2,99 €
Dies ist Teil 2 von SILO: Hugh Howeys verstörende Zukunftsvision ist rasanter Thriller und Gesellschaftsroman in einem. Silo handelt von Lüge und Verrat, Menschlichkeit und der großen Tragik unhinterfragter Regeln.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 108
Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de
Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Wool 2« bei CreateSpace, Charleston, South Carolina Übersetzung aus dem Englischen von Gaby Wurster und Johanna Nickel
Zweiter Teil des fünfteiligen E-Books zu der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
2. Auflage 2013
ISBN 978-3-492-96144-8
© 2011 Hugh Howey Deutschsprachige Ausgabe: © 2013 Piper Verlag GmbH, München Umschlaggestaltung: Hafen Werbeagentur Umschlagfoto & Abbildung Innentitel: Keystone-France / Gettyimages
8. KAPITEL
Ihre Stricknadeln steckten paarweise in einem Lederetui, je zwei zusammenpassende Holzstäbchen, wie Elle und Speiche in trockenem, altem Fleisch. Holz und Leder. Artefakte, die von Generation zu Generation weitergegeben worden waren, ein Augenzwinkern ihrer Vorfahren, harmlose Gegenstände wie die Kinderbücher oder Holzschnitzereien, die den Aufstand und die Säuberung überlebt hatten. Diese Dinge waren wie Schlüssel zu einer anderen Welt, zu einer Welt, in der es auch oberirdisch noch Gebäude gegeben hatte, jene Ruinen, die nun hinter den grauen, leblosen Hügeln zu sehen waren.
Nach gründlicher Überlegung nahm Mayor Jahns ein Paar Nadeln aus dem Etui. Bei der Auswahl war sie immer besonders sorgfältig, denn auf das richtige Maß kam es an. Mit zu dünnen Nadeln war das Stricken schwierig, der fertige Pullover wurde zu eng und straff. Mit zu dicken Nadeln bekam das Kleidungsstück Löcher. Das Gestrick wurde zu locker, man konnte hindurchgucken.
Sie hatte gewählt, die hölzernen Knochen aus dem Lederetui gezogen, und griff jetzt nach dem Knäuel Baumwollgarn. Kaum zu glauben, dass ihre Hände aus diesem Klumpen ineinander verdrehter Fasern etwas Ordentliches und Nützliches würden herstellen können. Sie suchte den Anfang des Fadens und dachte darüber nach, wie die Dinge entstanden. Im Moment war ihr Pullover lediglich eine Idee. Früher einmal hatten die Baumwollknospen an einem Strauch auf der Farm geblüht, dann waren sie geerntet, gereinigt und zu langen Fäden gesponnen worden. Und wenn man noch weiterging, konnte man sogar die Baumwollpflanze zurückverfolgen bis hin zu den verstorbenen Silobewohnern, deren Körper in der Erde zur Ruhe gebettet worden waren und den Pflanzen als Nährstoff dienten.
Jahns schüttelte den Kopf über ihre zunehmend morbiden Gedanken. Je älter sie wurde, desto mehr dachte sie über den Tod nach.
Gewohnt sorgfältig schlang sie das Ende des Garns um eine Nadel und spannte mit den Fingern ein Dreieck auf. Die Spitze der Nadel tanzte durch dieses Dreieck und nahm Maschen auf. Das war ihr Lieblingsmoment beim Stricken: das Aufnehmen der Maschen. Sie mochte Anfänge. Die erste Reihe. Aus Nichts wurde Etwas. Ihre Hände wussten, was sie taten, und so konnte Jahns aufblicken und zuschauen, wie der morgendliche Wind ein paar Staubwölkchen den Hügel hinuntertrieb. Die Wolken hingen heute unheilvoll niedrig. Sie schwebten wie besorgte Eltern über den umherwehenden Staubwölkchen, die wie lachende Kinder durcheinanderpurzelten und den Hügeln und Senken bis zu der großen Falte folgten, wo zwei Hügel sich zu einem vereinten. Hier sah Jahns die Staubwölkchen auf zwei Leichen prallen – die übermütigen Staubzwillinge wurden zu Gespenstern, die spielenden Kinder zu Traumbildern und Nebelschleiern.
Mayor Jahns lehnte sich auf ihrem verblichenen Plastikstuhl zurück. Ihre Hände verarbeiteten das Garn zu Reihen, sie musste nur gelegentlich einen Blick darauf werfen. Immer wieder flog der Staub auf die Sensoren des Silos zu, und jedes Mal zuckte sie zusammen, als würde es sie körperlich treffen. Der Schmutz auf den Sensoren war immer unangenehm anzusehen, aber am Tag nach der Reinigung wirkten die Staubkörnchen besonders brutal.
»Ma’am?«
Mayor Jahns wandte sich vom Anblick der toten Hügel ab, auf dem ihr eben verstorbener Polizeichef lag. Neben ihr stand Deputy Marnes.
»Ja, Marnes?«
»Hier sind die Akten.«
Marnes legte drei Akten auf den Tisch in der Kantine, wo noch die Krümel und Saftflecken von den Feierlichkeiten der vergangenen Nacht zu sehen waren. Jahns legte ihr Strickzeug beiseite und griff widerwillig nach den Akten. Am liebsten wäre sie einfach noch eine Weile allein gewesen und hätte zugesehen, wie aus den Maschen und Reihen ein Pullover entstand. Sie wollte die Ruhe und den Frieden dieses unverdorbenen Sonnenaufgangs genießen, bevor der Staub ihn wieder trübte, bevor der Rest des oberen Silos aufwachte, sich den Schlaf aus den Augen rieb und den Schmutz vom Gewissen schüttelte und zu ihr heraufkam.
Aber die Pflicht rief, sie war die gewählte Bürgermeisterin, und der Silo brauchte einen neuen Polizeichef. Also stellte Jahns ihre eigenen Wünsche und Vorstellungen hintan und nahm die Akten auf den Schoß. Sie strich über das Papier und betrachtete ihre Hände mit einer Mischung aus Schmerz und Resignation. Ihre Handrücken wirkten so trocken und runzlig wie das Textilpapier, das aus den Akten heraushing. Sie sah Deputy Marnes an, in dessen weißem Schnurrbart noch einige wenige schwarze Flecken zu sehen waren, und erinnerte sich an die Zeit, als die Farbverteilung umgekehrt gewesen war. An die Zeit, als seine große, schlanke Gestalt Kraft und Jugend ausgestrahlt hatte statt hagerer Zerbrechlichkeit. Marnes sah immer noch gut aus, aber nur weil sie ihn schon so lange kannte, nur weil ihre alten Augen sich noch erinnerten.
»Weißt du«, sagte sie, »wir könnten es diesmal auch anders machen. Ich befördere dich zum Sheriff, und du suchst dir einen Deputy, das wäre doch vernünftig.«
Marnes lachte. »Ich bin schon fast so lange Deputy wie du Mayor. Ich habe nicht die Absicht, noch mal was anderes zu machen, außer vielleicht, dass ich irgendwann ganz gern tot umfallen würde.«
Jahns nickte. Sie hatte Marnes unter anderem deswegen so gern um sich, weil seine Gedanken so rabenschwarz waren, dass ihre dagegen bestenfalls gräulich schimmerten. »Ich fürchte, da brauchen wir beide nicht mehr lange«, sagte sie.
»Wohl wahr. Ich hätte nie gedacht, dass ich so viele Leute überleben würde. Und ganz bestimmt werde ich nicht länger dabeibleiben als du.« Marnes rieb sich den Schnurrbart und sah über die Monitore nach draußen. Jahns lächelte ihn an, schlug die oberste Akte auf und las die erste Biografie.
»Das sind drei akzeptable Kandidaten«, sagte Marnes. »Ich könnte mit allen gut zusammenarbeiten. Meine erste Wahl wäre Juliette, ich glaube, das ist die in der Mitte. Arbeitet unten in der Mechanik. Sie kommt nicht oft hier rauf, aber ich und Holston …«
Marnes brach ab und räusperte sich. Jahns sah, dass sein Blick zu dem dunklen Fleck auf dem Hügel gewandert war. Er hielt sich die Faust mit hervortretenden Knöcheln vor den Mund und täuschte ein Husten vor.
»Entschuldigung«, sagte er. »Wie gesagt, der Sheriff und ich, wir haben vor ein paar Jahren einen Todesfall da unten untersucht. Diese Juliette – ich glaube, sie will Jules genannt werden –, die war toll. Blitzgescheit. Eine Riesenhilfe bei dem Fall, guter Blick für Details, kann mit Leuten umgehen, ist diplomatisch, unbestechlich, all das. Ich glaube nicht, dass sie oft höher als bis in die Achtziger kommt. Ist auf jeden Fall eine von ganz unten, das hatten wir lange nicht.«
Jahns blätterte durch Juliettes Akte, sah sich ihren Stammbaum sowie ihr aktuelles Gehalt an. Sie war Vorarbeiterin und hatte gute Beurteilungen. Keine Historie in der Lotterie.
»War sie nie verheiratet?«, fragte Jahns.
»Nein. An der ist ein Junge verloren gegangen, die ist Mechanikerin durch und durch. Wir waren eine Woche da unten und haben gesehen, wie die Typen auf sie stehen. Sie bräuchte sich bloß einen auszusuchen, tut sie aber nicht. Irgendwie macht sie Eindruck, aber sie bleibt lieber für sich.«
»Auf dich hat sie ja offensichtlich auch Eindruck gemacht«, sagte Jahns und bereute es sofort. Sie konnte ihren eifersüchtigen Unterton nicht leiden.
Marnes verlagerte das Gewicht auf den anderen Fuß. »Na, du kennst mich ja, Mayor. Ich halte immer Ausschau nach geeigneten Kandidaten. Damit ich nicht am Ende noch selbst befördert werde.«
Jahns lächelte. »Was ist mit den beiden anderen?« Sie las die Namen und überlegte, ob jemand von ganz unten wirklich eine gute Idee war. Vielleicht hatte sie auch Sorge, dass Marnes sich ernsthaft in diese Juliette verguckt hatte. Den Namen auf der obersten Akte kannte sie. Peter Billings. Er arbeitete ein paar Stockwerke weiter unten in der Justiz, als Schatten eines Richters.
»Ganz ehrlich, Ma’am? Die sind nur Füllmaterial, damit es fair aussieht. Wie gesagt, ich würde auch mit den anderen arbeiten, aber ich glaube, Jules ist unser Mädchen. Ist schon lange her, dass eine Frau Polizeichef war. Würde bestimmt gut ankommen, so kurz vor der Wahl.«
»Das ist kein Kriterium«, sagte Jahns. »Für wen wir uns auch entscheiden, er oder sie wird wahrscheinlich noch hier sein, wenn wir schon lange nicht mehr sind.« Dann unterbrach sie sich, weil ihr einfiel, dass sie dasselbe über Holston gesagt hatte, als er zum Sheriff ernannt worden war.
Jahns schloss die Akte und wandte sich wieder dem Monitor zu. Am Fuße des Hügels hatte sich ein kleiner Tornado gebildet, ein geordneter Wirbel aus Staub. Die kleine Wolke nahm Fahrt auf und wuchs zu einem größeren Kegel an, der sich drehte und drehte, auf seiner schlingernden Spitze tanzte wie ein Kind und dabei im matten Licht der aufgehenden Sonne auf die Linsen zuraste.
»Ich finde, wir sollten ihr einen Besuch abstatten«, sagte Jahns schließlich.
»Ma’am? Lass sie uns doch lieber hier oben treffen. Wir können das Bewerbungsgespräch in deinem Büro abhalten, wie immer. Das ist ein langer Weg bis zu ihr nach unten und noch länger wieder hoch.«
»Ich weiß deine Sorge zu schätzen, Deputy, wirklich. Aber ich bin schon lange nicht mehr viel weiter gekommen als bis in die Vierziger. Meine Knie sind keine Entschuldigung dafür, dass ich mein Volk nicht sehe.«
Die Bürgermeisterin hielt inne. Der Staubtornado bewegte sich weiterhin genau auf sie zu. Er wuchs und wuchs – die Weitwinkellinsen ließen ihn viel größer und stärker erscheinen, als er war, das wusste sie –, dann fegte er über sämtliche Sensoren hinweg und tauchte die Kantine kurz in Dunkelheit. Als er sich von den Monitoren zurückzog, war der Blick auf die Welt schon wieder von einem leicht schmuddeligen Film überzogen.
»Scheißwind«, knurrte Deputy Marnes. Das alte Leder seines Holsters knarzte, als er die Hand auf den Kolben seiner Pistole legte, und Jahns stellte sich den Deputy in dieser Landschaft da draußen vor, wie er auf seinen dünnen Beinen einem Tornado hinterherjagte und seine Kugeln in die Staubwolke schoss.
Die beiden schwiegen einen Augenblick und betrachteten den Schaden. Schließlich sprach Jahns.
»Bei der Reise geht es nicht um die Wahl, Marnes. Soweit ich weiß, gibt es auch diesmal keine Gegenkandidaten. Wir machen kein großes Trara, wir gehen einfach nur runter, ganz unauffällig. Ich möchte meine Leute sehen, gar nicht unbedingt selbst gesehen werden.« Sie merkte, dass er sie genau beobachtete. »Eine persönliche Sache, Marnes. Ich muss mal raus.«
Sie sah wieder auf den Monitor.
»Manchmal … manchmal glaube ich, ich war zu lange hier oben. Wir beide. Ich glaube, wir sind überhaupt schon zu lange dabei.«
Auf der morgendlichen Wendeltreppe waren Schritte zu hören. Jahns hielt inne, und sie horchten beide auf die Geräusche des Lebens, eines erwachenden Tages. Und sie wusste, dass es Zeit war, die vielen toten Dinge aus dem Kopf zu bekommen. Oder sie zumindest für eine Weile zu verdrängen.
»Wir gehen hinunter und schauen uns diese Juliette einmal gründlich an, du und ich. Denn manchmal, wenn ich hier sitze und hinausgucke und sehe, wozu diese Welt uns treibt – das versetzt mir einen Stich, Marnes. Einen Stich mit einer sehr langen Nadel.«
* * *
Sie trafen sich nach dem Frühstück in Holstons altem Büro. Jahns sah es auch an diesem Tag noch als das Zimmer des verstorbenen Sheriffs an, es war zu früh, um den Raum von seiner Person zu lösen. Sie stand hinter den beiden Schreibtischen und den alten Aktenschränken und schaute in die leere Arrestzelle, während Deputy Marnes letzte Instruktionen an Terry gab, einen stämmigen Sicherheitsmann aus der IT, der schon oft die Stellung gehalten hatte, wenn Marnes und Holston unterwegs gewesen waren. Hinter Terry stand pflichtbewusst ein Teenager namens Marcha, ein junges Mädchen mit dunklem Haar und glänzenden Augen, das in der IT lernte. Sie war Terrys Schatten – ungefähr der halbe Silo hatte einen. Die Schatten waren zwischen zwölf und zwanzig Jahre alt, sie waren wie allgegenwärtige Schwämme, die von ihren Schattenspendern das Wissen und die Techniken aufsaugten, mit denen der Silo zumindest für die nächste Generation noch am Laufen gehalten werden würde.
Deputy Marnes erinnerte Terry noch einmal daran, wie asozial die Leute sich am Tag nach der Reinigung gelegentlich verhielten. Wenn die Anspannung nachließ, machten die Silobewohner gern einen drauf. Die meisten waren zu jung, um sich noch an die letzte Zweifachreinigung zu erinnern, und jetzt glaubten sie, zumindest für ein paar Monate, dass es vielleicht doch einmal passieren könnte.
Die Warnung war kaum nötig – der Lärm im Nebenraum war trotz geschlossener Tür kaum zu überhören. Die meisten Bewohner der oberen vierzig Stockwerke drängten sich bereits in die Kantine und den Aufenthaltsraum. Hunderte aus den mittleren und unteren Stockwerken würden im Laufe des Tages noch nach oben kommen, sie würden sich freinehmen und ihre Urlaubswertmarken einreichen, nur um die klare Aussicht zu sehen. Für viele war es die reinste Pilgerreise, manche kamen nur alle paar Jahre mal nach oben, standen eine Stunde lang herum und murmelten, dass es immer noch genauso aussehe, wie sie es von früher in Erinnerung hatten, und dann scheuchten sie ihre Kinder vor sich her wieder die Treppe hinunter, gegen den Strom der nach oben drängenden Menge.
Terry wurde mit dem Schlüssel und einem Übergangsabzeichen zurückgelassen. Marnes überprüfte die Batterien in seinem Funkgerät, stellte die Lautstärke am Bürogerät hoch und inspizierte seine Dienstwaffe. Er reichte Terry die Hand und wünschte ihm viel Glück. Jahns spürte, dass es Zeit war zu gehen, und wandte sich von der leeren Zelle ab. Sie verabschiedete sich von Terry, nickte Marcha zu und folgte Marnes aus der Tür.
»Ist es okay für dich, das Büro so kurz nach der Reinigung zu verlassen?«, fragte sie, als sie in die Kantine traten. Sie wusste, dass später am Abend noch deutlich mehr los sein würde und wie reizbar die Menge sein konnte. Es war kein guter Zeitpunkt, um den Deputy wegen einer eigentlich egoistischen Aktion hier wegzuzerren.
Ende der Leseprobe