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Dies ist Teil 5 von SILO: Hugh Howeys verstörende Zukunftsvision ist rasanter Thriller und Gesellschaftsroman in einem. Silo handelt von Lüge und Verrat, Menschlichkeit und der großen Tragik unhinterfragter Regeln.
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Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Wool 5« bei CreateSpace, Charleston, South Carolina Übersetzung aus dem Englischen von Gaby Wurster und Johanna Nickel
Fünfter Teil des fünfteiligen E-Books zu der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
2. Auflage 2013
ISBN 978-3-492-96147-9
© 2011 Hugh Howey Deutschsprachige Ausgabe: © 2013 Piper Verlag GmbH, München Umschlaggestaltung: Hafen Werbeagentur Umschlagfoto & Abbildung Innentitel: Keystone-France / Gettyimages
53. KAPITEL
Silo 18
Marck rannte die Haupttreppe hinunter, seine Hand glitt über das kalte Geländer, unter dem Arm das Gewehr, seine Stiefel glitten immer wieder in einer Blutlache aus. Er hörte kaum das Geschrei um sich herum, das Stöhnen der Verletzten, die Rufe der Menschentrauben auf jedem Treppenabsatz oder das Drohgebrüll der Männer, die ihn und die anderen von Stockwerk zu Stockwerk jagten.
Das Dröhnen in seinen Ohren verdeckte die meisten anderen Geräusche. Es war die Explosion, diese riesige Explosion – nicht die, die die Türen der IT gesprengt hatte, darauf war er vorbereitet gewesen und hatte sich mit den anderen hingekauert. Auch nicht die zweite Bombe, die Knox tief ins Herz des gegnerischen Stockwerks geworfen hatte. Nein, es war die letzte gewesen – aus den Händen der kleinen weißhaarigen Frau aus der Versorgung. Die hatte er nicht kommen sehen.
McLains Bombe. Sie war direkt vor ihm losgegangen, hatte ihn das Gehör gekostet und McLain das Leben.
Und Knox, der Chef der Mechanik, sein guter Freund – tot.
Es war noch ein langer Weg, bis sie sich unten im Silo in Sicherheit gebracht hätten, zudem war Marck verzweifelt auf der Suche nach seiner Frau. Das war, worauf er sich konzentrierte, viel eher als auf das, was geschehen war. Er wollte nicht an die Explosion denken, die seine Freunde getötet und den Aufstand hatte scheitern lassen.
Von oben waren gedämpfte Schüsse zu hören, gefolgt vom Aufprall der Kugeln auf dem Stahl der Treppe – Gott sei Dank nur auf dem Stahl. Marck ging auf Abstand zum äußeren Handlauf, der von den oberen Treppenabsätzen beschossen wurde. Seine Leute waren kämpfend über ein Dutzend Stockwerke geflüchtet. Marck betete still, dass die Verfolger von ihnen ablassen, dass sie ihnen eine Pause gönnen würden, aber die Stiefel und die Kugeln kamen immer näher.
Eine halbe Etage tiefer holte er drei Kämpfer aus der Versorgung ein, zwei Männer und eine Frau. Der Mann in der Mitte war getroffen worden, seine Arme hingen über die Schultern der anderen, ihre gelben Overalls waren blutverschmiert. Marck schrie, sie sollten weitergehen, seine eigene Stimme konnte er nicht hören, konnte sie nur in der Brust spüren. Das Blut, in dem er ausglitt, war zum Teil sein eigenes.
Marck presste den verletzten Arm an seine Brust, sein Gewehr lag in der Armbeuge, die andere Hand am Geländer verhinderte, dass er Hals über Kopf die Treppe hinabstürzte. Hinter ihm waren keine Verbündeten mehr, niemand hatte den letzten Schusswechsel überlebt, er war selbst kaum entkommen. Und nun kamen sie immer näher, unaufhaltsam. Hin und wieder blieb Marck kurz stehen, schob eine neue Patrone in den Lauf und feuerte blind die Treppe hinauf. Einfach nur, um etwas zu tun. Um sie aufzuhalten.
Er machte eine Verschnaufpause, beugte sich über den Handlauf und richtete das Gewehr nach oben. Seine nächste Patrone war ein Blindgänger – die Munition der anderen, die zur Antwort zurückschossen, war ganz offensichtlich von wesentlich besserer Qualität.
Er ging hinter dem Mittelpfeiler der Wendeltreppe in Deckung und lud nach. Er ging zum Geländer und spähte zum nächsten Treppenabsatz hinunter. In einem Türspalt konnte er panische Gesichter sehen, Finger klammerten sich an den stählernen Rahmen. Er war auf der Sechsundfünfzig angekommen, wo er seine Frau zum letzten Mal gesehen hatte.
»Shirly!«
Er rief ihren Namen und folgte der Treppe eine weitere Vierteldrehung bis auf die Etage hinunter.
»Meine Frau!«, schrie er und vergaß, dass er kaum noch mehr hören konnte als ein dumpfes Rauschen. »Wo ist Shirly?«
In der dunklen Menschentraube bewegte sich ein Mund. Jemand deutete nach unten. Die Köpfe wichen zurück, die Tür knallte zu, als ein weiterer Querschläger durchs Treppenhaus pfiff. Marcks Blick fiel auf die Kabel, die über den Handlauf hingen, und er erinnerte sich, dass die Farmer versucht hatten, vom unteren Stockwerk Strom abzuzapfen. Er rannte weiter, folgte den dicken Elektroleitungen. Er musste unbedingt Shirly finden.
Er war sich sicher, dass seine Frau sich noch auf dieser Etage aufhielt, er rannte entschlossen über den Treppenabsatz, warf sich gegen die Eingangstür. Schüsse knallten. Marck griff nach der Klinke und schrie ihren Namen. Die Tür bewegte sich, wurde aber von innen zugehalten. Er schlug gegen das Fenster, hinterließ einen blutigen Handabdruck und schrie, dass sie aufmachen, ihn einlassen sollten. Ununterbrochen sprangen die Kugeln neben seinen Füßen vom Boden auf, eine Kugel zerschrammte direkt neben ihm das Türblatt. Marck duckte sich, flüchtete ins Treppenhaus zurück.
Er zwang sich weiterzugehen. Sollte Shirly hinter einer dieser verschlossenen Türen sein, dann war sie zumindest in Sicherheit. Sie würde warten können, bis sich alles wieder beruhigt hätte, sie könnte ihre Waffen und alles andere, was sie belasten würde, auf dem Stockwerk verstecken. Und wenn sie vor ihm auf der Treppe war, dann musste er ihr ohnehin hinterher. So oder so – der einzige Weg führte nach unten.
Auf dem nächsten Treppenabsatz traf er abermals auf die kleine Gruppe aus der Versorgung. Der Verletzte saß mit aufgerissenen Augen auf dem Boden, die beiden anderen kümmerten sich um ihn, sie waren selbst blutverschmiert, nachdem sie ihn gestützt hatten. Die Frau hatte Marck während des Aufstiegs schon gesehen. In ihren Augen blitzte die Wut, als Marck stehen blieb und helfen wollte.
»Ich kann ihn tragen!«, schrie er und kniete sich neben den verletzten Mann.
Die Frau sagte etwas, Marck deutete kopfschüttelnd auf seine Ohren.
Sie wiederholte es mit übertriebenen Lippenbewegungen, aber Marck verstand noch immer nicht. Sie gab auf, stieß ihn weg. Der Verletzte fasste sich an den Bauch – ein roter Fleck breitete sich vom Magen bis zum Unterleib aus.
Die Frau zog eine Bombe aus ihrer Umhängetasche – eine der selbst gebastelten Rohrbomben, deren Schlagkraft Marck bereits hatte miterleben müssen. Sie gab sie dem Verletzten mit ernster Miene, er nahm sie mit zitternden Händen und weißen Knöcheln entgegen. Dann zog sie Marck weiter die Treppen hinunter, weg von dem Mann, dessen Overall inzwischen nass war von Blut.
Das Gebrüll klang weit entfernt, aber Marck wusste, dass die anderen näher kamen. Er wandte sich noch einmal um, begegnete dem leeren Blick des todgeweihten Mannes. Der Verletzte hielt die Bombe auf Armeslänge, seine Finger schlossen sich um den todbringenden Stahlzylinder. Das Weiß seiner zusammengebissenen Zähne blitzte auf.
Marck blickte die Treppe hinauf, die Stiefel kamen in Sicht – der Feind folgte unaufhaltsam der blutigen Spur, die Marck und die anderen zurückgelassen hatten.
Rückwärts wankte er die Treppe hinunter, halb gezogen von den anderen, eine Hand am Geländer. Seine Augen wanderten zu der Etagentür hinter dem Mann, den sie zurückgelassen hatten.
Ein junges Gesicht tauchte dort auf, ein neugieriges Mädchen kam herausgelaufen, um zu sehen, was los war. Ein Gewirr von Erwachsenenhänden griff zu und zog es zurück.
Marck wurde die Wendeltreppe hinuntergezerrt, er war schon zu weit unten, um zu sehen, was als Nächstes geschah. Doch so taub seine Ohren auch waren, das Knallen und Pfeifen des Gewehrfeuers konnte er hören. Dann eine Explosion, eine gewaltige Explosion, die Haupttreppe bebte. Marck und die anderen wurden zu Boden gerissen, stießen gegen das Geländer. Sein Gewehr fiel an den Rand der Stufen, Marck machte einen Satz und hielt es fest, bevor es in den Abgrund fiel und verschwand.
Fassungslos schüttelte er den Kopf. Er rappelte sich auf, taumelte benommen die Stufen hinab, die unter seinen Füßen vibrierten und dröhnten und sich immer weiter in den dunklen Wahnsinn des Silos hinunterschraubten.
54. KAPITEL
Silo 18
Wirklich zur Ruhe kamen sie erst Stunden später in der Versorgung. Sie überlegten, ob sie sich verschanzen, eine Art Barrikade errichten sollten. Wie genau sie das ganze Treppenhaus samt dem Schacht im Inneren der Wendeltreppe blockieren könnten, war jedoch unklar.
Auf der letzten Etappe des Abstiegs war Marcks Gehör wieder besser geworden, zumindest so weit, dass er das rhythmische Trampeln seiner Stiefel und sein eigenes Keuchen hören konnte. Er hörte jemanden sagen, dass die Explosion die Treppe beschädigt habe und ihre Gegner aufgehalten worden seien. Aber für wie lange? Und wie groß war der Schaden? Das wusste niemand.
Die Stimmung in der Versorgung war angespannt. Die Nachricht von McLains Tod erschütterte die gesamte Abteilung. Die Verletzten in den gelben Overalls wurden hineingetragen, und es wurde, nicht gerade freundlich, erklärt, dass die Verletzten aus der Mechanik unten in ihrer eigenen Abteilung behandelt werden sollten. Dort, wo sie hingehörten.
Marck irrte in diesem Streit umher, die Stimmen klangen noch immer gedämpft und fern. Er fragte nach Shirly, aber die Kämpfer in ihren gelben Overalls zuckten nur mit den Achseln, als würden sie seine Frau nicht kennen. Ein Mann sagte, sie sei mit den anderen Verletzten schon hinuntergegangen. Marck fragte noch einmal nach, ließ den Mann lauter sprechen, um sicherzugehen, dass er ihn richtig verstanden hatte.
Das waren gute Nachrichten, fand er. Er wollte schon weitergehen, als seine Frau auf einmal aus der Menge auftauchte. Er erschrak.
Ihre Augen weiteten sich, als sie ihn sah, dann fiel ihr Blick auf seinen verletzten Arm.
»Oh Gott!«
Sie umarmte ihn, drückte ihr Gesicht an seinen Hals. Marck umschlang sie mit dem anderen Arm, das Gewehr steckte zwischen ihnen, der kalte Lauf berührte seine Wange.
»Alles okay bei dir?«, fragte er.
Sie umfasste seinen Hals, ihre Stirn lag an seiner Schulter. Sie sagte etwas, hören konnte er es nicht, spürte es aber an seiner Haut. Dann wich sie zurück und untersuchte seinen Arm.
»Ich kann nichts hören«, sagte er.
»Mir geht es gut«, sagte sie lauter. Mit aufgerissenen, feuchten Augen schüttelte sie den Kopf. »Ich war gar nicht oben. Ich war nicht dabei. Stimmt das mit Knox? Was ist passiert? Wie schlimm war es?«
Sie konzentrierte sich auf Marcks Wunde, ihre Hände fühlten sich gut an auf seinem Arm, stark und sicher. Die Menge lichtete sich, die Leute aus der Mechanik stiegen bereits weiter die Treppe hinunter. Ein paar Versorgungstechniker in gelben Anzügen starrten Marck an und beäugten seine Wunde, als fürchteten sie, die Verletzung könne zu ihrem Problem werden.
»Knox ist tot«, sagte Marck zu seiner Frau. »McLain auch. Und noch ein paar andere. Ich stand direkt daneben, als die Bombe in die Luft ging.«
Er besah sich seinen Arm, Shirly hatte sein zerrissenes und fleckiges Unterhemd weggezogen und die Wunde freigelegt.
»Bist du angeschossen worden?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht. Alles ging so schnell.« Er blickte hinter sich. »Wohin wollen die anderen? Warum bleiben wir nicht hier?«
Shirly verzog den Mund und nickte mit dem Kinn zur Tür, die in Zweierreihen von gelben Overallträgern versperrt wurde. »Ich glaube nicht, dass wir hier erwünscht sind«, sagte sie laut, damit Marck sie hören konnte. »Ich muss die Wunde reinigen. Da stecken noch Bombensplitter drin.«
»Mir geht es gut«, sagte er stur. »Ich habe dich gesucht. Ich bin fast umgekommen vor Sorge.«
Er sah, dass seine Frau weinte, die Tränen liefen durch den Schmutz auf ihrem Gesicht.
»Ich habe gedacht, du wärst tot«, sagte sie. Er musste es ihr von den Lippen ablesen. »Ich dachte, sie hätten … du wärst …«
Sie biss sich auf die Lippe und sah ihn mit einer seltsamen Angst an. Marck hatte seine Frau noch nie so nervös erlebt, nicht einmal damals bei dem Erdsturz in der Mine, als einige ihrer engsten Freunde verschüttet worden waren. Selbst als Juliette zur Reinigung geschickt worden war, hatte seine Frau sich ihre Gefühle nicht so sehr anmerken lassen. Aber jetzt stand ihr die Furcht ins Gesicht geschrieben. Und das machte ihm noch mehr Angst als alle Kugeln und Bomben zusammen.
»Gehen wir schnell zu den anderen«, sagte er und nahm sie an der Hand. Er spürte die Wut auf dem Treppenabsatz, die abweisenden Blicke.
Als von oben abermals Geschrei zu hören war und die Versorgungsleute sich in den sicheren Stockwerkseingang zurückzogen, wusste Marck, dass die kurze Atempause vorüber war. Aber es war in Ordnung. Er hatte seine Frau gefunden. Sie war unverletzt. Ihm würde nichts mehr etwas anhaben können.
* * *
Auf der hundertneununddreißigsten Etage wusste Marck, dass sie es geschafft hatten. Irgendwie hatten seine Beine durchgehalten. Der Blutverlust hatte ihn nicht umgebracht. Mit der Hilfe seiner Frau erreichte er das letzte Stockwerk über der Mechanik. Er hatte nur diesen einen Gedanken, sie durften sich niemals von diesen Unmenschen kleinkriegen lassen, die von oben hinter ihnen her waren. Auf ihrem Stockwerk würden sie ihre Kraft zurückgewinnen, sie wären zahlenmäßig überlegen und hätten Heimvorteil. Vor allem könnten sie ihre Wunden verbinden und sich ein wenig ausruhen. Das brauchte er jetzt am dringendsten: Ruhe.
Auf den letzten Metern wäre er fast gestolpert. Nach dem langen Abstieg erwarteten seine Beine eine weitere Stufe und kamen auf dem flachen Boden kaum voran. Als seine Knie nachgaben und Shirly ihn auffing, sah er den Menschenauflauf im Sicherheitsbereich vor dem Eingang zur Abteilung.
Die Mannschaft, die zurückgeblieben war, während der Rest in den Kampf hinaufmarschierte, war nicht untätig gewesen. Die breite Sicherheitsschranke war mit verschweißten Stahlplatten massiv abgeschottet worden. Der geriffelte Schild reichte vom Boden bis zur Decke und von Wand zu Wand. Funken stoben an der einen Kante noch auf, wo jemand die Arbeit von innen vollendete. Es gab einen enormen Andrang von Flüchtigen und Verletzten, die Männer und Frauen der Mechanik drängten gegen die Barriere, schrien vor Angst und schlugen gegen die Platten.
»Was ist hier los, zum Teufel?«, brüllte Marck. Er folgte Shirly, die bis zum Rand der Menge vorging. Vorn legte sich jemand auf den Boden und robbte auf dem Bauch durch einen winzigen Spalt. Man hatte ein Rechteck unter dem Drehkreuz offen gelassen, gerade groß genug, dass eine Person unten hindurchrutschen konnte, eine winzige Lücke, denkbar leicht zu verteidigen.
»Immer mit der Ruhe! Warte, bis du an der Reihe bist!«, rief jemand vor Marck.
Als er seine Frau nach vorn schieben wollte, ertönte ein Schuss – mit einem Knall schlug die Bleikugel neben ihm ein. Er zog Shirly wieder zurück zur Treppe. Das Gedränge an dem winzigen Eingang wurde hektisch. Durch das Loch wurde vor und zurück gebrüllt – die Leute vor der Wand schrien, dass sie beschossen wurden, die auf der anderen Seite riefen: »Einer nach dem anderen!«
Einer lag flach auf dem Bauch, streckte die Arme aus und wurde durch das Loch gezogen. Zwei andere drängelten sich hinter ihm. In dem offenen Treppenhaus gab es keinerlei Deckung, dann fiel wieder ein Schuss, jemand griff sich an die Schulter und schrie: »Ich bin getroffen!« Ein paar rannten zur Treppe zurück, wo die überhängenden Stufen Deckung vor den Kugeln boten. Der Rest war in Panik, alle versuchten gleichzeitig, das Loch zu passieren, das absichtlich so gemacht war, dass jeweils nur eine Person hindurchpasste.
Shirly schrie und umklammerte Marcks Arm, als neben ihr abermals jemand getroffen wurde. Ein Mechaniker fiel zu Boden und krümmte sich vor Schmerz. Shirly schrie ihren Mann an, fragte, was sie tun sollten.
Marck stellte seinen Rucksack ab und küsste sie auf die Wange. Mit dem Gewehr lief er die Treppen hinauf. Er versuchte, zwei Stufen auf einmal zu nehmen, aber seine Beine schmerzten zu sehr. Sein Körper war unglaublich schwer und langsam, er kam sich vor wie in einem schlechten Traum. Mit erhobenem Gewehr näherte er sich dem Treppenabsatz des hundertneununddreißigsten Stocks, doch die Angreifer, die die Leute unter Beschuss nahmen, waren weiter oben.
Er prüfte, ob sein Gewehr geladen war, spannte den Hahn und schob sich auf den Treppenabsatz. Ein paar Männer in den grauen Anzügen der Security beugten sich von oben übers Geländer und zielten auf das Erdgeschoss der Mechanik. Einer der Männer stieß seinen Nachbarn an und deutete auf Marck, der die Szene entlang seines Gewehrlaufs beobachtete.
Er feuerte – von oben fiel ein schwarzes Gewehr auf ihn herab, die Arme des Schützen sanken aufs Geländer, bevor sie zurücksackten und aus der Sicht verschwanden.
Schüsse fielen, aber Marck hatte sich bereits geduckt und unter die Treppe zurückgezogen. Das Geschrei über und unter ihm wurde lauter. Er ging auf die andere Seite der Treppe, weg von der Stelle, wo er zuletzt gesehen worden war, und blickte hinunter. Der Andrang vor der Sicherheitsschranke wurde langsam schwächer. Mehr und mehr Leute wurden hindurchgezogen. Er sah, dass Shirly hinaufblickte und ihre Augen gegen das Treppenhauslicht abschirmte.
Hinter ihm knallten Stiefel. Marck lud durch, drehte sich um und zielte auf die höchste Stufe, die er auf der Wendeltreppe noch erkennen konnte. Er wartete auf den, der da kommen würde.
Als der erste Stiefel in Sicht kam, straffte er sich, wartete, bis er noch mehr von dem Mann vor den Lauf bekam, dann drückte er ab.
Ein weiteres Gewehr krachte auf die Stufen, ein weiterer Mann ging in die Knie.
Marck drehte sich um und rannte. Das Gewehr fiel ihm aus der Hand, er spürte, wie es beim Fallen an sein Schienbein prallte. Er blieb nicht stehen, um es aufzuheben. Er kam aus dem Tritt, stürzte ein Stück die Treppe hinab und stand sofort wieder auf. Er wollte zwei Stufen auf einmal nehmen, aber er rannte wie in Trance, nicht schnell genug, seine Beine waren wie rostiger Stahl …
Hinter ihm ein Knall, ein gedämpfter Schrei – jemand hatte ihn eingeholt, stieß ihm mit einem Gewehrlauf in den Rücken.
Marck fiel nach vorn, sein Kinn schrammte über die Stahlstufen. Blut lief ihm in den Mund. Er versuchte zu krabbeln, kam wieder auf die Beine, taumelte weiter.
Wieder ein Schrei, wieder ein Schlag in den Rücken, ihm war, als würde man ihn gleichzeitig beißen und treten.
So ist es, wenn man erschossen wird, dachte er dumpf. Er stürzte die letzten paar Stufen hinunter, verlor das Gefühl in den Beinen, prallte gegen die Stahlwand.
Das Erdgeschoss war fast leer. Eine Person stand neben dem kleinen Loch, eine weitere lag halb innen, halb außen und strampelte mit den Beinen. Marck sah, dass es Shirly war, die auf dem Bauch lag und sich zu ihm umdrehte. Beide lagen sie da, es war so bequem auf dem Boden, der Stahl lag kühl an seiner Wange. Er musste keine Stufen mehr hinunterrennen, kein Gewehr mehr laden, auf niemanden mehr schießen.
Shirly schrie, sie war anscheinend nicht so zufrieden wie er, dass sie hier liegen konnten.
Ein Arm streckte sich aus dem kleinen schwarzen Rechteck nach ihm aus. Shirly wurde auf die anderen Seite gezogen, gestoßen von dem freundlichen Menschen in Blau, der an dieser merkwürdigen Stahlwand stand, wo einmal der Eingang zu seiner Heimat gewesen war.
»Geh!«, sagte Marck zu ihr und wünschte sich, sie würde nicht so schreien. Ein feiner Blutfilm glitt auf den Boden vor ihm, als er sprach. »Ich liebe dich …«
Wie auf Kommando glitten ihre Beine in die Dunkelheit, ihre Schreie wurden von diesem rechteckigen, düsteren Schlund geschluckt.
Der nette Mann in Blau drehte sich um, er riss die Augen und den Mund auf, dann zuckte sein Körper unter der Gewalt des Kugelhagels.
Das war das Letzte, was Marck sah, den Todestanz dieses Mannes. Und ganz vage, nur für einen Augenblick, spürte er, dass sein Ende nah war.
55. KAPITEL
Silo 18. Drei Wochen später
Walker blieb in seiner Koje liegen und lauschte den Geräuschen in der Ferne. Rufe hallten vom Eingang der Mechanik herüber. Danach ertönte das vertraute Knattern der Gewehre – das Poppoppoppop der Guten, gefolgt vom Rattattattat der Bösen.
Dann ein ohrenbetäubender Knall, das Brüllen explodierenden Pulvers auf Stahl, dann eine kurze Feuerpause. Stiefel polterten über den Flur, vorbei an seiner Tür. Die Stiefel gaben den Takt der Musik dieser neuen Welt an. Die Musik konnte er in seiner Koje hören, selbst wenn er sich die Decke über den Kopf zog, selbst wenn er sich die Kissen auf die Ohren presste, selbst wenn er wieder und wieder laut flehte, es möge doch bitte aufhören.
Die Stiefel im Korridor brachten noch mehr Geschrei mit sich. Walker rollte sich eng zusammen, zog die Knie an die Brust und fragte sich, was nun schon wieder los war – er fürchtete, es sei schon Morgen und er müsste aufstehen.
Ein kurzer Moment der Stille folgte, die Ruhe, mit der man sich um die Verletzten kümmerte. Ihr Stöhnen war zu schwach, als dass er es durch seine Tür hätte hören können.
Walker versuchte einzuschlafen, bevor die Musik wieder lauter wurde. Doch wie immer war die Stille noch schlimmer – er wartete angespannt auf die nächste Explosion. Und dann bekam er Angst, dass der Widerstand gebrochen wäre, dass die Bösen gewonnen hätten und ihn holen würden …
Jemand klopfte an die Tür, eine kleine, wütende Faust, unverkennbar für seine geübten Ohren. Vier harte Schläge, dann war sie wieder weg.
Shirly. Sie stellte seine Frühstücksration immer an den gewohnten Platz und nahm die Reste des weitgehend unangetasteten Abendessens mit. Walker drehte sich noch einmal auf die andere Seite. Stiefelknallen. Immer in Eile, immer in Angst, immer im Krieg. Sein einst so ruhiger Flur, der abseits gelegen war von den Maschinen und Pumpen, um die man sich allmählich wieder kümmern müsste, dieser Flur war nun eine geschäftige Verkehrsachse. Wichtiger war nur noch die Eingangshalle, dieser Schacht, in dem der Hass sich staute. Zur Hölle mit dem Silo, den Leuten oben und den Maschinen unten, kämpft ihr nur um diesen wertlosen Streifen Land, stapelt die Leichen auf beiden Seiten, so lange, bis einer aufgibt, tut, was ihr tun müsst, tut, was ihr gestern schon getan habt … Niemand schien sich weiter zurückerinnern zu wollen als bis zum gestrigen Tag. Nur Walker. Er erinnerte sich …
Die Tür zu seiner Werkstatt flog auf. Walker sah unter seiner Decke hervor und konnte Jenkins sehen, einen jungen Mann um die zwanzig, der auch mit seinem Bart kaum älter wirkte. Er hatte nach Knox’ Tod das Chaos in der Mechanik übernommen. Der Junge schritt durch das Gewirr aus Werkbänken und verstreuten Einzelteilen direkt auf Walkers Koje zu.
»Ich bin wach!«, stöhnte Walker und hoffte, Jenkins würde wieder gehen.
»Das sehe ich!« Jenkins erreichte die Koje und stieß Walker mit dem Gewehrlauf in die Rippen. »Los, alter Mann, steh auf!«
Walker wedelte mit einem Arm, um den Jungen zu vertreiben.
Jenkins sah durch seinen Bart düster auf ihn herunter, seine jungen Augen waren sorgenvoll zusammengekniffen. »Du musst das Funkgerät reparieren, Walk. Wir werden da draußen bombardiert. Und wenn ich ihre Gespräche nicht abhören kann, dann wird es allmählich schwierig, noch länger die Stellung zu halten.«
»Ich habe die ganze Nacht daran gearbeitet«, sagte Walker. Er rieb sich das Gesicht. Sein Atem roch grauenerregend.
»Funktioniert es? Wir brauchen das Gerät, Walk. Du weißt, dass Hank seinen Hals riskiert hat, um uns das Ding zu holen, oder?«
»Na, dann hätte er eben ein bisschen mehr riskieren und uns auch ein Handbuch bringen sollen!« Walker stand unter dem Protest seiner Gelenke auf und ging zu einer Werkbank hinüber. Seine Beine schliefen noch halb, seine Hände kribbelten, sie waren so schwach, dass er die Finger nicht zur Faust ballen konnte.
»Den Akku hab ich ausgebaut«, sagte er zu Jenkins. »Das war wohl nicht das Problem.« Er blickte zur offenen Tür und sah Harper im Flur stehen, einen Raffineriearbeiter, der nun Soldat geworden war. Als Pieter getötet worden war, war Harper zu Jenkins’ Stellvertreter ernannt worden. Er schielte auf Walkers Frühstück.
»Bedien dich!«, sagte Walker und machte eine wegwerfende Handbewegung zu der dampfenden Schüssel hin.
Mit großen Augen blickte Harper ihn an, zögerte dann aber nicht länger. Er lehnte sein Gewehr an die Wand, setzte sich auf die Türschwelle und schaufelte das Essen in sich hinein.
Jenkins knurrte abschätzig, sagte aber nichts.
»So, hier.« Walker zeigte ihm die Anordnung auf der Werkbank. Verschiedene Teile des kleinen Funkgeräts waren ausgebaut und wieder so zusammengesteckt worden, dass alles miteinander verbunden war. »Gleichstrom haben wir hier.« Er klopfte auf den Transformator, den er gebaut hatte, um den Akku zu überbrücken. »Und der Kopfhörer funktioniert auch.« Er drückte den Empfangsknopf, und sofort war ein statisches Rauschen aus den Arbeitskopfhörern zu hören. »Aber es kommt nichts durch. Sie sagen einfach nichts.«
Jenkins musterte ihn.
»Ich hatte es die ganze Nacht an, und ich habe einen leichten Schlaf«, versicherte Walker ihm. »Sie benutzen den Funk nicht.«
Jenkins rieb sich das Gesicht und ballte die Faust. Mit geschlossenen Augen hielt er sich den Kopf, seine Stimme klang müde. »Meinst du, es ist vielleicht etwas kaputtgegangen, als du es aufgebrochen hast?«
»Ich habe es auseinandermontiert«, sagte Walker, »nicht aufgebrochen.«
Jenkins blickte an die Decke und entspannte seine Faust. »Meinst du, sie wissen, dass wir eines haben? Ich schwöre dir, dieser verfluchte Priester, den sie geschickt haben, der ist ein Spion! Seit wir ihn hereingelassen haben, damit er die Sterbesakramente erteilt, geht ständig alles kaputt.«
»Ich denke schon, dass sie die Funkgeräte noch immer benutzen, nur dieses hier ist irgendwie nicht an das Netz angeschlossen. Weißt du was? Ich baue eine andere Antenne, eine stärkere.«
Er deutete auf die Kabel, die sich von der Werkbank bis zur Decke hinaufwanden.
Jenkins folgte Walkers Finger, dann fuhr er zur Tür herum. Auf dem Flur war wieder Geschrei zu hören. Harper lauschte kurz, grub aber sofort seinen Löffel wieder in den Maisbrei.
»Seit fast einer Woche schießen wir blind drauflos. Ich brauche Ergebnisse, keine Unterrichtsstunde über diesen …«, mit einer Handbewegung deutete Jenkins auf Walkers Werkbank, »diesen … ganzen Hokuspokus.«
Walker ließ sich auf seinen Lieblingshocker fallen und besah sich die unzähligen Schaltkreise, die ursprünglich in dem winzigen Funkgerät untergebracht gewesen waren. »Das ist kein Hokuspokus«, sagte er, »das ist Elektrotechnik. Ich weiß, wie die meisten dieser Teile funktionieren, aber über das Gerät an sich ist außerhalb der IT nichts bekannt. Ich muss die Technik zu begreifen versuchen, während ich das Ding zusammenflicke.«
Jenkins rieb sich den Nasenrücken. »Gib mir einfach Bescheid, wenn du Neuigkeiten für mich hast. Alle anderen Aufträge können warten. Nur das hier ist derzeit wichtig. Verstanden?«
Walker nickte. Jenkins drehte sich um und blaffte Harper an, er solle zum Teufel noch mal vom Boden aufstehen.
Als Walker wieder allein war, starrte er auf das zerlegte Gerät, das vor ihm auf der Werkbank lag. Die grünen Lämpchen blinkten, als wollten sie ihn verhöhnen. Aus jahrzehntelanger Gewohnheit griffen seine Hände nach der Lupenbrille, obwohl er eigentlich nur zurück in seine Koje wollte, sich die Decke über den Kopf ziehen und schlafen.
Er ließ seinen Blick über all die Dinge schweifen, die er reparieren musste, und wie immer dachte er dabei an Scottie, seinen kleinen Schatten, der weggegangen war, um in der IT zu arbeiten. Es hatte eine kurze Zeit gegeben, in der Walker glücklich gewesen war – inzwischen glitt diese Zeit in immer weitere Ferne und verblasste in der Vergangenheit. Damals hätte sein Leben vorbei sein sollen, dann hätte er nichts von dem Leid da draußen erfahren müssen.
Er empfand nur noch Furcht und Angst. Und Reue.
Er – er hatte all das ausgelöst, all diesen Lärm und die Gewalt. Davon war Walker überzeugt. Für jedes verlorene Leben trug er die Verantwortung. Jede Träne, die vergossen wurde, wurde durch seine Schuld vergossen. Niemand sagte es, aber er spürte, dass alle so dachten. Eine kurze Nachricht an die Versorgungsabteilung, ein Gefallen, den er Juliette hatte tun wollen, nur ein kurzer Moment, in dem er ihr Achtung hatte erweisen, ihr die Chance hatte geben wollen, ihre Hypothesen zu überprüfen und sich außerhalb der Sichtweite des Silos zum Sterben zu legen – und schon waren die Ereignisse ins Rollen gekommen.
Das war es nicht wert gewesen, befand er. Das war das Ergebnis unterm Strich: Es lohnte sich nicht. Nichts schien sich mehr zu lohnen.
Er beugte sich über die Werkbank und machte sich an die Arbeit. Das tat er immer, das hatte er immer getan. Und nun gab es kein Entkommen mehr, er konnte diese Finger mit ihrer pergamentenen Haut nicht stoppen, diese Handflächen mit den tiefen Linien, die bis zu seinen knochigen Handgelenken führten, wo schwache, dünne Adern wie blau isolierte Kabel verliefen.
Ein Schnitt – und schon wäre er bei Scottie, bei Juliette.
Es war eine Versuchung.
56. KAPITEL
Silo 17
Als Juliette das Drahtseil eindrehen wollte, stach ihr ein Stück Kupfer in den Finger wie der Stachel eines wütenden Insekts.
Sie fluchte, wischte sich das herausquellende Blut an ihrem grauen Overall ab und befestigte das Seil dann endlich am Geländer. Sie begriff noch immer nicht, wie es sich überhaupt hatten lösen können, aber hier in diesem verfluchten Silo schien alles vor die Hunde zu gehen. Ihr Verstand mit eingeschlossen.
Sie beugte sich weit über den Handlauf und legte die Hand auf das Durcheinander aus Rohren und Leitungen, die an der Betonwand des Treppenhauses montiert waren. Mit ihren von der Kälte im unteren Silo eisigen Händen versuchte sie zu spüren, ob Wasser durch die Plastikrohre floss und Schwingungen erzeugte.
»Hast du was?«, rief sie zu Solo hinunter. Sie meinte, ein ganz leichtes Zittern im Rohr zu spüren.
»Ja, ich glaube, schon!«
Juliette runzelte die Stirn und blickte den schwach beleuchteten Schacht hinunter. Sie würde selbst nachsehen müssen.
Sie ließ ihre kleine Werkzeugtasche auf der Treppe liegen – es bestand keine Gefahr, dass jemand kommen und darüberstolpern würde. Sie nahm zwei Stufen auf einmal und kam rasch in die Tiefen des Silos. Die Stromleitungen und die lange Schlange der Rohre kamen bei jeder Umdrehung wieder in Sicht. Tropfen von dunkelrotem Klebstoff hingen an jeder Muffe, die sie mühsam aufgeschnitten und von Hand wieder verklebt hatte.
Neben ihr verliefen andere Kabel, Stromleitungen, die sich den weiten Weg von der IT herunterschlängelten, um die Wachstumslampen der unteren landwirtschaftlichen Anlagen zu versorgen. Juliette fragte sich, wer das Ganze wohl installiert hatte. Solo war es nicht gewesen. Diese Leitungen mussten in der Zeit unmittelbar nach dem Verfall von Silo 17 gelegt worden sein. Solo war nur der glückliche Nutznießer der harten Arbeit anderer gewesen. Die Pflanzenlampen richteten sich nach der Zeitschaltuhr, und durch den schalen Gestank von Öl und Benzin, von Überschwemmung und stehender Luft konnte man schon mehrere Stockwerke entfernt den würzigen Geruch der wuchernden Pflanzen wahrnehmen.
Juliette blieb auf dem Treppenabsatz des hundertsechsunddreißigsten Stockwerks stehen, der letzten trockenen Etage. Solo hatte sie warnen wollen, er hatte es ihr zu erklären versucht, als sie zusammen vor dem wandgroßen Schaubild standen und Juliette von den riesigen Bohrern träumte. Verdammt, sie hätte es sich denken können, hätte von der Überflutung wissen sollen, auch ohne dass man es ihr sagte. Schließlich war auch in den alten Silo ständig Wasser eingesickert, das war eben das Risiko, wenn man unterhalb des Pegels lebte. Wenn die Pumpen nicht arbeiteten, stieg das Grundwasser eben an.
Auf dem Treppenabsatz beugte sie sich über das Stahlgeländer und hielt die Luft an. Solo stand auf der einzigen Stufe, über die sie das Wasser bisher hatten zurückdrängen können. Fast drei Wochen hatten sie an den Strom- und Wasserleitungen gearbeitet, hatten einen größeren Bereich der unteren Hydrokulturgärten in Betrieb genommen, hatten eine Pumpe entdeckt und das Hochwasser in die Tanks der Wasseraufbereitungsanlage geleitet – und sie hatten nur eine einzige Stufe freigelegt!
Solo drehte sich lächelnd zu ihr um. »Es funktioniert, oder?« Er kratzte sich am Kopf, sein struppiges Haar stand nach allen Seiten ab. Seine hoffnungsfrohe Frage hing als Atemwolke in der kalten Luft hier unten in der Tiefe.
»Es funktioniert, aber nicht gut genug.« Sie blickte am Geländer hinunter auf den bunten, wässrigen Schlamm. Die Oberfläche war spiegelglatt, schillerte aber unter einem dichten Öl- und Benzinfilm. Die Notlampen des Treppenhauses reflektierten gespenstisch grün auf dem Wasser und ließen die Tiefen so unheimlich aussehen wie den restlichen leeren Silo.
In der Stille hörte Juliette ein leises Plätschern in dem Rohr neben ihr. Sie meinte, das ferne Brummen der überfluteten Pumpe zwei, drei Meter unter der Öl- und Benzinschicht zu hören.
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