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Die junge Todi steht vor einem aufregenden Ereignis: Mit 12 Jahren wird sie endlich von ihrem Vater in die Rituale der FährtenFinder eingeweiht. Kurz darauf ist Todis Vater spurlos verschwunden. Gemeinsam mit ihrem Freund Oskar begibt sich Todi zum Zaubererturm, weil sie sich Hilfe vom Außergewöhnlichen Zauberer erhofft. Dieser ist niemand anderes als Septimus Heap. Und er hat es gerade mit einem mächtigen Feind zu tun: dem Hexer Oraton-Marr, der den Palast der Schneeprinzessin in seine Gewalt gebracht hat. Im Palast aber ist der magische Lapislazuli versteckt, und der darf auf keinen Fall in die falschen Hände geraten … Das erste Abenteuer der neuen Fantasy-Reihe von Angie Sage.
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Seitenzahl: 428
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Angie Sage
TODHUNTER MOON
FÄHRTENFINDER
Aus dem Englischen von Reiner Pfleiderer
Mit Illustrationen von Mark Zug
Carl Hanser Verlag
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel TodHunter Moon, Book One: PathFinder bei Katherine Tegen Books, New York (Imprint von HarperCollins Publishers New York).
Published by arrangement with HarperCollins Children’s Books, a division of HarperCollins Publishers, Inc.
ISBN 978-3-446-25597-5
© Angie Sage 2014 für den Text
© Mark Zug 2014 für die Illustrationen
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München 2017
Umschlagillustration: © Mark Zug
Umschlaggestaltung nach dem amerikanischen Original © Joel Tippie
Satz: Greiner & Reichel, Köln
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Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
Für Tom Wishart, in Liebe.
Marwicks Karte der Alten Wege
Inhalt
TEIL 1
Am Strand
Das Drachenboot
Entdeckt
TEIL 2
Das Foryx-Haus
Doppelgänger
Abgang
Taxi
Warten
TEIL 3
Ein Sturm zieht auf 45
In den Dünen
Ein Wettlauf
Die Garmins
Verschwunden
Tageslicht
Die Schatulle
Pläne
Erinnerungen
TEIL 4
Die Flotte Lotte
Der Limonadenstand
Der Affe
Die Gefangene
Im Kettenkasten
Entwischt
Die Verfolgungsjagd
TEIL 5
Die Abenteurer
Am Ziegenfels
Briefe
Abschied
TEIL 6
Zur Burg
Der Palast
Der Zaubererturm
Erwacht
Dandra Draa
Marcia Overstrand
In der Turmspitze
Turmbesichtigung
Die Losung
TEIL 7
Böswilliges Eindringen
Der Kokon
Der Grula-Grula
Schneekugel
Schneeprinzessin Driffa, die Allererhabenste und Allergütigste
Nona
TEIL 8
Oskar und Ferdie
Diebe in der Nacht
Im Fernwald
Die Fernwald-Festung
Myladys Gemach
Madam
Befehle
TEIL 9
Der Außenpfad
William
Schlaflos
Die Rattenzentrale
Nachricht empfangen
Morris
Florence
TEIL 10
Wieder vereint
Der Kronrat
Ullr
Auf eigene Faust
TEIL 11
Auf verschlungenen Wegen
Das Herz der Wege
Ermintrude
Hinter Gittern
Eis und Schutt
Torr
Lucy
Die Eisschmelze
Die Tauchprobe
Kiemen
TEIL 12
Lapislazuli
Das Orm-Nest
Die Ex-Außergewöhnliche
Ein Dunkelpfeil
Der Schneepalast
Der Fünferzauber
Heimkehr
TEIL 1
In der Ferne schlug eine Glocke. Dan Moon stand an einem uralten Strand und beobachtete, wie sich eine Reihe flackernder Lichter, die mal verschwand, mal wieder auftauchte, durch die Dünen in seine Richtung schlängelte. Es war drei Uhr morgens am Mittsommertag, und er befand sich mit einer Laterne in der Hand inmitten eines Kreises aus Teppichen im Sand und sah zu, wie die Lichter näher kamen. Er fror an den nackten Füßen, und obwohl er einen dicken schwarzen Umhang trug, zitterte er in der nächtlichen Kühle.
Dann tauchte das erste Licht aus den Dünen auf, eine flackernde Kerze in einer Glaslaterne. Getragen wurde sie von einer Gestalt in einem dunklen Mantel, der in kurzen Abständen andere folgten. Sie kamen langsam durch den Sand auf die Stelle zu, die sie Mittsommerkreis nannten. Wortlos setzte sich eine nach der anderen auf die Teppiche, sodass sie einen Kreis um Dan bildeten.
Doch die Gestalten in den dunklen Mänteln waren nicht die Einzigen, die an den Strand kamen. Im Schatten der Dünen hastete eine Frau von gedrungener Statur einen Pfad entlang, den sie tags zuvor abgesteckt hatte. Die Frau, sie hieß Mitza Draddenmora Draa, hatte sich verspätet. Eigentlich hatte sie vor dem Eintreffen der anderen in ihrem Versteck sein wollen, doch sie war aufgehalten worden. Sie hatte Dan Moon dabei helfen müssen, einen Haufen mottenzerfressener Teppiche unter ihrem Bett im Gästezimmer hervorzuziehen. Und was noch schlimmer war: Sie hatte dabei lächeln und den guten Hausgast spielen müssen, um keinen Verdacht zu erregen. Daher war ihre Laune jetzt nicht die beste. Sie konnte es nicht leiden, zu spät zu kommen, sie konnte Sand nicht leiden, sie konnte Zufußgehen nicht leiden, und am wenigsten konnte sie diese »verflixten Gören« leiden. Aber sie hoffte, dass sich die Mühe lohnen würde.
Von Kopf bis Fuß voll Sand, nachdem sie gestolpert und eine Düne hinuntergepurzelt war, fand Mitza ihr Versteck hinter einem kleinen Sandhügel. Sie hoffte, dass sie nahe genug dran war, um zu hören, was im Mittsommerkreis gesprochen werden würde, aber auch weit genug entfernt, um wieder unbemerkt verschwinden zu können. Sie kauerte sich zwischen das piksende Dünengras und versuchte, nicht an Sandschlangen zu denken.
Dan Moon, dunkelhaarig und dünn wie eine Bohnenstange, spielte mit dem Lapislazuli-Anhänger, den er an einer Kordel um den Hals trug. Er hatte den Mittsommerkreis schon häufiger abgehalten, als er sich erinnern konnte, aber heute Nacht war er nervös – zum ersten Mal durfte sein einziges Kind, Alice TodHunter Moon, daran teilnehmen, denn sie war zwölf Jahre alt geworden und galt nun als volljährig. Alice, die lieber Todi genannt werden wollte, saß zu seinen Füßen und sah ihn unverwandt an. Ihre dunklen Augen funkelten vor Aufregung, und zwischen den Fingern drehte sie den langen dünnen Zopf – die traditionelle FährtenFinder-Elflocke –, der aus ihrem kurzen dunkeln Haarschopf herabbaumelte. Fast hätte sie auch am Zopfende gekaut, beherrschte sich aber im letzten Moment.
Dan sah zu, wie der letzte Nachzügler Platz nahm, dann zählte er durch. Alle zwischen zwölf und fünfzehn Jahren aus dem Dorf waren anwesend. Gut. Er blickte auf seine Uhr. Es war ihm wichtig, dass der Zeitplan auf die Sekunde genau eingehalten wurde. Sein Vater hatte darauf keinen Wert gelegt, aber er selbst liebte diesen verzaubernden Effekt, der sich einstellte, wenn zeitlich alles perfekt abgestimmt war. Davon bekam er immer noch Gänsehaut. Er blickte in die ernsten Gesichter seiner Zuhörer, die im Schneidersitz um ihn herumsaßen, eingehüllt in ihre dunklen Mäntel. Die Jüngeren hatten die Kapuzen aufgesetzt, um sich vor dem kalten, ablandigen Wind zu schützen. Doch die älteren waren dafür zu stolz und setzten sich ihm trotzig aus, sodass ihre Gesichter und Haare in dem typischen FährtenFinder-Glanz erstrahlten, der nur im Dunkeln zu sehen war.
Dan hielt die Laterne hoch und betrachtete den Kreis aus flackernden Lichtern. Stille war eingekehrt und mit ihr gespannte Erwartung. Die Nacht begann vielversprechend, dachte Dan. Und es herrschte genau die richtige Stimmung. Er freute sich für Todi – man erinnerte sich sein Leben lang an seinen ersten Mittsommerkreis. Erneut warf er einen Blick auf die Uhr. Dann holte er tief Luft und begann zu sprechen, langsam und laut genug, sodass ihn alle hören konnten – auch Mitza Draddenmora Draa.
»Guten Morgen, FährtenFinder. Und unseren Neulingen ein herzliches Willkommen.« Er lächelte auf Todi und die beiden anderen Zwölfjährigen hinab, die auf dem für erstmalige Teilnehmer reservierten Platz saßen. Todi lächelte schüchtern zurück. Es war ein komisches Gefühl, ihren Vater in einer neuen Rolle zu sehen – nicht als Fischer, sondern als jemanden, zu dem alle buchstäblich aufschauten.
Dan fuhr fort: »Jedes Jahr versammeln wir uns in den frühen Morgenstunden des Mittsommertags, um mehr über unsere Geschichte und die Geheimnisse zu erfahren, die uns FährtenFinder zu dem gemacht haben, was wir sind. Und auch um besser zu verstehen, warum wir etwas anders sind als andere. All diese Dinge bleiben unser Geheimnis, und wenn wir diesen Kreis verlassen, sprechen wir mit niemandem darüber. Hat das jeder verstanden?« Dan drehte sich einmal um die eigene Achse, sah einen nach dem anderen an und erhielt von jedem ein feierliches »Verstanden« als Antwort. Dann richtete er den Blick auf die drei, die zu seinen Füßen saßen. »Zunächst werde ich unseren Neulingen das Gelöbnis abnehmen, unsere Geheimnisse vor allen zu hüten, die keine FährtenFinder sind, aber auch, was noch wichtiger ist, vor allen FährtenFindern, die noch nicht volljährig sind und deshalb an unserem Mittsommerkreis nicht teilnehmen dürfen. Ihr habt vielleicht Geschwister und enge Freunde, die nur ein wenig jünger sind, und denkt euch womöglich, dass es nichts ausmacht, wenn ihr ihnen davon erzählt. Doch es macht sehr wohl etwas aus.«
Todi errötete. Sie wusste, dass Dan an ihre besten Freunde, die Zwillinge Oskar und Ferdie Sarn, dachte. Aber natürlich würde sie niemals ein Gelübde brechen, das sie hier im Kreis abgelegt hatte.
Dan forderte nacheinander jeden Neuling auf, das Gelöbnis zu sprechen. Todi war die Letzte und ziemlich nervös, als sie an die Reihe kam. »Alice TodHunter Moon«, sagte Dan mit einer Stimme, die überhaupt nicht nach ihrem Dad klang, »gelobst du hoch und heilig, die Geheimnisse unseres FährtenFinderkreises zu wahren? Für alle Zeiten und unter allen Umständen?«
Todi antwortete, so laut sie konnte: »Ich gelobe, die Geheimnisse des Kreises zu wahren.«
Dan schmunzelte. »Gut gesprochen, ihr drei.« Dann wandte er sich an die Übrigen. »Heißen wir unseren neuen Bruder und unsere neuen Schwestern willkommen.«
»Herzlich willkommen im Mittsommerkreis«, erklang die Antwort.
Todi lächelte. Jetzt gehörte sie dazu. Das war ein gutes Gefühl.
Dan atmete auf. Der ernste Teil des Abends war beendet, jetzt konnte er das tun, was er am liebsten tat – eine Geschichte erzählen. Langsamen Schrittes im Kreis umhergehend, begann er, mit seiner tiefen, klangvollen Stimme zu sprechen. Todi lauschte gebannt.
»In den Tagen der Vorzeit, jenen fernen Tagen der Vergangenheit, reisten unsere Vorfahren zu den Sternen. Hier auf der Erde waren sie hochbefähigte Wegkundige, die auf den Alten Wegen, wie man sie nannte, reisten. Dafür wurden sie verehrt und FährtenFinder genannt. Wir wissen heute nicht mehr, was oder wo diese Alten Wege waren, aber wir wissen, dass unsere Vorfahren wegen ihrer Fähigkeiten als FährtenFinder dazu auserwählt wurden, diesen schönen Planeten zu verlassen und Wege zu den Sternen zu suchen. Sie taten es gern und stiegen in einen großen geschlossenen Metallbehälter, ein Raumschiff namens FährtenFinder, das sie, wie sie wussten, nie wieder verlassen würden. Eine Explosion katapultierte sie von unserem Planeten in den Himmel und brachte sie, am Mond vorbei, auf den Weg zu den Sternen.«
Todi schnappte nach Luft und tauschte erstaunte Blicke mit den anderen Neulingen aus. Sie konnte kaum glauben, dass ein großer Erzähler wie Dan es geschafft hatte, diese Geschichte, die erstaunlichste, die sie je gehört hatte, für sich zu behalten. Sie spähte zu den Sternen hinauf und versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, in eine riesige Metallröhre zu steigen und dabei zu wissen, dass man den Himmel oder das Meer nie wiedersehen würde. Todi bohrte ihre nackten Füße in den kalten Sand, als wollte sie sich vergewissern, dass sie noch fest auf der Erde saß, und lauschte der beruhigenden Stimme ihres Vaters, der mit der Geschichte fortfuhr.
»Diese Menschen waren anders als diejenigen, die sie zurückließen. Denn damit die FährtenFinder-Kapsel schnell genug reisen konnte, um zu den Sternen zu gelangen, musste ihre Besatzung zunächst in einer Flüssigkeit leben, die sie vor den gewaltigen Beschleunigungskräften schützte. Daher rührt unsere wunderbare Zeichensprache, denn in einer Flüssigkeit kann man nicht sprechen. Und auch das Atmen ist nicht möglich. Deshalb hatten sie hier …« – Dan tippte sich links und rechts an den Nasenrücken – »… solche Dinger, wie sie Fische haben. Kiemen. Dies war eine gezielte Entwicklung in der Natur des Menschen, die an die nächste Generation weitervererbt wurde. Aus diesem Grund haben einige von uns noch heute, viele Tausend Jahre später, solche Kiemen.«
Todi sah ihren Vater verwundert an – so viele Geheimnisse! Sie versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, in Wasser unterzutauchen und dann zu atmen. Wie würde sich der erste Atemzug anfühlen? Müsste sie nicht würgen, selbst wenn sie Kiemen hätte? Hätte sie nicht das Gefühl zu ertrinken? Sie würde es wohl nie erfahren. Da ihre Mutter keine FährtenFinderin gewesen war, hatte auch sie selbst höchstwahrscheinlich keine Kiemen. Trotzdem konnte Todi nur mit Mühe ein Schaudern unterdrücken. Wie vielen Kindern von Fischern graute ihr vor dem Ertrinken.
Dan Moon wandte sich wieder direkt an die Neulinge. »Das ist ein gefährliches Geheimnis, das wir vor den Jüngeren bewahren, zu ihrer eigenen Sicherheit. Und als Mitglieder des Kreises werdet auch ihr dieses Geheimnis für euch behalten.«
Todi und ihren beiden Kameraden nickten feierlich.
»Ich weiß«, fuhr Dan fort, indem er wieder in die Runde blickte, »dass einige von euch gern herausfinden würden, ob sie solche Kiemen haben. Und ich will gar nicht erst versuchen, es euch auszureden, denn das würde ohnehin nichts nützen. Aber ich kann euch sagen, dass es nur eine Möglichkeit gibt zu überprüfen, ob ihr Kiemen habt …« Hier machte er eine Pause, und zwar nicht nur, um die Spannung zu erhöhen, sondern auch, um sicherzustellen, dass seine Erklärung in ihrem Gedächtnis haften blieb. »… Ihr müsst dazu bereit sein zu ertrinken!«
Die Neulinge stöhnten auf. Gut so.
Langsam kam Dan in Fahrt. »Und ich will euch auch sagen, warum ihr dazu bereit sein müsst zu ertrinken: Weil Menschenkiemen erst zu arbeiten beginnen, wenn man unter Wasser einen tiefen Atemzug durch die Nase nimmt. Aber wenn ihr das tut und ihr habt keine Kiemen, gibt es kein Zurück. Ihr werdet ertrinken. Und die Wahrscheinlichkeit, dass ihr ertrinkt, ist sehr groß. Wir glauben nämlich, dass heute nur jeder zehnte von uns Kiemen besitzt.«
Er blickte wieder in die Runde. Und schmunzelte. Wie üblich atmeten die Neuen unauffällig durch die Nase ein und testeten, ob sie etwas spürten. »Und bevor ihr mich fragt: Nein, ich weiß nicht, ob ich Menschenkiemen habe. Und ich will es auch gar nicht wissen.«
Dan schielte kurz auf die Uhr. Er muss einen Zahn zulegen. »Unsere Vorfahren fanden die verborgenen Wege zu den Sternen. Über Generationen hinweg reisten sie durch ferne Galaxien und suchten nach Welten wie unserer eigenen. Sie tanzten mit Monden und flogen mit Kometen. Sie besuchten zahllose Planeten. Auf einem fanden sie eine alte, erloschene Zivilisation, auf einem anderen Anzeichen intelligenten Lebens, aber auf keinem fanden sie Lebewesen wie uns.«
Dan ließ den Blick über die Zuhörer wandern, die gespannt an seinen Lippen hingen. »Schließlich neigte sich die Expedition dem Ende zu, und die FährtenFinder kehrte nach Hause zurück. Sie landete genau an der Stelle, an der sie losgeflogen war und die heute durch die FährtenFinderglocke markiert ist.« Er hielt inne, und auf das Stichwort genau wehte der Klang der Glocke über die Dünen herüber. Todi überlief ein Schauer.
Dan wartete, bis der letzten Glockenschlag verklungen war, ehe er fortfuhr: »Als die Besatzung ausstieg, fand sie nur windumtoste Dünen vor und eine feindselige Menge vom Handelsposten, die gesehen hatte, wie ein Feuerball vom Himmel fiel, und gekommen war, um der Sache auf den Grund zu gehen. An Bord des Raumschiffes waren nur wenige Hundert Jahre vergangen, auf der Erde dagegen Tausende – die FährtenFinder und ihre Besatzung waren in Vergessenheit geraten. Die Leute vom Handelsposten hielten sie für seltsame, fremde Wesen und sperrten sie in eine Festung im Fernwald.« Dan deutete mit der Hand zu dem Wald hinüber, der hinter dem Dorf begann. »Das ist der Grund, warum wir uns nie tief in den Fernwald hineinwagen. Für FährtenFinder ist es nicht ratsam, sich dort aufzuhalten.«
Er blickte in die Runde. »Nach vielen langen Jahren verloren die Kerkermeister des Handelspostens das Interesse an unseren Leuten und ließen sie endlich frei. Die FährtenFinder kehrten hierher zurück, errichteten unser Dorf und lebten in Frieden. Aber das alte Misstrauen zwischen uns und den anderen ist bis zum heutigen Tag geblieben. Sie sind uns feindselig gesinnt, geraten leicht in Zorn, und weder im Handelsposten noch im Außenposten kann sich ein FährtenFinder sicher fühlen. Aber nun genug davon!«
Dan lockerte die gedrückte Stimmung mit einem plötzlichen Lächeln auf.
»Es wird Zeit für eine andere Geschichte. Die FährtenFinder haben aus den fantastischen Welten, die sie gesehen haben, viele Geschichten mitgebracht. Bei jedem Mittsommerkreis erzähle ich eine neue und bediene mich dabei unserer Zeichensprache, die sie uns, ihren Kindeskindern, vererbt haben. Und heute Nacht, Brüder und Schwestern, will ich euch vom Planeten der Riesenbäume erzählen.«
Er legte die Spitze seines linken Zeigefingers auf die Spitze seines linken Daumens, sodass ein »O« entstand: das FährtenFinderzeichen für okay, wenn es als Frage gemeint war. Als Antwort machten alle im Kreis dasselbe Zeichen mit der rechten Hand, was okay im Sinne von »einverstanden« oder »alles in Ordnung« bedeutete. Und so begann Dan Moon.
Todi saß wie gebannt da, während ihr Vater mit flüssigen Handbewegungen den Faden seiner Geschichte spann, auf seinen langen Beinen im Kreis tänzelte und sie mit zu den Sternen nahm. Sie hätte sich gewünscht, dass die Geschichte ewig weiterginge, doch als das flinke Spiel seiner Hände und seiner feingliedrigen Finger an Tempo verlor, da wusste sie, dass er zum Ende kam.
Dan begann wieder zu sprechen, langsam und leise. »Und so sind wir FährtenFinder in das Große Dahinter gereist. Wir haben viele Welten gesehen, aber wir haben keine entdeckt, die so schön ist wie unsere. Wir haben viele Sonnen gesehen, aber keine, die so vollkommen ist wie …« Dan drehte sich um und deutete auf die See hinaus. Auf die Sekunde genau tauchte am Horizont eine schmale orangerote Sichel aus dem Meer auf. »Wie diese! Dies ist unsere Sonne! Dies ist unsere Erde! Hier gehören wir hin.«
Ein Schauer überlief alle Mitglieder des Mittsommerkreises. Dan Moon grinste. Er hatte es geschafft.
In dem wohligen Gefühl, etwas Besonderes zu sein und hierherzugehören, sah der Kreis ehrfürchtig zu, wie der glühende Lichtball aus dem Wasser emporstieg, wie sich der Himmel erhellte und der Morgenstern verblasste. Wie Dan Moon es gesagt hatte, es war vollkommen.
Da bemerkte Todi einen goldenen Lichtblitz am Himmel. Sie hob den Blick und beschirmte die Augen mit der Hand. Da kam noch ein Blitz, ein grüner diesmal, und ihr Herz tat einen Sprung. Dasselbe hatte sie schon einmal gesehen. Vor langer Zeit. Seit vielen Jahren träumte sie davon. Aber niemand, nicht einmal ihr Vater, hatte ihr geglaubt, dass sie es wirklich gesehen hatte.
»Das Drachenboot!«, rief Todi und sprang auf. »Das Drachenboot!« Alle sahen sie missbilligend an, besonders Dan. So benahm man sich nicht im Kreis. Aber nun spähten auch die anderen zum Himmel, und einige standen sogar auf, um besser sehen zu können. Der Mittsommerkreis war aufgehoben.
Das grünlich golden leuchtende Ding kam näher, und nun erkannten auch die anderen, was es war – ein wunderschöner grüner Drache, der gleichzeitig ein goldenes Boot war. Oder war es ein wunderschönes goldenes Boot, das gleichzeitig ein grüner Drache war?
Das Drachenboot kam stetig näher. Seine riesigen Flügel hoben und senkten sich, hoben und senkten sich, und bald war es so nah, dass jeder den nach vorn gereckten Hals des Drachen erkennen konnte, die in der Sonne schillernden Schuppen und den bogenförmig gekrümmten Schwanz mit dem glänzenden goldenen Stachel an der Spitze. Und dann war der schlanke Rumpf über ihnen. Alle winkten ausgelassen – und die beiden Gestalten am Ruder, die eine in Lila, die andere rot gekleidet, winkten zurück.
Dan Moon begriff, dass ihm die Schau gestohlen worden war, aber das machte ihm nichts aus. Der herrliche Anblick begeisterte ihn ebenso wie alle anderen. Er nahm seine Tochter in die Arme, hob sie in die Höhe und sagte: »Na, so was, Alice TodHunter Moon, du hast das Drachenboot ja wirklich gesehen.«
»Lass mich runter, Dad«, murmelte Todi verlegen. »Die gucken alle schon.«
Der Lenker des Drachenboots – ein junger Mann mit strohblonden Locken und grünen Augen, die so strahlten, dass man meinen könnte, sie würden im Dunkeln leuchten – spähte auf den Strand hinab. Er war das erste Land, das sie sichteten, seit sie von ihrer Insel losgeflogen waren.
»He, Jen«, rief er und deutete nach unten. »Da ist wieder dieser Lichtkreis. Vermutlich ist das auch irgend so ein Mittsommerbrauch.«
Jenna Heap, eine junge Frau in einem eleganten, mit weißem Pelz gefütterten roten Mantel und mit langem dunklem Haar, das von einem goldenen Diadem zusammenhalten wurde, schaute über den Rand des Drachenboots. »Sie haben uns gesehen«, sagte sie und erwiderte das aufgeregte Winken der Gruppe am Boden. »Es ist schon hell. Wir müssen später dran sein als sonst.«
Der junge Mann, bei dem es sich um Septimus Heap, Jennas Adoptivbruder, handelte, grinste. »Ich meine mich zu erinnern, dass jemand ein großes Trara darum gemacht hat, ob wir auch genug zu essen dabeihaben.« Er deutete auf zwei große Picknickkörbe, die an Deck festgezurrt waren. »Obwohl wir genug eingepackt haben, um das gesamte Foryx-Haus zu verköstigen.«
Jenna hätte ihm am liebsten die Zunge herausgestreckt, verbot es sich aber. Sie war jetzt einundzwanzig. Und sie war die Burgkönigin. Da gehörte sich so etwas nicht. Und jetzt schon gar nicht mehr, wo Septimus der Außergewöhnliche Zauberer der Burg war, woran Jenna nicht zuletzt sein lilafarbener, mit blauem Pelz gefütterter Mantel und der Gürtel aus Platin und Gold erinnerten. Obwohl sie – und auch er selbst – es noch immer nicht ganz glauben konnte.
Wie die Menschen unten am Strand war Jenna gerade dabei, einen alten Mittsommerbrauch zu pflegen. Viele Tausend Jahre lang hatten die Burgköniginnen an jedem Mittsommertag das Drachenboot in seinem unterirdischen Tempel besucht, in dem es der allererste Außergewöhnliche Zauberer Hotep-Ra versteckt hatte. Doch die Zeiten änderten sich, und als Jenna elf Jahr geworden war, hatten sie und Septimus das Drachenboot in die Burg zurückgebracht. Und nun, da Jenna selbst Königin war und Septimus die Möglichkeit hatte, Hotep-Ra jederzeit zu besuchen, flogen sie das Drachenboot jedes Jahr zu Mittsommer zu seinem ehemaligen Herrn. Es war eine Zeit, auf die sich Jenna und Septimus das ganze Jahr über freuten, kostbare Tage, in denen sie wieder sie selbst sein konnten, einfach nur Bruder und Schwester, einfach nur Jenna und Septimus Heap.
In diesem Jahr war diese Zeit noch kostbarer. Denn Septimus war jetzt Außergewöhnlicher Zauberer und hatte eigentlich gar nicht fliegen wollen. Aber die Burgkönigin hatte darauf bestanden. Septimus trug noch den goldenen und smaragdgrünen Ring, der ihn zum Herrn des Drachenboots machte, und deshalb, so hatte Jenna streng zu ihm gesagt, sei es seine Pflicht.
Also hatte Septimus seine Aufgaben im Zaubererturm der Burg verschiedenen Stellvertretern – sowohl Geistern wie Lebenden – übertragen und hoffte, dass alles seinen geregelten Gang gehen würde. Und als nun der orangerote Ball der Sonne den Himmel mit einem leuchtenden Rosa überzog und ein Schwarm Enten quakend ihren Weg kreuzte, da lachte er laut heraus. Er war ja so froh, dass Jenna darauf bestanden hatte.
Als Todi und Dan später am Strand entlang nach Hause gingen und die Wellen im Sonnenlicht des Mittsommermorgens glitzerten, sagte Todi: »Dad, was meinst du: Wieso hat sich Tante Mitza in den Dünen versteckt, als wir unseren Kreis abgehalten haben?«
»Hat sie das denn?« Dan sah seine Tochter beunruhigt an.
Todi nickte. »Ja. Als alle dem Drachenboot gewinkt haben, habe ich gesehen, wie sie aufgestanden und davongehuscht ist. Und ich bin mir sicher, dass sie es war, denn sie watschelt wie eine Ente. Ungefähr so.« Sie machte Tante Mitzas Plattfußgang ziemlich treffend nach, aber Dan fand das gar nicht lustig.
»Du solltest mehr Respekt vor Älteren haben, Todi.«
»Aber ich mag sie nicht, Dad. Und du doch auch nicht.«
Dan widersprach nicht. »Trotzdem, Todi, du solltest vor der Stiefschwester deiner Mutter mehr Respekt haben. Wir beide müssen sie gastfreundlich behandeln.«
Todi verfiel in Schweigen. Ihre Mutter war gestorben, als sie sieben war, und sie wusste, dass ihrem Vater alles, was mit ihrer Mutter zu tun hatte, sehr kostbar war – wie ihr selbst auch. Das war auch der einzige Grund, warum er Tante Mitza aufgenommen hatte, als sie letzte Woche plötzlich vor der Tür stand und sagte, sie wolle nach all den Jahren »ihre süße kleine Stiefnichte« besuchen. Aber die stechenden Blicke, die Tante Mitza ihr zuwarf, wenn ihr Vater nicht da war, hatten sie bei Todi nicht beliebt gemacht. Im Unterschied zu ihrem Vater wollte sie mit Tante Mitza nichts zu tun haben. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Mutter ihre Stiefschwester gemocht hatte. Und ganz bestimmt hätte es ihre Mutter nicht geduldet, dass Tante Mitza sie heimlich belauschte.
»Aber Tante Mitza hat mitgehört, was wir im Kreis gesprochen haben, Dad«, sagte Todi. »Sie kennt jetzt unser Geheimnis, über das wir Stillschweigen gelobt haben. Ist das vielleicht Respekt vor uns? Vor unserer Gastfreundschaft? Vor Mum?«
Dan runzelte die Stirn. »Was sie gehört hat, hat sie gehört. Ich kann es nicht ungeschehen machen. Aber du hast recht, Todi. Sie hat es deiner Mutter gegenüber an Respekt fehlen lassen. Morgen werde ich sie bitten zu gehen.«
Aber es war nicht Mitza, die am nächsten Tag ging, sondern Dan.
TEIL 2
Das Drachenboot flog in gleichmäßigem Tempo nach Osten. Es kannte den Weg genau, sodass Jenna und Septimus nichts weiter zu tun hatten, als zuzusehen, wie die Welt unten vorbeizog, und sich durch den ersten Picknickkorb zu futtern. Es war später Vormittag, als die düstere Festung, in der Hotep-Ra wohnte, vor ihnen auftauchte. Die achteckigen Granittürme des Foryx-Hauses stachen dunkel vom ewigen Schnee der Umgebung ab und thronten auf einem säulenartigen Felsen, den ein tiefer Abgrund umschloss. Jenna und Septimus erschauerten – das Foryx-Haus war ein grausiger Ort.
Das Drachenboot verringerte die Höhe. Es umkreiste das Foryx-Haus einmal, dann senkte es den langen Hals und setzte zur Landung an. Jenna schloss die Augen – dieser Teil des Fluges machte ihr immer Angst. Das Drachenboot hielt auf eine breite weiße Marmorterrasse zu, und obwohl Jenna wusste, dass alles gut gehen würde, hatte sie immer das Gefühl, sie würden gleich auf die harten Steine stürzen. Doch sobald der Kiel des Drachenboots auf dem Marmor aufsetzte, verwandelte sich dieser in eine milchige Flüssigkeit, und sie landeten weich mit einem langen, sanften Zischen.
Septimus strich seine lila Amtstracht glatt und rückte den Gürtel aus Gold und Platin zurecht. Heute trat er Hotep-Ra zum ersten Mal als Außergewöhnlicher Zauberer gegenüber und wollte einen guten Eindruck machen.
Jenna ließ die Strickleiter hinab und umarmte ihn. »Hast du den Questenstein?«, fragte sie – wie jedes Mal.
»Jen, sei keine Nervensäge! Klar habe ich ihn.«
»Lass sehen«, verlangte sie, denn sie erinnerte sich noch allzu gut an jenen schrecklichen Tag, an dem Septimus den Questenstein auf dem Boot vergessen hatte. Sie war ihm nachgerannt und hatte ihn erst im allerletzten Moment eingeholt.
Septimus griff in die Tasche und zog einen schillernden schwarzen Stein hervor. Er war rund und glatt und trug auf der einen Seite ein eingraviertes goldenes Q. Septimus drehte ihn um und zeigte Jenna Hotep-Ras Symbol, das mit einem Zauber in die Rückseite geritzt worden war. Der Stein war Septimus’ Schlüssel in die Freiheit. Mit seiner Hilfe konnte er gefahrlos in seine Zeit zurückkehren.
»Gut«, sagte Jenna. »Nervös?«
Septimus lächelte angespannt. »Ein wenig«, gestand er. »Ich frage mich, ob ich ihm diesmal begegne – ich meine, mir.«
»Hältst du es für möglich?«
»Ja. Beim letzten Mal, als ich ihm begegnet bin – ich meine, mir –, hat meine Amtstracht noch ziemlich neu ausgesehen.«
»Es wird schon gut gehen«, sagte Jenna in beruhigendem Ton. »Du darfst ihn nur nicht berühren – ich meine, dich. Das ist ganz wichtig, stimmt’s?«
»Ja. Damals habe ich ihn nicht berührt und er mich auch nicht, deshalb müsste eigentlich alles glattlaufen. Andererseits, das war damals. Vielleicht ist es diesmal anders, wer weiß. Gut, dann gehe ich jetzt. Bis später.« Damit schwang er sich auf die Strickleiter, und Augenblicke später eilte er über die Marmorterrasse zu der abstoßenden grauen Festung.
Jenna beobachtete, wie er die Treppe zu der mächtigen Tür hinaufstieg, die aus dicken Ebenholzbrettern bestand und von Eisenbeschlägen und Nieten zusammengehalten wurde. Sie sah wie ein Gefängnistor aus – und in gewisser Weise war sie das ja auch. Das einst von Hotep-Ra erbaute Foryx-Haus war der Ort, an dem sich alle Zeiten begegneten. In diesem Haus stand die Zeit still, wie die Nabe in der Mitte eines sich drehenden Rades. Seinen Bewohnern stand es zwar jederzeit frei zu gehen, aber sie konnten sich nicht aussuchen, in welcher Zeit sie draußen landeten. Das vermochte nur, wer einen vollendeten Questenstein besaß – und Septimus besaß den einzigen.
Eine Schneeböe fegte über den Marmor, und durch die wirbelnden Flocken sah Jenna, wie Septimus nach dem Klingelzug griff und daran zog. Die Tür schwang auf, und der kleine Pförtner, der ein wenig an eine Fledermaus erinnerte, ließ ihn ein. Dann fiel die Tür wieder zu, und Septimus war verschwunden.
Jenna hasste diesen Teil ihres Besuchs. Sie hatte jedes Mal Angst, Septimus nie wiederzusehen. Um sich abzulenken, ging sie daran, eine rot-goldene Plane über das Deck des Drachenboots zu spannen. So konnten sie sich, wenn Septimus mit Hotep-Ra wiederkam, unter die Plane setzen und den Inhalt des von ihr mitgebrachten zweiten Picknickkorbs verspeisen, ganz gleich, wie heftig es schneite oder windete. So machten sie es immer. Und diesmal, sagte sie sich streng, würde es nicht anders sein.
Im Innern des Foryx-Hauses gelangte Septimus in einen kleinen Vorraum mit schwarz-weißem Schachbrettboden und einem eindrucksvollen geschnitzten Stuhl in Form eines Drachen. Er stieß die Flügeltür auf – die sich immer viel leichter öffnen ließ, als erwartet – und schlüpfte in die große, von Kerzen erleuchtete Eingangshalle. Hier verharrte er einen Augenblick und atmete die seltsam abgestandene Luft dieses Hauses ein, in dem sich alle Zeiten begegneten. Die Halle war von Kerzenrauch vernebelt und wimmelte von Menschen, die kreuz und quer durcheinanderliefen. Manche sammelten Mut, um hinauszugehen, andere, die gerade erst hereingekommen waren – oder es zumindest glaubten –, irrten verwirrt umher, doch die meisten dämmerten in einem Zustand zeitloser Benommenheit vor sich hin und wussten kaum noch, wer oder wo sie waren.
Septimus konnte in dem Qualm zwar kaum etwas erkennen, bahnte sich jedoch einen Weg durch die Menge. Beklommen spähte er immer wieder zu der Galerie mit der Balustrade hinauf. Dann setzte sein Herz für einen Schlag aus – da war er. Oben auf der Galerie stand sein jüngeres, vierzehnjähriges Ich und starrte erschrocken zu ihm herunter. Septimus schluckte. Gleich würde er sich selbst gegenüberstehen, so wie schon einmal vor sieben Jahren. Seit damals hatte er viel darüber gelernt, was es zu beachten galt, wenn man sich selbst in einer früheren Zeit begegnete. Wie zum Beispiel, dass keiner den anderen berühren durfte. Oder dass nur einer sprechen durfte. Aber das Wichtigste war: Die Begegnung musste genauso ablaufen wie beim letzten Mal, denn sie hatte ihn zu dem gemacht, der er heute war. Septimus holte tief Luft und stieg die Treppe hinauf, die in seine Vergangenheit führte. Es gab so vieles, was er dem vierzehnjährigen Septimus gerne sagen würde. Er wünschte, er hätte damals mehr erzählt, tröstete sich aber mit dem Gedanken, dass es ihm zumindest gelungen war, ihm das Allerwichtigste zu verraten.
Die breite Treppe schwang sich elegant nach oben. Auf den oberen Stufen lichtete sich der Kerzenrauch, und Septimus hob den Kopf und sah … sich selbst in die Augen. Sein jüngeres Ich hatte sich gerade von Hotep-Ra verabschiedet und zum Gehen gewandt. Es wirkte genauso verstört, wie sich sein jetziges Ich fühlte.
Zwei Stufen unter Hotep-Ra blieben die beide Septimusse stehen.
Wir dürfen uns nicht berühren. Der ältere Septimus hob die Hand, um den jüngeren davon abzuhalten, näher zu kommen. Er versuchte, sich ruhig und gefasst zu geben, hatte aber das Gefühl, wie ein Volltrottel zu erscheinen. So war er sich damals vorgekommen und heute wieder.
Nur einer darf sprechen. »Warte«, begann er, »sag nichts. Ist angeblich etwas gefährlich, zeitlich. Ich habe mich schon gefragt, wann wir uns mal begegnen würden – ob es diesmal passieren würde.« Er war froh, dass anscheinend alles genauso ablief wie damals, vor sieben Jahren. »Marcia geht es gut«, fuhr er fort. »Und das ist alles, was du im Moment wissen willst.«
Der junge Septimus lächelte erleichtert, zögerte kurz und rannte dann die Treppe hinunter. Septimus sah sich selbst dabei zu, wie er sich in seiner verlotterten grünen Lehrlingstracht unten in der Halle durch die Menge zwängte.
Wir dürfen nicht das Geringste anders machen. Er wartete, bis der andere sich noch einmal umdrehte, und winkte ihm. Der jüngere Septimus winkte zurück und verschwand. In eine andere Zeit, in eine andere Welt.
Es gibt so vieles, was ein frisch gebackener Außergewöhnlicher Zauberer den allerersten Außergewöhnlichen Zauberer fragen möchte, und Septimus bildete da keine Ausnahme. Er verbrachte viele Stunden Foryx-Haus-Zeit mit Hotep-Ra in den Gemächern des alten Zauberers, zumindest kam es ihm so vor. Als er endlich alle seine Fragen gestellt hatte, sagte Hotep-Ra ungeduldig: »Ich finde, es ist Zeit zum Essen, du nicht auch, Septimus?« Hotep-Ra hatte Jennas Picknickkörbe schätzen gelernt.
Die beiden Außergewöhnlichen Zauberer bahnten sich einen Weg durch das Gedränge in der vernebelten Halle und traten in den Vorraum. Auf dem Drachenstuhl saß jetzt ein Mädchen in einem ausgefallenen weißen Pelzmantel. Sie hatte leuchtend blaue Fingernägel, und ihr weißblondes Haar war zu kleinen Zöpfen geflochten, die zu einem dicken Pferdeschwanz gebunden waren. Das Mädchen sprang auf und packte Septimus am Arm. »Bitte sagen Sie mir«, stieß sie in einem breiten Akzent hervor, »sind Sie der Mann mit dem magischen Stein? Kehren Sie immer in die Zeit zurück, aus der Sie gekommen sind?«
Septimus umschloss den Questenstein in seiner Hand ganz fest, denn er fürchtete, das Mädchen könnte versuchen, ihn sich zu schnappen. »Ja, allerdings.«
Das Mädchen sah ihm tief in die Augen. Er war wie gebannt. »Bitte, ach bitte«, sagte sie. »Ich flehe Sie an, bringen Sie mich hier heraus.«
Hotep-Ra wähnte das geliebte Picknick mit seinem Drachenboot und seiner Lieblingskönigin in Gefahr. »Madam, es besteht überhaupt keine Notwendigkeit, dass Sie jemand hier ›herausbringt‹, wie Sie sich auszudrücken belieben. Es steht Ihnen jederzeit frei zu gehen.«
Das Mädchen funkelte den alten Mann zornig an. »Ich möchte nicht in eine x-beliebige Zeit. Ich möchte in seine Zeit.«
Septimus konnte sie gut verstehen. Auch er hatte einmal schreckliche Ängste ausgestanden, weil er nicht gewusst hatte, in welcher Zeit er draußen landen würde, aber das würde Hotep-Ra niemals nachempfinden können. »Selbstverständlich können Sie mit mir hinaus«, sagte er. »Es wäre mir ein Vergnügen.« Und er hätte ihr seinen Arm angeboten, wenn sie sich nicht schon bei ihm untergehakt hätte.
Jenna war noch mit dem Spannen der Plane beschäftigt, als sie Septimus aus dem Foryx-Haus kommen sah, zusammen mit – wer war das denn? Sie runzelte die Stirn. Was fiel Septimus ein, jemanden mitzubringen – wohl irgendeine neue Freundin – und ihnen die kostbaren gemeinsamen Stunden zu verderben? Sie konnte Hotep-Ra am Gesicht ablesen, dass er davon ebenso wenig begeistert war wie sie.
Ihr Gast stellte sich als Schneeprinzessin Driffa, die Allererhabenste und Allergütigste, vor. »Aber meine Freunde«, sagte sie, während sie sich auf dem Drachenboot niederließ, ihre Pelzstiefel fortschleuderte und lange weiße Füße mit leuchtend blauen Zehennägeln entblößte, »nennen mich einfach Driffa.« Sie schenkte den dreien ein strahlendes Lächeln. »Und ich hoffe doch, Sie werden sich als meine Freunde betrachten.«
»Aber natürlich«, antwortete Septimus. Jenna und Hotep-Ra lächelten frostig.
Hotep-Ra taute beim Anblick von Lachsschaum und Holunderblütensekt etwas auf, sprach aber wenig – die Schneeprinzessin redete genug für sie alle. Sie erzählte, dass sie ins Foryx-Haus gegangen sei, um eine Vorfahrin aufzusuchen, die sie gebeten habe, sich mit ihr dort zu treffen. Die Vorfahrin, ihre Ur-ur-ur-und-so-weiter-Großmutter, habe ihr eine schreckliche Mitteilung gemacht und dann gesagt, sie solle auf »einen schönen blonden Jüngling in Lila warten, der im Besitz eines magischen Steines ist«. Danach habe sie gefühlte Jahrhunderte warten müssen, bis Septimus endlich aufgetaucht sei.
Jetzt legte die Schneeprinzessin ihre schmale weiße Hand auf die von Septimus und sagte: »Ich werde Ihnen nie genug dafür danken können, dass Sie mich da herausgeholt haben. Niemals.« Ermattet lehnte sie sich zurück, sodass ihr die Schneeflocken ins Gesicht fielen. Sie atmete tief ein. »Ah«, seufzte sie. »Ich hatte ganz vergessen, wie Schnee riecht.«
Septimus sah Driffa verzückt an. Hotep-Ra und Jenna tauschten einen gereizten Blick.
Der alte Zauberer blieb nicht lange. Jenna winkte ihm zum Abschied, und als die dunkle Tür des Foryx-Hauses hinter Hotep-Ra zufiel, hörte sie Septimus sagen: »Er wäre uns ein Vergnügen, Sie nach Hause zu bringen, Driffa. Ich wollte die Östlichen Schnee-Ebenen schon immer kennenlernen.«
Jenna verkniff sich die Bemerkung »Seit wann das denn?« und bedachte Septimus mit einem ihrer missbilligenden Königinnenblicke. Er blieb ohne Wirkung.
Schneeprinzessin Driffa, die Allererhabenste und Allergütigste, war kein angenehmer Passagier. Während des Flugs lag sie die meiste Zeit auf dem Deck des Drachenboots und stöhnte laut. Sie protestierte jedes Mal, wenn Jenna sie weckte, um nach dem Weg zu fragen, und wenn sie nach unten sah, um festzustellen, wo sie sich gerade befanden, bekam sie prompt einen Übelkeitsanfall und erbrach sie über die Reling. »Alles über das schöne Blattgold«, beschwerte sich Jenna bei Septimus. Es dauerte zwei brütend heiße Tage und zwei bitterkalte Nächte, ehe sie die Östlichen Schnee-Ebenen erreicht hatten. Als der Ort in Sicht kam, in dem Driffa ihr Zuhause erkannte – eine schneebedeckte, von Bergen umringte Hochebene, auf der die Luft merklich dünner war und ein dumpf wimmernder Wind blies, war es Abend.
»Da!«, rief Driffa. »Ich sehe sie. Unsere Blaue Zinne!«
Septimus und Jenna spähten durch die Schneewolken und erhaschten einen Blick auf eine Art Turm aus reinem Lapislazuli, der aus dem Schnee emporragte. Dann gerieten sie in ein Schneegestöber, und alles verschwand wieder hinter einem trüben weißen Vorhang.
Driffa wandte sich an Septimus, und ihre dunkelblauen Augen funkelten vor Erregung. »Fühlen Sie ihren wunderbaren Zauber?«
Septimus fühlte in der Tat einen Zauber, aber wunderbar hätte er ihn nicht gerade genannt. Er kam ihm eher wie ein böser Zauber vor. Doch er wollte die Schneeprinzessin nicht verstimmen und griff zu einer dieser nebulösen Zauberer-Floskeln, die er sich in letzter Zeit angeeignet hatte, um sich aus heiklen Situationen herauszuwinden. »Ich bin überzeugt, dass es an diesem bezaubernden Ort so manches gibt, was einen verzaubern kann.«
»Oh«, entgegnete Driffa und errötete.
»Du meine Güte«, stöhnte Jenna leise. Seit Septimus von seiner langjährigen Freundin Rose wegen eines Schreibers namens Foxy den Laufpass bekommen hatte, war er, wie sie fand, ständig am Flirten.
Der kurze Blick auf die Blaue Zinne – ob nun bezaubernd oder sonst was – hatte genügt, um der Schneeprinzessin den Weg zu weisen. Das Drachenboot setzte zum Sinkflug an und durchstieß die Wolken. Bergausläufer tauchten unter ihnen auf, von denen schöne, schneebedeckte Türme emporragten und schmale, in warmen Laternenschein getauchte Fußpfade. Aber dann brach erneut ein Schneesturm los, und alles entschwand ihrem Blick.
Septimus fand keinen Platz zum Landen, ging aber so tief, dass das Drachenboot nur noch einen Meter über dem Schnee schwebte. Jenna ließ die Strickleiter hinab und schlüpfte in die Rolle der huldvollen Königin, die sie nach sieben Jahren Übung aus dem Effeff beherrschte: »Schneeprinzessin Driffa, Allererhabenste und Allergütigste«, sagte sie, »es war uns ein Vergnügen und eine Ehre, Sie in Ihr schönes Land zurückzugeleiten. Wir wünschen Ihnen viel Glück unter den Ihrigen. Leben Sie wohl.«
Fest entschlossen, Jennas kleine Abschiedsrede noch zu übertreffen, erwiderte die Schneeprinzessin: »Oh, Burgkönigin und Außergewöhnlicher Zauberer, Sie sind wahrhaft großzügige Menschen, und ich bin vom Scheitel bis zur Sohle voll des Dankes. Möge Ihnen stets ein sanfter Schneefall und ein blauer Himmel beschieden sein. Möge der Grula-Grula mit Ihnen sein.«
Septimus stutzte. Grula-Grula? Er hätte die Schneeprinzessin gern gefragt, wen oder was sie damit meinte, aber ein Blick in Jennas Gesicht verriet ihm, dass die Burgkönigin kein längeres Verweilen ihrer Passagierin wünschte. Gehorsam half er Driffa auf die Leiter. Sie hielt seine Hand so lange wie irgend möglich, ehe sie sich in den weichen Schnee hinabplumpsen ließ. Das Weiß ihres Pelzes verschmolz mit dem der wirbelnden Schneeflocken, und sie war verschwunden.
»Hoffentlich kommt sie zurecht«, sagte Septimus.
»Solche Leute kommen immer zurecht«, erwiderte Jenna.
Septimus lenkte das Drachenboot in geringer Höhe zur Mitte der Schnee-Ebene, um noch einmal einen Blick auf die faszinierende Blaue Zinne zu werfen. Als sie näher kamen, riss die Wolkendecke kurz auf.
»Mensch«, stieß Jenna hervor, »was ist denn das?«
Neben der Blauen Zinne war etwas, was wie ein gigantischer Ameisenhaufen aussah. Ein riesiger Berg aus schwarzem Abraum lag da im Schnee, und aus einer breiten Spalte im Boden tauchte eine Reihe von Gestalten auf, die Schubkarren voll mit Erde und Steinen schoben.
Septimus runzelte die Stirn. »Das da unten ist mit Sicherheit schwarze Magie.«
Plötzlich schoss ein Feuerball durch die Luft und direkt auf sie zu. Septimus warf die Ruderpinne herum, um ein Ausweichmanöver einzuleiten, aber das war gar nicht nötig. Das Drachenboot hatte früher schon Feuerblitze gesehen und wusste, was da nahte. Es legte sich rasch auf die Seite und wendete, und der Feuerball wirbelte vorüber, so heiß, dass der Schnee an Deck schmolz.
Zwei weitere Geschosse folgten, aber das Drachenboot war bereits außer Reichweite. Wieder hüllte sie der Schneesturm ein, und Jenna ging nach vorn zum Bug. Sie legte der Drachin die Arme um den eiskalten Hals und flüsterte: »Bring uns nach Hause.«
Zwei Nächte später flog das Drachenboot wieder über die sandige Halbinsel der FährtenFinder. Diesmal war kein Lichtkreis zu sehen. Dennoch war jemand unten auf dem dunklen Strand.
Es war Todi. Sie saß neben dem leeren Boot ihres Vaters und wartete.
Am Morgen zuvor war Dan Moon in aller Frühe zum Fischen hinausgefahren. Es war ein schöner Tag gewesen, und Todi hatte ihm geholfen, die Netze zu verstauen und das Boot, die Wega, den Strand hinunterzuschieben. Sie sah zu, wie ihr Dad langsam hinaussegelte, und als das rote Segel hinter der Landzunge verschwand, ging sie zurück und frühstückte bei ihren Freunden, der Familie Sarn. Obwohl Tante Mitza an diesem Morgen ausgegangen war, wollte Todi nicht nach Hause, falls sie unerwartet zurückkäme.
An diesem Tag waren viele FährtenFinder zum Fischen hinausgefahren. Am Abend ging Todi mit mehreren Dorfbewohnern wieder an den Strand. Ein Boot nach dem anderen kehrte zurück, bis nur noch das ihres Vaters fehlte. Es wurde dunkel, und Wind kam auf – aber noch immer keine Spur von ihrem Vater. Oskar und Ferdie Sarn stießen zu ihr. Sie brachten Decken und heißen Tee mit. Es wurde eine lange Nacht, doch das Meer vor ihnen blieb leer.
Im Morgengrauen hatte Todi ein Boot auf den Strand zutreiben sehen. Seine Form war unverwechselbar. Es war das Boot ihres Vaters. Aber sie hatte auf den ersten Blick erkannt, dass niemand an Bord gewesen war. Das Segel hatte schlaff herabgehangen, die Wega hatte führerlos auf den Wellen geschaukelt.
Jerra Sarn – Oskars und Ferdies älterer Bruder – war mit Todi hinausgefahren, um die Wega zu bergen, und gemeinsam hatten sie das Boot auf den Strand gezogen. Es war leer gewesen bis auf Dan Moons Fischerweste, die in einer Wasserlache am Boden gelegen hatte. Keine Netze, keine Fische, und von ihm selbst nicht die geringste Spur.
Todi hatte die Weste ihres Vaters angezogen an und weiter am Strand ausgeharrt. Die Sarns hatten ihr abwechselnd Gesellschaft geleistet, aber Todi war es egal gewesen, wer bei ihr saß – der einzige Mensch, den sie jetzt hatte sehen wollen, war ihr Vater gewesen. Und so hatte sie unerschütterlich dagehockt, aufs Meer hinausgestarrt und Ausschau nach ihrem Vater gehalten. Ferdie und Oskar hatten nicht verstanden, warum sie das tat, aber Todi hatte sich an das Versprechen gehalten, das sie dem Kreis gegeben hatte, und hatte es ihnen nicht erklärt. Nur Jerra Sarn, der den Mittsommerkreis vor drei Jahren das letzte Mal besucht hatte, hatte verstanden, worauf Todi hoffte.
Und so saß Todi auch da, als das Drachenboot über sie hinwegflog, und stellte sich vor, wie ihr Vater jeden Augenblick aus dem Wasser auftauchen, an Land waten und zu ihr sagen würde, ja, er habe FährtenFinderkiemen. Immer wieder malte sie sich aus, wie er vor ihr stehen würde – zitternd, mit Seetang behangen, aber am Leben. Und wie sie ihm dann den Strand hinaufhalf und ihn nach Hause brachte, wo er ihr erzählte, wie er am Meeresgrund entlang nach Hause gegangen war, nach Hause zu seiner kleinen Alice. Und dann würde er zu ihr sagen, dass nun alles wieder gut sei.
Doch als die Sonne am zweiten Tag über dem Meer aufging, war Dan Moon immer noch nicht nach Hause gekommen, und Todi wartete weiter.
TEIL 3
Die Dämmerung brach an. Der Wind wehte Todi die Elflocke ins Gesicht und wuschelte durch ihr kurzes schwarzes Haar, als sie mühsam versuchte, das sperrige Boot ihres Vaters aus dem Wasser zu ziehen.
Ein barfüßiger rothaariger Junge, der wie Todi eine gestreifte Kapuzenjacke und schwarze Dreiviertelhosen trug, kam den abfallenden Strand herunter und schrie vergeblich gegen das Tosen der Brandung an.
»Todi! He, Todi! Warte, ich helfe dir.«
Plötzlich sah Todi, wie neben ihr zwei sonnengebräunte Hände das Tau packten und kräftig daran zogen. Sogleich fühlte sich das Boot leichter an und löste sich aus dem Sog der zurücklaufenden Wellen. »He, Oskar! Danke.«
Gemeinsam zerrten sie die Wega aus dem Wasser und schleppten sie durch den Sand bis zu einer Kette, die sich über den Strand bis zu einem Pfahl schlängelte, der tief in die Düne getrieben war. Salzwasser glitzerte in Oskars sommersprossigem, sonnenverbranntem Gesicht, und Lachfältchen bildeten sich um seine blauen, auffallend gelb gefleckten Augen.
»Ganz schön schwer«, keuchte er, während Todi das Boot mit zwei Seemannsknoten an der Kette festmachte. »Einen guten Fang gehabt?«
Todi fuhr sich mit der Hand über die Augen und wischte das klebrige Salz weg. »Ja«, sagte sie mit einem müden Lächeln, beugte sich in das Boot und ergriff einen großen Korb, der randvoll mit Fischen war. »Auch wenn Tante Mitza anderer Meinung sein wird.«
Oskar verzog das Gesicht. »Manchen Leuten kann man es eben nie recht machen. Warte, ich helfe dir.« Er fasste ins Boot, und mit vereinten Kräften wuchteten sie den Korb heraus. »Nimmst du die Netze mit?«, fragte er.
»Nein, die sind noch in Ordnung.«
Sie stapften, den Korb mit den Fischen zwischen sich tragend, den steilen Strand hinauf. Am Fuß der Dünen angekommen, stellten sie den Korb ab, drehten sich um und blickten auf das weite, leere Meer hinaus. Die Sonne ging gerade unter, und ein blassgrünes Wolkenband zog über den rosafarbenen Himmel. Der Nachmittagswind war abgeflaut, aber das Meer war »kribbelig«, wie Todi es nannte – ein aufgewühltes, dunkles Blau. »Es wird Sturm geben«, sagte sie.
Sie folgten dem Bohlenpfad, der durch die Dünen zu den Häusern führte, die verstreut in deren Windschatten lagen. Die Wohnstätten der FährtenFinder waren einfache Bauten aus teerbestrichenen Brettern, die auf hohen Stelzen ruhten und aus übereinandergesetzten Zimmern bestanden. Jetzt, im Dämmerlicht, sahen sie merkwürdig aus, wie dunkle Tiere, die zwischen den Dünen umherstaksten, und die Kerzen in den Fenstern flackerten wie wachsame Augen.
Todi und Oskar erreichten den Glockenplatz, in dessen Mitte ein großes Holzgestell emporragte, in dem die FährtenFinderglocke hing. Angeblich stammte diese Glocke aus dem Raumschiff, das ihre Vorfahren zu den Sternen getragen hatte.
Von dem Platz gingen viele Wege ab. Einer davon führte zu Todis, ein anderer zu Oskars Haus. »Ich würde dich ja fragen, ob du mitkommen und bei uns essen willst«, sagte Oskar, »aber …«
»Aber ich darf nicht«, beendete Todi den Satz für ihn. »Trotzdem danke, Oskie. Ich würde ja gern, das weißt du.« Sie dachte an die grässliche Tante Mitza, die darauf bestand, dass sie nach Hause kam. Sie dachte an den mürrischen Blick, der sie dort erwartete, und ohne groß nachzudenken, platzte sie heraus: »Wie wär’s, wenn du mit zu mir kommst und bei mir isst?«
Oskie sah sie erschrocken an. »Aber was ist mit Tante Mitza?«
Todi zuckte mit den Schultern. »Was soll mit ihr sein? Ich habe jede Menge Fische gefangen. Ich werde sie zubereiten – wie üblich. Sie wird sie essen – wie üblich. Was hat sie da zu meckern?«
Oskar dachte im Stillen, dass Tante Mitza zunächst einmal seinetwegen meckern würde, sagte aber nichts. Wenn Todi wollte, dass er zu ihr zum Abendessen kam, dann würde er es tun. Seine Mutter würde nicht begeistert sein – neuerdings wollte sie, dass ihre Kinder zu Hause waren, bevor es dunkel wurde. Aber er würde sie schon irgendwie herumkriegen. »Ich geh nur schnell Ma Bescheid sagen, Todi. In zehn Minuten bin ich bei dir.«
Todi lächelte. »Prima!«
Sie schleppte den Fischkorb weiter den schmalen Pfad entlang, der feucht und grau im Dämmerlicht lag. An seinem Ende stand ihr Haus, groß und stolz auf seinen Stelzen, mit hellgrünen Fensterläden, ihrem gemütlichen Mansardenzimmer mit Blick aufs Meer und einem schönen Reetdach, das ihr Vater nur wenige Wochen vor seinem Verschwinden erneuert hatte.
Ihre Arme schmerzten, als sie endlich am Fuß der Trittleiter ankam, die zur Eingangstür hinaufführte. Sie setzte den Korb ab und spähte nach oben. Die Tür stand offen, und ein Lichtschein fiel heraus. Das sah so einladend aus, dass sie eine jähe Hoffnung durchzuckte – vielleicht war ihr Vater wieder da, und wenn sie jetzt durch diese Tür ginge, würde er sie hochheben und in die Arme nehmen! Zwei Monate war es mittlerweile her, dass er vom Fischen nicht zurückgekehrt war. Manchmal kam es Todi vor, als wäre es gestern gewesen, und manchmal, als würde er nie wiederkommen.
Tante Mitza war die ganze Zeit über geblieben und hatte alles nur noch schlimmer für Todi gemacht. Weil es meine Pflicht ist hierzubleiben, Alice, darum, sagte sie immer, wenn Todi sie fragte, warum sie nicht verschwand und sie in Ruheließ. Und sie wusste, dass Tante Mitza auch jetzt im Haus war, dass sie wie immer in ihrem Sessel saß und in Richtung Fernwald stierte.
Todi schüttelte die traurigen Gedanken an ihren Vater ab, schleppte den Fischkorb die Leiter hinauf und blieb an der Tür stehen, um Atem zu schöpfen. Ihr Vater war natürlich nicht zurück. Er hätte nicht zugehört, wie sie sich mit dem schweren Korb abplagte, ohne einen Finger zu rühren und ihr zu helfen. Sie spähte in die Nische neben der Tür, wo immer seine großen Seemannsstiefel gestanden hatten – sie war so leer wie seit jenem Tag, an dem er im Morgengrauen gegangen war. Trauer und Verzweiflung stiegen in ihr hoch. Krachend ließ sie den Korb zu Boden fallen.
Tante Mitza fuhr aus ihrem Ohrensessel hoch und kam an die Tür gestürzt. Ihre schwarzen Augen funkelten in ihrem platten roten Gesicht, das dadurch noch strenger wirkte, dass ihre dunklen Haare straff nach hinten gekämmt und zu einem Dutt geknotet waren. Sie schäumte vor Wut. »Was fällt dir ein?«, schrie sie. »So den Korb hinzuknallen. Willst du, dass ich einen Herzanfall bekomme?«
»Nein«, antwortete Tod und dachte im Stillen, dass das gar keine schlechte Idee wäre. »Ich bringe nur den Fisch herein. Wie immer.«
Tante Mitza starrte sie zornig an. Todi erwiderte ihren Blick, fest entschlossen, nicht als Erste zu blinzeln. Tante Mitza sah weg. »Das wird dir noch leidtun«, zischte sie, drehte sich auf dem Absatz um und kehrte zu dem Sessel zurück.
Todi zuckte mit den Schultern. Sie ergriff den Korb und trug ihn in die Kochecke. Dann wählte sie drei stattliche Makrelen fürs Abendessen aus und legte sie auf den Fischstein. Den restlichen Fang brachte sie hinaus in den Fischbehälter – einen Kasten, der an der Außenwand angebracht und mit Eis gefüllt war, das Todi jeden Morgen aus dem Eishaus holte und klein hackte. Wie sie es sich von ihrem Vater abgeschaut hatte, legte sie die Fische vorsichtig auf ein Eisbett und streute weiteres Eis darüber. So gekühlt, hielten sie ungefähr fünf Tage, aber am ersten Tag schmeckten sie am besten.
Das nervöse Klappern von Tante Mitzas Stricknadeln im Ohr, machte sie Feuer im Herd, nahm die Makrelen aus, schuppte sie und legte die Fische in die große schwarze Pfanne, um sie langsam zu braten. Dann ging sie zum Tisch an dem Fenster, das auf das Marschland der alten Lagune hinterm Haus hinausging, wo früher einer ihrer Lieblingsplätze zum Lesen gewesen war. Sie breitete ihre beste rot karierte Tischdecke über das raue Holz, legte drei Gedecke auf und machte sich auf Ärger gefasst. Er ließ nicht lange auf sich warten.
»Drei?«, rief Tante Mitza, der nie etwas entging.
»Ich habe Oskar Sarn zum Abendessen eingeladen.«
»Nun, dann kannst du ihn gleich wieder ausladen.« Tante Mitza warf ihr Strickzeug von sich und lief zur Tür. Todi wusste, was sie vorhatte – sie wollte die Trittleiter hochziehen, damit Oskar nicht heraufsteigen konnte. Sie rannte ihr nach, aber das war gar nicht nötig. Genau in diesem Augenblick spähte nämlich Oskars fröhliches Gesicht bereits zur Tür herein.