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In den Anwanden wütet der fürchterliche Zauberer DomDaniel. Septimus Heap, der siebte Sohn eines siebten Sohnes, verfügt über große magische Kräfte, die DomDaniel besiegen könnten. Doch anscheinend ist er kurz nach seiner Geburt gestorben. So kann nur noch die verschollene Tochter der ermordeten Königin Rettung bringen. Die Jagd nach ihr führt die chaotische Zaubererfamilie Heap, die Botenratte Stanley, die außergewöhnliche Zauberin Marcia Overstrand und andere seltsame Gestalten bis in die finsteren Marschen. Was dort geschieht, hätte nicht einmal DomDaniel für möglich gehalten ...
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Seitenzahl: 535
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Angie Sage
SEPTIMUS HEAP
MAGYK
Aus dem Englischen von
Reiner Pfleiderer
Mit Illustrationen von
Mark Zug
Carl Hanser Verlag
Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel Septimus Heap. Book One: Magyk bei Katherine Tegen Books, New York (Imprint von HarperCollins New York).
Published by arrangement with HarperCollins Children’s Books, a division of HarperCollins Publishers, Inc.
Die Schreibweise in diesem Buch entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung.
ISBN 978-3-446-24242-5
© 2005 by Angie Sage
© Illustrationen Mark Zug 2005
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München 2005
Umschlagillustration: Mark Zug
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Mehr über Septimus Heap gibt es unter www.septimus-heap.de
Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
Für Lois, die am Anfang dabei war,
und für Laurie, die mich auf die Idee
mit den Magogs gebracht hat.
INHALT
7 1 Ein Bündel im Schnee
13 2 Sarah und Silas
25 3 Der Oberste Wächter
34 4 Marcia Overstrand
44 5 Bei den Heaps
58 6 Flucht in den Turm
63 7 Der Zaubererturm
75 8 Im Müllschlucker
82 9 Sally Mullins Café
9210 Der Jäger
9811 Auf der Spur
10712 Die Muriel
11213 Die Jagd
12014 Deppen Ditch
13015 Mitternacht am Strand
14916 Der Boggart
16017 Alther im Alleingang
16818 Die Hüterhütte
17619 Tante Zelda
18820 Junge 412
19621 Rattus Rattus
21422 Zauberei
22523 Schwingen
23724 Panzerkäfer
24525 Die Wendronhexe
25226 Das Mittwinterfest
26627 Stanleys Reise
27628 Die große Kälte
28829 Pythons und Ratten
29930 Botschaft an Marcia
30731 Die Ratte kehrt zurück
31632 Das große Tauen
33033 Abwarten und Beobachten
33634 Im Hinterhalt
34635 Unter der Erde
35336 Tiefgefroren
36037 Spiegelmagie
36938 Aufgetaut
37939 Die Verabredung
38540 Die Begegnung
39541 Die Vergeltung
41042 Der Sturm
42043 Das Drachenboot
43444 Auf See
44645 Ebbe
45546 Ein Besucher
46447 Der Lehrling
47348 Das Lehrlingsessen
48449 Septimus Heap
489 Was Tante Zelda im Ententeich sah
492 Später
Zum Schutz vor dem Schnee zog Silas Heap seinen Umhang enger. Er hatte einen langen Fußmarsch durch den Wald hinter sich und war völlig durchgefroren. In seinen Taschen steckten die Kräuter, die ihm die Medizinfrau Galen für seinen jüngsten Sohn Septimus mitgegeben hatte. Septimus war am Morgen auf die Welt gekommen.
Silas näherte sich der Burg. Zwischen den Bäumen konnte er bereits die flackernden Lichter der Kerzen sehen, die man in die Fenster der schmalen hohen Häuser stellte. Dicht aneinander gereiht lagen die Häuser hinter der Außenmauer. Heute war die längste Nacht des Jahres, und die Kerzen würden bis zum Morgengrauen brennen, um die Dunkelheit zu bannen. Silas liebte diesen Weg zur Burg. Bei Tage hatte er im Wald keine Angst und erfreute sich an dem beschaulichen Spaziergang auf dem schmalen Pfad, der sich kilometerweit durch dichtes Gehölz schlängelte. Nun hatte er fast den Saum des Waldes erreicht. Die hohen Bäume traten zurück, und als der Abstieg ins Tal begann, sah er die Burg ausgebreitet zu seinen Füßen liegen. Die alte Schutzmauer verlief dicht am Ufer des breiten, gewundenen Flusses und umfasste im Zickzack die ineinander verschachtelten Häuser. Alle Häuser waren in leuchtenden Farben gestrichen, und diejenigen, die nach Westen blickten, sahen aus, als stünden sie in Flammen, als ihre Fenster die letzten Strahlen der Wintersonne einfingen.
Ursprünglich war die Burg ein kleines Dorf gewesen. Wegen der Nähe zum Wald hatten die Bewohner eine hohe Mauer errichtet, um sich vor Wolverinen, Hexen und Hexenmeistern zu schützen, die nichts dabei fanden, ihnen Schafe und Hühner und gelegentlich auch ein Kind zu stehlen. Da immer mehr Häuser gebaut wurden, erweiterten sie die Mauer und hoben einen tiefen Burggraben aus, damit sich jeder sicher fühlen konnte.
Bald lockte die Burg Handwerker aus anderen Dörfern an. Sie wuchs und gedieh, bis irgendwann der Platz knapp wurde und jemand beschloss, die Anwanden zu bauen. Die Anwanden, in denen Silas mit seiner Frau Sarah und seinen Söhnen wohnte, waren ein riesiges Gebäude aus Stein, das sich fünf Kilometer weit am Flussufer entlangzog und dann wieder zur Burg zurückkehrte. Es war ein wahres Labyrinth aus vielen verschlungenen Korridoren und Räumen, erfüllt von geschäftigem Treiben, mit kleinen Fabriken, Schulen und unzähligen Geschäften, Wohnungen, winzigen Dachgärten und sogar einem Theater. Überall herrschte drangvolle Enge, doch die Bewohner störte das nicht im Geringsten. Man hatte immer Gesellschaft und vor allem jemanden, der mit den Kindern spielte.
Silas beschleunigte seine Schritte, als die Wintersonne hinter den Mauern der Burg versank. Er musste am Nordtor sein, ehe es bei Einbruch der Nacht geschlossen und die Zugbrücke hochgezogen wurde.
In diesem Augenblick spürte Silas etwas. Ganz in der Nähe. Etwas, das lebte, aber nur gerade so. Er nahm den schwachen Herzschlag eines Menschen wahr. Er blieb stehen. Als Gewöhnlicher Zauberer besaß er die Gabe, Dinge zu spüren. Da er aber kein besonders guter Gewöhnlicher Zauberer war, musste er sich angestrengt konzentrieren. Er stand reglos da. Rings um ihn fiel Schnee in dicken Flocken und bedeckte bereits seine Fußstapfen. Und dann hörte er es – ein Schniefen, ein Wimmern, ein leises Atmen? Er war sich nicht sicher, doch das genügte.
Unter einem Busch am Wegrand lag ein Bündel. Silas hob es auf, und zu seinem Erstaunen blickte er in die ernsten Augen eines kleinen Kindes. Er wiegte es in den Armen und fragte sich, wieso es in der kältesten Nacht des Jahres hier im Schnee lag. Es fror, obwohl es fest in eine dicke Wolldecke gewickelt war. Seine Lippen waren blau vor Kälte, und Schnee bestäubte seine Wimpern. Seine dunkelvioletten Augen sahen ihn aufmerksam an, und Silas hatte das ungute Gefühl, dass es in seinem kurzen Leben bereits Dinge gesehen hatte, die kein Kind sehen sollte.
Er dachte an seine Sarah, die es mit Septimus und den Jungen zu Hause warm und gemütlich hatte, und sagte sich, dass sie einfach Platz schaffen mussten für ein zusätzliches Kind. Er schob das Bündel behutsam unter seinen blauen Zaubererumhang und lief, es an sich drückend, zum Burgtor. Er erreichte die Zugbrücke in dem Augenblick, als Gringe, der Torwächter, nach dem Brückenjungen rufen wollte, damit er sie hochzog.
»Das war knapp«, knurrte Gringe. »Aber ihr Zauberer seid sowieso komische Leute. Ist mir schleierhaft, was ihr an so einem Tag draußen verloren habt.«
»Ach?« Silas wollte möglichst schnell an Gringe vorbei, aber zuerst musste er das Brückengeld bezahlen. Er fasste in die Hosentasche und drückte dem Wärter einen Silberpenny in die Hand.
»Vielen Dank, Gringe. Gute Nacht.«
Gringe beäugte den Penny wie einen ekligen Käfer. »Marcia Overstrand hat vorhin eine halbe Krone springen lassen. Aber die hat eben Klasse, jetzt, wo sie Außergewöhnliche Zauberin ist.«
»Was?« Silas blieb fast die Luft weg.
»Jawohl, Klasse hat sie.«
Gringe trat beiseite, um Platz zu machen, und Silas schlüpfte vorbei. Am liebsten hätte er gefragt, wieso Marcia Overstrand plötzlich Außergewöhnliche Zauberin war, doch das Bündel unter seinem warmen Umhang begann sich zu regen, und eine innere Stimme sagte ihm, dass es besser war, wenn Gringe nichts von dem Kind erfuhr.
Als er in den Tunnel einbog, der zu den Anwanden führte, trat eine hohe, in Lila gekleidete Gestalt aus dem Dunkel und versperrte ihm den Weg.
»Marcia!«, stieß er hervor. »Was um alles in der …«
»Erzähle keiner Menschenseele, dass du sie gefunden hast. Sie ist deine leibliche Tochter. Verstanden?«
Silas nickte verdutzt, und bevor er dazu kam, etwas zu sagen, war Marcia in einer schimmernden lila Wolke verschwunden. Völlig verdattert legte Silas den restlichen Weg durch die Ramblings zurück. Wer war dieses Kind? Was hatte Marcia mit ihm zu tun? Wieso war Marcia plötzlich Außergewöhnliche Zauberin? Und als die große rote Tür vor ihm auftauchte, die in das bereits überfüllte Zimmer der Familie Heap führte, kam ihm eine weitere, dringlichere Frage in den Sinn: Was würde Sarah dazu sagen, dass sie noch ein Kind versorgen sollte?
Silas blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. In dem Augenblick, als er die Tür erreichte, flog sie auf. Eine dicke Frau in der dunkelblauen Tracht einer Oberhebamme stürmte heraus und rannte ihn beinahe über den Haufen. Auch sie trug ein Bündel, nur war ihr Bündel von oben bis unten in Binden gewickelt, und sie trug es unter dem Arm wie ein Paket, das sie schleunigst zur Post bringen musste.
»Tot!«, krächzte die Oberhebamme mit rotem Kopf. Sie stieß Silas zur Seite und lief den Korridor hinunter. Im Zimmer schrie Sarah.
Beklommenen Herzens ging Silas hinein. Sarah lag im Bett, umringt von sechs kleinen Jungen, alle kreidebleich und verstört.
»Sie hat ihn mitgenommen«, rief Sarah verzweifelt. »Septimus ist tot, und sie hat ihn mitgenommen.«
In diesem Augenblick breitete sich von dem Bündel, das Silas noch unter seinem Umhang versteckt hielt, eine feuchte Wärme aus. Er wollte etwas sagen, doch er fand nicht die richtigen Worte, und so zog er einfach das Bündel unter dem Umhang hervor und legte es Sarah in die Arme.
Sarah Heap brach in Tränen aus.
Das Findelkind wurde in die Familie Heap aufgenommen und nach Silas’ Mutter Jenna genannt.
Nicko, der jüngste Sohn, war erst zwei, als Jenna zu ihnen kam, und hatte seinen Bruder Septimus bald vergessen. Auch die älteren Brüder vergaßen ihn mit der Zeit. Sie liebten ihre kleine Schwester und brachten vom Zauberunterricht in der Schule allerlei Schätze für sie mit.
Sarah und Silas konnten Septimus natürlich nicht vergessen. Silas machte sich Vorwürfe, weil er Sarah allein gelassen hatte, um von der Medizinfrau Kräuter für das Neugeborene zu holen. Sarah wiederum gab sich an allem die Schuld. Sie hatte nur verschwommene Erinnerungen an jenen schrecklichen Tag, aber sie wusste noch, dass sie vergeblich versucht hatte, ihrem Kind wieder Leben einzuhauchen. Und sie wusste noch, wie die Oberhebamme ihren kleinen Septimus von Kopf bis Fuß in Binden gewickelt hatte, dann zur Tür gestürmt war und über die Schulter gerufen hatte: »Tot!«
Daran erinnerte sie sich genau.
Bald jedoch liebte Sarah ihr kleines Mädchen ebenso sehr, wie sie ihren Septimus geliebt hatte. Eine Zeit lang fürchtete sie, es könnte jemand kommen und ihr auch Jenna wegnehmen, doch Monate gingen ins Land, und Jenna wuchs zu einem pausbäckigen, glucksenden Baby heran, und Sarah wurde ruhiger und vergaß ihre Angst beinahe.
Bis zu jenem Tag, an dem Sally Mullin, ihre beste Freundin, atemlos in der Tür stand. Sally Mullin gehörte zu jenen Menschen, die immer wussten, was in der Burg gerade geschah. Sie war eine kleine geschäftige Frau mit rotbraunem strähnigem Haar, das ständig unter ihrer etwas schmuddligen Kochmütze hervorquoll. Sie hatte ein freundliches rundes Gesicht, ein wenig feist vom übermäßigen Kuchenverzehr, und ihre Kleidung war meist mit Mehl bestäubt.
Sally betrieb auf der schwimmenden Landungsbrücke unten am Fluss ein kleines Café. Auf dem Schild über der Tür stand:
SALLY MULLINS TEE- UND BIERSTUBE
SAUBERE FREMDENZIMMER
GESINDEL UNERWÜNSCHT
In Sally Mullins Café gab es keine Geheimnisse. Nichts, was auf dem Wasserweg in die Burg kam, ob Mensch oder Ding, blieb unbemerkt oder unkommentiert, und die meisten Leute zogen es vor, mit dem Boot zu kommen. Bis auf Silas mieden alle die dunklen Wege in den Wäldern rings um die Burg, in denen Fleisch fressende Bäume lauerten und des Nachts noch immer gefährliche Wolverinen umherstreiften. Außerdem hausten dort Wendronhexen, die stets knapp bei Kasse und dafür berüchtigt waren, dass sie unvorsichtigen Reisenden Fallen stellten und sie bis aufs Hemd ausplünderten.
Sally Mullins gut besuchtes Café war eine dämpfige Hütte, die auf Pfählen bedenklich über dem Wasser thronte. Boote jeder Art und Größe machten an der Landungsbrücke fest, und die unterschiedlichsten Menschen und Tiere wankten heraus. Die meisten erholten sich bei Sally von der Fahrt und erzählten bei mindestens einem Krug Bier und einem Stück Gerstenkuchen den neuesten Klatsch. Und jeder in der Burg, der ein halbes Stündchen erübrigen konnte und einen knurrenden Magen hatte, fand sich bald auf dem ausgetretenen Pfad wieder, der, an der Müllkippe Schönblick vorbei und an der Landungsbrücke entlang, zu Sally Mullins Tee- und Bierstube führte.
Sally hatte sich vorgenommen, Sarah einmal in der Woche zu besuchen und sie über alles auf dem Laufenden zu halten. Mit ihren sieben Kindern war Sarah stark eingespannt, und soweit Sally es beurteilen konnte, rührte ihr Mann, Silas Heap, kaum einen Finger. Gewöhnlich erzählte sie von Leuten, die Sarah gar nicht kannte und wohl auch nie kennen lernen würde. Trotzdem freute sich Sarah auf ihre Besuche, denn sie erfuhr gern, was um sie herum vorging. Doch was Sally diesmal zu berichten hatte, war anders. Es war ernster als der übliche Alltagsklatsch, und diesmal betraf es auch Sarah. Und zum ersten Mal überhaupt wusste Sarah mehr darüber als Sally.
Sally rauschte herein und schloss verschwörerisch die Tür.
»Ich bringe schlimme Neuigkeiten«, flüsterte sie.
Sarah hörte nur mit halbem Ohr hin. Sie versuchte gerade, Jenna das Gesicht abzuputzen und alles abzuwischen, was das Kind beim Frühstück sonst noch bekleckert hatte, und gleichzeitig hinter dem neuen Wolfshundwelpen herzuräumen.
»Hallo, Sally«, sagte sie. »Hier ist ein sauberer Stuhl. Komm, setz dich. Eine Tasse Tee?«
»Ja, danke. Sarah, du wirst es nicht glauben!«
»Was denn?«, fragte Sarah. Wahrscheinlich hatte sich im Café wieder jemand danebenbenommen.
»Die Königin! Die Königin ist tot!«
»Was?«, stieß Sarah hervor. Sie hob Jenna aus ihrem Stuhl, trug sie zu ihrem Babykorb in der Ecke und legte sie hinein. Schlechte Nachrichten sollte man von kleinen Kindern fern halten.
»Tot«, wiederholte Sally traurig.
»Nein!«, stöhnte Sarah. »Das glaube ich nicht. Nach der Geburt ihres Kindes ging es ihr nur nicht besonders, das ist alles. Deshalb hat man sie seither nicht mehr gesehen.«
»Das haben die Gardewächter behauptet, nicht wahr?«, fragte Sally.
»Ja, schon«, gab Sarah zu und goss Tee ein. »Aber als ihre Leibwächter müssen sie es doch wissen. Obwohl mir unbegreiflich ist, wie die Königin eine solche Schurkenbande plötzlich zu ihrer Leibwache machen kann.«
Sally hob die Tasse, die Sarah ihr hingestellt hatte. »Danke. Hmmm, köstlich. Aber du hast Recht …« Sie senkte die Stimme und schaute sich um, als könnte ein Gardewächter in der Ecke lehnen, was freilich nicht heißt, dass sie ihn bei der Unordnung im Zimmer auch tatsächlich entdeckt hätte. »Sie sind eine Schurkenbande. Sie waren es ja, die sie ermordet haben.«
»Ermordet? Sie ist ermordet worden?«, rief Sarah aus.
»Pst! Also das war so …« Sally rückte mit ihrem Stuhl näher. »Man erzählt sich, und ich habe es aus erster Hand …«
»Aus erster Hand?«, fragte Sarah mit einem gequälten Lächeln.
»Von Madam Marcia persönlich«, erwiderte Sally mit triumphierendem Blick, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.
»Was? Seit wann verkehrst du mit der Außergewöhnlichen Zauberin? Hat sie auf eine Tasse Tee bei dir vorbeigeschaut?«
»Sie nicht. Aber Terry Tarsal. Er war oben im Zaubererturm und hat ein Paar ziemlich ausgefallene Schuhe abgeliefert, eine Sonderanfertigung für Madam Marcia. Zuerst hat er über ihren Schuhgeschmack gelästert und sich darüber ausgelassen, wie sehr er Schlangen verabscheut, aber dann hat er von einem Gespräch zwischen Marcia und einer anderen Zauberin berichtet, das er zufällig mit angehört hat. Die andere war Endor, glaube ich, die kleine Dicke. Jedenfalls haben sie gesagt, dass die Königin erschossen worden sei! Von einem Meuchelmörder der Gardewächter.«
Sarah traute ihren Ohren nicht. »Wann?«, hauchte sie.
»Das ist ja das Schlimme«, zischte Sally aufgeregt. »Sie soll an dem Tag erschossen worden sein, an dem das Baby zur Welt gekommen ist. Vor sechs Monaten, und wir waren völlig ahnungslos. Es ist schrecklich … einfach schrecklich. Und Alther haben sie auch erschossen. Deshalb ist Marcia …«
»Alther ist tot?«, stieß Sarah hervor. »Ich kann es nicht glauben. Ich kann es einfach nicht … Wir dachten, er hätte sich zur Ruhe gesetzt. Silas war vor Jahren sein Lehrling. Er war so ein netter Mann …«
»Tatsächlich?«, erwiderte Sally ungeduldig, denn sie brannte darauf, weiterzuerzählen. »Aber das ist noch nicht alles. Terry glaubt nämlich, dass Marcia die Prinzessin gerettet und irgendwohin gebracht hat. Endor und Marcia haben sich gefragt, was wohl aus ihr geworden ist. Sie verstummten natürlich sofort, als sie Terry bemerkten. Marcia ist anscheinend sehr grob zu ihm gewesen, sagt er. Und hinterher fühlte er sich etwas sonderbar. Er glaubt, dass sie ihn mit einem Vergesslichkeitszauber belegen wollte, aber er ist hinter eine Säule geflitzt, als er sie murmeln sah, deshalb hat der Zauber nicht richtig funktioniert. Terry ist ziemlich aufgebracht, denn er kann sich nicht mehr entsinnen, ob sie die Schuhe bezahlt hat oder nicht.«
Sally Mullin legte eine Pause ein, schöpfte Atem und trank einen großen Schluck Tee. »Die arme kleine Prinzessin. Gott stehe ihr bei. Wo sie jetzt wohl sein mag? Wahrscheinlich siecht sie in irgendeinem dunklen Loch dahin. Im Gegensatz zu deinem Engelchen da drüben … Wie geht es ihr?«
»Oh, es geht ihr prächtig«, antwortete Sarah. Normalerweise hätte sie jetzt ausführlich über Jennas Schnupfen und ihren neuesten Zahn berichtet, und darüber, dass sie schon aufrecht sitzen und selbst ihren Becher halten konnte. Doch in diesem Augenblick wollte sie von Jenna lieber ablenken. Sechs Monate lang hatte sie sich gefragt, wer ihre kleine Tochter in Wirklichkeit war. Jetzt wusste sie es.
Jenna war, so dachte Sarah, ja, sie konnte eigentlich niemand anders sein als … die kleine Prinzessin.
Ausnahmsweise einmal war Sarah froh, als sich Sally Mullin von ihr verabschiedete. Sie sah ihr nach, als sie durch den Korridor davoneilte, und kaum hatte sie die Tür wieder geschlossen, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus. Dann lief sie zu Jennas Korb.
Sie hob Jenna heraus und hielt sie ihn den Armen. Jenna lächelte sie an und grapschte nach dem Talisman an ihrem Halsband.
»Na, kleine Prinzessin«, murmelte Sarah. »Ich wusste immer, dass du etwas Besonderes bist, aber ich hätte mir nie träumen lassen, dass du unsere Prinzessin bist.« Die dunkelvioletten Augen begegneten ihrem Blick und sahen sie so ernst an, als wollten sie sagen: So, jetzt weißt du’s.
Sarah legte Jenna behutsam in den Korb zurück. Der Kopf schwirrte ihr, und ihre Hände zitterten, als sie sich noch eine Tasse Tee einschenkte. Sie konnte kaum glauben, was sie erfahren hatte. Die Königin tot. Alther tot. Und ihre Jenna die Thronerbin. Die Prinzessin. Was war nur geschehen?
Den restlichen Nachmittag über saß sie bei Jenna, bei Prinzessin Jenna, sah sie an und malte sich voller Sorge aus, was geschah, wenn jemand herausfand, wer sie war. Wo steckte Silas? Nie war er da, wenn man ihn brauchte.
Silas vergnügte sich mit seinen Söhnen beim Angeln.
In der Flussbiegung gleich hinter den Anwanden gab es einen kleinen Sandstrand. Dort zeigte Silas den beiden Jüngsten, Nicko und Jo-Jo, wie sie ihre Marmeladegläser an einen Stock binden und dann ins Wasser hängen mussten. Jo-Jo hatte bereits drei winzige Fische gefangen, aber Nicko ließ seine jedes Mal fallen und verlor allmählich die Geduld.
Silas nahm Nicko auf den Arm und ging mit ihm zu Erik und Edd, den fünfjährigen Zwillingen. Erik ließ die Füße ins warme, klare Wasser baumeln und träumte vergnügt vor sich hin. Edd stocherte mit einem Stock unter einem Stein nach einem Tier. Es war ein großer Wasserkäfer. Nicko heulte los und klammerte sich fest an den Hals seines Vaters.
Sam war fast sieben und ein ernsthafter Angler. Zu seinem letzten Geburtstag hatte er eine richtige Angelrute bekommen, und auf einem Stein neben ihm lagen zwei kleine silberne Fische. Er war gerade dabei, einen dritten einzuholen. Nicko quietschte vor Aufregung.
»Bring ihn weg, Dad«, meckerte Sam. »Er erschreckt die Fische.«
Silas schlich mit Nicko auf Zehenspitzen davon und setzte sich neben Simon, seinen ältesten Sohn. Simon hielt in der einen Hand eine Angelrute und in der anderen ein Buch. Er wollte später mal Außergewöhnlicher Zauberer werden und las deshalb fleißig in den alten Zauberbüchern seines Vaters. Heute hatte er sich Der perfekte Fischbeschwörer vorgenommen, wie Silas bemerkte.
Silas erwartete, dass alle seine Söhne irgendeine Art von Zauberer wurden. Das lag in der Familie. Seine Tante war eine berühmte Weiße Hexe, und sein Vater und sein Onkel waren Gestaltwandler gewesen. Allerdings hoffte Silas nicht, dass seine Söhne diese ganz besondere Laufbahn einschlugen, denn erfolgreiche Gestaltwandler wurden mit zunehmendem Alter immer instabiler und konnten ihre eigene Gestalt mitunter nicht länger als ein paar Minuten am Stück behalten. Sein Vater war schließlich als Baum im Wald verschwunden, aber niemand wusste, welcher Baum er war. Dies war einer der Gründe, warum Silas so gern im Wald spazieren ging. Häufig richtete er das Wort an einen zerzausten Baum in der Hoffnung, er könnte sein Vater sein.
Sarah Heap stammte aus einer Familie von Zauberern und Hexen. Als junges Mädchen hatte sie bei Galen, der Medizinfrau im Wald, die Kräuterheilkunde erlernt, und dabei war ihr eines Tages Silas begegnet. Silas hatte sich auf der Suche nach seinem Vater im Wald verirrt und war traurig, und Sarah brachte ihn zu Galen. Galen erklärte ihm, dass sein Vater vor vielen Jahren als Baum seine wahre Bestimmung gefunden habe und nun glücklich sei. Und als Silas am Feuer der Medizinfrau neben Sarah saß, merkte er, dass auch er zum ersten Mal in seinem Leben wirklich glücklich war.
Als Sarah alles gelernt hatte, was es über Heilkräuter und ihre Anwendung zu wissen gab, nahm sie von Galen herzlichen Abschied und zog zu Silas in die Anwanden. Und dort wohnten sie noch heute, obwohl sich immer mehr Kinder in dem Zimmer drängten. Silas hatte seine Lehre leichten Herzens abgebrochen und nahm jetzt Gelegenheitsarbeiten als Gewöhnlicher Zauberer an, um Geld für die Familie zu verdienen. Und Sarah braute auf dem Küchentisch Kräutertinkturen, wenn sie mal eine freie Minute hatte, was jedoch nur selten vorkam.
Als Silas und die Jungen an jenem Abend die Treppe am Strand hinaufsteigen wollten, um in die Anwanden zurückzukehren, versperrte ihnen einen großer, von Kopf bis Fuß schwarz gekleideter Gardewächter den Weg.
»Halt!«, bellte er. Nicko begann zu heulen.
Silas blieb stehen und ermahnte die Jungen, brav zu sein.
»Papiere!«, brüllte der Wächter. »Wo sind eure Papiere?«
Silas sah ihn verdutzt an. »Was für Papiere?«, fragte er ruhig, denn er wollte keine Scherereien. Er musste die sechs müden Jungen nach Hause bringen, das Abendessen wartete.
»Eure Papiere, ihr Zauberergesindel«, feixte der Wächter. »Unbefugten ohne die erforderlichen Papiere ist das Betreten des Strandes verboten.«
Silas war empört. Wären die Jungs nicht gewesen, hätte er einen Streit angefangen, doch er hatte bemerkt, dass der Wächter eine Pistole trug.
»Verzeihung«, sagte er, »das wusste ich nicht.«
Der Wächter musterte sie von oben bis unten, als überlege er, was er tun solle, doch glücklicherweise gab es noch mehr Leute, die er schikanieren konnte.
»Mach, dass du wegkommst, und lass dich mit deiner Brut nie wieder hier blicken«, raunzte der Wächter. »Bleibt, wo ihr hingehört.«
Silas scheuchte die verstörten Jungs die Treppe hinauf und brachte sie in die sicheren Anwanden zurück. Sam ließ seine Fische fallen und schluchzte los.
»Schon gut«, tröstete ihn Silas, »ist doch alles wieder in Ordnung.« Aber er hatte das untrügliche Gefühl, dass überhaupt nichts in Ordnung war. Was ging hier vor?
»Dad«, fragte Simon, »warum hat er uns Zauberergesindel genannt? Zauberer sind doch die Besten, oder nicht?«
»Aber ja«, antwortete Silas zerstreut, »die Besten.« Das Dumme war nur, dass man als Zauberer nicht verbergen konnte, was man war. Alle Zauberer, und nur Zauberer, hatten sie. Silas hatte sie, Sarah hatte sie, und alle seine Söhne bis auf Nicko und Jo-Jo hatten sie. Und wenn Nicko und Jo-Jo erst den Zauberunterricht in der Schule besuchten, würden auch sie welche bekommen. Langsam, aber sicher, bis es kein Vertun mehr gab, färbten sich die Augen eines Zaubererkindes grün, wenn es zaubern lernte. Bisher war man darauf immer stolz gewesen. Jetzt plötzlich konnte es gefährlich werden.
Am Abend, als die Kinder endlich schliefen, berieten sich Silas und Sarah noch bis tief in die Nacht. Sie sprachen über ihre Prinzessin, ihre Zauberersöhne und über die Veränderungen in der Burg. Sie überlegten, ob sie in die Marram-Marschen fliehen oder in den Wald zu Galen ziehen sollten. Als der Morgen graute und auch sie endlich in Schlaf sanken, hatten sie beschlossen, das zu tun, was die Heaps immer taten. Sich durchzuwursteln und auf das Beste zu hoffen.
In den folgenden neuneinhalb Jahren verhielten sich Silas und Sarah ruhig. Sie verschlossen und verriegelten ihre Tür, sprachen nur mit Nachbarn und Menschen, denen sie vertrauten, und als der Zauberunterricht in der Schule verboten wurde, brachten sie ihren Kindern das Zaubern abends zu Hause bei.
So kam es, dass neuneinhalb Jahre später alle Mitglieder der Familie Heap leuchtend grüne Augen hatten. Alle bis auf eines.
Es war sechs Uhr in der Frühe und noch dunkel und auf den Tag genau zehn Jahre her, dass Silas das Bündel gefunden hatte.
Am Ende von Korridor 223, hinter der schwarzen Tür mit der Nummer 16, die von der Nummerierungspatrouille aufgestempelt worden war, schlief die Familie Heap friedlich. Jenna lag zusammengerollt in ihrer kuscheligen kleinen Bettkiste, die ihr Silas aus Treibholz vom Fluss gezimmert hatte. Das Bett war sauber in einen großen Schrank eingebaut, und der stand in einem großen Zimmer, das tatsächlich der einzige Raum war, den die Heaps besaßen.
Jenna liebte ihr Schrankbett. Sarah hatte ihr aus Stoffresten bunte Vorhänge genäht, die sie vorziehen konnte, wenn ihr kalt war oder ihre Brüder zu viel Lärm machten. Am besten gefiel ihr das kleine Fenster in der Wand über dem Kopfkissen. Es ging auf den Fluss hinaus. Wenn sie nicht schlafen konnte, blickte sie stundenlang aufs Wasser und beobachtete die vielen unterschiedlichen Boote, die zur Burg fuhren oder von der Burg kamen, und manchmal, in klaren mondlosen Nächten, zählte sie gern die Sterne, bis sie einschlief.
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