Sinn finden in der Natur - Marascha Daniela Heisig - E-Book

Sinn finden in der Natur E-Book

Marascha Daniela Heisig

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Beschreibung

Lebensübergänge können sehr beglückend sein, z.B. wenn das erste Kind geboren wird, oder schmerzhaft, etwa bei Trennungen, Abschieden, Verlusten. In einschneidenden Übergangsphasen wie diesen fragen Menschen sich oft: Wohin soll mein Leben gehen? Wie kann ich mich neu ausrichten? Was ist meine Aufgabe? Schon immer haben Menschen sich in die Natur zurückgezogen, um in schwierigen Zeiten Orientierung zu finden, etwa bei der Visionsuche indigener Völker. Marascha Daniela Heisig knüpft an diese Tradition an. Sie zeigt, wie Menschen in Lebensübergängen mithilfe von Ritualen und rituellen Auszeiten mit den Heilkräften der Natur in Kontakt kommen können, um Kraft zu schöpfen und dem Sinn der Veränderung einen Schritt näher zu kommen.

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Cover

Haupttitel

Inhalt

Über die Autorin

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Marascha Daniela Heisig

Sinn finden in der Natur

Heilsame Rituale für Lebensübergänge

Patmos Verlag

Für Xenia Rose

INHALT

Einleitung

1. Lebensübergänge im Spiegel der Natur verstehen

Wenn das Alte nicht mehr und das Neue noch nicht trägt

Auflösung und Neuwerdung in Symbolen der Natur

Zentrale Lebensphasen und Lebensübergänge

Übergänge im Zyklus der Natur

Archetypen der Wandlung in Lebensübergängen

2. Übergangsrituale in der Natur gestalten

Überlieferte und moderne Übergangsrituale in der Natur

Rituale in der Natur selbst gestalten

Rituelle Naturwanderung und rituelle Auszeit in der Natur

Die Natur als Dialogpartnerin und Wegweiserin

Wie die Natur unsere Seele spiegelt

3. Naturrituale für die erste Übergangsphase in der Praxis: Das Alte verabschieden

Sich dem inneren Kind zuwenden

Aus destruktiven Mustern aussteigen

Versöhnlicher mit alten Verletzungen umgehen

Schatten schauen, uns selbst vergeben

Bindungen lösen

Abschiede und Verluste ins Leben hineinnehmen

4. Naturrituale für die zweite Übergangsphase in der Praxis: Mitten auf der Schwelle

Das bisherige Leben ehren und würdigen

Die eigenen Kraftquellen finden und stärken

Mit der Schöpfung sprechen

An einer Wegkreuzung: Sortieren, wie es weitergeht

Sterben, um zu werden

5. Naturrituale für die dritte Übergangsphase in der Praxis: Das Neue willkommen heißen

Confirmation: das neue Ich bestätigen

In eine neue soziale Rolle hineinwachsen

Bindungen bekräftigen, Bindungen erneuern

Gelassenheit und Lebensfreude entwickeln

Die spirituelle Dimension von Ritualen in der Natur

Ausklang: Atmen für das Leben

Dank

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Einleitung

Die meisten Menschen erfahren tiefe Ruhe und können neue Kraft schöpfen, wenn sie in die Natur gehen. Ein langer Spaziergang an der frischen Luft und in der Stille des Waldes hat eine klärende und reinigende Wirkung. Das ist nicht verwunderlich, da wir ja auch selbst Natur sind. In ihr können wir uns mit der Einfachheit und der Schönheit des Lebens wieder verbinden.

Diese grundlegende Erfahrung wurde in alten Zeiten genutzt, um Menschen bei schwierigen Übergängen zu unterstützen, ihre heilsamen Quellen zu entdecken und sie kraftvoll ins Leben und die Gemeinschaft einzubringen. Von jeher haben sich daher Menschen in wichtigen Übergangssituationen alleine fastend in die Natur zurückgezogen, um Stille, Heilung und Mut zu finden und bewegende Lebensthemen zu klären. In vielen frühen Kulturen, in der Bibel, im alten Griechenland sowie in Märchen und Mythen gibt es Riten des Übergangs, um im Spiegel der Natur Sinn zu finden und Lebensübergänge in einem größeren Sinnzusammenhang zu begreifen.

In Kulturen, die eng mit dem Rhythmus der Natur verknüpft waren, gab es ein Wissen darum, dass man seine bekannte Welt eine Zeitlang verlassen muss, um den eigenen Platz darin besser zu erkennen. Um der Natur der eigenen Seele auf die Spur zu kommen, lag es nahe, in den Spiegel der unverstellten Natur zu schauen. So verbrachten Menschen jenseits gewohnter Pfade eine gewisse Zeit alleine und fanden Antworten für ihren weiteren Weg.

In rituellen Auszeiten in der Natur, Naturritualen und der Visionssuche heutiger Menschen werden diese uralten kulturübergreifenden Rituale langsam wieder lebendig. Dennoch fehlen uns heute weitgehend sowohl Übergangsrituale als auch das Wissen um sie. Zugleich haben Menschen ein großes Bedürfnis, wichtige Lebensübergänge heilsam zu gestalten.

Denn Übergänge gehören zu jedem Leben existenziell dazu, wie der erste und letzte Atemzug. Wir alle sind in einem Übergang geboren und wir alle sterben in einem Übergang. Übergänge laden dazu ein, alte, vergangene Lebensphasen bewusst zu würdigen und den Wechsel in eine neue Lebensphase als Teil des Kreislaufs des Lebens zu erfahren.

Lebensübergänge zeichnen sich immer durch eine Anpassung der Identität an neue Lebensumstände aus, die mit Verunsicherung und auch mit schwierigen Umbrüchen einhergehen können. Da sind zum einen die größeren Lebensübergänge wie das Erwachsenwerden, der Einstieg ins Berufsleben, Elternschaft oder Verluste, zum anderen Übergänge wie berufliche Neuorientierung oder Umzüge. Sie sind zum Teil sehr einschneidend und können sowohl schmerzhaft als auch beglückend sein, etwa die Geburt eines Kindes. Diese Wandlungsphasen fordern unseren Mut, der Unsicherheit, der Sehnsucht oder dem Schmerz, mit denen sie einhergehen, Raum zu geben. Unbewältigte oder nicht bewusst gelebte Lebensübergänge können uns aus der Bahn werfen. Werden sie dagegen bewusst gestaltet und in ihrer Bedeutung für die weitere Entwicklung verstanden, verlaufen sie meist weniger krisenhaft. Anstehende neue Lebensphasen können so leichter angenommen werden.

In Übergängen fragen wir uns: Wohin soll die Reise im weiteren Leben gehen? Wie kann ich mich neu ausrichten? Wie finde ich wieder Sinn? Das Buch bietet hier Wissen und wichtige Hilfestellung an, Rituale und rituelle Auszeiten in der Natur zur Bewältigung von Lebensübergängen selbst zu gestalten und ihre Bedeutung für sich wahrzunehmen. Es möchte Orientierungshilfen geben, mit Übergangsritualen persönlichen Krisen oder einschneidenden Veränderungen im Leben einen tieferen Sinn zu vermitteln. Weil Lebensübergänge so zentral sind, ist es lohnenswert, sich Zeit für ihre Gestaltung zu nehmen und tiefer verstehen zu wollen, was im Übergang eigentlich passiert.

Das Buch möchte daher

einen Einblick in die Dynamik von Lebensübergängen geben,

ermutigen und anregen, eigene rituelle Auszeiten und Rituale für Lebensübergänge im Spiegel der Natur selbst zu entwickeln, zu gestalten und durchzuführen.

Es werden eine Fülle von überlieferten und modernen Ritualanleitungen, Naturritualen und Ideen für rituelle Auszeiten in der Natur für unterschiedliche Themen in Lebensübergängen wie Versöhnung, Abschiede und Neubeginn vorgestellt. Die Naturrituale können alleine oder mit vertrauten Menschen, als Selbsthilfe oder mit professioneller Begleitung, in der beschriebenen Form oder verändert durchgeführt werden. Sie sind einfach und gut umzusetzen. Einige der Anleitungen stammen aus der Tradition der School of Lost Borders, die Meredith Little und Steven Foster begründet haben.1

Die angeführten Beispiele von Menschen, die Lebensübergänge rituell in der Natur gestaltet haben, können anregen, sich selbst in ihnen wiederzuerkennen und sich zu erinnern, was es bedeutet, ein Mensch in dieser Zeit zu sein, mit all seinen Nöten und seiner Fähigkeit zur heilsamen Wandlung. Ihre Erfahrungen können inspirieren, im Spiegel der Natur Mut zu schöpfen, um neue Wege zu gehen, sich auszusöhnen und in tieferen Kontakt mit sich selbst zu kommen.

Auf vielfältige Art lebt die Natur uns vor, wie wir mit Übergängen umgehen können. Im Zyklus ihres Erblühens, Wachsens, Vergehens und Sterbens zeigt sie uns das Grundmuster allen Lebens. In rituellen Auszeiten können wir mit der regenerativen Selbstheilungskraft der äußeren und unserer inneren Natur in Berührung kommen, was heilsame Erfahrungen und Wegweisung ermöglicht. Wir finden neuen Zugang zu verborgenen Kraftquellen und zu dem, was uns in der Essenz trägt. So erhalten wir wichtige Hinweise für unseren Entwicklungsweg und Antworten auf drängende Sinnfragen.

Die Praxiskapitel 3, 4 und 5 zeichnen die drei archetypischen Phasen von Lebensübergängen nach: das Würdigen und Abschiednehmen von einer alten Lebensphase, die Schwellenzeit und die Phase des Neubeginns und der Neuausrichtung. Da diese drei Phasen einen uralten transformatorischen seelischen Prozess beschreiben, können sie für die eigene Entwicklung in einem Lebensübergang als modellhafter, handlungsweisender Weg dienen. Er ist schrittweise aufgebaut. In der letzten Phase geht es darum, wieder ganz ins Leben und zu den Menschen zurückzukommen und das gestärkte Innere auch im Außen einzubringen. Dies ist gerade in der heutigen Zeit mit ihren vielen Umbrüchen wichtig. Durch den Rückbezug zur Erde und zu der Erkenntnis, dass auch wir Natur sind, liegt in der rituellen Naturarbeit einerseits die Chance, sich selbst beseelt und inspiriert zu entfalten. Sie kann andererseits zentral für den Entwicklungsprozess des Menschen in seinem Verhältnis und seinem Umgang mit der Natur werden. So verlangt die aktuelle ökologische Krise auch neue Wege in unserer Naturbezogenheit und ein erweitertes Naturverständnis, das uns selbst als Natur mit berücksichtigt.

Möge das Buch die Leserinnen und Leser ermutigen, eigene Wege für die ganz persönliche Gestaltung von Lebensübergängen zu finden und das eigene Leben in die größere Verbundenheit von allem Lebendigen einzubetten. Möge es dazu beitragen, im Spiegel der Natur Sinn zu finden.

Noch eine Bemerkung zur Sprache: Im Sinne einer Ausgewogenheit werden die männliche und weibliche Form abwechselnd gewählt.

1. Lebensübergänge im Spiegel der Natur verstehen

Wenn das Alte nicht mehr und das Neue noch nicht trägt

Alle Lebensübergänge gehen mit grundlegenden Veränderungen einher, und zwar sowohl seelisch, geistig und körperlich als auch materiell, räumlich und sozial. Sie fordern, Abschied von einer alten Identität zu nehmen, um in eine neue hineinzuwachsen. Diese tiefe Wandlung ist wie Sterben und Neu-geboren-Werden und konfrontiert uns mit Auflösung, Unsicherheit, Nichtwissen und einer vielleicht noch fragilen Zugehörigkeit zum eigenen Leben. Es sind krisenhafte Zeiten, in denen unser Gleichgewicht empfindlich aus der Balance geraten kann.

Den Raum des Vertrauten verlassen

Bevor wir in einen Übergang geraten, fühlen wir uns sicher und vertraut in dem, was wir sind und wie wir leben. Das Leben scheint geordnet, vieles ist selbstverständlich. Rollen, Werte, Identitäten und selbst ungeliebte Beziehungsmuster sind verlässlich. Wir haben uns eingerichtet im Leben, haben unsere Netze geknüpft, in denen wir uns sicher bewegen, und sind enge Bindungen eingegangen. Tief verankerte Zugehörigkeiten tragen uns.

Aber da alles Leben dem universellen Grundmuster des Wandels folgt, steht irgendwann Veränderung an. Jedes Lebewesen und auch jede Lebensphase durchläuft die gleichen Zyklen des Wandels von Entstehen, Wachsen, Blühen, Reifen, Zerfallen und Sterben. Lebensthemen gehen zu Ende, Freundschaften tragen nicht mehr in der gewohnten Weise.

Einige Übergänge im Leben können wir freiwillig und selbstbestimmt entscheiden, wie Berufswechsel oder Hochzeit. Viele ereignen sich jedoch ohne unser Zutun, ob wir wollen oder nicht, weil sie unweigerlich und unaufschiebbar zum Leben dazugehören. Sie werden durch die natürlichen Entwicklungsprozesse und lebenszyklischen Ereignisse wie Erwachsenwerden, Elternschaft und Altern angestoßen. Sie können auch durch einschneidende Lebensereignisse plötzlich ausgelöst werden, etwa durch:

Verlusterlebnisse: Trennung, Krankheit, Tod, Arbeitsplatzverlust, Unfall,

berufliche Veränderungen: Arbeitsplatzwechsel, Rollenwechsel, Abschluss von Ausbildungen, Selbstständigkeit, neue Kolleginnen und Kollegen, Burnout,

bei Kindern die Geburt von Geschwistern, Trennung der Eltern, Schulwechsel,

traumatische Erlebnisse, Retraumatisierung, Konflikte (innere, familiäre, soziale, berufliche, spirituelle, finanzielle u.a.)

Umzüge, Enttäuschungen durch nahestehende Menschen,

deutliche Veränderungen im sozialen Status wie Eintritt in und Austritt aus Organisationen, Gründung einer Familie.

Diese Übergänge werden zum Teil als gravierender empfunden als die lebenszyklischen Übergänge wie Heirat oder Elternschaft. Einschneidend ist ein Übergang für Menschen meist dann, wenn Vertrautes stark in Frage gestellt wird. Es ist ein großer Unterschied für die Bewältigung von Lebensübergängen, ob wir eine Veränderung und ihren Zeitpunkt selbst wählen können, weil wir uns innerseelisch reif dafür fühlen, oder ob sie von außen konfrontierend in unser Leben einbricht. Bei Paaren kommt es immer wieder vor, dass bei dem einen der innere Loslösungsprozess zum Zeitpunkt der Trennung bereits abgeschlossen ist, während die andere völlig davon überrascht wird. Selbst wenn wir Entscheidungen selbst treffen konnten, hängt der gelungene Übergang davon ab, wie wir auch in Zukunft Ja zu der vergangenen Entscheidung sagen.

Diese äußeren Situationen wecken uns auf, die alte Identität neu zu überdenken und uns neu zu orientieren. Vieles, was bisher gelebt wurde, wird fragwürdig und löst sich in seiner bisherigen Selbstverständlichkeit auf. Die Frage taucht auf, was im Leben wirklich wesentlich ist und was trägt.

Auch wenn erwünschte Übergänge unerfüllt bleiben oder anders verlaufen als ersehnt – etwa sich auszusprechen, bevor eine wichtige Person stirbt, mit der eigenen Berufung Geld verdienen zu können oder den geliebten Menschen zu heiraten – erfordert dies Anpassungsprozesse und die Neufindung eigener Wertesysteme.

Nicht immer sind es Erlebnisse aus der äußeren Welt, die einen Wandlungsprozess einleiten. Er kann auch davon losgelöst von innen heraus geschehen. Erleben wir zu viel Stillstand und eingefahrene Routine, erfüllen wir nur noch Pflichten, schalten wir seelisch ab durch zu viel Fernseh- oder Internetkonsum, kann eine heilsame Erschütterung in unser Leben treten, um seelischer Entwicklung Raum zu geben. Dann zieht es uns förmlich in die Wandlung hinein. Unsere Identität ruft nach innerem Wachsen und äußerer Veränderung und möchte sich erweitern. Denn im Kern sehnen wir uns nach unserer eigenen Wahrhaftigkeit, danach, wir selbst zu sein und in der Fülle der eigenen Kraft zu leben. Wir fühlen uns von der größeren Dimension unseres Seins »gerufen«.

Im Übergang kann es uns zu etwas Neuen hinziehen oder von etwas Altem wegdrängen. Vielleicht möchten wir eigentlich lieber im alten Zustand verweilen, wenn dies nur möglich wäre. Wir können mit dem Lebensstrom mitfließen oder uns gegen ihn wehren, fühlen uns gespannt auf das Neue oder verloren. Manchmal wollen sich unsere Wünsche einfach nicht verwirklichen, so sehr wir uns anstrengen mögen. Und auch das fordert ein großes Loslassen von uns, zu dem wir nicht immer bereit sind.

Mitten im Übergang

In Lebensübergängen stellt sich uns nicht nur die Aufgabe, Gewohntes, Vertrautes, uns lieb Gewordenes loszulassen, sondern auch den Menschen, der wir waren, zu verabschieden. Die Identität wandelt sich, wir verlieren sogar Halt in dem, was wir geworden sind. Dadurch erhält die Sinnfrage eine zentrale Bedeutung: Warum bin ich hier auf der Welt? Wofür lohnt es sich, jeden Morgen aufzustehen? Wie soll ich meine Lebenskraft einsetzen?

Beziehungen, Berufung, Lebensumfeld, selbstverständliches Sein und Selbstwirksamkeit werden neu überprüft. Entscheidungen und Ablösung von Menschen stehen an. Es kommt zum Abbruch eines sicheren Lebensentwurfes. Die innere Gewissheit, zum Leben dazuzugehören und darin einen sicheren Platz zu haben, wird erschüttert. Gefühle von Verlust, Angst, Zweifel, Wut, Hin-und-Her-Gerissensein, aber auch von Zuversicht und Neugier auf das Neue katapultieren das Ich immer tiefer in die Frage, wo der eigene Platz im Leben ist, was sich überholt hat und was neu gelebt werden will. Eine neue Art von Selbstverständnis, Eigenständigkeit, die ureigene Lebensaufgabe und Entfaltung hin zum Kern der eigentlichen Persönlichkeit werden zu existentiellen Themen.

In diesem Prozess werden Schichten unseres Seins abgeblättert und wir erleben eine tiefe Sinn- und Bedeutungsverschiebung. Wir fühlen uns in einer Art Niemandsland, einem unbehausten Provisorium, bei dem wir uns weder zum Alten noch zum Neuen zugehörig fühlen. Wir sind es kaum gewöhnt, einen solchen Zustand des Dazwischen auszuhalten im Vertrauen darauf, dass sich hinter all den vielen Schichten ein unverletzter Kern zeigen kann.

In diesem Zwischenraum stirbt alles Müssen, Sollen, und die Hüllen um die eigene Essenz fallen ab. Das, was wir für unser Ich gehalten haben, wird langsam aufgelöst. Dahinter kann die Angst verborgen sein, wenn wir das alte Ich opfern, das sich bisher so souverän in der Gesellschaft bewegt hat, dass dann nichts mehr übrig bleibt. Dieses Absterben des alten Ichs, die Trauer, dass das eigene Leben vielleicht nicht entsprechend den eigenen Potenzialen entfaltet wurde, ist Teil der eigenen Individuation. Innere Leere, das Gefühl von Wertlosigkeit, Entfremdung und Entwurzelung verweisen auf das Bedürfnis der Seele nach Ganzwerdung, Heimat und Zugehörigkeit.

Die Unsicherheit darüber, ob ein Übergang gelingt, kann uns an den alten Zustand binden. Altes und Neues ringen miteinander um einen erfüllenden Lebensentwurf. Fallen wir zurück hinter den Impuls der Seele, uns weiterzuentwickeln, enttäuschen wir das, was sich in uns entfalten will.

Der Übergang in eine neue Lebensphase fällt oft dann schwer, wenn scheinbar Unversöhnbares unsere Lebensenergie bindet. Wie gut wir vom Alten abgelöst sind oder wie sehr wir noch am Alten hängen, hat Auswirkungen auf unsere innere Stabilität.

Entscheidend in der Schwellenphase ist dabei, welche Erfahrungen wir sammeln konnten, mit kritischen Veränderungen selbstwirksam umzugehen, ob wir uns mit unseren Kraftquellen verbinden und auf genügend innere, finanzielle und soziale Ressourcen zurückgreifen können. Wenn wir uns getragen fühlen von guten Freundinnen und Freunden, sind Verluste eher zu verschmerzen. Auch unsere Verletzlichkeit und Sensibilität spielen eine Rolle. Können wir flexibel mit neuen Situationen umgehen, uns offen auf Neues einstellen und Wagnisse mutig eingehen, dann wird uns der Übergang leichter fallen.

Um zu neuen Ufern aufzubrechen, brauchen wir oft eine Erschütterung. Ist sie nicht groß genug, werden neue äußere Einflüsse vom alten System unterdrückt. Ist sie groß genug, werden in dem entstehenden Lebensübergang große Potentiale an Kreativität bereitgestellt, damit sich unser seelisches System an die veränderte Situation anpassen kann. In diesem Sinne müssen wir aus dem bisher Bewährten herausgeschleudert werden, damit kreative Prozesse das Neue initiieren können. Im Kippen und Schwanken zwischen Altem und Neuem wird dabei so lange ein Mittelpunkt umkreist, dem wir uns allmählich in einer Spiralbewegung nähern, bis wir das eigene Zentrum erreichen, das zum Ort schöpferischer Wandlung wird.2 Reifungsprozesse zur Neuwerdung durchlaufen – ebenso wie auch die seelische Entwicklung – unterschiedliche Stadien. Das Kippen und Schwanken zwischen den Polen des Alten und des Neuen gehört zu jedem Übergang dazu. C. G. Jung beschreibt diese Überwindung der Gegensätze so: »Das Zwischen-den-Gegensätzen-Schwanken oder Hin-und-Hergeworfenwerden ist […] ein In-den-Gegensätzen-Enthaltensein.«3 In diesem Prozess werden wir weicher und zugänglicher für unsere ureigenen Ressourcen.

Nach über dreißig Jahren hat Susannes4 Mann eine Beziehung mit einer gemeinsamen Freundin begonnen. Kurz danach erfolgt die Trennung und er zieht aus. Sie ist fassungslos, schockiert, wütend, versteht nicht, warum er nur kaum für die drei gemeinsamen Kinder sorgt. Sie fühlt sich ausgetauscht, verlassen, betrogen. Nach einigen Monaten Therapie geht sie rituell in die Natur. Dort wählt sie auf einer Streuobstwiese zwei Bäume: einen für ihren Exmann und einen für sich selbst. Sie geht mit einem inneren Satz zu den Bäumen, der sie unterstützt: »Einatmend nehme ich meine Wunde und meine Wut wahr, ausatmend umarme ich sie.«

Zunächst verbindet sie sich tief mit ihrem Baum, der voller praller Äpfel hängt. Sie empfindet ihn als stark, üppig, voller Fruchtbarkeit. Sie kann sich zutiefst dafür danken, dass sie sich wieder geöffnet hat für Neues im Leben, trotz ihres Schmerzes.

Innerlich verbunden mit ihrem Baum geht sie zu seinem Baum hinüber. Dieser trägt nur noch an einem Ast Früchte. Die Äste sind teilweise abgebrochen und trocken. Voller Wut, er habe die Familie »abgesägt«, betrauert sie den Verlust der vertrauten Bindung. »Unser Ast wuchs in den Himmel. Aber er ist abgebrochen«, sagt sie. Dann sieht sie, wie dieser Baum selbst aus dem Gleichgewicht geraten ist und nur noch sehr dürftig wächst. Als sie das wahrnimmt, hat sie tiefes Mitgefühl. Obwohl sie vieles nicht versteht, verstehen kann und will, verabschiedet sie sich versöhnter von dem Baum und damit von der Paarbeziehung mit ihrem Mann.

Zurück bei ihrem Baum nimmt sie eine Wunde an ihm wahr und erkennt, dass ihre Wut ebenso zu ihr gehört wie ihre Liebe. Sie anerkennt, dass beides sein darf. Sie bittet den Baum, ihr vorsichtig neue Wege der Verbundenheit zu zeigen. Da realisiert sie, dass es in den vergangenen Monaten so viel Wachstum in ihrem Leben gab, auch wenn nicht alles gut war. Wie der Baum ist sie beherzt und kraftvoll in eine andere Richtung gewachsen. Obwohl dem Baum geschadet wurde, wächst er dem Licht entgegen. Sie fühlt zutiefst, dass sie den Kindern ein Vorbild sein möchte, ihren Mann weiter lieben zu dürfen, auch wenn die Paarbeziehung beendet ist. Sie selbst kann in der Liebe bleiben – trotz der Trennung.

Verkannte Übergänge

Wenn wir die beschriebene Orientierungslosigkeit, Sinnkrise und unbewältigten Abschiede als Lebensübergänge auffassen, dann können wir sie auch sinnvoll und heilsam gestalten. Oft bleiben sie als Lebensübergänge unerkannt. In therapeutischen Situationen kann es hilfreich sein, Lebenssituationen und Lebenskrisen als Übergang und tiefen Prozess einer inneren Wandlung von einem alten in einen neuen Seinsbereich der Identität zu verstehen.

Je bewusster dabei eine alte Phase durchlebt wird und Umbrüche als Teil des natürlichen Kreislaufs des Lebens gesehen werden, desto mehr ist spürbar, dass auch die eigene Krise ein Teil davon ist. So können wir verstehen, dass unser eigener Wandlungsprozess in einen umfassenderen Prozess des Lebendigen eingebettet ist. Je klarer wir dabei unterstützt werden, anzuerkennen, dass ein altes Ich stirbt, eine neue Lebensphase beginnt und diese rituell verankert werden kann, desto weniger schwer kann die Krise verlaufen. Sie ereignet sich dann, wenn das, was passiert, einfach und fast unmerklich geschieht oder unbeachtet bleibt.

Wir modernen Menschen sind nicht mehr so tief mit dem Wissen und der Erfahrung zyklischer Stirb- und Werde-Prozesse verbunden. Wir vermögen daher nicht immer Leidens- und Transformationsprozesse als dem Leben zugehörig und als Lebenskeime zu würdigen. Seelische Gesundheit heißt aber nicht die Abwesenheit von Leid. Wir erlangen sie, wenn wir um die Zyklizität des Lebens wissen und uns vor bestimmten Seelenzuständen nicht mehr fürchten, sondern die Seele ebenso nähren wie den Körper.

Manche Übergangsprozesse sind auch eher schleichend, so dass sie kaum bemerkt werden. Sie graben sich nicht so tief ins Leben ein.

Das Neue bricht durch

Im Vergehen und im Übergang kündigt sich bereits das Hineinwachsen in das Neue an, auch wenn es danach nicht mehr so ist wie vorher. Die neue Haut ist nach der Häutung noch sehr dünn, zart und verletzlich. Das Leben kann uns an diesem Punkt einladen, die Wandlung und das, was ist, anzunehmen und die Anhaftung an unsere Vorstellungen abzustreifen, was hätte sein sollen. Wir verzeihen nach und nach dem Leben, übernehmen Verantwortung, nehmen Schuldzuweisungen zurück und streifen das Gefühl ab, Opfer zu sein. Manchmal ist das eine harte, erst im Nachhinein lohnende Lernaufgabe. Zunehmend beginnen wir, das eigene Glück und Unglück weniger von den äußeren Umständen und anderen Menschen abhängig zu machen.

Dabei braucht es seine Zeit, zu einem neuen Umgang mit den eigenen Gefühlen, zu neuen Verhaltensweisen und einem neuen Zugang zu sich selbst und dem eigenen Leben zu finden. Aus den Brüchen werden Brücken. Nach dem Bruch kommt der Aufbruch, der Wunsch, das Leben neu zu ordnen. Wir ahnen, dass der Übergang unumkehrbar ist. Dann fühlt sich die Unsicherheit gesegnet an. Die Brüche haben uns ein beherztes Offensein ermöglicht, wodurch aus dem Ertragen ein beseelter Ertrag möglich wird. Neugier und Zuversicht wechseln sich mit Angst ab. Wir spüren, dass wir nicht weniger werden, wenn wir etwas hergeben, und können die Phantasie des Neuanfangs wagen.

Die Brüche im Übergang erwecken unsere Sehnsucht, uns als Mensch ganz zu fühlen und mit einer tieferen Lebendigkeit und Verbundenheit in ein größeres Selbst hineinzuwachsen. So kann jeder Lebensübergang als Weg in die eigene Ganzheit und Hinführung zu unserem tieferen Wesen verstanden werden. Im Übergang werden wir in eine neue Dimension unseres Seins initiiert. C. G. Jung spricht davon, dass die Natur uns im Laufe des Lebens in unseren eigenen inneren Seelengefährten umgebiert, uns wandelt in den inneren zukünftigen, größeren Seelenraum, der in uns angelegt ist, auch wenn wir diese Form der Ganzheit nie vollständig erreichen können: »Die Wandlungsvorgänge wollen die beiden einander annähern, wogegen das Bewusstsein aber Widerstände empfindet, weil der andere zunächst als fremdartig und unheimlich erscheint […]. Wir sind aber mit dem inneren Freund oder Feind konfrontiert, und dabei hängt es von uns ab, ob er uns Freund oder Feind ist.«5

Susanne erlebte die Qualität des Neuen nach einer rituellen Auszeit in der Natur, zwei Jahre nach der Scheidung von ihrem Mann, so:

»Ich hatte früher ein Leben, da war ich fest verwurzelt und eingebunden. Über viele, viele Jahre. Beneidenswert. Und jetzt habe ich ein Leben, da bin ich auch verwurzelt und eingebunden. Es gibt jetzt bloß nicht mehr diese eine dicke, fette, tiefe Pfahlwurzel, die mich erdet, sondern es sind viele und neue Wurzeln, die sich ausgebreitet und kraftvoll entwickelt haben. Manchmal vergesse ich, dass sich diese Wurzeln gebildet haben und mich tragen, und ich fürchte umzukippen. Und dann merke ich meistens, dass sie ja doch da sind oder sich wieder neue Ausläufer in unbekanntes Gebiet gewagt haben. Ich glaube, das ist auch beneidenswert.«

Übergänge stimulieren bislang nicht gelebte Seiten in uns und gebären uns in eine neue Form hinein. In der Wandlung bewegen wir uns von einem kleinen, fixierten Ich auf ein größeres, lebendigeres Selbst zu. »Man kann nicht über sich selbst hinaus, sondern nur noch weiter in sich selbst hinein, und dieses Selbst ist nicht identisch mit dem Ich«6, so C. G. Jung. Wandlung impliziert meist eine Begegnung mit dem schöpferischen Selbst, mit dem innersten Kern der eigenen Existenz. Barrieren, die verschlossen waren, öffnen sich. Dazu erfordert Wandlung den Mut, Grenzen zu überschreiten. Ohne die Konzentration auf das Wesentliche, die Respektierung anderer Haltungen und ohne die Lust, immer wieder anzufangen und neue Wege zu gehen, ist Wandlung als Lebenserneuerung nicht vorstellbar. Letztendlich bleibt Wandlung geheimnisvoll. Sie öffnet uns für das Unbekannte und webt unser Leben neu.

Individuelle Entwicklung umfasst immer auch die Welt und korrespondiert mit ihr. Unsere persönliche Krisenbewältigung kann uns ermutigen, uns als gestärkte Person gemeinsam mit anderen für eine nachhaltigere Welt zu engagieren. Denn auch gesamtgesellschaftlich können wir einen umfassenden initiatorischen Prozess beobachten. Wie die Tiefenökologin Joanna Macy beschreibt, sind wir zugleich Sterbebegleiter einer alter Welt, in der das Ökosystem der Erde empfindlich gestört wurde, und Hebammen einer neuen Welt.7 Aus tiefer Einsicht heraus können wir uns so für neue Formen der Kooperation mit der Erde einsetzen.

Auflösung und Neuwerdung in Symbolen der Natur

Das Ringen zwischen alten und neuen Seinsformen wird uns in der Natur auf vielfältige Weise gezeigt. Übergänge in der Natur finden sich in den Wachstums- und Wandlungszyklen von Tieren und Pflanzen. Wir erleben sie täglich in den Zyklen von Tag und Nacht, monatlich in den Rhythmen des Voll- und Leermondes und jährlich in den wechselnden Jahreszeiten. Wenn das Morgengrauen den Tag ankündigt oder die Abenddämmerung die Nacht einläutet, ist es sowohl Tag als auch Nacht. Das kann uns im Übergang daran erinnern, dass es Zeiten gibt, in denen weder das Alte noch das Neue wirklich die Oberhand hat. Beide können gleichzeitig existieren.

Die Auseinandersetzung mit Symbolen der Neuwerdung in der Natur – wie Geburt, Häutung und Verpuppung – kann dazu ermutigen, Vertrauen in den ganz eigenen Weg im Lebensübergang zu finden. Die Beispiele aus der Natur spiegeln wider, wie unterschiedlich und vielfältig seelische Übergangs- und Reifungsprozess verlaufen können. Sie geben uns Hinweise darauf, was wir für unsere eigenen Entfaltungsprozesse beachten können.

In allen Transformationsprozessen von einem alten in einen neuen Zustand braucht die Seele ihre eigene Zeit der »Verpuppung«, des Rückzugs, bevor die neue Erscheinungsform im Leben sichtbar werden kann.

Geburt und Häutung

Einer der wesentlichsten Übergänge ist die Geburt. Ob als Geburt des Lichts bei Tagesanbruch oder zur Wintersonnenwende, als Geburt eines neuen Wesens, ob bei den Erdkröten, die ihre Eier laichen, welche Wochen später als Kaulquappen schlüpfen, ob ein Küken aus einem Ei schlüpft, eine junge Buche unter der Mutterbuche wächst: Die Geburt als Metapher lehrt uns, dass es auf dem Weg zur Neuwerdung einen langen Reifungsprozess gibt, der durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann. Er findet geschützt von äußeren Einflüssen und für die Außenwelt längere Zeit verborgen in einem ihm ganz eigenen Element statt, wie dem Fruchtwasser. Im geschützten Raum werden die Gegensätze von Männlichem und Weiblichem zu etwas Neuem vereinigt. Nur durch den geborgenen, haltenden Raum kann Neues entstehen und wachsen.

Ist die Zeit des Reifens abgeschlossen, wird das neue Leben ausgestoßen und ist auf sich selbst geworfen. Der Weg durch den Geburtskanal ist eng, und Schmerz, Erschöpfung und schließlich Glück und Erfüllung bestimmen den Prozess. Manches kommt zu früh, anderes will nicht von selbst kommen. Neues ins Leben zu bringen erfordert absolute Hingabe.

So sind auch seelische Übergangsprozesse Geburtsprozesse, die mit Weh und Wunder, Freude und Angst, Stress und Erleichterung, Enge und Weite, Härte und Weichheit, Hingabe und Willen einhergehen können. Wenn das Neue da ist, ist es angewiesen auf Fürsorge, Schutz und Genährtwerden. Erst wenn die Zeit gekommen ist, werden die Jungen im Tierreich regelrecht verstoßen und weggebissen, damit sie selbst ihren Platz im Leben finden.

Für viele Menschen ist die Häutung der Schlange ein eindrückliches Transformationsbild. Auch das Häuten geschieht langsam, im Verborgenen, geschützt. Unter der alten Haut wächst die neue bereits. Schlangen verzichten in dieser Übergangsphase auf Nahrung, bis sie eines Tages die alte Haut abwerfen. Auch in der seelischen Entwicklung bereitet sich, während das Alte noch sichtbar ist, im Unsichtbaren bereits das Neue vor und kündigt sich in Ahnungen, Träumen, inneren Bildern und neuen Erfahrungen an.

Die Metamorphose der Raupe zum Schmetterling

Der Transformationsprozess der Raupe zum Schmetterling veranschaulicht faszinierend, wie im Übergang alte Seinsformen mit neuen Entwicklungsformen ringen, bis sich schließlich der Schmetterling in der neuen Gestalt zeigt. Was passiert da im Inneren des Schmetterlings?

Norie Huddle hat diesen Prozess eindrücklich beschrieben.8 Nachdem im Raupenstadium jeden Tag Unmengen Nahrung aufgenommen wurden, spinnt sich die Raupe in einen Kokon ein. Von außen nicht sichtbar verflüssigt sich das Innere des Kokons in einem Verdauungsprozess. Auf der Ebene der Zellen geschieht dabei zweierlei: Einerseits lösen Enzyme die alte Zellstruktur der Raupe auf. Andererseits entstehen im Kokon neue sogenannte Imagozellen, die auf einer anderen Frequenz schwingen und das Bild zukünftiger Strukturen und Ordnungssysteme des Schmetterlings bereits in sich tragen.

Die Zellen des alten Immunsystems der Raupe beginnen jedoch damit, die Imagozellen als Fremdkörper zu bekämpfen und die erste Generation von ihnen fast vollständig zu eliminieren. Die zweite Generation der neuen Zellen beginnt daraufhin, Klumpen in kleinen befreundeten Gruppen zu bilden, und infiziert die Zellen des alten Systems, selbst Imagozellen zu werden. Mit dem Sterben des Alten wird mehr und mehr die Zukunft geboren.9 Die Imagozellen verkörpern eine Art Zukunft, die in der Gegenwart bereits eingeschlossen ist und sich entfalten will. Die Imagozellen werden umso wirksamer, je mehr das überholte System in sich zerfällt. Das alte Immunsystem hat dadurch immer weniger Chancen, die neuen Zellen zu zerstören. Die Klumpen verdichten sich weiter zu Netzwerken, die breit gestreut Informationen austauschen. An einem bestimmten Punkt in dieser Entwicklung erkennen die neuen Zellen sich selbst als neue Form des Schmetterlings. Es entsteht eine neue Identität. Ab diesem Moment weiß jede Zelle, was ihre Aufgabe ist, und wird ermutigt, ihren neuen Platz einzunehmen.

Seelische Wandlung gleicht einer Schmetterlingstransformation. Da ist eine Raupe, die noch nicht zu dem geworden ist, was in ihr angelegt ist. Sie ist verpuppt und eingehüllt in ein feines Seidengespinst, das vor der Außenwelt schützt. Wie bei den Imagozellen des neuen Zustands und bei den Zellen des alten Immunsystems wehrt sich unsere Seele zunächst gegen einen Wandel und gegen die Auflösung bisheriger vertrauter Zustände. Die Zeichen des Neuen werden ignoriert, unterdrückt und bekämpft. Das alte bestehende System reagiert zunächst mit Abwehr und versucht, die alte Ordnung wiederherzustellen. Es missversteht das Neue, das entstehen will, als Fremdkörper und Störenfried und wehrt sich gegen den eigenen Sterbeprozess, indem es sich von der natürlichen Dynamik lebendiger Systeme abschottet. Dabei hat das alte System sich selbst überlebt und besitzt nicht die Kraft zur Bewältigung der neuen Herausforderungen. Aber da nichts so beständig ist wie der Wandel, wird sich der Schmetterling eines Tages entfalten.

Das Bild der Metamorphose des Schmetterlings vergegenwärtigt, dass der Verwandlungsprozess von einer inneren Kraft und Bestimmung her geführt ist. Es ermutigt uns, in Veränderungssituationen aus Opferrollen und Kampf herauszutreten und stattdessen kreative Erfahrungen des Sich-Vernetzens, der Verbundenheit zu suchen, in denen wir unser schöpferisches Eingebundensein wahrnehmen können. Auf diesem Weg müssen wir alte selbstzerstörerische Handlungsweisen aufgeben und den Zusammenbruch alter Ordnungen als lebendigen Prozess der Wandlung sehen, der die Zukunft in unser Leben hineinholt. Es ist tröstlich, dass gerade in dem, was abstirbt, Potenziale für Neues verborgen sind. Konkret hieße das, Erfahrungsräume für eine mögliche Zukunft bereits im gegenwärtigen Sein zu schaffen, statt auf zukünftige Veränderungen von außen zu warten. Damit wird der Übergang zum Freund statt zum Feind.

Nicanor Perlas hat das Schmetterlingsbild auf die globale Zivilgesellschaft übertragen: Wie vernetzte Imagozellen bilden sich weltweit Millionen von alternativen ökologischen Lebensweisen, Projekten, Organisationen. In der synergetischen Bezogenheit zur Welt als Ganzes begreifen Menschen überall auf der Welt, dass sie die Zukunft durch ihr Verhalten als viele Imagozellen, welche die Welt verändern, beeinflussen können. Menschen, die so zu mehr Nachhaltigkeit, zu einer ökologisch und ökonomisch verantwortlichen und lebenswerten Zukunft für die nachfolgenden Generationen beitragen, »verbinden sich mit all dem, was lebendig und verwandlungsfähig in der Gesellschaft ist, und nicht mit dem, was im Absterben ist«10. Das Aufbrechen der eigenen Schutzhüllen ist auch eine politische Arbeit. Es ist der Wandel, den wir im Handeln in die Welt bringen. Wir sind, wie Paul Hawken sagt, Teil einer neuen Identität des gesellschaftlichen Wandels.11

Zentrale Lebensphasen und Lebensübergänge

Zwischen Geburt und Tod bewältigen wir eine Reihe von Lebensübergängen. In diesen Entwicklungsprozessen wechseln sich Phasen der Konsolidierung mit Phasen des Aufbruchs und des Übergangs ab.

Auch wenn die Lebensphasen und -übergänge universell sehr ähnlich verlaufen, da sie dem natürlichen Zyklus des Lebens entsprechen, ist die Art, Übergänge zu verarbeiten, höchst einzigartig. Daher können die hier beschriebenen Herausforderungen, Blockaden und Anpassungsleistungen in den einzelnen Lebensphasen und Übergängen nur Orientierungslinien sein.

Übergänge und zentrale Lebensthemen in der Kindheit

Bereits bei der Geburt erfahren wir unsere erste Initiation: durch den Geburtskanal von der Dunkelheit ins Licht, vom Element des Wassers in das Element der Luft, von Wärme und Stille in Kühle und Geräusche, vom rundum Versorgtsein zum selbstständigen Atmen und Trinken. Allein mit diesem Übergang vollbringt das Neugeborene eine große Anpassungsleistung. Es verlässt den geborgenen Raum und erhält einen Namen, der ihn sein Leben lang begleiten wird. Es wird vielleicht getauft und wächst in einen bestehenden Familien-, Paten- und Geschwisterkreis hinein. Wird es getauft, tritt es in eine religiöse Gemeinschaft und ein überliefertes Glaubenssystem ein. Die ersten Lebensjahre dienen dem Ankommen in der Welt.

Nach und nach entwickelt das Kind ein eigenes Ich-Gefühl. Es öffnet sich für das Leben, staunt, fragt, probiert aus und entdeckt die Welt. Ein zweiter Übergang ist der Eintritt in den Kindergarten. Das Kind merkt, dass es in ein größeres, soziales und gesellschaftliches Gefüge eingebettet und nicht nur in der vertrauten Familie beheimatet ist. Es ist der erste Kontakt mit einer Institution, in der es gilt, den eigenen sozialen Platz in einer Gruppe zu finden.

Mit dem Eintritt in das Schulsystem ist der Übergang in die geistigen und kognitiven Kulturtraditionen und in eine vorgegebene zeitliche Struktur verbunden. Das Kind lernt, sich in dieser Welt zurechtzufinden. Diese lange, leistungsorientierte Sozialisation berücksichtigt nur wenig die Intuition und ist nur selten am Erfahrungswissen, am Staunen und an der Naturverbundenheit des Kindes orientiert. So lernen Kinder kaum noch, zwanzig Bäume zu unterscheiden und zwanzig essbare Wildkräuter zu kennen.

Die Herausforderungen bestehen in dieser Lebensphase darin, sich im Familiensystem und in Klassenverbänden zurechtzufinden, die Identität neu auszurichten auf die sozialen Gefüge, Freunde zu finden und das eigene Sosein zu entdecken. Erste Hobbys entstehen, Interessen entfalten sich. Zugehörigkeit und Vertrauen zu entwickeln sind zentrale Themen der Kindheit; gerade hier kann es zu Brüchen kommen.

Übergänge und zentrale Lebensthemen in der Adoleszenz

Der Übergang von der Kindheit zum Jugendlichenalter zeichnet sich durch eine stärkere Orientierung an der Peergroup und eine zunehmende Abnabelung von den Eltern aus. Auch sie realisieren, dass ihre Kinder mehr und mehr selbstständige Wesen sind, die ihre eigenen Vorstellungen und Werte entwickeln und sich zunehmend abgrenzen und zurückziehen. Die Werte und das Leben der Eltern werden hinterfragt.

Dieser Übergang ist vor allem körperlich sichtbar. Die Geschlechtsmerkmale prägen sich aus, das Interesse für das andere Geschlecht wächst, die erste Menstruation und der erste Samenerguss bringen die Erfahrung, ein sexuelles Wesen zu sein.

Allein in der kurzen Spanne vom ca. zwölften bis zwanzigsten Lebensjahr sind eine Reihe von Übergängen zu bewältigen. Neben dem Bestreben nach mehr Autonomie und Selbstbestimmung wird zugleich noch die Nähe der Eltern gesucht. Das Konglomerat verschiedener Rollen bewirkt häufig, dass Jugendliche von Zweifeln, Rebellion und Abgrenzungsbestrebungen geprägt sind. Die zum Teil heftigen Machtkämpfe dienen der Orientierung. Die Herausforderungen dieser Lebensphase sind, Grenzen zu testen, unabhängiger zu werden und sich zugleich als zugehörig zu erleben, Interessen zu entfalten, mehr und mehr eigene Wege zu gehen, die Identität in Abgrenzung und Bezogenheit zu entwickeln, sich der eigenen Geschlechtsidentität und dem eigenen Körperempfinden anzunähern. Die balancierte Entwicklung von Männlichem und Weiblichen ist nicht ganz einfach, da männliche Identifikationsfiguren oft fehlen. Sinnkrisen gehören in dieser Zeit genauso dazu wie der Wunsch, die eigenen Kräfte auszuprobieren.

Das Ende der Schulzeit gilt der großen Ausrichtung auf das Berufsleben und das berufliche Wirken in der Welt, der äußeren Ablösung vom Elternhaus und der Orientierung hin zu mehr Eigenständigkeit. Entscheidungen zur Berufswahl, Ausbildung und Eintritt in den Beruf stehen an und das Bedürfnis, wirtschaftlich auf eigenen Füßen zu stehen, wächst. Es ist eine Phase von Höhen und Tiefen, die den Abschied von der Kindheit einfordert. Viele Jugendliche verspüren ein tiefes Bedürfnis, erkennen zu wollen, wer sie sind, was sie trägt und was sie in der Welt beitragen können. In unserer Kultur gibt es darauf nur wenig Antworten.