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Septimus Heap und seine Freunde sind erneut in Gefahr! Der Geist von Jennas Ur-Ahnin Etheldredda treibt sein Unwesen, und Septimus wird unfreiwillig auf eine Reise in die Vergangenheit geschickt. Beim undurchsichtigen Marcellus Pye erlernt er die alten Künste der Alchemie und Physik: Gegengifte und Heiltränke herzustellen und sogar nach einem Mittel für das ewige Leben zu forschen. Ob er jemals wieder in sein altes Leben zurückkehren kann? Die Türen der Zeit sind verschlossen, und Marcellus Pye trägt den Schlüssel um den Hals ... Das dritte phantastische Abenteuer um den ungewöhnlichen Helden!
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Seitenzahl: 507
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Angie Sage
SEPTIMUS HEAP
PHYSIC
Aus dem Englischen von
Reiner Pfleiderer
Mit Illustrationen von
Mark Zug
Carl Hanser Verlag
Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel Septimus Heap. Book Three: Physik bei Katherine Tegen Books, New York (Imprint von HarperCollins New York).
Published by arrangement with HarperCollins Children’s Books,
a division of HarperCollins Publishers, Inc.
Die Schreibweise in diesem Buch entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung.
ISBN 978-3-446-24210-4
© 2007 by Angie Sage
© Illustrationen Mark Zug 2007
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München Wien
Umschlagillustration: Mark Zug
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
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Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
Für Rhodri –
meinen Alchimisten,
mit Liebe
INHALT
7 Prolog: Das Gemälde auf dem Dachboden
11 1 Snorri Snorrelssen
20 2 Der Händlermarkt
30 3 Unliebsamer Besuch
42 4 Das Loch in der Mauer
53 5 Königin Etheldredda
63 6 Auf dem Außenpfad
69 7 In der Schlangenhelling
77 8 Feuer unter Wasser
84 9 Die geplatzte Prüfung
9310 Der Ankleideraum der Königin
10411 Der Spiegel
11312 Jillie Djinn
12013 Die Navigatorendose
13014 Marcellus Pye
13615 Der Altweg
14516 Der leere Palast
15517 Palastgeister
16218 Der Drachenzwinger
17319 Die Rattenwürger
18120 Auf der Suche
18821 Reiterbergung
19422 Die Alfrun
20123 Geisterseher
20824 Das Enterkommando
21825 Das Ich, Marcellus
23126 Der Zaubererturm
24127 Hugo Tenderfoot
25228 Beschlagnahmt
26329 Lagerhaus Nummer Neun
27130 Heilige Schafe
28231 Dragos Schatz
29132 Der schwarze Teich
29733 Prinzessin Esmeralda
30834 Prinzessin Esmeraldas Tagebuch
31435 Ritter
32136 Broda Pye
33337 Das Bankett
34538 Das Sommerhaus
35939 Der UnterFluss
36840 Die Große Kammer der Alchimie und Heilkunst
37441 Die Phiole
38142 Der Fluss
38643 Die Große Tür der Zeit
39644 Der Suchzauber
40545 Die Medizintruhe
41746 Das Spital
42347 Palastratten
43348 Der Sendezauber
44349 Das Freudenfeuer
455 Was ihr vielleicht noch wissen wollt über …
Silas Heap und Gringe, der Hüter des Nordtors, befinden sich in einem finsteren und schmutzigen Winkel des Palastdachbodens. Sie stehen vor der kleinen Tür zu einem versiegelten Raum, die Silas Heap, von Beruf Gewöhnlicher Zauberer, mit Hilfe eines Zaubers öffnen möchte. »Sehen Sie, Gringe«, sagt er, »der Platz ist ideal. Von hier werden mir meine Figuren nie entwischen können. Ich kann sie einfach mit einem Zauber einschließen.«
Gringe hat Bedenken. Selbst er weiß, dass man von versiegelten Räumen auf Dachböden besser die Finger lässt. »Mir gefällt das nicht, Silas«, sagt er. »Ich habe so ein komisches Gefühl. Und überhaupt. Nur weil Sie hier oben durch Zufall eine neue Kolonie unter den Fußbodendielen entdeckt haben, heißt das doch nicht, dass sie auch hier bleiben.«
»Wenn sie eingesperrt sind, müssen sie hier bleiben, ob sie wollen oder nicht, Gringe«, erwidert Silas und umklammert die Kiste mit den kostbaren Figuren, die er neulich entdeckt und eingefangen hat. »Sie haben doch nur ein komisches Gefühl, weil es Ihnen nicht gelingen wird, die Figuren von hier wegzulocken.«
»Ich habe auch die letzten nicht weggelockt, Silas Heap. Sie sind aus freien Stücken gekommen. Ich hatte überhaupt nichts damit zu tun.«
Silas hört gar nicht hin. Er versucht, sich den Entriegelungszauber in Erinnerung zu rufen.
Gringe wippt ungeduldig mit dem Fuß. »Beeilung, Silas. Ich muss zu meinem Tor zurück. Lucy ist im Moment sehr sonderbar, deshalb will ich sie nicht lange allein lassen.«
Silas Heap schließt die Augen, damit er besser nachdenken kann. So leise, dass Gringe kein Wort verstehen kann, spricht er dreimal rückwärts den Schließzauber und am Schluss den Entriegelungszauber. Er öffnet die Augen. Nichts ist geschehen.
»Ich gehe«, knurrt Gringe. »Ich kann nicht den halben Tag hier vertrödeln. Es gibt auch noch Leute, die arbeiten müssen.«
Da ertönt ein lauter Knall, und die Tür zu dem versiegelten Raum springt auf. Silas jubelt. »Sehen Sie – ich weiß genau, was ich tue. Ich bin ein Zauberer, Gringe. Uff! Was war das?« Ein eisiger, muffiger Windstoß fegt an Silas und Gringe vorbei und raubt ihnen den Atem, sodass beide einen Hustenanfall bekommen.
»Das war vielleicht kalt.« Gringe schlottert und hat Gänsehaut auf beiden Armen. Silas antwortet nicht – er ist bereits in dem versiegelten Raum, der sich in seinen Augen bestens für die Aufbewahrung seiner Burgenschachfiguren eignet. Gringe zögert, aber seine Neugier ist stärker. Vorsichtig betritt er den Raum. Er ist klein, nicht viel größer als ein begehbarer Schrank. Bis auf das Licht von Silas’ Kerze ist es darin dunkel, denn das einzige Fenster ist zugemauert. Es ist nur eine leere Kammer mit schmutzigen Dielen und kahlen, rissigen Gipswänden. Doch ganz leer ist sie nicht, wie Gringe mit einem Mal bemerkt. Im Halbdunkel in der hintersten Ecke lehnt ein Gemälde an der Wand, das lebensgroße Ölbildnis einer Königin.
Silas betrachtet das Bild. Es ist das kunstvoll gemalte Porträt einer Burgkönigin aus längst vergangener Zeit. Dass es alt ist, erkennt man daran, dass die Königin noch die Wahre Krone trägt, jene Krone, die seit vielen Jahrhunderten verschollen ist. Die Königin hat eine scharfe, spitze Nase und trägt ihr Haar zu Zöpfen geflochten, die wie Schnecken über ihre Ohren gelegt sind. An ihrem Rock hängt ein Aie-Aie, ein hässliches kleines Geschöpf mit Rattengesicht, scharfen Klauen und einem langen schlangenartigen Schwanz. Mit seinen roten Knopfaugen starrt es Silas an, als hätte es nicht übel Lust, ihn mit seinem einzigen langen, nadelspitzen Zahn zu beißen. Auch die Königin schaut aus dem Gemälde heraus, aber ihre Miene ist hochmütig und verächtlich. Ihr Kopf sitzt auf einer gestärkten Halskrause, und ihre stechenden Augen funkeln im Schein der Kerze und scheinen ihm und Gringe überallhin zu folgen.
Gringe erschaudert. »Der möchte ich nicht allein in dunkler Nacht begegnen«, sagt er.
Silas findet, dass Gringe recht hat. Auch er wollte ihr nicht in dunkler Nacht begegnen, und seine kostbaren Figuren bestimmt auch nicht. »Sie muss hier raus«, sagt er. »Die macht mir sonst meine Figuren kopfscheu, noch bevor sie sich eingelebt haben.«
Was Silas nicht weiß: Sie ist bereits fort. Sowie er den Raum geöffnet hat, sind die Geister Königin Etheldreddas und ihrer Kreatur aus dem Bild gestiegen und, die spitzen Nasen in die Luft gereckt, an ihm und Gringe vorbei zur Tür hinausmarschiert. Die Königin und ihr Aie-Aie haben sie keines Blickes gewürdigt, denn sie haben Wichtigeres zu tun – und nach langem Warten endlich auch die Gelegenheit dazu.
Snorri Snorrelssen steuerte ihr Handelsboot – das nach ihrer Mutter, der es gehörte, Alfrun hieß – das ruhige Wasser des Flusses hinauf in Richtung Burg. Es war ein diesiger Herbstnachmittag, und Snorri war froh, dass sie die aufgewühlten Tidengewässer vor der Stadt Port hinter sich hatte. Der Wind war abgeflaut, blähte das große Segel des Bootes aber noch genug, sodass sie sicher um den Rabenstein herumsteuern und die Anlegestelle direkt hinter Sally Mullins Tee- und Bierstube anlaufen konnte.
Zwei junge Fischer, nicht viel älter als Snorri selbst, waren soeben von einem erfolgreichen Heringfang zurückgekehrt und fingen nur zu gern die schweren Hanftaue auf, die Snorri an Land warf. Darauf erpicht zu zeigen, was sie konnten, wickelten sie die Taue um zwei dicke Poller am Kai und machten die Alfrun fest. Und sie gaben Snorri allerlei ungebetene Ratschläge. Wie sie das Segel einholen oder wie sie die Leinen aufschießen sollte. Aber Snorri beachtete sie nicht, teils weil sie kaum verstand, was sie sagten, hauptsächlich aber weil sich Snorri Snorrelssen von niemandem sagen ließ, was sie zu tun hatte – von niemandem, nicht einmal von ihrer Mutter. Von ihrer Mutter schon gar nicht.
Snorri war groß für ihr Alter, schlank, drahtig und erstaunlich kräftig. Mit der Übung und Fertigkeit von jemandem, der zwei Wochen lang allein übers Meer gesegelt war, holte sie das große Segel nieder und rollte das schwere Tuch zusammen, dann legte sie die Leinen zu sauberen Ringen übereinander und zurrte die Ruderpinne fest. Da sie sich bewusst war, dass die Fischer sie beobachten, verschloss sie die Luke zum Laderaum, der gefüllt war mit schweren Ballen dickem Wollstoff, Säcken voller Einmachgewürze, großen Fässern Pökelfisch und einem Paar besonders schöner Rentierlederstiefel. Schließlich schob sie, wieder ohne die angebotene Hilfe anzunehmen, die Laufplanke ans Ufer und balancierte an Land. Ullr, ihre kleine rote Katze mit schwarzer Schwanzspitze, blieb an Bord zurück. Sie sollte übers Deck streifen und Ratten fernhalten.
Nach über zwei Wochen auf See hatte sich Snorri darauf gefreut, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Doch als sie nun über den Kai schritt, hatte sie das Gefühl, sie sei noch auf der Alfrun, denn der Boden schien unter ihr zu schwanken, wie es das alte Boot getan hatte. Die Fischer, die eigentlich längst zu Hause bei Muttern sein sollten, hockten auf einem Haufen leerer Hummerreusen. »N’ Abend, Miss«, grüßte einer laut.
Snorri würdigte ihn keines Blickes. Sie ging bis zum Ende des Kais und bog dann in einen ausgetretenen Pfad ab. Der Pfad führte zu einer nagelneuen großen Schwimmbrücke, auf der ein Café thronte. Es war ein sehr elegantes zweistöckiges Holzhaus mit langen, niedrigen Fenstern, die auf den Fluss hinausgingen. Mit dem warmen gelben Licht, dass von der Decke baumelnde Öllampen verströmten, sah das Café in der kühlen Luft dieses frühen Abends einladend aus. Als Snorri den Holzsteg überquerte, der zu dem Ponton führte, konnte sie es kaum fassen, dass sie endlich hier war – in Sally Mullins berühmter Tee- und Bierstube. Freudig erregt, aber auch sehr nervös, stieß sie die Flügeltür zum Café auf und stolperte beinahe über eine lange Reihe von Löscheimern, die mit Sand oder Wasser gefüllt waren.
Sally Mullins Café war stets vom Gemurmel angeregter Unterhaltungen erfüllt, doch in dem Augenblick, als Snorri über die Schwelle trat, verstummte das Stimmengewirr sofort, als hätte jemand mit der Peitsche geknallt. Wie ein Mann setzten die Gäste ihre Gläser ab und glotzten die junge Fremde an, denn sie trug die typische Kleidung der Hanse, der auch die Nordhändler angehörten. Snorri, die spürte, wie sie errötete, und sich maßlos darüber ärgerte, ging trotzig weiter zur Theke, fest entschlossen, ein Stück von Sallys Gerstenkuchen und einen Halbliterkrug Springo Spezial Ale zu bestellen, von denen sie schon so viel gehört hatte.
Sally Mullin, eine kleine, rundliche Frau mit Sommersprossen und Gerstenmehl auf den Wangen, kam eilfertig aus der Küche. Doch als sie die dunkelrote Nordhändlertracht und das typische Lederstirnband sah, verfinsterte sich ihre Miene. »Nordhändler werden hier nicht bedient«, knurrte sie.
Snorri blickte verwirrt. Sie war sich nicht sicher, ob sie Sally richtig verstanden hatte, obwohl sie spürte, dass sie hier nicht gerade willkommen war.
»Haben Sie das Schild an der Tür nicht gesehen?«, setzte Sally hinzu, als Snorri keine Anstalten machte zu gehen. »Nordhändler unerwünscht. Sie sind hier nicht willkommen, nicht in meinem Café.«
»Sie ist doch nur ein Mädchen!«, rief ein Gast. »Gib dem Mädchen eine Chance.«
Er erntete zustimmendes Gemurmel von anderen Gästen. Sally Mullin nahm Snorri genauer in Augenschein, und ihre Züge wurden milder. Es stimmte. Sie war nur ein Mädchen – höchstens sechzehn, dachte Sally. Sie hatte weißblonde Haare und klare, fast durchscheinende blaue Augen wie die meisten Händler, aber sie hatte nicht diese abgebrühte Miene, an die Sally mit Schaudern zurückdachte.
»Na ja …«, sagte Sally und lenkte ein. »Wie es aussieht, wird es gleich dunkel, und ich bin kein Unmensch, der ein junges Mädchen allein in die Nacht hinausjagt. Was wünschen Sie, Miss?«
»Ich … ich«, stammelte Snorri, während sie angestrengt versuchte, sich ihre Grammatik ins Gedächtnis zu rufen. Hieß es ich hätte gern oder ich würde gern? »Ich hätte gern ein Stück von Ihrem ausgezeichneten Gerstenkuchen und einen halben Liter Springo Spezial Ale, bitte.«
»Springo Spezial?«, rief jemand. »Das ist ein Mädchen ganz nach meinem Geschmack.«
»Sei still, Tom«, fuhr ihn Sally an, und an Snorri gewandt, sagte sie: »Besser, Sie probieren zuerst das normale Springo.« Sie zapfte das Bier in einen großen Tonkrug und schob es über den Tresen. Snorri kostete einen Schluck und verzog angewidert das Gesicht. Sally war davon nicht überrascht. Springo war gewöhnungsbedürftig, und die meisten jungen Leute fanden es scheußlich. Sogar sie selbst fand es an manchen Tagen ziemlich widerlich. Sie schenkte einen Becher Zitronenlimonade mit Honig ein und stellte ihn auf ein Tablett, zusammen mit einem großen Stück Gerstenkuchen. Das Mädchen sah so aus, als könnte es eine kräftige Mahlzeit gebrauchen. Snorri bezahlte mit einem ganzen Silberschilling und bekam von der überraschten Sally als Wechselgeld eine Handvoll Pennys zurück. Dann setzte sie sich an einen freien Tisch am Fenster und blickte auf den Fluss hinaus, über den sich die Dunkelheit senkte.
Die Gespräche im Café wurden wieder aufgenommen, und Snorri stieß einen erleichterten Seufzer aus. Allein in Sally Mullins Café zu gehen war das Schwierigste, was sie in ihrem ganzen Leben getan hatte. Schwieriger noch, als zum ersten Mal ohne fremde Hilfe mit der Alfrun in See zu stechen, schwieriger noch, als mit dem Geld, das sie jahrelang gespart hatte, all die Handelswaren zu kaufen, die sich jetzt im Laderaum der Alfrun stapelten, schwieriger noch, als über das große Nordmeer zu segeln, das die Heimat der Nordhändler von dem Land trennte, in dem Sally Mullin ihre Tee- und Bierstube betrieb. Aber sie hatte es geschafft. Sie trat in die Fußstapfen ihres Vaters, und niemand konnte sie aufhalten. Nicht einmal ihre Mutter.
Später am Abend kehrte Snorri auf die Alfrun zurück. Sie wurde von Ullr in seiner Nachtgestalt empfangen. Der Kater begrüßte seine Herrin mit einem langen, tiefen Knurren und folgte ihr übers Deck. Snorri, die so viel Gerstenkuchen verdrückt hatte, dass sie sich kaum noch rühren konnte, setzte sich auf ihren Lieblingsplatz im Bug und streichelte NachtUllr, einen schlanken, mächtigen Panther, schwarz wie die Nacht, mit meergrünen Augen und roter Schwanzspitze.
Sie war zu aufgeregt zum Schlafen. Sie saß da, den Arm schlaff auf Ullrs warmem, seidig weichem Fell, und blickte über den breiten Fluss zum anderen Ufer, wo die Ackerlande begannen. Später in der Nacht, als es kalt wurde, wickelte sie sich in eine Musterbahn des dicken Wollstoffs, den sie auf dem in zwei Wochen beginnenden Händlermarkt zu verkaufen gedachte – und zwar zu einem guten Preis. Auf ihrem Schoß lag ein Stadtplan der Burg, der zeigte, wie man zum Marktplatz kam. Auf der Rückseite des Plans war genau erklärt, wie man eine Genehmigung für einen Stand erhielt und welche Vorschriften für den Kauf und Verkauf galten. Snorri entzündete die Öllampe, die sie aus ihrer kleinen Kajüte unter Deck geholt hatte, und setzte sich hin, um die Vorschriften zu lesen. Der Wind war inzwischen abgeflaut, und der leichte Nieselregen vom frühen Abend hatte aufgehört. Die Luft war frisch und klar, und Snorri sog tief die Gerüche des Landes ein. Sie waren ihr noch fremd und so ganz anders als die, die sie gewohnt war.
Im Lauf des Abends kamen immer wieder kleine Gruppen von Gästen aus Sallys Café, bis sie kurz vor Mitternacht sah, dass Sally die Öllampen löschte und die Tür verriegelte. Sie lächelte glücklich. Jetzt hatte sie den Fluss ganz für sich allein. Nur sie, Ullr und die Alfrun, allein in der Nacht. Während das Boot in der zurückgehenden Flut sanft schaukelte, merkte sie, wie ihr die Augen zufielen. Sie legte die Liste mit den zugelassenen Gewichten und Maßen weg, wickelte sich noch fester in die Wolldecke und blickte ein allerletztes Mal auf den Fluss hinaus, bevor sie in ihre Kajüte hinabsteigen wollte. Und da sah sie es.
Ein längliches Boot tauchte hinter dem Rabenstein auf. Es war hell und von einem grünlichen Licht umhüllt. Snorri verharrte ganz still und beobachtete, wie es langsam und geräuschlos in der Mitte des Flusses durchs Wasser glitt und der Alfrun immer näher kam. Bald gewahrte sie, dass es im Mondlicht schimmerte, und ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken, denn Snorri Snorrelssen, die Geisterseherin, wusste genau, was sie sah – ein Geisterschiff. Sie pfiff leise durch die Zähne, denn ein solches Boot hatte noch nie ihren Weg gekreuzt. Gewöhnlich sah sie nur Wracks alter Fischerkähne mit ertrunkenen Skippern am Steuer, die auf der Suche nach einem sicheren Hafen ewig umherirrten. Nur gelegentlich begegnete ihr der Geist eines Langschiffs, das sich nach blutiger Schlacht heimwärts schleppte, und einmal war ihr das Geistergroßschiff eines reichen Kaufmanns entgegengekommen, mit einem klaffenden Loch an der Seite, aus dem kostbare Fracht quoll, aber eine königliche Barke, noch dazu mit dem Geist ihrer Königin an Bord, hatte sie noch nie gesehen.
Snorri stand auf, zückte das Geistermonokel, das ihr eine weise Frau im Eispalast geschenkt hatte, und richtete es auf die Erscheinung, die, angetrieben von acht Geisterrudern, lautlos vorüberglitt. Die Barke war mit Flaggen geschmückt, und der Wind, in dem sie flatterten, war schon längst abgeflaut. Sie war mit verschlungenen Mustern in Gold und Silber bemalt und mit einem prächtigen roten Baldachin bedeckt, der zwischen reich verzierte goldene Pfosten gespannt war. Unter dem Baldachin saß aufrecht eine hohe Gestalt. Ihre Augen blickten stur geradeaus, und ihr spitzes Kinn ruhte auf einer hohen, gestärkten Halskrause. Sie trug eine schlichte Krone und eine Frisur, die ohne Frage altmodisch war: zwei geflochtene Zöpfe, die wie Schnecken über ihre Ohren gelegt waren. Neben ihr hockte ein kleines, nahezu haarloses Geschöpf, das Snorri zunächst für einen besonders hässlichen Hund hielt, bis sie den langen, schlangenähnlichen Schwanz bemerkte, den es um einen der goldenen Pfosten gewickelt hatte. Das Geisterboot glitt vorüber, und Snorri zitterte, als ein Kälteschauer durch ihren Körper lief – denn von den Insassen des Bootes ging etwas anderes, etwas Körperliches aus.
Sie steckte das Monokel weg und kletterte durch die Luke in ihre Kajüte hinab, während Ullr an Deck blieb und Wache hielt. Sie hängte die Lampe an einen Haken an der Decke, und das weiche gelbe Licht sorgte für wohlige Behaglichkeit. Die Kajüte war klein, denn auf einem Handelsboot beanspruchte der Frachtraum den meisten Platz, aber Snorri liebte sie. Ihr Vater Olaf hatte sie mit süß riechendem Apfelholz ausgekleidet, das er einst als Geschenk für ihre Mutter mit nach Hause gebracht hatte, und schön eingerichtet, denn er war ein geschickter Tischler gewesen. Auf der Steuerbordseite hatte er eine Koje eingebaut, die man zusammenklappen und tagsüber als Sitzbank nutzen konnte. Unter der Koje befanden sich saubere Schränke, in denen Snorri allerlei Krimskrams verstaute, und darüber waren breite Regale angebracht, in denen sie ihre Kartenrollen aufbewahrte. Auf der Backbordseite reihten sich ein herunterklappbarer Tisch, eine Kommode aus Apfelholz und ein kleiner Kanonenofen, dessen Ofenrohr in der Kajütendecke verschwand. Snorri öffnete die Ofenklappe, und der matte rote Schein einer verlöschenden Glut fiel heraus.
Schläfrig kletterte sie in ihre Koje und schlüpfte unter die Decke aus Rentierfell. Sie lächelte zufrieden. Es war ein guter Tag gewesen – bis auf den Anblick des Geisterbootes. Es gab nur einen Geist, den Snorri sehen wollte, und das war der Geist Olaf Snorrelssens.
Am nächsten Morgen stand Snorri in aller Herrgottsfrühe auf, und Ullr, der sich wieder in eine magere rote Katze mit schwarzer Schwanzspitze, seine Taggestalt, verwandelt hatte, verspeiste gerade eine Maus. Snorri hatte die gespenstische Königsbarke völlig vergessen, und als sie ihr beim Frühstück, das aus Salzhering und dunklem Roggenbrot bestand, wieder einfiel, kam sie zu dem Schluss, dass sie das Ganze geträumt haben musste.
Snorri zog den Sack mit den Mustern aus dem Laderaum, wuchtete ihn auf ihre Schultern und marschierte, aufgeregt und guter Dinge, die Laufplanke hinunter in die helle Morgensonne. Ihr gefiel dieses fremde Land, in das sie gekommen war. Sie mochte das grüne Wasser des träge fließenden Flusses und den Geruch nach Herbstlaub und Holzrauch, der in der Luft lag, und sie war beeindruckt von der mächtigen Burgmauer, die vor ihr in den Himmel ragte. Dahinter gab es eine ganz neue Welt zu entdecken. Sie erklomm den steilen Pfad, der zum Südtor führte, und sog tief die Luft ein. Es war kühl, aber längst nicht so frostig wie zu Hause, wo ihre Mutter in diesem Augenblick wahrscheinlich in ihrem dunklen kleinen Holzhaus am Kai aufwachte. Sie schüttelte den Kopf, um den Gedanken an ihre Mutter zu verscheuchen, und folgte dem Pfad zur Burg.
Als sie das Südtor durchschritt, sah sie einen alten Bettler am Boden kauern. Ihr Volk glaubte, dass es Glück brachte, wenn man dem ersten Bettler, dem man in der Fremde begegnete, etwas gab, und so fischte sie einen Groschen aus der Tasche und drückte ihm das Geldstück in die Hand. Zu spät erkannte sie, dass der Bettler ein Geist war, denn ihre Hand ging durch seine hindurch. Der Geist blickte bei ihrer Berührung verdutzt, und erbost darüber, dass er passiert worden war, stand er auf und schwebte davon. Snorri blieb stehen und setzte ihren schweren Sack auf dem Boden ab. Sie schaute sich um, und ihre gute Laune erhielt einen Dämpfer. In der Burg wimmelte es von Geistern aller Art, und als Geisterseherin musste sie wohl oder übel alle sehen – ob die Geister ihr erscheinen wollten oder nicht. Wie sollte sie in diesem Gewimmel ihren Vater finden? Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre wieder nach Hause gesegelt, aber dann sagte sie sich, dass sie auch hierhergekommen war, um Handel zu treiben, und als Tochter eines namhaften Kaufmanns würde sie das auch tun.
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