Silo - Hugh Howey - E-Book + Hörbuch

Silo Hörbuch

Hugh Howey

4,5

Beschreibung

Drei Jahre nach dem mysteriösen Tod seiner Frau Allison setzt Sheriff Holston seiner Aufgabe ein Ende und entschließt sich, die strengste Regel zu brechen: Er will das Silo verlassen. Doch die Erdoberfläche ist hoch toxisch, ihr Betreten bedeutet den sicheren Tod. Holston nimmt das in Kauf, um endlich mit eigenen Augen zu sehen, was sich hinter der großen Luke befindet, die sie alle gefangen hält. Seine Entdeckung ist ebenso ungeheuerlich wie die Folgen, die sein Handeln nicht zuletzt für seine Nachfolgerin Juliette hat … Hugh Howeys verstörende Zukunftsvision ist rasanter Thriller und faszinierender Gesellschaftsroman in einem. »Silo« handelt von Lüge und Manipulation, Loyalität, Menschlichkeit und der großen Tragik unhinterfragter Regeln.

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Zeit:9 Std. 30 min

Sprecher:Peter Bieringer
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DianaB

Nicht schlecht

Es war sehr schade, dass dieses Horbach von ursprünglich ca 16 Stunden auf ca 9 Stunden heruntergekürzt wurde. Da ging, meiner Meinung nach, viel vom Inhalt und den Chrarakteren verloren. Eigentlich war das Horbach doch spannend.
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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Wool« bei CreateSpace, Charleston, South Carolina   Übersetzung aus dem Englischen von Gaby Wurster und Johanna Nickel

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

2. Auflage 2013

ISBN 978-3-492-96142-4

© 2011 Hugh Howey Deutschsprachige Ausgabe: © 2013 Piper Verlag GmbH, München Umschlaggestaltung: Hafen Werbeagentur Umschlagfoto & Abbildung Innentitel: Keystone-France / Gettyimages

1. KAPITEL

Die Kinder spielten, als Holston in den Tod hinaufstieg. Er hörte sie kreischen, wie nur glückliche Kinder es tun. Wild tobten sie dort oben umher, während er ganz langsam die Wendeltreppe hinaufging, jeder Schritt bedacht und schwer, seine alten Stiefel dröhnten auf den Stahlstufen.

Die Stufen zeigten, wie auch die Stiefel seines Vaters, deutliche Spuren der Abnutzung. Es klebten Farbbläschen daran, vor allem in den Ecken und an der Unterseite, wo die Stufen vor den Tritten geschützt waren. Der Verkehr weiter unten auf der Treppe wirbelte kleine Staubwölkchen auf. Holston spürte die Vibrationen am Geländer, das bis auf das glänzende Metall abgewetzt war. Das hatte ihn immer fasziniert – dass nackte Handflächen und schlurfende Füße massiven Stahl im Laufe der Jahrhunderte tatsächlich abschleifen konnten. Molekül für Molekül, dachte er. Jedes Leben schliff eine Schicht ab, während der Silo ebendieses Leben schleifte.

Die Stufen waren von generationenlangem Verkehr durchgetreten, die Kante hing herab wie eine schmollende Unterlippe. In der Mitte waren fast keine Spuren der kleinen Noppen geblieben, die den Stufen einmal Trittsicherheit verliehen hatten. Man konnte sie nur noch an den Seiten erahnen, wo kleine konische Erhebungen mit gezackten Kanten und Farbspritzern aus dem flachen Stahl ragten.

Holston setzte einen Stiefel auf eine alte Stufe, er trat auf und wiederholte die Bewegung dann mit dem anderen Bein. In Gedanken war er weiter bei diesen unzähligen Jahren: Moleküle und Leben waren Schicht um Schicht zu feinem Staub zermahlen worden. Und er dachte nicht zum ersten Mal, dass weder das Leben noch die Treppe für diese Art von Existenz bestimmt waren. Die enge und lange Spirale, die sich durch den unterirdischen Silo wand wie ein Strohhalm in einem Glas, war nicht für eine derart massenhafte Benutzung gebaut worden. Wie der Großteil ihres zylindrischen Heims schien die Treppe für andere Aufgaben gedacht, für Zwecke, die lange vergessen waren. Was nun als Verkehrsachse für Tausende Leute diente, die sich in täglichen, sich wiederholenden Spiralen hinauf- und hinunterbewegten, schien in Holstons Augen eher für Notfälle und für lediglich ein paar Dutzend Menschen geeignet zu sein.

Holston ließ ein weiteres Stockwerk hinter sich, in das man kuchenstückförmige Schlafsäle eingeteilt hatte. Während er auf seinem allerletzten Gang die letzten Ebenen hinaufstieg, drang der Klang kindlicher Ausgelassenheit   immer lauter zu ihm herab. Das Gelächter der jungen Seelen, die noch kein Bewusstsein für ihren Lebensraum entwickelt hatten, die noch nicht den Druck der Erde von allen Seiten spürten und in ihrer Vorstellung nicht begraben, sondern einfach nur lebendig waren – ein unbeschwertes Geträller, das so gar nicht zu Holstons Vorhaben passte, zu seiner Entscheidung, nach draußen zu gehen.

Eine einzelne junge Stimme übertönte die anderen, als er sich der obersten Ebene näherte. Holston erinnerte sich an seine Kindheit im Silo, an seine Schulzeit, die Spiele. Damals war der stickige Betonsilo mit seinen vielen Stockwerken, mit den Werkstätten, Hydrokulturgärten und dem Gewirr der Lüftungsrohre ein unermessliches Universum gewesen, eine weite Welt, die man nie zur Gänze erkunden konnte, ein Labyrinth, in dem er und seine Freunde sich für immer verirren konnten.

Doch diese Zeiten waren seit mehr als dreißig Jahren vorbei. Holston hatte das Gefühl, seine Kindheit läge zwei, drei Leben zurück und gehöre zu jemand anderem. Nicht zu ihm. Er war sein Leben lang Polizist gewesen, das wog schwer und blendete die Vergangenheit aus. Außerdem hatte kürzlich ein dritter Lebensabschnitt begonnen – ein geheimes Leben nach seiner Kindheit und nach seiner Zeit als Polizist. Es war die letzte Schicht seiner selbst, die zu Staub zerfallen war. Drei Jahre lang hatte er still auf etwas gewartet, das niemals eintreten würde.

Ganz oben glitt Holstons Hand am Geländer ins Leere. Die geschwungene Stange aus abgewetztem Stahl endete mit der Wendeltreppe, die sich in den größten Raum des ganzen Silos öffnete – die Kantine und den angrenzenden Aufenthaltsraum. Holston war nun auf einer Ebene mit den spielenden Kindern. Helle Gestalten flitzten kreuz und quer zwischen den herumstehenden Stühlen umher und spielten Fangen. Ein paar wenige Erwachsene versuchten, des Chaos Herr zu werden. Holston sah, wie Donna Kreide und Stifte von den fleckigen Bodenfliesen aufhob. Clarke, ihr Mann, saß an einem Tisch, der mit Saftbechern und Schalen voller Maismehlkekse gedeckt war.

Holston blickte auf die Wand der Kantine und die verschwommene Panoramaprojektion – dem umfassendsten zusammenhängenden Blick auf die unwirtliche Welt dort draußen. Es war Morgen, trübes Dämmerlicht überzog die leblosen Hügel, die sich seit Holstons Kindheit kaum verändert hatten. Da waren sie, so wie sie immer da gewesen waren, während er sich von einem unbeschwert in der Kantine spielenden Jungen zu der ausgebrannten Hülle entwickelt hatte, die heute noch von ihm übrig war. Hinter den sich erhaben wellenden Hügelkämmen wurden die schwachen Strahlen der Morgensonne von der Spitze der vor sich hin rottenden Skyline reflektiert. Altes Glas und Stahl standen dort in der Ferne, wo vermutlich einmal Menschen auf der Erdoberfläche gelebt hatten.

Ein Kind löste sich wie ein Komet aus der Gruppe und stieß gegen Holstons Knie. Unvermittelt dachte er an die Lotterie, die sie in Allisons Todesjahr gewonnen hatten. Er hatte noch immer das Los, nahm es überall mit hin. Eines dieser Kinder hätte ihres sein können – ein Mädchen oder ein Junge, es wäre nun zwei Jahre alt und würde mit den anderen Kleinen herumtoben. Wie alle Eltern hatten sie von doppeltem Zwillingsglück geträumt. Sie hatten es versucht, natürlich hatten sie das. Nachdem Allisons Hormonimplantat entfernt worden war, hatten sie eine wundervolle Nacht nach der anderen versucht, den Gewinn einzulösen. Einige Eltern hatten ihnen Glück gewünscht, andere hoffnungsfrohe Kandidaten hatten still gebetet, dass ihr Jahr erfolglos vorüberginge.

Allison und er hatten gewusst, dass ihnen nur ein Jahr zur Verfügung stand, also hatten sie jedes nur erdenkliche Hilfsmittel benutzt und waren am Ende gar dem Aberglauben verfallen. Knoblauch über dem Bett steigerte angeblich die Fruchtbarkeit, zwei Münzen unter der Matratze brachten Zwillinge, ein rosa Band in Allisons Haar, blaue Farbe auf Holstons Augenlidern – alles lächerlich und aussichtslos. Einzig, nicht alles zu versuchen, irgendeinen dummen Trick, irgendeine Strategie auszulassen, wäre noch verrückter gewesen.

Doch es hatte nicht sein sollen. Noch bevor die Jahresfrist abgelaufen war, war das Los einem anderen Paar zugefallen. Es hatte nicht daran gelegen, dass sie sich keine Mühe gegeben hätten, sondern es hatte ihnen die Zeit gefehlt. Genauer gesagt: Es fehlte plötzlich die Frau.

Holston wandte sich von den Kinderspielen und dem trüben Ausblick ab und ging zu seinem Büro, das zwischen der Kantine und der Luftschleuse des Silos lag. Während er diese Strecke zurücklegte, wanderten seine Gedanken zu dem Kampf, der dort einmal stattgefunden hatte, einem Kampf der Geister, den er in den letzten drei Jahren Tag für Tag erneut hatte durchleben müssen. Und er wusste: Würde er sich umdrehen und dem weiten Ausblick an der Panoramawand folgen, würde er durch die zunehmend trüben und fleckigen Kameralinsen und die Luftverschmutzung hindurchspähen und entlang der dunklen Spalte den Hügel hinaufblicken, entlang dieser Falte, die sich über die schlammige Düne zur Stadt hinzog, dann würde er ihre reglose Gestalt erblicken können. Dort auf dem Hügel würde er seine Frau sehen. Sie lag da wie ein schlafender Fels, die Arme unter dem Kopf verschränkt, während die vergiftete Luft an ihr zehrte.

Vielleicht.

Es war nicht gut zu sehen, war auch damals nicht eindeutig auszumachen gewesen, bevor sich die Linse von Neuem zu trüben begann. Außerdem war diesem Blick kaum zu trauen, es gab eher guten Grund, ihn anzuzweifeln. Und deshalb sah Holston ganz einfach nicht hin. Er durchquerte den Raum, in dem der Geist seiner Frau gekämpft hatte und in dem die schlechten Erinnerungen für immer gespeichert waren – das Bild ihres plötzlichen Wahnsinns –, und betrat sein Büro.

»Da ist heute aber einer früh dran!«, sagte Deputy Marnes lächelnd.

Holstons Stellvertreter schloss gerade eine Schublade des metallenen Aktenschrankes, dessen uralte Scharniere leblos quietschten. Er nahm einen dampfenden Becher, dann sah er Holstons ernste Miene. »Alles in Ordnung, Chef?«

Holston nickte. Er deutete auf das Schlüsselbrett hinter dem Schreibtisch. »Zur Arrestzelle«, sagte er.

Das lächelnde Gesicht seines Stellvertreters verzog sich zu einem irritierten Stirnrunzeln. Er stellte den Becher ab, drehte sich um und nahm den Schlüssel. Während Marnes ihm den Rücken zudrehte, rieb Holston ein letztes Mal den scharfkantigen, kalten Stahl in der Hand und legte seinen Stern dann flach auf die Schreibtischplatte. Marnes drehte sich wieder um und reichte Holston den Schlüssel.

»Soll ich den Wischmopp holen?« Marnes deutete mit dem Daumen hinter sich zur Kantine. Sie betraten die Zelle sonst nur, um zu putzen, mit der einzigen Ausnahme, dass gerade jemand verhaftet worden war.

»Nein.« Holston nickte zur Zelle hinüber und bedeutete seinem Stellvertreter, ihm zu folgen.

Der Schreibtischstuhl knarzte, als Marnes aufstand. Holston ging zur Tür, der Schlüssel glitt leicht ins Schloss. Das Innere der massiven Tür gab ein tiefes Stöhnen von sich. Die Türangeln knirschten leise, dann ein entschlossener Schritt, ein Stoß, und die Tortur hatte ein Ende.

Holston reichte den Schlüssel zwischen den Gitterstäben hindurch. Marnes sah ihn unsicher an, aber seine Hand hob sich und nahm ihn entgegen.

»Was ist los, Chef?«

»Hol die Bürgermeisterin«, sagte Holston. Er seufzte, ließ den schweren Atem aus, den er drei Jahre lang angehalten hatte.

»Hol Mayor Jahns. Sag ihr, dass ich rauswill.«

2. KAPITEL

Der Blick aus der Zelle war nicht so verschwommen, wie es der Blick aus der Kantine gewesen war. Holston verbrachte seinen letzten Tag im Silo damit, sich über dieses Rätsel den Kopf zu zerbrechen. Konnte es sein, dass die Kamera auf der Zellenseite des Silos dem toxischen Wind weniger ausgesetzt war? Gaben sich die zum Tode Verurteilten an dieser speziellen Linse vielleicht mehr Mühe mit der Reinigung, weil sie den Blick bewahren wollten, den sie am letzten Tag ihres Lebens genossen hatten? Oder war die zusätzliche Anstrengung ein Gefallen für den Nächsten, der seinen letzten Tag in derselben Zelle würde verbringen müssen?

Holston blickte hinaus in die tote Welt, die irgendwann von den Menschen einer längst vergessenen Zeit zurückgelassen worden war. Der Blick war nicht der beste auf die Landschaft um ihren unterirdischen Bunker herum, aber es war auch nicht der schlechteste. In der Ferne erhoben sich Hügel in einem schönen Braunton – wie Kaffee-Ersatz mit genau dem richtigen Schuss Schweinemilch. Der Himmel über den Hügeln war vom selben dumpfen Grau wie in seiner Kindheit, in der Kindheit seines Vaters und der Kindheit seines Großvaters. Das Einzige, was sich da draußen bewegte, waren die Wolken. Dick und dunkel hingen sie über den Hügeln. Sie zogen frei umher wie das Weidevieh in den Bilderbüchern.

Der Blick auf die tote Welt umfasste die ganze Wand seiner Zelle wie auch alle anderen Wände der obersten Ebene des Silos – wobei jede einen anderen Ausschnitt des trüben und immer trüber werdenden Brachlandes zeigte. Holstons Ausschnitt reichte von seiner Koje hinauf zur Decke, hinüber an die andere Wand und hinunter zur Toilette. Trotz der leichten Unschärfe – als hätte jemand Öl auf die Linse geschmiert – wirkte das Bild so, als könnte man hineinwandern, ein klaffendes, einladendes Loch schräg gegenüber den Gefängnisgittern.

Die Sinnestäuschung überzeugte jedoch nur aus der Ferne. Aus der Nähe betrachtet, konnte Holston auf dem riesigen Bildschirm ein paar tote Pixel sehen, die sich grellweiß von den braunen und grauen Farbnuancen abhoben. Jeder dieser Pixel – Allison hatte sie »klebende Pixel« genannt – leuchtete extrem hell und war wie ein quadratisches Fenster, das sich zu einem strahlenderen Ort hin öffnete, ein Loch von der Breite eines menschlichen Haares, das den Betrachter in eine bessere Wirklichkeit einzuladen schien. Es gab Dutzende dieser klebenden Pixel, wie Holston nun sah. Er fragte sich, ob jemand im Silo wusste, wie man sie reparieren konnte oder ob es dafür spezielles Werkzeug gab. Waren sie für immer tot – so wie Allison? Würden alle Pixel irgendwann absterben? Holston stellte sich einen Tag vor, an dem die Hälfte der Bildpunkte ganz weiß sein würde, dann, eine Generation später, würden nur einige wenige graue und braune Pixel übrig sein, dann nur noch ein knappes Dutzend, und die Welt würde in ein neues Stadium geraten, die Menschen im Silo würden denken, die Außenwelt stehe in Flammen, sie würden die einzigen wahren Pixel für kaputte Pixel halten.

Oder taten Holston und die anderen das jetzt schon?

Hinter ihm räusperte sich jemand. Holston drehte sich um und sah Mayor Jahns auf der anderen Seite des Gitters stehen, die Hände in den Bauchtaschen ihres Overalls. Die Bürgermeisterin deutete ernst mit dem Kinn in Richtung der Koje.

»Wenn die Zelle leer ist, nachts, wenn du und Marnes keinen Dienst habt, sitze ich manchmal hier und genieße diesen Blick.«

Holston wandte sich wieder der matschigen Landschaft zu. Der Anblick war einfach nur deprimierend, verglichen mit den Bildern in den Kinderbüchern – den einzigen Büchern, die den Aufstand überstanden hatten. Die meisten glaubten nicht an die Farben in den Büchern, sowenig wie sie glaubten, dass es je lila Elefanten und rosa Vögel gegeben hatte, doch Holston fand sie wirklicher als das Bild, das er jetzt vor sich hatte. Wie einige andere empfand auch er etwas Ursprüngliches und Tiefes, wenn er diese zerfledderten Seiten und bunten Bilder betrachtete. Und trotzdem wirkte der Blick auf die dreckige Außenwelt gegenüber dem erdrückenden Silo wie eine Erlösung, eben wie die frische Luft, die die Menschen zu atmen geboren waren.

»Hier wirkt alles immer ein bisschen klarer«, sagte Jahns, »also … ich meine … der Blick.«

Holston sagte noch immer nichts. Er sah zu, wie ein kräuseliger Wolkenfetzen sich löste und davonzog. Schwarz und Grau wirbelten durcheinander.

»Du kannst dir ein Essen wünschen«, sagte Jahns. »Das ist Tradition …«

»Du brauchst mir nicht zu erklären, wie das hier abläuft«, unterbrach er sie. »Ich habe Allison vor drei Jahren ihre letzte Mahlzeit in genau diese Zelle gebracht.« Aus Gewohnheit wollte er den Kupferring an seinem Finger drehen, er hatte vergessen, dass er ihn vor ein paar Stunden auf seine Kommode gelegt hatte.

»Ich kann gar nicht glauben, dass es schon so lange her ist«, sagte Jahns leise zu sich selbst. Holston drehte sich um und sah, wie sie mit zusammengekniffenen Augen in die Wolken blickte, die an der Wand zu sehen waren.

»Fehlt sie dir?«, fragte er gehässig. »Oder passt es dir nicht, dass sich in der langen Zeit wieder so viel Dreck auf den Linsen hat ansammeln können?«

Jahns funkelte ihn kurz an, dann senkte sie den Blick. »Du weißt, dass ich das hier nicht will, nicht für die sauberste Linse der Welt. Aber Regeln sind nun mal Regeln.«

»Das musst du mir nicht sagen!« Holston versuchte, seine Wut im Zaum zu halten. »Ich kenne die Regeln besser als die meisten anderen.« Er wollte kurz an sein Abzeichen greifen – aber es fehlte, genau wie sein Ring. »Ich habe diese Regeln den größten Teil meines Lebens durchgesetzt, selbst nachdem mir klar geworden ist, wie unsinnig sie sind!«

Jahns räusperte sich. »Ich werde dich nicht fragen, warum du dich entschieden hast zu gehen. Vermutlich, weil du hier drinnen noch unglücklicher wärst.«

Ihre Blicke trafen sich, Holston sah den Schleier auf ihren Augen, bevor sie ihn wegblinzeln konnte. Sie sah dünner aus als sonst, verloren in ihrem weiten Overall. Die Falten an ihrem Hals und um ihre Augen waren tiefer, als er sie in Erinnerung hatte. Dunkler. Und er dachte, dass ihre Stimme nicht nur vom Alter und vom regelmäßigen Tabakkonsum so brüchig war – er hörte aufrichtiges Bedauern darin.

Auf einmal sah Holston sich mit Jahns’ Augen, sah im blassen Schimmer der toten Außenwelt einen gebrochenen Mann mit grauer Haut, der auf einer abgewetzten Bank saß, und bei diesem Anblick wurde ihm schwindlig. Er versuchte, sich an einem vernünftigen Gedanken, an etwas Sinnvollem festzuhalten. Es war wie ein Albtraum, die Zwangslage, in die sein Leben geraten war. Keines der letzten drei Jahre schien tatsächlich stattgefunden zu haben.

Er sah wieder auf die Hügel hinaus. Aus dem Augenwinkel meinte er ein weiteres Pixel sterben und weiß aufleuchten zu sehen. Ein weiteres winziges Fenster hatte sich geöffnet, eine weitere optische Täuschung.

Morgen bin ich erlöst, dachte er, selbst wenn ich da draußen sterbe.

»Ich bin schon zu lange Mayor«, sagte Jahns.

Holston sah sie an, ihre runzligen Hände umschlossen den kalten Stahl der Gitterstäbe.

»Unsere Aufzeichnungen reichen nicht bis zu den Anfängen zurück, sondern beginnen erst mit dem Aufstand vor anderthalb Jahrhunderten. Aber seitdem hat kein Mayor mehr Menschen zur Reinigung geschickt als ich.«

»Tut mir leid, wenn ich dir Unannehmlichkeiten mache«, sagte Holston.

»Ich will damit nur sagen, dass es mir auch keinen Spaß macht. Nicht den geringsten.«

Holston wies mit einer Armbewegung zum Monitor.

»Aber morgen Abend bist du dann trotzdem die Erste, die sich den Sonnenuntergang durch die frisch geputzte Linse anguckt, oder?« Er hasste den Klang seiner Stimme. Er war nicht wütend über seinen bevorstehenden Tod oder über sein vergangenes Leben, aber er spürte noch immer die Verbitterung über Allisons Schicksal. Es war längst vorbei, und trotzdem sah er die Ereignisse noch als vermeidbar an. »Euch allen wird der Blick morgen gefallen«, sagte er zu sich selbst.

»Das ist nicht fair!«, sagte Jahns. »Gesetz ist Gesetz, und du hast es gebrochen. Du hast vorher gewusst, was dich erwartet.«

Holston starrte auf seine Füße. Ein längeres Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Jahns brach es schließlich: »Einige sind nervös, sie meinen, du könntest die Reinigung verweigern, eben weil du vorab jetzt nicht damit drohst.«

Holston lachte. »Würde es euch besser gehen, wenn ich sagen würde, ich putze die Linsen nicht?« Er schüttelte den Kopf über diese verdrehte Logik.

»Jeder, der hier sitzt, kündigt an, er werde es nicht tun«, sagte Jahns, »und dann tut er es doch. Und deshalb erwarten wir alle …«

»Allison hat nie behauptet, sie werde sich weigern«, stellte Holston richtig, aber er wusste, was Jahns meinte. Er selbst war damals sicher gewesen, dass Allison die Linsen nicht reinigen würde. Nun glaubte er zu verstehen, was sie durchgemacht hatte, als sie auf dieser Bank saß. Es gab Weitreichenderes zu bedenken als die Reinigung. Die meisten Häftlinge, die hinausgeschickt wurden, waren bei irgendeinem Vergehen ertappt worden, sie konnten es kaum glauben, dass sie plötzlich in dieser Zelle saßen und ihr Ende nur noch wenige Stunden entfernt war. Sie sannen auf Rache, wenn sie sagten, sie würden die Reinigung verweigern, es war eine reflexhafte Sturheit. Doch Allison und nun auch Holston hatten andere Sorgen. Die Reinigung war vollkommen belanglos. Sie waren hier, weil sie es, aus irgendeinem verrückten Grund, so wollten. Sie waren beherrscht von der Neugier auf die Außenwelt hinter dem Schleier aus Lügen.

»Also, wirst du die Reinigung nun übernehmen oder nicht?«, fragte Jahns ganz direkt.

Holston zuckte mit den Schultern. »Du hast es doch selbst gesagt: Niemand weigert sich. Dafür muss es ja wohl einen Grund geben.«

Er tat so, als kümmerte es ihn nicht, als interessierte es ihn nicht, warum die Linsen gereinigt wurden – in Wahrheit hatte er den Großteil seines Lebens, vor allem die letzten drei Jahre, über dieses Warum nachgegrübelt. Die Frage trieb ihn in den Wahnsinn. Und es machte ihm nicht das Geringste aus, wenn die Ungewissheit über sein morgiges Verhalten nun diejenigen in den Wahnsinn trieb, die seine Frau auf dem Gewissen hatten.

Nervös strich Jahns mit den Händen an den Gitterstäben auf und ab. »Kann ich ihnen sagen, dass du dich an die Regeln hältst?«

»Es ist mir egal. Du kannst ihnen auch sagen, dass ich die Reinigung verweigern werde. Meine Antwort wird sowieso nichts ändern.«

Jahns sagte nichts. Holston sah sie an, sie nickte.

»Wenn du doch etwas essen willst, sag Deputy Marnes Bescheid. Er bleibt die ganze Nacht im Büro. Das ist so Tradition …«

Tränen stiegen Holston in die Augen, als er sich an diesen Teil seiner früheren Dienstpflichten erinnerte. Er hatte am Schreibtisch ausgeharrt, als Donna Parks vor zwölf Jahren zur Reinigung hinausgeschickt worden war, und ebenso, als vor acht Jahren Jack Brents Zeit gekommen war. Und er hatte sich an das Gitter geklammert, als vor drei Jahren seine Frau an die Reihe kam.

Jahns wandte sich zum Gehen.

»Sheriff«, murmelte Holston, bevor sie außer Hörweite war.

»Wie bitte?« Jahns blieb auf der anderen Seite des Gitters stehen, ihre grauen, buschigen Augenbrauen verhängten ihren Blick.

»Er ist nun Sheriff Marnes, nicht Deputy.«

Jahns klopfte mit den Fingerknöcheln an eine Stahlstange. »Iss was. Und es wird sicher nicht schaden, wenn du versuchst, ein bisschen Schlaf zu bekommen.«

3. KAPITEL

Drei Jahre zuvor

»Das soll wohl ein Scherz sein!«, sagte Allison. »Hör zu, Schatz, du wirst es nicht glauben: Hast du gewusst, dass es mehr als nur einen Aufstand gegeben hat?«

Holston sah von dem Aktenordner auf seinem Schoß auf. Überall um ihn herum lag Papier auf dem Bett, stapelweise alte Akten und neue Beschwerden, die er bearbeiten musste. Allison saß an ihrem kleinen Schreibtisch am Fußende des Betts. Die beiden lebten in einer eigenen Wohnung, die im Lauf der Jahrzehnte nur zweimal unterteilt worden war, weshalb sie luxuriöserweise Platz für einen Schreibtisch und ein breites Bett hatten und nicht in Kojen schlafen mussten.

»Woher sollte ich das wissen?«, fragte er. Seine Frau drehte sich um und steckte sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Holston deutete mit ausgestrecktem Finger auf eine Datei auf ihrem Computerbildschirm. »Das sind jahrhundertealte Geheimnisse, du bist diejenige, die den ganzen Tag darin herumgräbt, und dann soll ich noch vor dir davon gewusst haben?«

»Das war eine rhetorische Frage. Ich wollte dir erzählen, was ich gerade herausgefunden habe. Warum macht dich das nicht neugierig? Hast du überhaupt gehört, was ich gerade gesagt habe?«

Holston zuckte mit den Achseln. »Ich bin nie davon ausgegangen, dass dieser eine Aufstand, von dem wir wissen, der erste war, er war eben nur der letzte. Wenn ich in meinem Beruf etwas gelernt habe, dann, dass kein Verbrecher und kein wild gewordener Mob jemals besonders einfallsreich ist.« Er nahm seine Akte am Falz. »Meinst du, das hier ist der erste Wasserdiebstahl im Silo? Oder der letzte?«

Allisons Stuhl quietschte auf den Bodenfliesen, als sie sich zu ihm umdrehte. Auf dem Monitor hinter ihr blinkten die Bruchstücke und Teile der Daten, die sie aus den alten Servern des Silos geborgen hatte, Relikte von Informationen, die vor langer Zeit gelöscht und unzählige Male überschrieben worden waren. Holston hatte noch immer nicht begriffen, wie diese Bergungsarbeiten funktionierten oder warum jemand, der klug genug war, um sich mit diesen Dingen zu beschäftigen, gleichzeitig so dumm sein konnte, ihn zu lieben. Aber er akzeptierte beides als die Wahrheit.

»Ich bastle eine Reihe alter Berichte zusammen«, sagte sie. »Und wenn ich die bisherigen Unterlagen richtig verstehe, dann ist unser guter alter Aufstand regelmäßig vorgekommen. Einmal in jeder Generation oder so.«

»Wir wissen nicht viel von dem, was früher passiert ist«, sagte Holston. Er rieb sich die Augen und dachte an all den Papierkram, den er noch erledigen musste. »Vielleicht war damals noch nicht geregelt, wie die Linsen gereinigt werden. Ich wette, dass der Blick oben immer unschärfer geworden ist und die Leute unten verrückt geworden sind. Dann gab es eine Revolte oder Ähnliches, und schließlich hat man ein paar Leute aus dem Silo verbannt und zur Reinigung geschickt. Oder vielleicht ist es eine Form der natürlichen Geburtenkontrolle gewesen – vor der Lotterie.«

Allison schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Ich habe langsam das Gefühl …« Sie hielt inne und schielte auf die Papiere, die Holston um sich herum ausgebreitet hatte. Beim Anblick all dieser protokollierten Gesetzesübertretungen schien sie sich genau zu überlegen, was sie sagen wollte. »Ich will nicht sagen, dass jemand im Recht oder Unrecht gewesen ist. Ich könnte mir nur vorstellen, dass die Rebellen beim Aufstand die Server nicht selbst gelöscht haben, jedenfalls nicht so umfassend, wie man uns immer erzählt hat.«

Nun hatte sie Holstons Aufmerksamkeit. Das Rätsel der leeren Server, die gelöschte Vergangenheit ihrer Vorfahren im Silo, ließ niemandem Ruhe. Die Datenlöschung war ganz offensichtlich ein Märchen. Er klappte den Ordner zu, an dem er gerade arbeitete, und legte ihn aus der Hand. »Was ist deiner Meinung nach die Ursache für den Verlust der Daten?«, fragte er. »Ein Unfall? Feuer? Stromausfall?«

»Nein.« Allison senkte die Stimme. »Ich denke, wir haben die Festplatten gelöscht, unsere Vorfahren – nicht die Rebellen.« Sie drehte sich wieder zum Bildschirm um, beugte sich vor und fuhr mit dem Finger über eine Zahlenreihe, die Holston vom Bett aus nicht lesen konnte. »Zwanzig Jahre«, sagte sie, »achtzehn, vierundzwanzig.« Ihr Finger machte ein Geräusch auf dem Monitor. »Achtundzwanzig. Sechzehn. Fünfzehn.«

Holston bahnte sich einen Weg durch die Akten zu seinen Füßen, er stapelte sie aufeinander, während er sich zum Schreibtisch vorbewegte. Er setzte sich auf die Bettkante, legte seiner Frau die Hand in den Nacken und blickte über ihre Schulter auf den Bildschirm.

»Sind das die Daten?«, fragte er.

Sie nickte. »Etwa alle zwanzig Jahre hat es eine große Revolte gegeben. In diesem Bericht sind die Jahreszahlen festgehalten. Die Datei wurde beim jüngsten Aufstand gelöscht – unserem Aufstand.«

Sie sagte »unser Aufstand«, als wären sie beide oder einer ihrer Freunde damals schon am Leben gewesen. Aber Holston wusste, was sie meinte – sie waren im Schatten dieses Aufstands groß geworden, er hatte sie geprägt: der große Konflikt, der über ihrer Kindheit, über ihren Eltern und Großeltern geschwebt hatte. Der Aufstand, den man nur flüsternd erwähnte.

»Und wie kommst du darauf, dass wir es waren? Dass die Guten die Server gelöscht haben?«

Mit einem grimmigen Lächeln drehte sie halb den Kopf. »Wer sagt denn, dass wir die Guten sind?«

Holston nahm seine Hand aus Allisons Nacken. »Fang nicht damit an! Sag nichts, was …«

»Ist doch nur Spaß!« Aber damit spaßte man nicht. Es war Hochverrat. »Nach meiner Theorie«, sagte sie schnell und betonte das letzte Wort, »gibt es in jeder Generation einen Aufstand, ja? Seit über hundert Jahren oder auch länger. Zuverlässig wie ein Uhrwerk.« Sie deutete auf die Daten. »Aber damals, beim großen Aufstand – dem einzigen, von dem wir bislang wissen –, hat jemand die Server gelöscht. Und ich kann dir versichern, dass man dazu nicht nur ein paar Tasten drücken oder ein Feuer legen muss. Die Daten sind vielfach gesichert, es gibt Back-up über Back-up. Den gesamten Datenbestand könnte man nur in einer breit angelegten Aktion löschen, auf keinen Fall versehentlich, nicht einmal durch bloße Sabotage …«

»Damit weißt du aber noch immer nicht, wer die Verantwortung trägt«, merkte Holston an. Was Computer anging, war seine Frau ein Genie, aber Detektivarbeit war nicht ihr Ding, das war sein Job.

»Was ich aber weiß, ist«, fuhr sie fort, »dass es in jeder Generation eine Revolte gegeben hat, und die entsprechenden Daten gelöscht worden sind.«

Sie biss sich auf die Lippe.

Holston richtete sich auf.

Er sah sich im Raum um und ließ diese Erkenntnis auf sich wirken. Er sah vor seinem geistigen Auge, wie Allison ihm seinen Detektivkoffer aus der Hand riss und damit floh.

»Willst du mir sagen …«, er dachte angestrengt über diesen Punkt nach, »willst du mir sagen, dass jemand unsere Geschichte gelöscht hat, damit wir sie nicht wiederholen?«

»Oder Schlimmeres.« Sie nahm seine Hände. Ihr Gesichtsausdruck war nun nicht mehr nur ernst, er war hart. »Was ist, wenn die Gründe für die Revolten genau hier auf den Festplatten gespeichert waren? Wenn ein Teil unserer Geschichte oder Daten von außerhalb oder womöglich das Wissen darüber, warum die Menschen vor langer, langer Zeit hierhergezogen sind – wenn diese Informationen dazu geführt haben, dass die Leute den Verstand verloren, dass sie übergeschnappt sind und einfach hier rauswollten?«

Holston schüttelte den Kopf. »Ich will nicht, dass du so etwas denkst!«, warnte er sie.

»Ich sage damit nicht, dass sie berechtigterweise verrückt geworden sind«, sagte sie nun wieder vorsichtiger, »aber ausgehend von dem Puzzle, das ich bislang habe zusammensetzen können, ist das meine Theorie.«

Holston schenkte dem Bildschirm einen misstrauischen Blick. »Vielleicht solltest du dich nicht mit diesen Dingen befassen. Mir ist sowieso ein Rätsel, wie du an die Daten kommen kannst, wenn sie eigentlich gelöscht worden sind, und vielleicht solltest du einfach die Finger davon lassen.«

»Schatz, die Informationen sind hier. Wenn nicht ich sie zusammensetze, dann tut es jemand anderes. Man kann den Geist nicht in die Flasche zurücksperren.«

»Wie meinst du das?«

»Ich habe eine Abhandlung darüber geschrieben, wie man gelöschte und überschriebene Daten wiederherstellen kann. Meine Kollegen aus der IT-Abteilung verteilen den Text, um Leuten zu helfen, die versehentlich etwas gelöscht haben.«

»Ich finde trotzdem, du solltest damit aufhören«, sagte er. »Das alles ist keine gute Idee, ich bezweifle, dass bei deinen Nachforschungen etwas Gutes herauskommt …«

»Ist die Wahrheit denn nicht gut? Es ist grundsätzlich gut, die Wahrheit zu kennen. Und besser, wir finden sie heraus als jemand anderes. Oder?«

Holston betrachtete seine Akten. Vor fünf Jahren war das letzte Mal jemand zur Reinigung hinausgeschickt worden. Der Blick nach draußen wurde täglich schlechter, und als Sheriff spürte er den Druck, jemanden zu finden, der hinausging und sich um die Linsen kümmerte. Dieser Druck baute sich stetig auf – wie in einem Topf, in dem sich zu viel Dampf sammelte. Die Menschen wurden nervös, sobald sie einmal auf die Idee gekommen waren, die Zeit sei nun bald wieder gekommen. Es war wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung – am Ende rissen irgendjemandem die Nerven, jemand holte zum Schlag aus oder sagte etwas Falsches, und dann saß er in der Zelle und sah seinen letzten verschwommenen Sonnenuntergang. Holston ging die Akten durch und hoffte, dass er etwas finden würde.

4. KAPITEL

Gegenwart

Holston saß auf der einzigen Bank in der Luftschleuse, sein Gehirn war ganz benommen vom Schlafmangel und dem Gedanken an das, was vor ihm lag. Nelson, der Leiter des Labors für Reinigung, kniete vor ihm und zog ein Bein des weißen Sicherheitsanzugs über Holstons Fuß.

»Wir haben die Versiegelung der Nähte verbessert und eine zweite Schutzschicht aufgesprüht«, sagte Nelson, »damit solltest du mehr Zeit da draußen haben als jeder andere vor dir.«

Nachdem Holston den düsteren Trost dieser Worte registriert hatte, erinnerte er sich daran, wie er seiner Frau bei der Reinigung zugesehen hatte. Das Obergeschoss des Silos mit den großen Monitoren, die die Außenwelt zeigten, war während der Reinigung für gewöhnlich leer. Die Leute konnten es nicht ertragen, die Hinrichtung mitanzusehen, sie wollten später heraufkommen und den schönen Blick genießen, ohne daran erinnert zu werden, was dafür getan werden musste. Aber Holston war dabei gewesen, es hatte nie der geringste Zweifel bestanden, dass er zusehen würde. Durch den Helm mit dem silbernen Visier hatte er Allisons Gesicht nicht erkennen können, auch ihre dünnen Arme nicht in dem dicken Anzug, während sie mit den Wolle-Pads schrubbte und schrubbte, aber er kannte ihren Gang, ihre Bewegungen. Er hatte zugesehen, wie sie ihre Arbeit erledigte, sie hatte sich Zeit genommen und die Reinigung mit großer Sorgfalt erledigt. Dann war sie zurückgetreten, hatte ein letztes Mal in die Kamera geblickt und ihm zugewinkt, und schließlich hatte sie sich umgedreht und war gegangen. Wie andere vor ihr war sie zum nächstgelegenen Hügel gelaufen und hatte ihn auf dem beschwerlichen Weg zu den verfallenen Gebäudespitzen der alten Stadt erklommen, die am Horizont noch sichtbar war. Holston hatte regungslos zugesehen. Auch als Allison am Fuß des Hügels gestürzt war, ihren Helm gepackt und sich gekrümmt hatte, während die giftige Luft erst die Schichten des Schutzsprays, dann den Stoff des Overalls und schließlich den Körper seiner Frau weggeätzt hatte, hatte er sich nicht abgewandt.

»Das andere Bein.«

Nelson gab ihm einen Klaps auf den Knöchel. Holston hob den Fuß und ließ den Techniker den Rest des Anzugs über seine Schienbeine ziehen. Er sah seine eigenen Hände an, die schwarze Karbonunterwäsche, die er auf der Haut trug, und stellte sich vor, wie sich alles auflösen, ihm vom Leib fallen würde wie Fetzen angetrockneten Schmierfetts von einem Generatorenrohr, wie sein Blut dabei aus den Poren gedrückt und sich in seinem leblosen Overall sammeln würde.

»Wenn du dich an dem Griff festhältst und aufstehst …«

Nelson half ihm bei einem Vorgang, den Holston schon zweimal beobachtet hatte. Das erste Mal bei Jack Brent, der bis zum Schluss aggressiv und feindselig gewesen war – als Sheriff hatte Holston neben der Bank Wache stehen müssen. Und dann bei seiner Frau. Durch das Bullauge in der Tür der Luftschleuse hatte er zugesehen, wie sie sich fertig gemacht hatte. Holston wusste also, was er zu tun hatte, trotzdem brauchte er Hilfe, er war abwesend, in Gedanken anderswo. Er streckte die Hand aus, packte den trapezförmigen Griff, der über ihm hing, und zog sich in den Stand. Nelson nestelte den Anzug hoch bis zu Holstons Taille, zwei leere Ärmel baumelten an den Seiten herab.

»Linke Hand hier rein.«

Holston gehorchte stumpf. Es war unwirklich, nun selbst diesen roboterhaften letzten Gang der zum Tode Verurteilten anzutreten. Er hatte sich oft gefragt, warum die Kandidaten sich gefügt hatten, warum sie einfach losgegangen waren. Sogar Jack Brent hatte getan, was man ihm befahl, so unflätig und ausfällig er auch geschimpft hatte. Als Holston den Anzug endlich am Leib trug, dachte er, dass die Leute vielleicht einfach loszogen, weil sie nicht glauben konnten, was mit ihnen geschah. Es war zu surreal, um dagegen aufzubegehren.

»Umdrehen.«

Er gehorchte.

Er spürte ein Ziehen im Rücken, dann wurde der Reißverschluss hochgezogen. Wieder ein Ziehen. Zwei letztlich nutzlose Schichten. Darüber das Knistern der Klettverschlüsse. Ein Klaps auf die Schulter, ein Rütteln am Stoff, um zu prüfen, ob auch alles fest und sicher verschlossen war. Holston hörte, wie der hohle Helm vom Regal gezogen wurde, er bewegte die Finger in den dicken Handschuhen, während Nelson das Innere des Helms prüfte.

»Lass uns das Ganze noch mal durchgehen.«

»Nicht nötig«, sagte Holston.

Nelson sah zu der Tür, die von der Luftschleuse zurück in den Silo führte. Holston musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass sie beobachtet wurden. »Hab Nachsicht mit mir«, sagte Nelson, »ich muss mich an die Vorschrift halten.«

Holston nickte, aber er wusste, dass es gar keine Vorschriften gab. Von allen geheimnisvollen Traditionen, die seit Generationen im Silo mündlich überliefert wurden, betraf keine die kultartige Vorgehensweise der Overalldesigner und Reinigungstechniker. Sie konnten ihre Arbeit so verrichten, wie sie es für richtig hielten. Die Verbannten mochten die Reinigung zwar vornehmen, die Techniker aber machten es erst möglich, dass der Blick auf die Welt jenseits der Grenzen des Silos auch tatsächlich freigehalten wurde.

Nelson legte den Helm auf die Bank. »Hier sind deine Pads.« Er klemmte die Wolle ans Vorderteil des Anzugs.

Geräuschvoll löste Holston einen Knäuel vom Klettverschluss. Er inspizierte die Schlaufen und Schlingen des rauen Materials und drückte den Knäuel dann wieder zurück.

»Zwei Spritzer Reinigungsmittel aus der Flasche, bevor du mit der Wolle reibst. Dann wischst du alles mit diesem Tuch trocken, und als Letztes trägst du die Polierpaste auf.« Er tätschelte nacheinander die Taschen, obwohl sie eindeutig beschriftet, mit einem Farbcode versehen und nummeriert waren – verkehrt herum, damit Holston die Zahlen von oben lesen konnte.

Holston nickte und sah dem Techniker zum ersten Mal in die Augen. Es erstaunte ihn, dass Angst darin zu sehen war. Angst hatte er in seinem Beruf im Laufe der Jahre zu erkennen gelernt. Fast hätte er Nelson gefragt, was mit ihm los sei, dann kam er selbst darauf: Der Mann hatte Angst, dass alle seine Anweisungen umsonst sein könnten, dass Holston hinausgehen und seine Pflicht nicht tun würde. Das war grundsätzlich so im Silo, wenn ein Häftling hinausgeschickt wurde: Die Bewohner befürchteten, dass der Verurteilte die Reinigung nicht erledigen würde, nicht für diejenigen Menschen, deren Regeln ihm zum Verhängnis geworden waren. Oder hatte Nelson Sorge, dass die teure, raffinierte Ausrüstung, die er und seine Kollegen anhand der technischen Daten hergestellt hatten, die aus der Zeit von vor dem Aufstand überliefert worden waren – dass dieser Anzug den Silo verließ und sinnlos verrottete?

»Alles okay?«, fragte Nelson. »Ist der Anzug zu eng?«

Holston sah sich in der Luftschleuse um. Mein Leben ist zu eng, wollte er sagen. Meine Haut ist zu eng. Die Mauern sind zu eng.

Aber er schüttelte nur den Kopf.

»Ich bin bereit«, sagte er leise.

Es war die Wahrheit. Holston war bereit zu gehen.

Und plötzlich erkannte er, wie bereit auch seine Frau gewesen war.

5. KAPITEL

Drei Jahre zuvor

»Ich will raus. Ich will raus! Ichwillraus!«

Holston kam in die Kantine gerannt. Sein Funkgerät knisterte noch. Deputy Marnes bellte etwas, das Allison betraf, Holston hatte sich nicht einmal die Zeit genommen zu antworten, er war sofort die drei Treppen zum Schauplatz hinaufgesprungen.

»Was ist hier los?« Er drängte sich durch die Menschentraube an der Tür und sah, wie sich seine Frau auf dem Boden wand, festgehalten von Connor und zwei weiteren Kantinenmitarbeitern. »Lasst sie los! Beruhige dich, Allison!« Er wollte nach ihren Handgelenken fassen, die sich drehten und wanden, um dem Griff der verzweifelten Männer zu entkommen. »Schatz, was zum Teufel ist denn los?«

»Sie ist zur Luftschleuse gerannt«, sagte Connor, ächzend vor Anstrengung. Percy hielt Allisons strampelnde Beine fest, Holston hinderte ihn nicht daran. Er sah nun, warum gleich drei Männer gebraucht wurden. Er beugte sich ganz nah zu Allison vor, damit sie ihn auch sah.

»Allison, Schatz, du musst dich beruhigen.«

»Ich will raus! Ich will raus!«

Ihre Stimme war nun ruhiger, aber die Worte sprudelten aus ihr heraus.

»Sag das nicht!« Holston lief es beim Klang dieses Satzes eiskalt über den Rücken. »Sag so etwas nicht, Schatz.«

Doch ein Teil von ihm spürte einen tiefen Stich und begriff, was dieser Satz bedeutete. Er wusste, es war zu spät. Die anderen hatten es gehört. Alle hatten es gehört. Seine Frau hatte ihr eigenes Todesurteil unterschrieben. Der Raum drehte sich um ihn, während er Allison bat, still zu sein. Ihm war, als wäre er am Schauplatz eines grauenvollen Unglücks angekommen, etwa bei einem Unfall unten in der Mechanik, und er hätte den Menschen, den er liebte, verletzt vorgefunden. Dieser Mensch lebte noch und trat um sich, aber Holston sah auf einen Blick, dass die Verletzung tödlich war.

Er spürte, wie ihm die Tränen über die Wangen liefen, als er Allison das Haar aus dem Gesicht strich. Schließlich kreuzten sich ihre Blicke, sie sah ihm aufmerksam in die Augen. Kurz, eine Sekunde nur, bevor er sich fragen konnte, ob sie unter Drogen gesetzt oder sonst irgendwie missbraucht worden war, sah er darin einen Funken gelassener Klarheit, ein Aufblitzen ihres Bewusstseins, voll kühler Berechnung. Dann war mit einem Blinzeln alles weg, und mit flackerndem Blick bat sie wieder darum, dass man sie hinausließ.

»Hebt sie hoch«, sagte Holston. Der Ehemann in ihm konnte die Tränen nicht weiter zurückhalten, während er seinem pflichtbewussten Selbst gestattete, die Lage als Sheriff nun in den Griff zu kriegen. Er konnte nichts anderes tun, als sie einzusperren, auch wenn er am liebsten laut gebrüllt hätte. »Hier lang«, sagte er zu Connor, der beide Hände unter Allisons zuckende Schultern geschoben hatte. Er nickte zu seinem Büro und der Arrestzelle hinüber. Direkt dahinter am Ende des Flurs stach ihm die hellgelb gestrichene große Tür der Luftschleuse ins Auge. Streng und bedrohlich, lauernd und still.

In der Zelle hatte Allison sich beruhigt. Sie saß auf der Bank, als sei sie nur hierhergekommen, um sich auszuruhen und den Ausblick zu genießen. Stattdessen war Holston nun nervös und unruhig. Er lief vor dem Gitter auf und ab und stellte Fragen, die unbeantwortet blieben, während Deputy Marnes und der Mayor die verfahrensrechtlichen Schritte einleiteten. Beide behandelten sowohl Holston als auch seine Frau wie kranke Patienten. Und obwohl Holston schwindelig war von all dem Grauen, das sich in der letzten halben Stunde zugetragen hatte, war er sich in seinem polizeimeisterlichen Hinterkopf dunkel des Schreckens und der Gerüchte bewusst, die sich nun zitternd durch die Beton- und Stahlbetonwände fortpflanzen würden.

»Sprich mit mir, Allison«, bat er sie wieder und wieder. Er blieb stehen und umklammerte die Gitterstäbe. Sie drehte ihm weiter den Rücken zu und blickte auf die Monitorwand, in die braunen Hügel, den grauen Himmel, die dunklen Wolken. Immer wieder strich sie sich die Haare zurück, ansonsten bewegte sie sich nicht und sagte kein Wort. Nur als Holstons Schlüssel sich ins Schloss geschoben hatte, kurz nachdem sie hineinbugsiert worden und die Tür geschlossen worden war, hatte sie ein »nicht« von sich gegeben, und Holston hatte den Schlüssel bereitwillig wieder abgezogen.

Während er sie immer wieder anflehte und sie ihn ignorierte, wirbelte die Nachricht einer bevorstehenden Reinigung durch den Silo. Techniker liefen durch den Korridor, es musste Maß für den Anzug genommen werden, der nun schnell gefertigt werden sollte. Die Reinigungsutensilien wurden in der Luftschleuse bereitgestellt. Irgendwo schepperte ein Gaskanister, als die Druckkammern mit Argon gefüllt wurden. Der ganze Tumult drang vereinzelt in die Zelle, wo Holston dastand und seine Frau anstarrte. Das Geplauder der Techniker verstummte, wann immer sie sich an ihm vorbeidrückten, sie schienen in Holstons Beisein nicht einmal zu atmen.

Stunden vergingen, Allison weigerte sich weiterhin zu sprechen – ein Verhalten, das weitere Aufregung im Silo verursachte. Den ganzen Tag redete Holston durch das Gitter hindurch auf sie ein, sein Kopf brannte vor Verwirrung, Sorge und Todesangst. Alles war in einem einzigen Augenblick geschehen – alles, was er kannte, war zerstört. Er versuchte, seine Situation zu erfassen, während Allison in der Zelle saß und in das trostlose Land hinausblickte, sichtlich zufrieden mit ihrer Lage.

Nach Einbruch der Dunkelheit begann sie schließlich zu sprechen, als die Techniker in der Luftschleuse fertig waren, nachdem die gelbe Tür geschlossen worden war und sich die meisten für eine schlaflose Nacht zurückgezogen hatten. Auch Deputy Marnes war gegangen, er hatte Holston zweimal auf die Schulter geklopft. Gefühlte Ewigkeiten später – Holston war kurz davor, vor Erschöpfung ohnmächtig zu werden –, lange nachdem die schemenhafte Sonne über den Hügeln und den Überresten der zerfallenden Stadt untergegangen war, die man von der Kantine und vom Aufenthaltsraum aus sehen konnte, flüsterte Allison im Halbdunkel der Arrestzelle:

»Das ist alles nicht real.«

Jedenfalls dachte Holston, dass er das gehört hatte. Er bewegte sich.

»Schatz?« Er packte die Gitterstäbe und zog sich auf die Knie.

Sie drehte sich um. Es war, als würde die Sonne ihre Meinung ändern und noch einmal über die Hügel zurückkommen. Dass sie ihn ansprach, gab ihm Hoffnung. Es schnürte ihm die Kehle zu, es gab ihm Anlass zu denken, alles sei nur ein Anfall gewesen, ein Fieber, etwas, wofür der Arzt ein Attest ausschreiben und all das entschuldigen könnte, was sie ausgesprochen hatte.

»Nichts, was man sieht, ist real«, sagte sie ruhig.

»Komm her, sprich mit mir.« Holston winkte sie zum Gitter.

Allison schüttelte den Kopf. Sie klopfte auf den Platz neben sich auf der dünnen Matratze der Koje.

Holston sah auf die Uhr. Die Besuchszeit war lange vorbei. Schon für das, was er nun tun würde, konnte er selbst zur Reinigung verurteilt werden.

Ohne zu zögern, öffnete er die Tür. Ein lautes metallisches Schleifen ertönte.

Holston trat in die Zelle und setzte sich neben seine Frau. Es brachte ihn um, sie nicht anfassen, nicht in die Arme schließen zu können, sie nicht an einen sicheren Ort bringen zu dürfen, zurück in ihr gemeinsames Bett, wo sie so tun könnten, als wäre alles nur ein böser Traum.

Aber er wagte es nicht, sich zu bewegen. Allison flüsterte:

»Es muss nicht unbedingt real sein. Nichts davon. Nichts von all dem.« Sie blickte zum Bildschirm. Holston beugte sich so nah zu ihr, dass er ihren getrockneten Schweiß riechen konnte, die Erschöpfung nach dem Kampf in der Kantine, der erst wenige Stunden zurücklag.

»Was ist los, Schatz?«

Sie streckte die Hand aus und rieb über den sich allmählich verdunkelnden Monitor, sie spürte die Bildpunkte.

»Es könnte jetzt Morgen sein, wir haben keine Möglichkeit, die Tageszeit mit Sicherheit zu bestimmen. Da draußen könnten Menschen sein.« Sie wandte sich ihm zu. »Wir werden womöglich beobachtet«, sagte sie mit einem bitteren Grinsen.

Holston hielt ihrem Blick stand. Was sie sagte, war verrückt. »Wie kommst du auf so einen Gedanken?«, fragte er. Er konnte es sich selbstverständlich denken, fragte aber trotzdem: »Hast du etwas auf den Festplatten gefunden?« Er hatte gehört, dass sie direkt aus ihrem Labor zur Luftschleuse gerannt war und währenddessen irre daher geredet hatte. Es musste also etwas bei der Arbeit passiert sein. »Was hast du herausgefunden?«

»Es ist mehr gelöscht worden als nur die Daten vom Aufstand«, sagte sie leise. »Natürlich. Alles wird gelöscht. Auch die aktuellen Dateien.« Sie lachte. Auf einmal wurde ihre Stimme laut, ihre Augen blickten scharf. »Ich wette, da waren Mails von dir, die ich nie bekommen habe.«

»Schatz!« Holston traute sich, ihre Hände zu nehmen, sie zog sie nicht zurück. Er hielt sie fest. »Was hast du gefunden? Eine Mail? Von wem?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe das Programm gefunden, mit dem sie arbeiten – das Programm, das die Bilder auf den Monitoren so real aussehen lässt!« Sie blickte wieder in das nachlassende Licht der Dämmerung. »Es ist die IT – die Informationstechnik. Die Leute aus der IT wissen Bescheid. Sie kennen als Einzige das Geheimnis.«

»Welches Geheimnis?« Holston konnte nicht beurteilen, ob sie Unsinn redete, oder ob sie tatsächlich etwas von Bedeutung herausgefunden hatte. Er wusste nur, dass sie endlich mit ihm sprach.

»Ich komme zu dir zurück, ich schwöre es. Dann wird alles anders. Wir durchbrechen den Kreis, du und ich. Ich komme zurück, und dann gehen wir zusammen über diesen Hügel.« Sie lachte. »Wenn es den überhaupt gibt!«, sagte sie laut. »Wenn dieser Hügel dort steht und grün ist, dann werden wir ihn hinter uns lassen.«

Sie sah ihn an.

»Es gibt keine Revolte, keine richtige, nur ein Leck, das langsam immer größer wird. Es gibt nur die Leute, die Bescheid wissen und hinauswollen.« Sie lächelte. »Und sie bekommen, was sie wollen. Ich weiß, warum die Reinigung von allen erledigt wird, warum sie sagen, sie würden es nicht tun, es am Ende aber trotzdem machen. Ich weiß es. Ich weiß es. Sie kommen nicht mehr zurück, sie warten und warten, worauf auch immer, aber ich werde nicht warten, ich werde gleich zurückkommen. Dieses Mal ist alles anders.«

Holston drückte ihre Hände, Tränen tropften von seinen Wangen. »Schatz, warum tust du uns das an? Warum musst du gerade jetzt raus?« Er hatte das Gefühl, dass sie sich nun, da es dunkel war im Silo und sie ganz allein waren, erklären wollte.

»Ich weiß über die Aufstände Bescheid«, sagte sie.

Holston nickte. »Ich weiß, du hast mir gesagt, dass es noch andere gegeben hat …«

»Nein.« Allison rückte von ihm ab, aber nur so weit, dass sie ihm in die Augen sehen konnte. Ihr Blick war längst nicht mehr so wild wie zuvor.

»Ich weiß, warum die Aufstände stattgefunden haben. Ich weiß, warum, Holston.«

Allison biss sich auf die Unterlippe. Holston wartete angespannt.

»Ich hatte immer eine Ahnung, hatte den Verdacht, dass es da draußen gar nicht so schlimm sein könnte, wie es scheint. Du hast das auch gespürt, nicht wahr? Dass wir überall sein könnten, nicht bloß in diesem Silo? Dass wir in einer Lüge leben?«

Holston antwortete nicht. Dieses Thema anzusprechen hieß: Reinigung. Er saß erstarrt da und wartete.

»Wahrscheinlich sind es die jungen Leute gewesen«, sagte Allison. »Alle zwanzig Jahre oder so. Die nachwachsenden Generationen wollten weitergehen, wollten alles erforschen. Hast du nie dieses Bedürfnis gehabt? Vielleicht als du jünger warst? Oder vielleicht sind es auch die frisch verheirateten Paare gewesen, die es in den Wahnsinn getrieben hat, dass man hier keine Kinder haben kann. Vielleicht sind sie deshalb bereit gewesen, alles zu riskieren …«

Sie blickte auf einen Punkt in weiter Ferne. Möglicherweise dachte sie an das Los, das sie noch immer hätten einlösen können, hätte Allison sich nun nicht gegen das Silo entschieden. Sie sah Holston an. Er überlegte, ob er sogar für sein Schweigen zur Reinigung verurteilt werden könnte, dafür, dass er sie nicht niedergebrüllt hatte, als sie eben diese verbotenen Dinge ausgesprochen hatte.

»Es könnten auch die älteren Mitbewohner gewesen sein«, sagte sie, »die zu lange eingesperrt gewesen sind und in ihren letzten Jahren die Angst verloren haben. Vielleicht wollten sie raus und den anderen Platz machen, den wenigen kostbaren Enkelkindern. Aber egal, wer es gewesen ist – jede Revolte hat aufgrund dieses Misstrauens stattgefunden, dieses Gefühls, dass wirhier am falschen Ort sind.« Sie sah sich in der Zelle um.

»Das darfst du nicht sagen«, flüsterte Holston. »Es ist das größte Vergehen …«

Allison nickte. »… zu sagen, dass man gehen will. Ja. Das größte Vergehen. Verstehst du denn nicht, warum? Warum steht es denn unter Strafe? Weil alle Revolten mit diesem Wunsch beginnen. Deswegen.«

»Jeder bekommt, was er will«, zitierte Holston den Spruch, der ihm von jungen Jahren an eingebläut worden war. Seine Eltern hatten ihn – ihr einziges, kostbares Kind – gewarnt: Er dürfe nie sagen, er wolle den Silo verlassen. Ja, er dürfe nicht einmal daran denken! Man müsse den Gedanken sofort verdrängen, er bedeute den sofortigen Tod, und dann wäre es aus und vorbei mit ihrem Ein und Alles.

Holston sah wieder seine Frau an. Er begriff ihren Wahnsinn, ihre Entscheidung noch immer nicht. Sie hatte also Programme gefunden, mit denen man die Welt auf den Bildschirmen real aussehen lassen konnte – was hatte das zu bedeuten? Warum sollte jemand so etwas tun?

»Warum?«, fragte er. »Warum bist du nicht zu mir gekommen? Es muss doch einen besseren Weg geben, um herauszufinden, was vor sich geht. Wir hätten den Leuten erst einmal erzählen können, was du auf diesen Festplatten gefunden …«

»Und dann wären wir die Nächsten gewesen, die einen Aufstand angezettelt hätten?« Sie lachte. Noch immer war da ein wenig Wahnsinn, vielleicht war es aber auch nur ihre Wut, ihre übermäßige Frustration. Vielleicht hatte ein großer Verrat sie so weit getrieben, ein Verrat, der über mehrere Generationen hinweg arrangiert worden war. »Nein danke!« Ihr Lachen verklang. »Ich habe alle Spuren beseitigt. Ich will nicht, dass die anderen es herausfinden. Sollen sie doch hier versauern! Ich komme nur deinetwegen zurück.«

»Du kannst nicht zurückkommen«, sagte Holston verärgert. »Meinst du, die Verbannten sind noch immer da draußen? Meinst du, sie haben sich entschieden, nicht zurückzukommen, weil sie sich von uns verraten fühlen?«

»Warum erledigen sie wohl die Reinigung?«, fragte Allison. »Warum nehmen sie ihre Wolle und machen sich an die Arbeit, ohne zu zögern?«

Holston seufzte. Sein Ärger verflog langsam. »Das weiß niemand.«

»Aber was glaubst du?«

»Darüber haben wir schon geredet. Wie oft haben wir das diskutiert?« Er war sich sicher, dass alle Paare ihre Theorien zu diesem Thema austauschten, wenn sie allein waren. Während er an ihre glücklichen Tage dachte, blickte er an Allison vorbei an die Wand, er sah den Stand des Mondes und las daran die Nachtstunde ab. Ihre Zeit war begrenzt. Morgen wäre seine Frau weg. Immer wieder durchzuckte dieser einfache Gedanke seinen Kopf wie ein Blitz eine Sturmwolke.

»Jeder hat seine Theorien«, sagte er. »Wir haben unzählige Male darüber gesprochen. Lass uns einfach …«

»Aber jetzt weißt du etwas Neues. Wir beide wissen nun etwas Neues, es ergibt jetzt alles einen Sinn, die Einzelteile passen zusammen. Morgen werde ich die Wahrheit kennen.« Lächelnd tätschelte sie Holstons Hand, als wäre er ein Kind. »Und eines Tages wirst auch du die Wahrheit kennen, Schatz.«

6. KAPITEL

Gegenwart

Im ersten Jahr hatte Holston auf Allison gewartet, er hatte ihrer Theorie geglaubt und gehofft, dass sie zurückkäme. An ihrem ersten Todestag hatte er die Arrestzelle geputzt, die gelbe Tür der Luftschleuse abgewaschen, hatte auf ein Geräusch, auf ein Klopfen gelauscht, auf ein Zeichen, dass der Geist seiner Frau zurückgekehrt wäre, um ihn zu befreien.

Als nichts geschehen war, hatte er angefangen, die Alternative zu durchdenken: ihr nach draußen zu folgen. So viele Tage, Wochen, Monate hatte er damit zugebracht, ihre Computerdateien durchzusehen, er hatte gelesen, was sie zusammengesetzt hatte, und davon nur die Hälfte begriffen, worüber er fast selbst verrückt geworden war. Er war zu der Ansicht gekommen, dass seine Welt eine Lüge war, und ohne Allison hatte er nichts, wofür es sich zu leben lohnte, selbst wenn die Silowirklichkeit real gewesen wäre.

Der zweite Jahrestag ihres Verschwindens fiel in die Zeit seiner großen Feigheit. Er war zur Arbeit gegangen, die verhängnisvollen Worte hatten ihm auf der Zunge gelegen – sein Wunsch hinauszugehen –, doch er hatte sie in letzter Sekunde wieder hinuntergeschluckt. Er und Marnes waren an diesem Tag auf Patrouille gewesen, und das Geheimnis, wie nahe er dem Tod gekommen war, brannte noch lange später in ihm. Es war ein quälendes Jahr voller Feigheit, er hatte Allison hängen lassen. Im ersten Jahr war es ihr Fehler gewesen, im zweiten seiner. Aber das war vorbei.

Nun, ein weiteres Jahr später, saß er im Reinigungsoverall allein in der Luftschleuse und war zu gleichen Teilen voller Zweifel und Überzeugung. Hinter ihm war die dicke gelbe Tür zum Silo fest verriegelt worden, und Holston stellte fest, dass er sich seinen Tod so nicht vorgestellt hatte. Er hatte gedacht, er würde für immer im Silo bleiben, und seine Nährstoffe würden wie die Nährstoffe seiner Eltern zuvor in den Boden der landwirtschaftlichen Anlagen im achten Stockwerk übergehen. Es schien ihm inzwischen eine Ewigkeit her zu sein, dass er von einer Familie, von einem eigenen Kind geträumt hatte, von Zwillingen und einem weiteren Lotteriegewinn, von einer Frau, mit der er alt werden würde …

Auf der anderen Seite der gelben Tür ertönte eine Hupe, die alle außer ihm vertrieb. Er musste bleiben. Er konnte nicht mehr zurück.

Die Argonkammern zischten und pumpten den Raum voll mit Schutzgas. Nach einer Minute spürte Holston den Luftdruck, der seinen Overall knittern ließ und eng an seine Gelenke drückte. Er atmete den Sauerstoff ein, der im Helm zirkulierte, und stellte sich vor die andere, die verbotene Tür, vor die Tür zu der Außenwelt, die nun auf ihn wartete.

Kolben, die tief in die Wände eingelassen waren, begannen zu knirschen. Die Plastikvorhänge im Inneren der Luftschleuse wurden von dem immer größeren Druck des Argons in Falten gelegt, sie würden geopfert, verbrannt werden, während Holston sich draußen um die Linsen kümmerte, noch vor Einbruch der Nacht würde der Tunnel gereinigt und für den nächsten Verurteilten vorbereitet werden.

Die massive Stahltür vor ihm bebte, dann öffnete sich ein schmaler Spalt zwischen den Türflügeln und wurde immer breiter, während die Türen in die Laibung gezogen wurden. Ganz öffnen würde man sie nicht, man versuchte das Risiko der eintretenden Luft so gering wie möglich zu halten.

Ein Argonwirbel rauschte durch den Spalt, das Geräusch des ausströmenden Gases schwächte sich zu einem Dröhnen ab, je weiter die Öffnung wurde. Holston drückte sich hinein – er konnte einfach nicht widerstehen und war nun von seinem eigenen Verhalten genauso entsetzt, wie er es früher von dem der anderen gewesen war. Besser, er ging hinaus und sah die Welt ein einziges Mal mit eigenen Augen, als dass er hier drinnen bei lebendigem Leib zusammen mit den Plastikvorhängen verbrannt wurde. Besser, er überlebte ein paar Augenblicke länger.

Als der Spalt breit genug war, zwängte Holston sich hindurch, sein Anzug rieb und verfing sich an den Türen. Um ihn herum bildete sich ein Dunstschleier, da das Argon in der weniger komprimierten Luft draußen kondensierte. Blind stolperte er vorwärts, er tastete sich durch die weiche Wolke ins Freie hinaus.

Die Außentüren knarrten und begannen sich wieder zu schließen. Das Geräusch der Hupe wurde von dem lauten Quietschen der massiven Stahlkonstruktion verschluckt. Holston und die giftige Luft waren ausgeschlossen, nun wüteten die reinigenden Flammen in der Luftschleuse und neutralisierten jede Kontaminierung, die ins Innere gedrungen war.

Holston stand am Fuß einer Betonrampe – die Rampe führte hinauf. Er hatte das Gefühl, im Hinterkopf ein leises Ticken zu hören, das ihn daran erinnerte, wie knapp die Zeit bemessen war. Schnell, schnell! Seine Lebensuhr lief ab. Er stapfte die Rampe hinauf. Es irritierte ihn, dass er noch nicht oben war, er war daran gewöhnt, die Welt und den Horizont von der Kantine und vom Aufenthaltsraum aus zu sehen, und die befanden sich auf derselben Ebene wie die Luftschleuse.

Er schlurfte die schmale Rampe hinauf, zu beiden Seiten erhoben sich bröckelnde Betonmauern, sein Visier war von einem verwirrenden, grellen Licht erfüllt. Oben angekommen, sah Holston den weiten Himmel, in den er wegen seiner kleinen Sünde der Hoffnung auf ein Wiedersehen mit seiner Frau verbannt worden war. Er drehte sich im Kreis und suchte den Horizont ab, ihm schwirrte der Kopf von so viel Grün!

Grüne Hügel, grünes Gras, ein grüner Teppich unter seinen Füßen. Holston jauchzte in seinem Helm auf. Ihm war ganz schwindlig von diesem Anblick. Und über all dem Grün hing exakt das Blau aus den Kinderbüchern. Die weißen Wolken waren makellos, lebendige Dinge flatterten durch die Luft.

Holston drehte sich wieder und wieder um sich selbst und nahm alles in sich auf. Plötzlich fiel ihm ein, dass seine Frau dasselbe getan hatte. Er hatte sie bei ihren ungelenken, langsamen Drehungen um die eigene Achse beobachtet, fast so, als wäre sie verwirrt oder als würde sie überlegen, ob sie sich nun der Reinigung widmen sollte oder nicht.

Die Reinigung!

Holston zog einen Wollebausch vom Brustteil seines Anzugs. Die Reinigung! In schwindelnder Eile, in einem Strudel der Erkenntnis wusste er jetzt, warum die Verurteilten die Reinigung übernahmen. Warum!

Er blickte an die Stelle, wo er die hohe, runde Wand der obersten Etage vermutet hatte, aber die Mauer war natürlich in die Erde eingelassen. Hinter ihm gab es nur eine kleine Erhebung aus Beton, ein Türmchen von höchstens zweieinhalb, drei Metern Höhe. Auf einer Seite führte eine Eisenleiter hinauf, ganz oben ragte die Antenne empor. An der Seite ihm gegenüber – und auf allen Seiten, wie er sah, als er sich näherte – hingen die großen, abgerundeten Fischaugenlinsen der leistungsstarken Silokameras.

Mit der Wolle in der Hand ging Holston zur ersten Linse. Er stellte sich vor, dass man ihn nun in der Kantine sehen könnte, wie er weiter auf die Linse zuging und immer größer wurde. Vor drei Jahren hatte er das auch bei seiner Frau gesehen. Er erinnerte sich an ihr Winken. Damals hatte er gedacht, sie versuche lediglich das Gleichgewicht zu halten, aber hatte sie ihm vielleicht etwas mitteilen wollen? Hatte sie auch so dümmlich, so breit gegrinst wie nun er? Hatte auch sie Herzklopfen gehabt vor irrer Hoffnung, während sie gesprüht, geschrubbt, gewischt, poliert hatte? Holston wusste, dass die Kantine leer wäre, es gab niemanden mehr, der ihn ausreichend liebte, um zuzusehen, aber er winkte trotzdem. Er verspürte auch nicht die nackte Wut, mit der vermutlich einige der anderen die Reinigung übernommen hatten. Er erledigte die Arbeit nicht in dem Wissen, dass die Menschen im Silo verdammt waren und die Verdammten frei. Auch nicht das Gefühl, verraten worden zu sein, ließ seine Hand in kleinen kreisenden Bewegungen über die Linse gleiten. Es war Mitleid. Bloßes Mitleid und grenzenlose Freude.

Holston kamen die Tränen, die Welt verschwamm, aber auf angenehme Weise. Seine Frau hatte recht gehabt: Der Blick von innen war ein Schwindel. Die Hügel sahen im Grunde aus wie immer – nachdem sie so viele Jahren sein Leben begleitet hatten, erkannte er jede Wölbung, jede kleine Mulde auf den ersten Blick –, aber die Farben waren ganz anders. Die Monitore im Silo, die Programme, die seine Frau gefunden hatte, machten aus diesen leuchtenden Grüntönen ein graues Einerlei und löschten irgendwie alle Zeichen von Leben, von außergewöhnlichem Leben!

Holston entfernte den Schmutz von der Linse und fragte sich, ob denn zumindest deren allmähliche Trübung wirklich war. Der Schmutz war real, er konnte ihn sehen und wegbürsten. Aber war es einfach nur Schmutz – gab es gar keine Giftstoffe in der Luft hier draußen? Konnte das Programm, das Allison entdeckt hatte, vielleicht nur das verändern, was man ohnehin sah? Holston schwindelte. Er fühlte sich wie ein großes Kind, das in die Welt hineingeboren worden war und nun so viel auf einmal verarbeiten musste, dass ihm der Kopf dröhnte.

Die Trübung ist wirklich, entschied er, als er den letzten Rest Schmutz von der zweiten Linse wischte. Es war eine Schicht, ein Film wie die falschen Grau- und Brauntöne, mit denen das Programm diese grünen Felder und diesen blauen, mit duftigem Weiß gepunkteten Himmel irgendwie überlagerte. Die Welt, die man vor den Silobewohnern verbarg, war so schön, dass Holston sich zusammennehmen musste, um nicht einfach nur dazustehen und mit offenem Mund zu staunen.

Er war bei der zweiten von vier Linsen angekommen und dachte über diese trügerischen Wände unter ihm nach, die alles veränderten, was sie aufzeichneten. Wie viele Menschen im Silo wussten wohl Bescheid?, fragte er sich. Überhaupt jemand? Und wie fanatisch ergeben mussten diejenigen sein, die diese deprimierende Illusion aufrechterhielten? Oder stammte die Inszenierung noch aus der Zeit vor dem letzten Aufstand? War es eine Lüge, die keiner durchschaute und die sich durch die Generationen zog – eine Reihe Flunkerprogramme, die auf den Silocomputern einfach weiterliefen, ohne dass jemand eine Ahnung davon hatte? Denn wenn jemand die Wahrheit kannte und wenn diese Kameras überhaupt etwas zeigen konnten – warum dann nicht die atemberaubende Schönheit hier draußen?

Die Revolten! Vielleicht wollte man durch die Manipulation verhindern, dass sie immer wieder ausbrachen. Holston trug die Polierpaste auf die zweite Kamera auf und fragte sich, ob die Lüge von einer hässlichen Außenwelt einfach verhindern sollte, dass die Leute hinauswollten. Hatte jemand entschieden, dass die Wahrheit schlimmer wäre als der Verlust von Macht, von Kontrolle? Oder war es noch tief greifender, noch düsterer? Hatte jemand Angst vor den vielen unerschrockenen, freien Kindern, die man hier draußen würde in die Welt setzen können? Es gab so viele entsetzliche Möglichkeiten.

Und was war mit Allison? Wo war sie? Holston schlurfte um den Betonturm herum zur dritten Linse. Die vertrauten, aber noch immer eigenartig aussehenden Hochhäuser der fernen Stadt kamen in Sicht. Allerdings waren dort jetzt mehr Gebäude als sonst zu sehen, ein paar standen am Stadtrand, ein vollkommen fremdes Gebäude ragte im Vordergrund auf. Die anderen, diejenigen, deren Anblick er auswendig kannte, waren intakt und glänzten, sie waren nicht verdreht oder rissig. Holston blickte zur Kuppe der grünen Hügel und stellte sich vor, Allison würde jeden Augenblick dort auftauchen. Aber das war lächerlich. Woher sollte sie wissen, dass er ausgerechnet an diesem Tag verbannt worden war? Würde sie sich an den Jahrestag erinnern? Auch nachdem er zwei Jahre lang nichts unternommen hatte? Er verfluchte seine frühere Feigheit, die vergeudete Zeit.

Er war derjenige, der zu ihr gehen musste, beschloss er.

Auf einmal verspürte er den Drang, genau das zu tun – sich den Helm vom Kopf und den plumpen Overall vom Leib zu reißen und nur in seiner Karbonunterwäsche den Hügel hinaufzurennen, die frische Luft in tiefen Zügen einzuatmen und lachend den ganzen Weg zu seiner Frau zurückzulegen, die in irgendeiner unermesslich großen Stadt voller Menschen und kreischender Kinder auf ihn wartete.

Aber nein, man musste erst den Schein wahren, die Illusion aufrechterhalten. Er wusste nicht genau, warum eigentlich, aber seine Frau und alle anderen Verurteilten vor ihm hatten sich ja ganz genauso verhalten. Er gehörte nun zum Klub, zur Außengruppe. Man musste dem Druck der Geschichte, des Vorangegangenen gehorchen. Er würde seine Aufgabe für diese Gruppe erfüllen, der er nun angehörte, würde mit ihr das Geheimnis teilen. Und dieses Geheimnis war eine starke Droge. Er konnte nun tun, was ihm befohlen worden war, und, den Nummern auf den Taschen folgend, die Reinigung hinter sich bringen, während er über die Furcht einflößenden Dimensionen einer Außenwelt nachdachte, die so groß war, dass man niemals all die Luft atmen, all das Wasser trinken, all das Essen essen konnte, das es hier gab.

Davon träumte er, während er pflichtschuldig die dritte Linse bürstete. Er wischte, sprühte, polierte, dann kam er zur letzten Kamera. Er hörte den Puls in seinen Ohren, sein Herz raste, sein Körper steckte noch immer in diesem beengenden Overall. Bald, bald!, sagte er sich. Er nahm den zweiten Wollebausch und entfernte den Dreck, sprühte, polierte ein letztes Mal, dann verstaute er alles wieder in den nummerierten Taschen, denn er wollte den Reinigungsmüll auf keinen Fall auf diesem prächtigen, gesunden Boden unter seinen Sohlen zurücklassen. Fertig. Holston wich zurück, er warf einen letzten Blick auf die menschenleere Kantine und den Aufenthaltsraum und drehte dann denjenigen den Rücken zu, die ihrerseits ihm und Allison und all den anderen vor ihnen den Rücken zugedreht hatten. Es musste einen Grund geben, warum niemand zu den Menschen im Silo zurückkam, dachte Holston, genauso wie es auch einen Grund gab, aus dem jeder Verurteilte die Reinigung übernahm, obwohl er gesagt hatte, er werde es nicht tun. Holston war frei, er würde nun zu den anderen gehen. Und so trottete er auf den Spuren seiner Frau zu der dunklen Spalte, die sich den Hügel hinaufzog. Er sah, dass eine vertraute Gestalt, die lange Jahre dort geschlafen hatte wie ein Stein, nun nicht mehr da lag. Auch das, entschied Holston, das Bild seiner toten Frau, war lediglich eine gepixelte Lüge gewesen.

7. KAPITEL

Er war ein Dutzend Schritte den Hügel hinaufgegangen, bestaunte noch immer das saftige Gras am Boden und den strahlenden Himmel darüber, als ihm ein Stich in den Magen fuhr. Es war ein schmerzhafter Krampf, als hätte er großen Hunger. Erst fürchtete er, er hätte sich zu sehr beeilt, zunächst mit der Reinigung, dann auf dem Weg zu seiner Frau, er kam in dem Overall nur mühsam voran, als würde er durch zähes Wasser waten. Er wollte den Anzug erst ausziehen, wenn er den Hügel erklommen hätte und außer Sicht wäre, um die Illusion, die die Kantinenwände vermittelten, nicht zu durchkreuzen. Er konzentrierte sich auf die Spitzen der Hochhäuser und zwang sich, langsamer zu gehen, sich zu beruhigen. Ein Schritt nach dem anderen. Nachdem er viele Jahre lang dreißig Stockwerke im Silo hinauf- und hinuntergeeilt war, hätte der Hügel hier eigentlich ein Klacks sein sollen.