nur dann eine Chance, wenn der Sturm sich so weit legte, dass Benn und sie in Benns Segeljolle Molly entkommen konnten. Aber so, wie das Meer im Augenblick tobte, würde sich die kleine Molly keine fünf Minuten über Wasser halten können.

Plötzlich schob sich der Mond hinter der Wolke hervor. Alex riskierte noch einen schnellen Blick nach draußen. Zu ihrem Entsetzen sah sie nun einen Sandstreifen, der den Orakelfels mit dem Strand unter den Klippen Rekadoms verband. Es schien schon seit einer ganzen Weile Ebbe zu sein, und der blasse Sand glänzte im Mondschein wie eine Bühne im Scheinwerferlicht. Alex schnappte nach Luft, denn wie aufs Stichwort traten die Schauspieler auf. Es waren fünf: vier riesige Schakale wie in ihrem Albtraum, deren lange rote Umhänge im Wind flatterten, während das gespenstisch silbrige Mondlicht ihre spitzen Ohren und Schnauzen scharf umriss. Und etwas verloren zwischen ihnen stand eine kleinere Gestalt in einem langen Bademantel – Deela Ming, Oktopusstrickerin, Bewohnerin des Orakelfelsens und amtierendes Orakel. Alex schluchzte auf. Bitte nicht Deela, die gute Deela Ming, die sie bei sich aufgenommen hatte und die so freundlich zu ihnen gewesen war.

»Alex?«, ertönte Benns beunruhigte Stimme. »Was ist los?«

»Deela!«, brachte Alex hervor. »Die Schakalerie hat Deela geholt!«

Benn huschte neben Alex zum Höhleneingang, und sie blickten gemeinsam hinaus. »Warum?«, murmelte Alex. »Warum holen sie Deela?«

Benn runzelte die Stirn. »Wahrscheinlich, weil sie dich nicht gefunden haben. Es heißt, dass die Schakalerie nie mit leeren Händen fortgeht.«

Alex fühlte sich schrecklich. »Ich wünschte, sie hätten mich mitgenommen«, flüsterte sie.

Benn schnaubte. »Sie sollen überhaupt niemanden mitnehmen!« Er beugte sich weiter in den Wind, um besser sehen zu können. »Nur Deela?«, fragte er. »Palla nicht?« Palla Lau war Deelas junge Gehilfin, die Alex und Benn in der Höhle versteckt hatte.

»Nur Deela. Ich bin sicher. Palla ist viel größer. Sieh doch.«

Alex und Benn rieben sich einen plötzlichen stechenden Regenschauer aus den Augen und beobachteten die furchterregenden Schakale, die, auf ihren Hinterbeinen stolzierend, die kleine Gestalt über den Dammweg trieben. »Sie muss entsetzliche Angst haben«, flüsterte Alex, als Deela in einem dunklen Tunnel am Fuß der Klippen verschwand. Alex fand, dass sie aussah wie ein Geist, der in der Unterwelt verschwindet.

Plötzlich ertönte das Knirschen kleiner Steine auf dem schmalen Pfad unter der Höhle. Leise und mit hämmernden Herzen krochen Alex und Benn weit nach hinten in die Höhle, schlüpften unter die Decken und lauschten mit angehaltenem Atem.

Irgendetwas kletterte den Felsen hoch.

Und jetzt war dieses Etwas in der Höhle und schlich auf ihr Versteck zu.

Alex traf eine Entscheidung. Sie würde nicht zulassen, dass ein Schakal sie wehrlos und starr vor Schreck vorfand. Sie würde nicht kampflos aufgeben. Mit wildem Gebrüll sprang sie unter ihrer Decke hervor und stürzte sich auf den Eindringling.

Ein Schrei gellte durch die Nacht, dann war alles still.

Aber nicht lange.

2. Kapitel

2. Kapitel

ALTES UND NEUES ORAKEL

»Was sollte das denn?«, ertönte eine wohlbekannte Stimme. Palla Lau rappelte sich auf.

»Palla! Du bist es!«, rief Alex und lachte vor Erleichterung.

»Ich weiß nicht, was daran so lustig ist«, knurrte Palla, während sie sich den Hosenboden abklopfte.

»Entschuldige bitte«, erwiderte Alex. »Aber wir dachten, du wärst ein Schakal.«

»Diese abscheulichen Geschöpfe. Wie kommt ihr denn darauf?«, fragte Palla.

»Wir haben sie gesehen«, sagte Benn leise. »Mit Deela.«

Pallas Ärger verflog schlagartig und sie schlug die Hände vors Gesicht.

»Deela hat gesagt, dass sie kommen würden.« Sie brachte die Worte nur mühsam und stockend hervor. »Wir haben nach ihnen Ausschau gehalten. Als schließlich Ebbe war, haben wir sie auf dem Dammweg gesehen, und Deela hat gesagt, dass ich mich verstecken soll. Ich wollte nicht. Aber sie ist richtig böse geworden. Sie hat gesagt, ich muss jetzt das Orakel sein.« Palla schluckte. Sie blinzelte Alex und Benn mit Tränen in den Augen an. »Ich wollte schon immer das Orakel sein. Aber nicht so.«

In der Höhle wurde es still. Alex stand auf und trat wieder an den Höhleneingang. Dort setzte sie sich, fühlte den kalten Wind im Gesicht und sah die Wolken schnell über den nachtblauen Himmel ziehen, sah den Mond hinter ihnen auf- und abtauchen. Sie blickte zu den Klippen und den hohen Mauern von Rekadom hinüber und dachte an ihren Vater, der dahinter gefangen gehalten wurde – so wie nun auch Deela. Sie wusste, wenn der Sturm nicht vor der nächsten Ebbe abflaute, würde sie selbst auch bald dort sein. Alex starrte in die Tiefe, bis das Meer den Dammweg wieder überspült hatte. Wenigstens besaß Rekadom keinen Hafen, und es bestand keine Gefahr, dass die Schakale mit Booten übers Meer kamen.

»Der Dammweg ist überflutet!«, rief sie Benn und Palla zu. »Wir sind in Sicherheit.« Leise fügte sie hinzu: »Vorerst.«

Im Morgengrauen kletterten sie über den steilen Pfad in Deelas Häuschen zurück, das oben auf dem Orakelfels stand. Palla kniete sich im Wohnzimmer vor das Feuer und fütterte es Stück für Stück mit Meereskohle, als wäre es ein krankes Tier. Draußen tobten Wind und Regen weiter, und trotz der Anstrengungen des Feuers wollte die Kälte nicht aus ihren Knochen weichen. Erst nach einer Tasse heißer Milch mit Zimt und Nelken, die Palla zubereitete, sanken Benn und sie, in Decken gewickelt, neben dem Feuer in einen unruhigen Schlaf.

Palla hingegen kam nicht zur Ruhe. Rastlos lief sie im Zimmer auf und ab und konnte nur eines denken: Was geschieht mit Deela?

Deela saß auf einem klammen Strohhaufen in so tiefer Finsternis, dass sie nichts anderes sehen konnte als ein paar helle Blitze, wenn sie die Augen ganz weit aufriss. Irgendwo hörte sie das fortwährende Plitsch, plitsch von Wassertropfen, und unter dem allgegenwärtigen Moder roch sie etwas Verwesendes, vielleicht eine tote Ratte. Sie befand sich in einer winzigen Zelle, die so schmal war, dass sie, wenn sie die Arme ausbreitete, die flachen Hände auf die eisigen Mauern legen konnte. Und wenn sie die Arme hob, stieß sie mit den Fingerknöcheln gegen die gewölbte Decke. Sie hatte es aufgegeben zu rufen und in die Dunkelheit hinein zu fragen, ob jemand da war. Sie wusste, sie war allein.

Irgendwann später – wie viele Stunden, konnte sie nicht sagen – hörte Deela das ferne Klirren eisenbesohlter Stiefel, wie sie die Kerkerwächter trugen. Sie richtete sich auf und lauschte angestrengt. Die Schritte kamen näher, und Angst flackerte in ihr auf. Sie kamen, um sie zu holen. Sie wusste es.

Deela atmete tief ein. Sie stand auf und stellte sich mit dem Gesicht zur Tür, während ihr Herz im Takt mit den polternden Stiefeln schlug. Vor ihrer Zelle hielten sie inne, und Deela straffte die Schultern. Was auch immer als Nächstes geschah, es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. Sie konnte nur versuchen, tapfer zu sein und es würdevoll zu ertragen.

Ratschend fuhr der Schlüssel ins Schloss, dann erschien das blendende Licht einer Laterne. Deela ballte die Fäuste und sah die Tür aufschwingen.

»Hagos!«, japste sie.

Flankiert von zwei stämmigen Kerkerwächtern im Kettenhemd stand Hagos RavenStarr vor ihr, zart wie ein Schilfrohr zwischen zwei Felsen. Er wirkte ausgezehrt und verhärmt, doch seine dunklen Augen funkelten Deela warnend an. »Schweig still, Gefangene!«, sagte er mit seltsam hoher Stimme. »Wie kannst du es wagen, mich zu beleidigen?«

Deela war so geschockt, als hätte Hagos sie geschlagen. Er klang so feindselig.

»Das ist die neue Gefangene, Majestät«, sagte eine der Wachen.

Majestät? dachte Deela. Warum nennen sie ihn »Majestät«? Verwirrt blickte sie Hagos an. Der zwinkerte ihr zu. Deela spürte einen Hoffnungsfunken, und ihr Gehirn begann wieder zu arbeiten. Anscheinend hielten die Wachen Hagos für König Belamus, auch wenn Deela völlig schleierhaft war, wie er das angestellt hatte. Dennoch war es wohl klug, schnell einen wackligen Knicks zu machen.

Eine der Wachen zog ein paar Handschellen hervor. »Nicht nötig«, winkte Hagos ab. »Ich nehme die Gefangene.« Der Wächter sah enttäuscht aus. König Belamus hatte in den letzten zehn Jahren die meisten der noch verbliebenen Einwohner Rekadoms einsperren lassen, und wegen des berüchtigten Kerkerfiebers gab es nicht mehr allzu viele Gefangene, denen man Handschellen anlegen konnte. Um genau zu sein, war Deela im Augenblick die einzige Gefangene, und ihr Eintreffen war das Ereignis in einem sehr langweiligen Monat gewesen. Aber der König wusste natürlich am besten, was zu tun war.

Hagos trat in den winzigen Raum, und Deela spürte seine knochige Hand auf ihrem Arm. Folgsam ließ sie sich von ihm aus der Zelle führen, fort von dem trostlosesten Ort, an dem sie je gewesen war, während die Wachen ihnen dicht auf den Fersen blieben und im Licht der Laternen gespenstische Schatten vor ihnen hertanzten. Hagos führte Deela durch das Labyrinth aus Gängen unter der Stadt, bis sie den Fuß einer Treppe erreichten, die zu beiden Seiten von brennenden Fackeln erleuchtet war. Hier drehte er sich zu den Wachen um und kommandierte: »Abtreten!«

Die Wachen salutierten, schlugen die Hacken zusammen und marschierten davon.

»Sie dachten, du wärst der König«, flüsterte Deela ehrfürchtig. »Wie hast du das gemacht?«

»Leicht war es jedenfalls nicht«, erwiderte Hagos trocken. »Komm, lass uns von diesem grässlichen Ort verschwinden.«

»Wir fliehen?«

Hagos seufzte. »Na ja, nicht ganz. Ich habe einen Handel abgeschlossen.«

»Einen Handel?«

»Mit dem König. Und du bist ein Teil dieses Handels, allerdings weiß er das noch nicht. Also beeil dich. Niemand darf uns sehen.«

Zittrig vor Erleichterung stützte sich Deela auf Hagos, als er sie die Stufen hinauf Richtung Sonnenlicht führte. Sie atmete lange und tief die salzige Luft ein, die vom Meer herübergeweht wurde, und musste an den Orakelfels denken. »Deine Tochter, Alex«, sagte sie, »ist in Sicherheit. Palla hat sie versteckt. Deshalb hat die Schakalerie mich geholt.«

Hagos drehte sich zu seiner alten Freundin um. »Das hat der König mir schon mitgeteilt. Danke, Deela.« Er seufzte. »Belamus hat auch gesagt, dass er den Ungeheuern befohlen hat, Alex bei der nächsten Ebbe zu holen.«

Deela lächelte. »Keine Sorge. Da wird deine Alex schon längst mit ihrem Freund davongesegelt sein.«

Hagos verzog das Gesicht. »Bei dem Sturm?«

»Der flaut bald ab«, sagte Deela. »Vertrau mir. Ich lebe seit dreißig Jahren auf diesem Felsen, so langsam kenne ich das Wetter.«

Sie traten auf eine große, freie Fläche, die als der Sternenhof bekannt war. Hier, genau in der Mitte von Rekadom, erhoben sich drei Türme – der Goldene, der Silberne und der Eiserne Turm – in den stürmischen Himmel. Früher war der Sternenhof ein beliebter Treffpunkt gewesen, doch jetzt lag er verlassen da. Nach dem großen Auszug der Magier und ihrer Familien vor zehn Jahren hatte die verbliebene Bevölkerung von Rekadom den Verfolgungswahn ihres Königs weiter ertragen müssen, und der einst so lebhafte Ort war nur noch eine Geisterstadt.

Nervös spähte Hagos zur Spitze des Goldenen Turms hinauf, wo König Belamus, wie er wusste, nichts Besseres zu tun hatte, als herumzulungern und durch die goldgerahmten Fenster auf den leeren Platz zu blicken. Hagos’ Ausflug in den Kerker hatte länger gedauert als erwartet, es war schon kurz vor elf – und pünktlich um elf würde König Belamus, der sich an einen strengen Zeitplan hielt, sein vormittägliches Stück Schokoladentorte verspeisen und ein Kapitel des Buchs überarbeiten, das er schrieb: Mein Rekadom – Die vollständige und ungekürzte Geschichte der Stadt. In alter Zeit, als Hagos nicht nur der Magier des Königs, sondern auch sein bester Freund gewesen war, hatte Belamus regelmäßig seine Schokoladentorte mit ihm geteilt und ihm sein neuestes Kapitel vorgelesen. Die Torte vermisste Hagos, auf das Zuhören konnte er dagegen gut verzichten.

Hagos zog Deela über den leeren Hof, vorbei an einer missmutigen Ziege, die an einer einsamen Sonnenblume knabberte, durch den Schatten des düsteren Eisernen Turms, dessen winzige Fenster mit Gittern versperrt waren, und wieder ins Offene. Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, den leeren Raum zwischen dem Eisernen und dem Silbernen Turm zu überwinden, aber endlich erreichten sie doch den Torbogen, der in den Silbernen Turm führte. Hagos schob die erschöpfte Deela hinein, und langsam stiegen sie die steile Wendeltreppe hoch, die von kleinen Laternen erhellt wurde. Ganz oben war ein breiter Treppenabsatz vor einer großen blauen Tür, die mit silbernen Sternen verziert war. Hagos legte eine Hand über das Schloss und wartete, bis man hören konnte, wie die Federbolzen mit einem leisen Klicken einrasteten. Rasch drückte er die Tür auf – seine Fähigkeit, ein Schloss offen zu halten, war heutzutage nur noch auf wenige Sekunden begrenzt. Er führte Deela in einen großen, dreieckigen Raum und machte die Tür schnell hinter sich zu.

Der starke Geruch nach Weihrauch, der in der Luft hing, machte Deela ganz schwindlig, und ihre Füße in den schmutzigen Pantoffeln fühlten sich an, als ständen sie auf Treibsand. Benommen fragte sie sich, warum Hagos ein Glöckchen direkt vor ihrem Ohr klingeln ließ, als auch schon der Boden auf sie zukam und ihr hart entgegenschlug.

»Deela … Deela …« Jemand rief am Ende eines langen Tunnels nach ihr. Deela stöhnte. Es war alles nur ein Traum. Hagos hatte sie nicht befreit, indem er sich als König ausgegeben hatte. Natürlich nicht. Was für eine alberne Vorstellung. Sie war immer noch in der schrecklichen Zelle.

»Deela. Deela«, ertönte Hagos’ Stimme. »Wach auf. So ist es gut. Es ist alles in Ordnung. Trink das.«

Deela stützte sich langsam auf die Ellbogen. Hagos’ ängstliches Gesicht ragte groß vor ihr auf, und mit zitternden Fingern nahm sie das Glas mit der roten Flüssigkeit, das er ihr hinhielt, und trank es aus. Das Gebräu brannte in ihrer Kehle, aber es schien ihren Kopf zu klären. Deela blinzelte und sah den Raum nun deutlicher – dunkel und geheimnisvoll, dichte, schwere Vorhänge, mit Büchern gesäumte Wände, Flaschen und Gläser in allen Größen und Formen. »Es stimmt also doch«, murmelte sie. »Du hast mich gerettet.«

Hagos lächelte wehmütig. »Nicht ganz. Wir sind immer noch Gefangene.«

»Aber das sind deine alten Gemächer.« Deela schaute sich in dem vertrauten Raum um, in dem sie Hagos früher häufig besucht hatte, ihn, seine Frau und seine kleine Tochter.

»Das ist richtig«, sagte Hagos. »Und ich bin nur hier, weil ich eine Abmachung mit Belamus getroffen habe.«

»Eine Abmachung?«, fragte Deela verständnislos.

»Ich erkläre es dir später. Ruh dich erst mal aus.« Hagos half Deela auf das Sofa neben dem Feuer und machte es ihr bequem. Als Deela eingeschlafen war, trat er an ein kleines, dreieckiges Fenster hinter dem Schreibtisch und blickte in den stürmischen Himmel. Trotz Deelas Wettervorhersage gab es kein Anzeichen, dass der Sturm abflaute. Aus einer Schublade in seinem Schreibtisch nahm er ein kleines Fernglas und richtete es auf den eisengrauen Streifen Ozean, der gerade so hinter den hohen Mauern von Rekadom zu sehen war. Ängstlich suchte Hagos die schäumenden Wellen ab und betete, dort kein kleines, weißes Boot mit einem roten Segel zu entdecken. Noch nicht, nicht solange der Sturm so tobte. Bitte lass sie warten, bis sich das Wetter beruhigt hat, dachte er. Er blickte auf die Uhr und stellte fest, dass es nur noch drei Stunden dauern würde, bis der Dammweg wieder frei lag und die Schakalerie sich erneut auf den Weg zum Orakelfels machen würde.

»Verdufte, du Sturm«, murmelte er. »Bitte. Verzieh dich.«

3. Kapitel

3. Kapitel

STURMWACHE

Während Hagos aus seinem Fenster in den stürmischen Himmel blickte, tat Alex in dem winzigen Wohnzimmer in Deelas Häuschen das Gleiche. Palla hatte Zitronentee gekocht, das Feuer brannte munter, die Meereskohle spuckte ihre salzigen Flammen, und trotzdem war der Raum voller Schwermut. Deelas bunt gestrickte Oktopusse saßen in einer Reihe auf der Fensterbank und blickten nach draußen, als warteten auch sie hoffnungsvoll auf Deelas Rückkehr. Der Wind ließ die kleinen Scheiben in den Fenstern klappern wie Teetassen auf wackligen Untersetzern und heulte, als wollte er herein. Wie die Schakale, dachte Alex.

Benn kam zu ihr ans Fenster und folgte ihrem Blick auf das tosende Wasser. »In etwa drei Stunden müsste der Weg wieder frei sein«, sagte er.

»Dann gehen wir wieder nach oben in die Höhle«, sagte Palla.

Alex drehte sich zu ihr um. »Danke für das Angebot, Palla«, sagte sie. »Aber wir gehen nicht wieder in die Höhle. Benn und ich reisen mit Molly ab.«

Palla sah sie entsetzt an. »Bei dem Sturm?«, rief sie. »Das könnt ihr nicht machen!«

»Ist schon in Ordnung.« Benn blinzelte zuversichtlich einem winzigen blassblauen Fleckchen Himmel zu. »Der Sturm zieht weiter. Wir müssen ja nur ein Stück die Küste runter bis zur Netzlegerbucht. Der Wind steht günstig. Es wird schon gut gehen.«

Palla war erschüttert. »Wird es nicht! Ihr kennt die Kräfte des Ozeans nicht. Ihr wart noch nie schiffbrüchig!«

Alex sah sie fragend an. »Warst du schon mal schiffbrüchig?«

Palla nickte. »Ja. Deela hat mich gerettet. Ich war erst neun.« Sie rieb sich einen plötzlichen Tränenstrom aus den Augen. »Und wie habe ich es ihr gedankt? Indem ich ihr diesen ganzen Ärger eingebrockt habe! Und dir, Alex. Und deinem Vater.«

»König Belamus brockt uns den Ärger ein, nicht du«, sagte Alex.

Benn sah Palla erstaunt an. »Warum glaubst du, es wäre deine Schuld?«, fragte er.

Palla seufzte. »Weil es stimmt. Nachdem sie mich gerettet hatte, bekam Deela hohes Fieber. Ihr Hals war ganz geschwollen, und sie hatte keine Stimme mehr. Als König Belamus zum Orakel kam – wie er es so oft tat –, wollte ich für sie einspringen. Ich war das Orakel.«

»Aber deine Stimme … hat der König den Unterschied denn nicht bemerkt?«, fragte Benn.

Palla schüttelte den Kopf. »Das Orakel steht in der Orakelglocke, und die Glocke gibt der Stimme einen ganz anderen Klang. Und …« Sie stockte. »Es ist schwer zu beschreiben. Sie verändert einen auch. Also, mich hat sie jedenfalls verändert, aber ich glaube nicht, dass es bei Deela auch so war. Deela hat erzählt, dass sie und Hagos sich immer abgesprochen und gemeinsam überlegt haben, was sie dem König am besten sagen, um ihn bei Laune zu halten. Aber ich konnte das nicht. Sobald ich die Orakelrobe angezogen hatte, hatte ich das Gefühl, ich wäre tausend Jahre alt und Teil von etwas Uraltem. Als ich in der Orakelglocke stand und der König fragte, wie er sterben würde, wusste ich sofort, was ich sagen musste.«

»Dass er durch das Kind eines Magiers getötet werden würde«, murmelte Alex.

Palla sah Alex an. »Aber das waren nicht meine Worte, es waren die des Orakels. Verstehst du?«

Alex nickte. »Ich verstehe.«

»Trotzdem muss ich die ganze Zeit an die furchtbaren Dinge denken, die seitdem passiert sind«, sagte Palla. »Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem Deela mir erzählte, dass der König alle Magier und Magierkinder aus Rekadom verbannt hatte – abgesehen von deinem Vater, Alex, den er gefangen nahm. Deine arme Mutter hat er in den Kerker geworfen. Und du bist verschwunden. Deela war völlig außer sich. Aber Hagos wollte nicht mit ihr sprechen.« Palla schüttelte den Kopf. »Und dann hörten wir von den schrecklichen Wesen, die überall im Land auftauchten und jeden jagten, der Zauberkräfte besaß. Die grauenvollen Geschöpfe der Dämmerung …«

»Die mein Vater erschaffen hat«, ergänzte Alex.

»Aber nur, weil der König versprochen hat, dafür deine Mutter aus dem Kerker zu lassen.«

»Was er nie getan hat«, sagte Alex. Sie stand auf, ging zu Palla und umarmte sie. »Es ist gut«, sagte sie. »Schau.« Sie nahm den Codex aus der Tasche ihrer Schärpe und öffnete ihn, um Palla die Hexkarten zu zeigen, die im Einband steckten.

Pallas Augen leuchteten auf. »Das ist ja wirklich ein Zauberbuch«, murmelte sie. »Schau mal, wie die Ränder der Seiten glitzern.«

»Das sind die versiegelten Seiten«, erklärte Alex. Sie schlug das Buch hinten auf, wo ein ganzer Seitenblock zusammenklebte, der mit einem schimmernden blauen Wachs versiegelt war. Vor dem Block war ein leeres T-förmiges Täschchen. »Das ist für das Tau, das dort hineinmuss, um die Seiten zu öffnen«, sagte Alex. »Aber der König hat es Papa gestern weggenommen.«

Palla seufzte. »Nach all den Jahren, die Deela das Tau für Hagos in ihrem Lieblingsoktopus aufbewahrt hat. Es ist wirklich traurig, dass es jetzt wieder dem König in die Hände gefallen ist.«

Alex schob die Erinnerung an den Vortag, als ihr Vater König Belamus das wertvolle Tau im Tausch gegen ihr Leben gegeben hatte, weit von sich – zumindest für den Moment. Entschlossen blickte sie Palla an. »Ich werde das Tau zurückholen, Palla. Ich werde es in diese Tasche legen und die versiegelten Seiten öffnen. Und dann werde ich alle Geschöpfe der Dämmerung entzaubern. Ich werde sie ein für alle Mal loswerden, jedes einzelne von ihnen!« Doch noch während sie sprach, wusste Alex, wie unmöglich das klang.

Palla schien diese Einschätzung zu teilen. »Der König wird das Tau niemals hergeben«, sagte sie. »Erst musst du ihn loswerden.« Sie sah Alex direkt in die Augen. »Vielleicht gelingt es dir ja wirklich. Schließlich bist du das Kind eines Magiers.«

»Nein!«, rief Alex entrüstet. »Das Orakel liegt falsch, Palla, egal was du denkst. Zieh mich nicht in dieses dumme Spiel hinein.«

»Es ist kein Spiel. Und das Orakel lügt nicht«, entgegnete Palla.

»Über mich schon«, gab Alex wütend zurück. Palla konnte doch nicht ernsthaft glauben, dass sie imstande war, einen Menschen zu töten. »Danke für die Hilfe, Palla«, fügte sie steif hinzu. »Wir brechen jetzt auf. Stimmt’s, Benn?«

»Jep.« Benn stand auf. Er konnte verstehen, dass Alex wütend war, trotzdem tat Palla ihm leid. »Danke für alles«, sagte er.

Palla erhob sich ebenfalls. »Gern geschehen. Ich wünsche euch eine gute Reise.«

Alex und Benn kletterten die schmale Treppe hinunter, die sie durch das Gestein zu einer kleinen Tür auf halber Höhe des Orakelfelsens führte. Der Wind blies immer noch kräftig, doch Benn hatte recht: Der Sturm flaute ab. Die Wolken waren jetzt weiß, der Ozean dunkelblau statt grau, und die Wellen rollten breit und langsam heran und trugen flache Mützen.

Benn grinste. »Das wird Molly gefallen!«, sagte er und reckte sich Richtung Hafen, um sein Boot endlich wiederzusehen.

Doch als sie den Hafen erreichten, blieben sie wie angewurzelt stehen. »Nein!«, sagte Benn.

»Oh«, sagte Alex.

Molly war noch da, aber nicht auf dem Wasser, wo ein Boot sein sollte. Etwa einen Fuß unter der Oberfläche, gehalten von ihren Halteleinen, schaukelte sie geisterhaft auf und ab.

Alex drehte sich zu dem kleinen Ruderboot um, das an einer geschützteren Stelle an der Hafenmauer festgemacht war. »Wir müssen Deelas Boot nehmen.«

Benn schnaubte verächtlich. »Kommt nicht infrage! Wir können Molly nicht hier zurücklassen. Und wir können nicht bis zur Netzlegerbucht rudern. Wir müssen segeln.«

»Aber Molly ist untergegangen«, sagte Alex.

»Sie ist nicht untergegangen«, widersprach Benn. »Sie ist voll Wasser gelaufen, das ist etwas ganz anderes. Wir müssen nur das Wasser ausschöpfen, das ist alles.«

»Das ist alles?«

»Jep. Wir ziehen sie raus und schöpfen sie leer.« Benn grinste. »Gut, dass wir die Ruder an Land deponiert haben, was?«

Alex gab keine Antwort. Sie betrachtete das Boot, das wie ertrunken im grünen Wasser schaukelte. Plötzlich hatte sie eine sehr ungute Vorahnung.

4. Kapitel

4. Kapitel

MIN

Auch Hagos hatte eine ungute Vorahnung. Aus seinem Fenster konnte er sehen, wie der König in Begleitung seiner Schakalerie den Sternenhof überquerte, und er wusste sofort, dass Belamus zu ihm wollte.

»Deela!« Hagos eilte durch den Raum zu der schlafenden Gestalt auf dem Sofa. Ein leises, röchelndes Schnarchen tönte ihm entgegen. »Deela!« Unsanft rüttelte Hagos die Schultern seiner alten Freundin. »Aufwachen! Belamus kommt. Wach auf!«

Deelas Oberkörper klappte senkrecht in die Höhe. Sie starrte Hagos an und versuchte, sich zu erinnern, wo sie war.

»Deela, der König kommt. Wir müssen uns beeilen!«, sagte Hagos eindringlich.

Deela sprang auf und schaute sich panisch um. »Ich muss mich verstecken!«

»Nein. Die Schakalerie wird dich aufspüren. Hör mir gut zu, Deela. Ich habe doch gesagt, ich hätte eine Abmachung mit Belamus getroffen.«

Deela nickte.

»Ich habe ihm einen neuen Falken versprochen …«

»Aber Hagos! Du kannst doch nicht noch so eine mörderische Bestie erschaffen!«, rief Deela.

»Werde ich ja auch nicht.«

»Aber du hast doch gerade –«

»Deela, bitte hör mir einfach zu. Ich musste es ihm versprechen. Sonst wäre ich nicht mehr am Leben.«

»Oh«, sagte Deela. »Verstehe.«

»Ich schwöre dir, dass ich kein weiteres Monster für ihn erschaffen werde. Aber ich muss so tun.«

»Aha«, sagte Deela.

»Und«, fügte Hagos hinzu, »ich muss ihm erklären, wer du bist. Ich habe schon einen Plan. Du bist ein großer und erfahrener Falkenmeister!«

»Wie bitte?«

»Ein Experte. Für das Erschaffen von Falken.«

Deela war völlig perplex. »Aber ich könnte nicht mal eine Ameise erschaffen!«

»Das macht nichts. Du musst überhaupt nichts erschaffen. Du musst nur so aussehen, als ob du es könntest.«

»Aber ein Meister ist doch ein Mann. Und ich bin kein Mann, Hagos.«

Hagos seufzte. »Das weiß ich doch, Deela. Aber der König wird bald feststellen, dass du nicht mehr im Kerker bist. Da er nicht die hellste Kerze auf der Torte ist, hoffe ich, dass er keinen Verdacht schöpft, wenn irgendein komischer Mann genau dann hier auftaucht, wenn du verschwunden bist.«

»Ich verstehe. Aber wenn eine irgendeine komische Frau hier auftaucht, würde er Verdacht schöpfen?«

»So ist es.« Hagos lachte. »Du bist natürlich überhaupt nicht komisch, Deela, sondern eine sehr gute Freundin. Und jetzt komm.« Er nahm Deelas Arm, zog sie zu einem großen Schrank und öffnete schwungvoll die Türen. Dahinter kamen etwas verstaubte, aber doch bemerkenswert schöne Umhänge aus schimmernder Seide zum Vorschein. »Nimm irgendwas Beeindruckendes«, sagte er. »Aber mach schnell! Gleich ist er da.«

Deela starrte den Regenbogen seidener Gewänder an. »Oh. Die haben Pearl gehört. Ich kann sie nicht tragen, Hagos. Es fühlt sich nicht richtig an.«

»Pearl hätte nichts dagegen. Bitte, Deela, beeil dich. Der König kann jeden Moment –«

Ein herrisches Hämmern an der Tür ließ Hagos verstummen. Während er zur Tür eilte, griff Deela nach einem glänzend blauen, mit silbernen Monden bestickten Umhang, warf ihn über und zog die Kapuze tief ins Gesicht. Der Saum des Umhangs schleifte auf dem Boden, da Pearl einen guten Kopf größer gewesen war als sie. Hastig zog Deela einen niedrigen Schemel vom Feuer herüber und stellte sich darauf, sodass der Saum elegant über dem Boden schwebte.

Mit einem heftigen Ruck flog die Tür auf, Hagos machte einen Satz rückwärts, und der König wirbelte herein wie ein Unwetter. Hinter ihm kamen seine Leibwächter, die Schakale. Die weißköpfigen Geschöpfe in ihren langen roten Mänteln mit den goldenen Knöpfen stolzierten auf den Hinterbeinen in den Raum, doch sobald sie drinnen waren, ließen sie sich auf alle viere nieder und begannen, gierig zu schnüffeln. Oben auf ihrem Schemel zog Deela den nachtblauen Umhang enger um sich und musterte den König. Er trug mehrere Lagen grellbunter Seidengewänder, die Knöpfe seiner gelben Weste spannten über seinem fetten Bauch, und seine Stöckchenbeine verloren sich in den Falten seiner blauen Seidenstrümpfe. Deela fand, dass er aussah wie eine Zitrone auf Zahnstochern.

»Eure Eminenz«, sagte Hagos und vollführte eine komplizierte Verbeugung, die Deela an ein Huhn erinnerte, das gerade ein Ei legte.

»Ja, ja, ja«, sagte König Belamus ungeduldig. »Hör zu, RavenStarr, glaub ja nicht, dass du davonkommst. Ich weiß, dass du eine betrügerische alte Kröte bist. Und wer ist das?« Er zeigte auf Deela.

Deela sah, dass Hagos wegen ihres plötzlichen Wachstums verblüfft war, und zwinkerte ihm zu.

Hagos fasste sich schnell. »Das, Euer Gnaden, ist der berühmte Falkenmeister«, erwiderte er. »Er ist, wie Ihr sicherlich wisst, der beste Falkenerschaffer der Welt. Wir dürfen uns überaus glücklich schätzen, dass er uns mit seiner Anwesenheit beehrt.«

Belamus musterte Deela argwöhnisch. »Ich habe nicht meine Erlaubnis gegeben, dass dieser … dieser Meister hierherkommt. Wie lautet sein Name?«

Hagos warf Deela einen scharfen Blick zu. »Vergebt sein Schweigen, hoher Herr«, sagte er. »Der Falkenmeister spricht nur die Sprache der Falken.«

»Dann sprich du für ihn, RavenStarr! Wie lautet sein Name?«

Deela sah die blinde Panik in Hagos’ Gesicht. Unerträgliches Schweigen folgte, und Deela wusste, dass sie es brechen musste. »Min!«, platzte es aus ihr heraus und sie hielt entsetzt inne, weil ihre Stimme so hoch und kieksig war.

»Min«, widerholte der König. »Eine komische Stimme hat er, dieser Min.«

Endlich konnte Hagos wieder sprechen. »Es ist ja auch die Sprache der Falken, Majestät. Hoch und scharf, wie der Ruf eines Vogels.«

Belamus starrte Hagos an. »Sehr poetisch, RavenStarr. Aber ich will Ergebnisse. Ich will den größten, scharfäugigsten Falken, den es je gab. Ich will den besten Jäger aller verbliebenen Magier, die sich noch in meinem Reich herumtreiben.« Belamus blieb stehen und starrte Hagos mit zusammengekniffenen Augen an, etwa so wie der erwünschte Falke. »Und alle Magierkinder.«

Hagos zuckte zusammen. Wusste der König, dass Alex seine Tochter war? Wollte er das mit seiner Bemerkung andeuten? Nein, dachte er, das ist nicht möglich. Der König weiß nur, dass Kinder auf dem Orakelfels sind, und aus irgendeinem Grund hält er sie für Magierkinder. Aber der König sieht in jeder Ecke Magier und Magierkinder. Es hat nichts zu bedeuten.

König Belamus war jetzt an der Tür. »Die Schakalerie wird dich und diesen Min zur Falknerei begleiten, damit ihr das Falkenei aussuchen könnt.« Die beiden größten Schakale zu sich winkend drehte sich der König auf seinen spitzen kleinen Absätzen um und schritt durch die Tür. Deela wartete, bis er verschwunden war, dann sprang sie von der Fußbank und wurde zusammen mit Hagos von den übrigen Schakalen nach draußen bugsiert.

Zehn Minuten später stand Deela hoch oben auf einer Leiter in der königlichen Falknerei und spähte auf ein Brett, auf dem in einem hübschen kleinen Nest vier gesprenkelte Eier lagen. Düsternis hing in der Luft, durchschnitten von einer einzelnen Klinge aus Sonnenlicht, die durch ein winziges Fenster unter der Traufe fiel. Hauchzarte Daunen schwebten in dem Strahl, und Deelas Nase begann zu jucken. In der Hand hielt sie eine kleine goldene Schachtel für das Ei, doch Deela zauderte. Sie hatte keine Ahnung, welches Ei sie nehmen sollte.

Am Fuß der Leiter standen Hagos und ein stämmiger, rotgesichtiger Mann im Lederwams, der sich die wütende Falkenmutter unter den Arm geklemmt hatte. Der rotgesichtige Mann war Ratchet, der Oberste Falkner, und er blickte die blaugewandete Gestalt oben auf der Leiter ehrfürchtig an. Ratchet hatte noch nie einen Falkenmeister gesehen. Er hatte nicht einmal von einem gehört, aber das wollte er nicht zugeben, schon gar nicht vor seiner neuen Falkenreiterin, die sich im Schatten herumdrückte und die Szene verstohlen beobachtete.

Die neue Falkenreiterin war ein Mädchen von etwa dreizehn Jahren. Sie trug eine wattierte Jacke, eine Hose und einen berechnenden Gesichtsausdruck. Sie war nicht nur die neue Falkenreiterin von Rekadom, sondern auch – was Hagos nicht wusste – Alex’ Ziehschwester. Ihr Name war Zerra D’Arbo.

Zerra musterte Hagos wachsam. Am Vortag hatte sie am Orakelfels dafür gesorgt, dass König Belamus ihn gefangen genommen hatte. Am selben Tag hatte Zerra auch den Falken von Rekadom mit ihrer Lichtlanze erschossen. Die Schuld daran hatte sie auf Alex geschoben, die sie bei der Gelegenheit auch gleich als Magierkind angezeigt hatte. Zerra war nicht sicher, wie viel Hagos davon mitbekommen hatte, und beschloss, sich vorsichtshalber zurückzuhalten. Ratchet durfte auf keinen Fall erfahren, dass sie seinen Falken getötet hatte. Mit verschränkten Armen und finsterer Miene lehnte sie sich an die Wand und lauschte wachsam, bereit, sich zu verteidigen, falls es nötig sein sollte. Es kam nicht infrage, dass der blöde Magier ihr den neuen Job vermasselte.

Zerra hätte sich keine Sorgen machen müssen – die Ereignisse des vergangenen Tages waren in Hagos’ Erinnerung ein einziges schmerzliches Durcheinander. Doch der finstere Blick der Falkenreiterin verstörte ihn, und er rief nervös nach Deela. »Falkenmeister! Habt Ihr gewählt?«

Deela entschied sich für das Ei, das ihr am nächsten lag. Behutsam bettete sie es in die goldene Schachtel und machte sich wieder an den Abstieg. Als sie auf das schmutzige Pflaster trat, verbeugte sich Hagos tief vor ihr. »Mein Herr und Falkenmeister«, sagte er feierlich. »Ich danke Euch, dass Ihr den neuen Falken erwählt habt.«

Deela hatte Mühe, das Kichern zu unterdrücken, als sie Hagos die Schachtel mit dem Ei überreichte. Dann jedoch fiel ihr Blick auf Zerra, die im Schatten stand und sie anstarrte, und das Kichern verging ihr. Das war doch die grässliche Falkenreiterin, von der Alex gesagt hatte, sie sei ihre Pflegeschwester. Die nicht nur Hagos und Alex verraten, sondern, wie Alex ebenfalls berichtet hatte, auch noch mit der Lichtlanze auf sie geschossen hatte. Deela musste sich sehr zusammenreißen, um ihr nicht an die Gurgel zu springen und ihr zu sagen, was sie von ihr hielt. Sie zog die Kapuze tiefer und wandte sich von dem durchdringenden Blick des Mädchens ab. Sie wünschte, Hagos würde endlich in die Gänge kommen, bevor das Mädchen sie noch erkannte. Deela war sicher, dass sie nicht zögern würde, auch sie zu verraten.

Doch Hagos hatte es nicht eilig. Solange die Schakale damit beschäftigt waren, ihn zu bewachen, konnten sie nicht Alex jagen. »Der Falkenmeister«, erklärte er Ratchet unnötig bedächtig, wie Deela fand, »hat in seiner großen Weisheit das perfekte Ei ausgewählt, aus dem wir den prächtigsten Falken aller Zeiten erschaffen werden. Wir müssen Sie jetzt verlassen, Oberster Falkner. Das Ei darf nicht kalt werden.«

Ratchet verbeugte sich respektvoll und stieg dann die Leiter hinauf, um die Falkenmutter wieder in ihr Nest zu setzen.

Hagos und Deela traten ins Sonnenlicht, und Hagos sog die kühle Luft ein – nach dem Regen der letzten Nacht roch sie sauber und frisch. Ein Blick zu den weißen Wolken am Himmel sagte ihm, dass der Sturm abflaute. Seine Stimmung hob sich. Mit etwas Glück war Alex schon weit vom Orakelfels entfernt, wenn die Schakalerie bei Ebbe über den Dammweg kam. Und je länger er die Schakale aufhielt, desto besser standen ihre Chancen zu entkommen.

Also ging Hagos absichtlich langsam, während die Schakalerie Deela und ihn über den Stallhof und die breite Treppe zu dem goldenen Torbogen geleitete, der zum privaten Durchgang des Königs führte. Dort erwartete König Belamus sie mit den beiden anderen Schakalen, deren gelbe Augen blitzten. »Na, RavenStarr«, sagte der König. »Hast du das Ei?«

»Der Falkenmeister hat gewählt, hoher Herr«, sagte Hagos.

König Belamus musterte Deela misstrauisch. Er senkte die Stimme zu einem durchdringenden Flüstern und sagte zu Hagos: »Er sieht plötzlich viel kleiner aus als in deinem Zimmer.«

Hagos ließ sich schnell etwas einfallen. »So ist es, hoher Herr … Die Energie, die der Falkenmeister gebraucht hat, um das richtige Ei zu finden, hat ihn geschrumpft. Dies ist der Auftakt zur Schöpfung des großartigsten Falken, den es jemals gab.«

König Belamus wirkte beruhigt. »Das will ich hoffen, zu deinem eigenen Wohl, RavenStarr. Und jetzt verschwinde!«

Hagos wollte die Schakalerie nur ungern gehen lassen. »Vielleicht sollte die Schakalerie das Ei eskortieren, hoher Herr. Und es bewachen.«

Belamus gluckste. »Ich wusste ja gar nicht, dass du meine Schakale so ins Herz geschlossen hast, Hagos. Gut, sie können das Ei gerne in deine Gemächer begleiten, und einer kann deine Tür bewachen. Aber die anderen brauche ich für einen kleinen Ausflug zum Orakelfels, sobald die Flut zurückgegangen ist. Es gibt dort noch mindestens ein Blenderbalg, vielleicht sogar zwei. Aber nicht mehr lange, he, he.« Der König lachte dünn.

Wie eine kaputte Glocke, dachte Deela.

Hagos schlurfte langsam zu seiner sternenverzierten Tür. Dort ließ er sich mit dem Öffnen so viel Zeit, wie er sich traute, während die vier Schakale ihm auf die Finger schauten. Als sie ungeduldig wurden, stieß Hagos zögernd die Tür auf und ging mit Deela hindurch. Er schloss die Tür und verfolgte durchs Guckloch, wie ein Schakal als Wache zurückblieb, während die anderen davoneilten. Betrübt schob er das Guckloch wieder zu und wandte sich an Deela. »Jetzt gehen sie, um Bubu zu holen«, sagte er.

»Alex«, korrigierte Deela ihn. »Deine Tochter heißt Alex. Sie hat einen erwachsenen Namen und einen erwachsenen Verstand. Sie wird sich von diesen Untieren nicht fangen lassen.«

Hagos trat ans Fenster und wartete, bis er die Schakale auf allen vieren über den Stallhof laufen sah, wobei ihre roten Umhänge über den Boden schleiften. Er sah eine kräftige Frau und einen blassen jungen Mann – Torwächter von Rekadom – die Schakalerie zum Fuß der hohen Stadtmauer geleiten. Dort schlossen sie eine kleine rote Pforte in der Mauer auf und traten respektvoll zurück, während ein Schakal nach dem anderen in der dahinterliegenden Dunkelheit verschwand. Hagos seufzte. Er wusste nur zu gut, wohin sie gingen – er war selbst erst am Tag zuvor auf diesem Weg in die Stadt gekommen. Sie liefen auf einer steilen Treppe durch die Klippen hinunter zum Strand und dann über den Dammweg zum Orakelfels. Hagos sah, wie die Wächter die Pforte hinter der Schakalerie verschlossen und sich dann rechts und links davon postierten, um auf ihre Rückkehr zu warten.

Hagos wollte nicht daran denken, was die Schakalerie zurückbringen würde. Er richtete den Blick aufs Meer, in der Hoffnung, ein kleines weißes Boot mit einem roten Segel zu sehen. Aber er sah keins.

Nach einer Weile bemerkte Hagos Ratchet, der aus der Falknerei kam und zum Himmel blickte. Dort war ein kleiner beweglicher Punkt zu erkennen – irgendein Vogel, welcher, konnte Hagos nicht sagen –, der eindeutig auf den Obersten Falkner zuflog. Bei seinem Anblick musste Hagos an dessen alten Falkenreiter denken, Danny Dark.