Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Bevor Sean Tucker als Fotograf von seiner Arbeit leben konnte, war er Musiker, Pastor und Kellner. Heute ist er bekannt für seine nachdenklichen Videos über Fotografie und Kreativität, die auf YouTube fast eine halbe Million Zuschauer finden.
In diesem Buch erzählt Tucker in 14 packenden Kapiteln davon, wie er zu seiner eigenen Kreativität und Stimme als Künstler fand. Seine sehr persönliche Erzählung stellt er dabei immer wieder in den größeren Zusammenhang von Psychologie, Philosophie und Kunst: Wie begegnen Kreative dem eigenen Perfektionismus, wie wachsen sie an Kritik und Widerständen und bleiben integer bei Komplimenten, wie bringen sie sich auch mit ihren dunklen Seiten in ihre Arbeit ein, um diese facettenreicher zu gestalten? Schließlich: Wie geben sie ihrem Schaffen eine Bedeutung und kreieren Dinge, die anderen Freude bereiten oder sogar Trost spenden können?
Dies ist ein Lesebuch für alle, die gern kreativ sind, aber dabei oft mit inneren und äußeren Widerständen zu kämpfen haben. Sean Tucker hat für sie eine inspirierende und lehrreiche Wegbeschreibung verfasst, mittels derer sie diese Widerstände überwinden und zu ihrer ganz eigenen Kreativität gelangen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 368
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Sean Tucker ist ein professioneller Fotograf und Filmemacher aus London. Er wuchs größtenteils in Afrika auf, wo er in seinen 20ern als Pastor für die südafrikanische Kirche arbeitete. Auch nach seinem Kirchenaustritt blieb er fasziniert von Psychologie und Spiritualität, die als Themen seine Texte über Kreativität prägen.
Er hat eine große Fangemeinde auf YouTube und Instagram, wo er über das »Warum« hinter unserer Kreativität spricht und versucht, Menschen auf ihrer eigenen kreativen Reise zu inspirieren.
Mehr zu Sean Tuckers Arbeiten finden Sie aufwww.seantucker.photography.
Zu diesem Buch – sowie zu vielen weiteren dpunkt.büchern – können Sie auch das entsprechende E-Book im PDF-Format herunterladen. Werden Sie dazu einfach Mitglied bei dpunkt.plus+:
www.dpunkt.plus
Sean Tucker
Ein biografischer Wegweiser
Sean Tucker
Lektorat & Übersetzung: Boris Karnikowski
Lektoratsassistenz: Anja Weimer
Copy-Editing: Kerstin Grebenstein, www.buch-fuer-buch.de
Satz & Layout: Birgit Bäuerlein
Herstellung: Stefanie Weidner
Umschlaggestaltung: Helmut Kraus, www.exclam.de, nach der Vorlage vonRocky Nook und unter Verwendung eines Fotos des Autors
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN:
Print978-3-86490-885-9
PDF978-3-96910-652-5
ePub978-3-96910-653-2
mobi978-3-96910-654-9
1. Auflage 2022
Translation Copyright für die deutschsprachige Ausgabe © 2022
dpunkt.verlag GmbH
Wieblinger Weg 17 · 69123 Heidelberg
Authorized translation of the English 1st edition of »The Meaning in the Making« © 2021 by Sean Tucker. This translation is published and sold by permission of Rocky Nook, Inc., the owner of all rights to publish and sell the same.
Hinweis: Die Tatsache, dass wir im gesamten Text vorwiegend das männliche Pronomen (er/sein) verwenden, dient der leichteren Lesbarkeit und spiegelt in keiner Weise eine geschlechtsspezifische Einstellung wider.
Schreiben Sie uns: Falls Sie Anregungen, Wünsche und Kommentare haben, lassen Sie es uns wissen: [email protected].
Die vorliegende Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung der Texte und Abbildungen, auch auszugsweise, ist ohne die schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und daher strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.
Es wird darauf hingewiesen, dass die im Buch verwendeten Soft- und Hardware-Bezeichnungen sowie Markennamen und Produktbezeichnungen der jeweiligen Firmen im Allgemeinen warenzeichen-, marken- oder patentrechtlichem Schutz unterliegen.
Alle Angaben und Programme in diesem Buch wurden mit größter Sorgfalt kontrolliert. Weder Autor noch Verlag noch Übersetzer können jedoch für Schäden haftbar gemacht werden, die in Zusammenhang mit der Verwendung dieses Buches stehen.
5 4 3 2 1 0
Ordnung
Logos
Atem
Stimme
Ego
Kontrolle
Aufmerksamkeit
Neid
Kritik
Gefühl
Schatten
Bedeutung
Zeit
Segen
Am Ende einiger Kapitel in diesem Buch finden Sie am unteren Ende der Seite einen QR-Code. Er sieht in etwa so aus:
https://www.seantucker.photography
Er führt Sie zu einer Webseite, auf der Sie einige der im Kapitel erwähnten Bilder und Videos anschauen können (obiger QR-Code führt zu meiner Website).
Öffnen Sie einfach die Kamera-App Ihres Smartphones, richten Sie den QR-Code wie verlangt im Display aus und folgen Sie dann der Aufforderung, die Webseite auf Ihrem mobilen Gerät zu öffnen. Bei einigen älteren Smartphones müssen Sie eventuell vorab eine spezielle »QR-Code-Reader-App« installieren.
Blaue Stunde. Das letzte Glühen des Tages verblasst schnell.
Mein magerer neunjähriger Körper liegt ausgestreckt auf dem Rücken in einem breiten, sandigen Flussbett. Ich starre hinauf in den tintig-purpurnen Himmel, an dem sich bald die Sterne zeigen werden. Der Sand trägt noch die Wärme des Tages in sich, während über mir eine kühle Brise zu wehen beginnt. Die erdig, würzig riechende Luft ist erfüllt vom Zirpen der Grillen.
In dieser abgelegenen Ecke Afrikas, mitten im botswanischen Buschland, gibt es kein Stadtlicht, das den Sternen den Rang ablaufen könnte, und so beginnen sie, gegen das Schwarz der Nacht zu strahlen.
Zuerst zeigen sich die helleren Sterne, dann auch die schwächeren, und bald sind es unzählig viele in unterschiedlicher Intensität und Farbe, so wie Nadelstiche in einem dunklen Tuch.
Direkt über meinem Kopf sehe ich die Milchstraße, die sich wie ein großes Lichtband über den Himmel zieht, und als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, zerfällt sie in eine Million winziger leuchtender Lichtpunkte, und die dunklen Bäume, die den Fluss überragen, wirken wie ein natürlicher schwarzer Rahmen aus spinnenartigen Schatten.
Normalerweise schaue ich nur beiläufig in den Nachthimmel, in einer Art blinder Vertrautheit, und er ist für mich, was er für die meisten Menschen immer schon war: eine riesige Fläche über unseren Köpfen.
Ein Firmament.
Aber nicht in dieser Nacht.
Einige Tage zuvor hatte man uns in der Schule ein Bild unserer Galaxie gezeigt: eine sich drehende Scheibe aus einer Vielzahl von Sternen im unendlichen Weltraum, mit unserem kleinen Planeten in einem ihrer spiralförmigen Arme. Unsere Lehrerin erklärte uns, dass wir genau das sehen, wenn wir in den Nachthimmel blicken, dass wir die Milchstraße sehen und dass wir von unserer Position aus auf einem ihrer Arme in das rotierende Zentrum dieser kolossalen Scheibe blicken.
Und wie ich nun so daliege und nach oben schaue, fällt mir das plötzlich wieder ein, und mitten in meiner friedvollen kindlichen Betrachtung der Dinge packt mich mit einem Mal eine schreckliche Angst.
Ich habe das Gefühl zu fallen, in die Unendlichkeit zu stürzen.
Ich liege nicht mehr auf dem noch warmen Sand eines trockenen Flussbettes und blicke zum Firmament des Nachthimmels hinauf. Jetzt liege ich an eine sich drehende Felskugel gefesselt und blicke nicht nach oben, sondern nach unten, hinab in die Ebene unserer Galaxie mit ihren Milliarden Sonnen, die mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch den unendlichen Raum wirbelt. Ich habe das Gefühl, dass die Kraft, die mich an Ort und Stelle hält, jeden Moment nachlassen kann, und wenn sie das tut, werde ich fallen und ins endlose Nichts stürzen.
Das macht mir eine Höllenangst, aber ich halte durch.
Es ist auch ausgesprochen aufregend.
Mein Herz klopft in meiner Brust angesichts der Ungeheuerlichkeit des Gedankens, dieser Tatsache.
Denn dieses Nichts hat auch eine Anziehungskraft, es lockt mich.
Es kostet mich viel Mut, aber ich strecke langsam meine Arme und Beine aus und forme einen Stern auf dem Boden, um loszulassen, um mich fallen zu lassen.
Was mir den Mut gab, meine Arme im Angesicht dieser klaffenden Leere auszustrecken, war Ordnung:
Die Ordnung, die das Chaos in Schach hält.
Dieser Moment hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt, denn es war meiner Erinnerung nach das erste Mal, dass ich diese beiden Dinge so deutlich gespürt habe: das Chaos und die Ordnung.
Das Chaos des Abgrunds vor mir und die Ordnung, die mich an diesem Felsen festhielt, zuvor und seitdem.
In diesem Moment wurde mir klar, wie mächtig diese Ordnung ist – eben weil sie einem Neunjährigen angesichts einer so großen Wahrheit so viel Mut geben kann. Ich hatte Vertrauen in diese Ordnung und glaubte, dass sie mir Halt geben würde, auch wenn ich ihr ins Gesicht blickte.
Dies war aber auch der Moment, in dem ich aufhörte, naiv der Beständigkeit dieser Ordnung zu vertrauen. Ich stellte sie zum ersten Mal infrage. Ich spielte mit dem Gedanken, dass sich unser Planet langsamer drehen oder dass die Schwerkraft versagen könnte. Ich stellte mir vor, wie sich unsere Sonne in Millionen von Jahren ausdehnen und uns verschlucken würde (noch so ein »Fun Fact«, mit dem die Lehrerin uns Neuntklässler in dieser Woche beschenkt hatte). Es war der Moment, in dem mir klar wurde, dass alles scheitern und das Chaos die Oberhand gewinnen könnte.
Die Dinge könnten sich ändern. Die Dinge werden sich ändern.
Es ist für unsere Zwecke hier nicht wirklich wichtig, wem oder was Sie diese Ordnung zuschreiben. Ob es sich um eine »höhere Macht«, die auf religiösen Strukturen beruht, handelt oder einfach um die unveränderlichen Gesetze der Natur. So oder so, in unseren wachsten und bewusstesten Momenten sind wir so erstaunt wie erschrocken darüber, wie alles um uns herum einfach zu funktionieren scheint – ohne unser Zutun und oft ohne unser Verständnis. Ironischerweise ist es wohl diese Faszination, die sowohl Priester als auch Wissenschaftler in ihre jeweiligen Berufe treibt.
Aber selbst wenn wir versuchen, die Ordnung zu untersuchen und zu erklären, sei es analytisch oder spirituell, wissen wir auch, dass das Chaos da draußen ist, und wir wissen tief in uns, dass es letztendlich siegen wird.
Wenn Sie religiös sind, hängen Sie vielleicht einer Vorstellung von Armageddon, Apokalypse oder Ragnarök an. Bevor es Wissenschaftler gab, waren es die Mystiker, die uns – Millionen von Zuhörern in Hunderten von Kulturen – in unzähligen Geschichten daran erinnerten, dass diese Ordnung nicht von Dauer sein würde. Alles wird sich letztendlich in Richtung Chaos bewegen. Wenn Sie Wissenschaftler sind, glauben Sie an Entropie. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass ein sich selbst überlassenes Universum mit allen Dingen darin mit der Zeit immer mehr in Un-Ordnung geraten wird.
Aber genau das ist der Punkt: Wir Menschen überlassen nichts dem Zufall. Wir kontrollieren, wir beeinflussen, wir verändern, und das alles auf Biegen und Brechen. Und im besten Fall sind wir kreativ.
Und darüber wollen wir hier sprechen.
Über das Gestalten und Formen.
Das Formen und Schmieden.
Das Machen.
Das Kreativsein.
Versuchen wir zunächst, die Fragen zu beantworten: Warum ist der Mensch ein so kreatives Wesen? Warum sind wir gezwungen, etwas zu schaffen?
Meine bescheidene Antwort auf diese ungeheuer umfassende Frage lautet, dass wir kreativ sind, weil wir ständig versuchen, Ordnung aus dem Chaos zu machen.
Ich glaube, wir alle wussten immer schon intuitiv, lange bevor die Wissenschaft uns die Sprache dafür gab, in welche Richtung sich das Universum bewegen würde, und jeder schöpferische Akt unsererseits geschieht trotz und im Angesicht dieser Entropie. Jedes Mal, wenn wir einen Pinsel in die Hand nehmen und komplementäre Farbtöne auswählen, um sie auf die Leinwand aufzutragen, oder wenn wir Bildelemente im Sucher unserer Kamera anordnen, um eine ansprechende Komposition zu schaffen, oder wenn wir unsere Finger in nassen Ton drücken, um einem unförmigen Klumpen eine Form abzuringen, biegen wir die Dinge zurück zur Ordnung und entreißen sie dem Chaos.
Selbst wenn ich jetzt hier sitze und wütend auf dieser Tastatur tippe, fühlt sich jedes »Klick« und jedes »Klack« wie eine kleine gewonnene Schlacht an, die das Universum unmerklich von der Unordnung weg und hin zum Leben biegt.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber an den Tagen, an denen ich kreativ bin, fühle ich mich am erfülltesten und schlafe am besten.
Wir müssen kreativ sein, weil uns das angesichts der drohenden Unordnung tröstet. Wir wissen, dass wir, egal wie viel wir tun, das Blatt nicht wenden können, aber wir können Dinge erschaffen, die uns helfen, dem Leben einen Sinn zu geben und uns die Dunkelheit vom Leib zu halten.
Deshalb bemalten die Höhlenmenschen ihre Wände mit Szenen aus ihrem täglichen Leben und nutzten im Fall der in Lascaux entdeckten etwa 20.000 Jahre alten Malereien sogar die Konturen des Felsens, um ihre Bilder dreidimensional erscheinen zu lassen. Sie malten Darstellungen von Tieren und Menschen in schöner Detailtreue und sogar abstrakte Symbole – vielleicht weil Ihnen das ein Gefühl von Kontrolle über die chaotischen Kräfte gab, denen ihr Leben sonst unterworfen war.
Aus diesem Grund ritzten die alten Mesopotamier vor 4.000 Jahren das Gilgamesch-Epos in Tafeln. Sie schufen Geschichten, um die großen Fragen zu beantworten und zu beschreiben, was sie nicht verstanden. Warum sind wir hier? Warum ist das Leben so voller Schmerz und Entbehrungen? Was machen wir mit der Zeit, die uns gegeben ist? Wo liegen unsere Grenzen? Wie begegnen wir unserer eigenen Sterblichkeit?
Deshalb errichteten die Menschen der Bronzezeit vor 5.000 Jahren Steinkreise. Noch immer streiten sich die Experten über die genauen Gründe, warum sie Unmengen an Zeit und Energie aufwandten, um riesige Steine aus dem Fels zu schneiden und durch die Landschaft zu schleppen und sie dann in Kreisen aufzustellen. Wir haben dazu nur Theorien, aber so, wie diese Strukturen oft nach astronomischen Gesichtspunkten ausgerichtet wurden, denke ich, dass die Menschen mit ihnen ihre Sicht auf das Universum und ihren Platz darin ausdrückten.
Natürlich könnten diese Bauten auch eine religiöse Bedeutung gehabt haben, aber was sind Anbetung, Rituale und Opfer, wenn nicht der Versuch, die Kräfte zu personifizieren, die den Regen für die Ernte oder das Ende von Krankheiten bringen, und dann mit ihnen zu verhandeln, damit sie zu unseren Gunsten wirken?
Um dem Chaos Ordnung abzuringen.
Bei diesen historischen Artefakten ging es um mehr als nur um Inneneinrichtung, Architektur oder darum, auf dem Klo etwas zu lesen zu haben. Kreativität half diesen Völkern, mit einer Welt umzugehen, die ihnen ein berauschendes Gefühl von Macht und Machtlosigkeit zugleich gab – und das hat sich bis heute kaum geändert. Wir machen immer noch Dinge, um uns anderen mitzuteilen, um Antworten auf Fragen zu erhalten und aus dem Chaos Ordnung zu schaffen.
Aber hier unterscheidet sich die Kunst von der Wissenschaft und der Religion, denn beide versuchen auf ihre Weise, die Ordnung in bestimmten Begriffen zu formulieren.
Die Wissenschaft versucht, dem Chaos durch strenge Untersuchungen und Tests Ordnung abzuringen, indem sie nach Mustern sucht und versucht, sie durch das Prisma der Regeln zu erklären, die wir bis dato aufgestellt haben.
Aber was ist mit all den Dingen, die wir nicht wissenschaftlich erklären können?
Nun, für viele ist dies der Punkt, an dem Religion einspringt und versucht, die Mysterien zu erklären, die wir nicht in wissenschaftliche Gesetze fassen können. So versuchen alle Religionen, die großen »Warum«-Fragen durch ihre eigene Brille zu beantworten, und die meisten von ihnen kodifizieren dann eine Ordnung durch »Regeln für ein geordnetes Leben«.
Die Wissenschaft ist jedoch weit davon entfernt, alle unsere Fragen zu beantworten, und für die meisten ist Religion zu präskriptiv und einschränkend. Was machen wir also mit unserer menschlichen Erfahrung? Wie teilen wir mit, was wir intuitiv über »das Leben, das Universum und alles andere« wissen, wenn wir keine wissenschaftlichen Beweise oder religiösen Lehren haben, um das zu untermauern, was wir glauben, gesehen, gefühlt oder erlebt zu haben?
Wir erschaffen etwas.
Und wir hoffen, dass diejenigen, die erleben, was wir gemacht haben, spüren, dass die darin enthaltene Wahrheit auch in ihnen mitschwingt und summt. Vielleicht sind wir nicht einmal in der Lage, das, was wir mit anderen geteilt haben, in saubere, beschreibende Prosa zu fassen, aber das ist das Schöne an der Kunst: sie ist kein Medium, das Gewissheit erfordert.
Als menschliche Wesen versuchen wir unser gemeinsames Wissen in Worte zu fassen, weil uns das Sicherheit gibt, während wir gemeinsam ins Leere starren. Wenn wir am Ende unseres Beschreibungsvermögens angelangt sind, ist es an der Zeit, kollektive Bedeutung aus Poesie, Malerei, Schreiben, Tanzen, Fotografieren, Filmemachen, Geschichtenerzählen, Bauen, Singen, Animieren, Entwerfen, Backen, Inszenieren, Drucken, Schnitzen, Nähen, Bildhauen und aus einer Million anderer Möglichkeiten zu schöpfen, mit denen wir täglich Leben aus dem Chaos erschaffen und es miteinander teilen, um uns zu trösten.
Natürlich ist Kunst als Versuch, im Kleinen Ordnung aus dem Chaos zu ziehen, letztlich so nutzlos als würden wir Lecks in einem kollabierenden Damm mit unseren Fingern stopfen wollen. Auf lange Sicht werden wir mit unseren Versuchen scheitern, das Chaos in Schach zu halten. Wenn wir zum Ende unserer gemeinsamen Geschichte vorspulen, die Seiten bis zum letzten Kapitel der Zeit durchblättern, werden wir sehen, dass wir diesen Kampf verlieren. Aber der wissentlich vergebliche Versuch hat etwas wunderbar Menschliches, und ich kann mir keine bessere Art vorstellen, ein Leben zu verbringen.
Ich weine nicht so leicht. Wenn etwas schief läuft, schalte ich in den »Ich kriege das hin«-Modus. Ich bin derjenige, der sich in kritischen Momenten zusammenreißt und versucht, eine Lösung zu finden, auch wenn ihn die Situation genauso stark belastet wie alle anderen. Ich bin derjenige, der bei Beerdigungen die Trauernden umarmt, aber seine eigenen Tränen für später aufspart.
Vielleicht ist das meine angeborene Persönlichkeit.
Vielleicht liegt es auch daran, wie ich aufgewachsen bin. Mein Vater verließ uns, als ich vier Jahre alt war, und ich musste meiner Mutter Trost spenden, während sie den Verlust eines Mannes betrauerte, den sie sehr liebte. Vielleicht habe ich das verinnerlicht.
So oder so, es muss schon einiges zusammenkommen, damit ich über reale Probleme Tränen vergieße.
Allerdings bin ich ein großer Softie, wenn es um Kunst geht.
Ob Sie es glauben oder nicht, vor Kurzem habe ich wegen eines Videospiels geweint. Ohne spoilern zu wollen: Die Schlussszene von The Last of Us, Part II hat mich umgehauen. Ich hatte Stunden mit Figuren verbracht, die mir wirklich ans Herz gewachsen waren. Und dann trieb mir der rührende Schluss der Geschichte mit seinem bittersüßen Moment der Erlösung die Tränen in die Augen.
Mir kommen immer die Tränen, wenn im Kino gute Schauspieler für einen Moment Verletzlichkeit zeigen. Wenn zum Beispiel Will Smith in der Schlussszene von Das Streben nach Glück versucht, nicht zu weinen, als ihm sein Traumjob angeboten wird, bin ich immer wieder zu Tränen gerührt.
An manchen Tagen verliere ich mich auf YouTube, sehe mir Konzertvideos an und ende immer als ein heulendes Häufchen Elend, wenn es den Sängerinnen oder Sängern gelingt, ihr ganzes Herz in einen Song zu legen.
Kürzlich erst musste ich sehr weinen, als ich The Crown schaute, eine Netflix-Serie über die Herrschaft von Elizabeth II. In Folge 3 der dritten Staffel geht es um die tragischen Ereignisse der Aberfan-Katastrophe von 1966, bei der eine Abraumhalde in den Hügeln oberhalb des walisischen Dorfes einstürzte und 144 Einwohner ums Leben kamen. Besonders tragisch ist, dass 116 der Todesopfer Kinder waren, darunter 109 Schüler der Pantglas Junior School. Das Gebäude wurde am 21. Oktober um 9.15 Uhr, als die Kinder gerade an ihren Tischen saßen, von der Schlammlawine erfasst, die den Berg hinunterrollte.
Diese Folge der Serie zeigt auf beeindruckende Weise die Verzweiflung und die Würde dieser tapferen Gemeinde, die einen hoffnungslosen Rettungsversuch unternahm, bei dem sie sich mit allen möglichen Geräten durch Erdhügel wühlte, um zu ihren verschütteten Kindern zu gelangen.
Fast eine Woche später, am 27. Oktober, wurden 81 Kinder an einem einzigen Tag in einem Sammelgrab in Sichtweite der Kohlenhalde beigesetzt, die eine ganze Generation dieses kleinen Dorfes ausgelöscht hatte.
Diese untröstlichen Eltern, die Menschen dieser am Boden zerstörten Gemeinde, noch mit dem Schlamm unter den Fingernägeln vom Ausgraben der Leichen ihrer Kinder unter den Trümmern, standen nun auf einem windgepeitschten Hügel und erhoben ihre Stimmen, wie es nur ein walisischer Chor kann, und sangen zu einem Gott, auf den sie zu Recht wütend waren.
Ich glaube, ich sah nach dem Ende dieser Folge ziemlich verheult aus, denn sie ist wahr. Ich meine damit nicht, dass die Ereignisse tatsächlich passiert sind. Das ist offensichtlich. Ich weinte, weil es wahr ist, dass das Leben hart ist. Es ist wahr, dass das sinnlose Chaos manchmal die Oberhand gewinnt. Es stimmt, dass sich das Leben manchmal absichtlich grausam anfühlt, so wie der Einsturz um 9.15 Uhr statt um 8.15 Uhr, als die Kinder noch zu Hause waren und frühstückten.
Es stimmt auch, dass Menschen im Angesicht unvorstellbaren Leids eine inspirierende Widerstandsfähigkeit und einen ungebrochenen Glauben an das Leben an den Tag legen können. Und dass wir uns angesichts des überwältigenden Leids manchmal nur zusammenraufen und unsere Stimmen gemeinsam erheben und singen können.
Dieses Bild drückt für mich sehr gut das aus, was wir tun, wenn wir etwas herstellen. Das ist als ob die Menschheit im Bewusstsein dessen, was sie eint, auf einem Hügel steht und singt, teils um ihrer Verzweiflung Ausdruck zu verleihen, teils um gemeinsam die Hoffnung zu beschwören. Doch die wichtigste Zutat für gute Kunst ist, dass sie die Wahrheit sagen muss, und damit meine ich keine trockene Aneinanderreihung von Fakten.
Während die Wissenschaft versucht, uns mit Informationen und Problemlösungen zu versorgen, geht es in der Kunst nicht um klare Antworten. Kunst ist weder vorsichtig noch bestimmt. Sie versucht nicht, irgendetwas zu beweisen, und sie ist sich über vieles nicht sicher. In der Regel versucht sie nicht, die Dinge zu ergründen. Stattdessen begnügt sie sich damit, zu beschreiben, wie die Dinge sind. Die Wahrheit, von der sie spricht, ist die existenzielle Wahrheit, die wir Menschen zwar ahnen, aber nur selten in Worte fassen können.
Kunst schreit und flüstert abwechselnd durch Pinsel und Schreibmaschine, auf Leinwänden und über Klaviertasten. Sie spinnt Fäden, arrangiert Farben und schafft Harmonien, die uns Dinge über das Leben sagen, die wir zwar ahnen, aber nur schwer in Worte fassen können. Gute Kunst wirft uns die schmutzige Wahrheit vor die Füße und erlaubt uns, sie zu verarbeiten und damit umzugehen. Gute Kunst ist ein Sprung in die Tiefen unserer Realität.
Die Dinge, die wir erschaffen, können positiv oder negativ, hoffnungsvoll oder verzweifelt sein. Sie können die Ordnung feiern oder das Chaos beschreiben, aber unabhängig vom Inhalt klingt die beste Kunst wahr, und deshalb reagieren wir so stark auf sie, wenn wir sie sehen, schmecken, hören oder berühren.
Manchmal ist es offensichtlich, was ein Werk aussagt, wie z. B. ein gemaltes Porträt, das das Leben eines Menschen würdigt und in einem Museum sogar mit einer kleinen Tafel versehen ist, auf der erklärt wird, wer die Person ist und warum das Werk in Auftrag gegeben wurde.
Manchmal können wir die Wahrheit nur in dem erahnen, was jemand geschaffen hat, wie z.B. in den scheinbar einfachen Farbblöcken eines Rothko-Gemäldes, bei dem jeder eine andere Meinung darüber hat, »was es bedeutet«, weil es für verschiedene Menschen unterschiedliche Wahrheiten aussagt.
Ich glaube, dass uns eine geschaffene Ordnung auf einer ganz allgemeinen Ebene bewegt.
Ich glaube auch, dass uns die geschaffene Unordnung gleichermaßen berühren kann, denn selbst wenn wir das Chaos benennen oder versuchen, es zu beschreiben, erschaffen wir eine Ordnung. Selbst eine scheinbar zerstörerische und dunkle Kunst, die von außen nur wie brodelndes Chaos aussieht, ist immer noch ein Versuch, unsere Erfahrung von Unordnung und unsere kollektive Reaktion darauf zu beschreiben.
Also gut, bevor wir weitermachen, legen wir die Karten auf den Tisch: In meinen Zwanzigern war ich Pastor.
Bevor Sie jetzt die Flucht ergreifen, nein, ich werde nicht versuchen, Sie zu irgendetwas zu bekehren, versprochen! Zumal ich vor einem Jahrzehnt aus der institutionellen Kirche ausgetreten bin, bin ich mir nicht einmal sicher, wozu ich Sie bekehren sollte.
Davon abgesehen habe ich bei meiner Arbeit für die Kirche viel gelernt, und das Beste davon habe ich mitgenommen, einschließlich eines Glaubens, der für die meisten Kirchen zu weit gefasst und chaotisch ist, um ihn zu ertragen, der mir aber dennoch sehr viel bedeutet.
Ich werde jetzt kurz über die Heilige Schrift sprechen, aber Sie sollten wissen, dass ich sie nicht wörtlich nehme. Ich persönlich bin sogar der Meinung, dass eine wörtliche Lesart alter Texte, zumal dieser Herkunft, sie ihres Reichtums beraubt.
Für mich ist die Heilige Schrift Kreativität in ihrer besten Form. Ursprünglich wurde sie gesprochen, in Form von Gedichten und Geschichten, lange bevor sie aufgeschrieben wurde, und sie stellt unsere schwachen und zerbrechlichen Versuche dar, unsere eigene Existenz zu verstehen. Jahrtausende vor den Erkenntnissen unserer modernen Wissenschaft wurde sie von Philosophen und Theologen niedergeschrieben. Aber noch bevor die sie zu Papier brachten, machten diese Geschichten über Jahrhunderte die Runde unter einfachen Menschen, die am Lagerfeuer saßen, Schafe hüteten und davon erzählten, was ihrer Meinung nach zur Entstehung all dessen führte, was sie kennen.
Wenn man keine Antworten hat, wendet man sich manchmal am besten der Kunst zu, und so griffen diese Menschen zu lebendigen, poetischen Erzählungen, die wahrscheinlich nie wörtlich genommen werden sollten. Nur der moderne rationale Verstand besteht darauf, diesen Fehler zu machen. Aber ich brauche diese Texte nicht wörtlich oder im wissenschaftlichen Sinne als wahr zu verstehen, damit sie in ihrer Substanz wahr sind.
Sowohl in der jüdischen als auch in der christlichen Tradition beginnt die Heilige Schrift mit einem Bild des reinen Chaos. Beide verwenden den hebräischen Ausdruck »Tohu wa bohu«, der bekanntermaßen schwer zu übersetzen ist. Wir haben das im Laufe der Jahrhunderte mit Worten wie »Dunkelheit«, »Leere«, »Nichts«, »unsichtbar«, »nichtig« und »formlos« versucht. Sicher wollten die frühen Schriftsteller damit andeuten, dass es, bevor es »dich« und »mich« und »Berge« und »Meere« gab, nur ein Nichts gab – ein Chaos ohne Form.
Diese Geschichtenerzähler gaben uns dann die Vorstellung, dass Gott, die schöpferische Kraft, alles auf eine ganz besondere Weise ins Leben rief. Er »sprach« es in die Wirklichkeit. Mit einem gesprochenen Wort entstand Ordnung aus dem »Nichts«.
In dieser Geschichte gab es also ein Chaos.
Dann gab es ein Wort.
Dann die Ordnung.
Es ist sehr schwierig, darüber zu sprechen, denn unser rationaler Verstand entwirft sofort buchstäbliche Bilder von einem alten bärtigen Mann, der leicht glühend und durchsichtig in einer Suppe aus Nichts schwebt und plötzlich mit dröhnender Stimme ein einzelnes Wort spricht. Und dann erscheinen mit einem Mal Atome und Staub und Sterne und Galaxien und Planeten und alles andere in der materiellen Wirklichkeit.
Aber wenn wir dieses sehr vereinfachte Bild beiseitelassen und nach den Nuancen suchen, gibt es etwas wirklich Tiefgründiges zu entdecken.
Es gibt ein Wort, das Theologen für diese Vorstellung verwenden, Ordnung aus dem Chaos zu »sprechen«: »Logos«. Und an dieser Vorstellung haben wir Teil durch die Dinge, die wir erschaffen.
Logos beschreibt die schöpferische Kraft, die Wahrheit auszusprechen und dem Unglück das Gute und dem Chaos die Bedeutung zu entreißen. Es ist eine intuitive Äußerung der Ordnung der Dinge, die paradoxerweise gleichzeitig zu dieser Ordnung beiträgt. Es geht darum, die Wahrheit auszusprechen und in diesem Zuge etwas aus dem Nichts zu erschaffen.
Logos ist der Leuchtturm an der Steilküste in einer stürmischen Nacht, der dich durch die stürmischen Wellen in den sicheren Hafen führt.
Logos ist der Nordstern, der dir durch Irrungen und Wirrungen hindurch hilft, dich neu zu orientieren und nach Hause zu finden.
In der Heiligen Schrift ist Logos das Licht einer Stadt auf einem Hügel bei Nacht, es ist Zivilisation und Sicherheit in einer Welt der Ungewissheit und Gefahr.
Logos ist unser Versuch, die Wahrheit zu beschreiben, die wir alle irgendwie kennen, aber nur schwer artikulieren können. Aber gelingt es uns, und sei es auch nur im Kleinen, bringt uns das Trost und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, weil wir wissen, dass diese Lebenserfahrung – mit allem Guten und Schlimmen, das zu ihr gehört – von allen geteilt wird.
Gute Kunst ist Logos.
Wahrheit, ausgedrückt durch Bewegungen im Tanz, Farben auf einer Leinwand oder durch Worte auf einer Buchseite, gibt uns das Gefühl, mehr Teil des Ganzen und weniger allein zu sein. Wenn wir auf ihrer Grundlage kreativ sind, sind wir ein kleiner Bestandteil dieses Schöpfungsprozesses, und die Herzen jener, die unsere Arbeiten sehen, hören oder lesen, erwecken wir aus purer Verzweiflung zum Leben.
Wenn Sie mir hier einen kleinen didaktischen Dualismus gestatten: Wir Menschen verwenden Sprache auf zwei Arten.
Erstens verwenden wir Sprache, um den Menschen, mit denen wir sprechen, die gewünschte Reaktion zu entlocken, ungeachtet der Richtigkeit des Gesagten.
Zweitens verwenden wir Sprache, um Wahrheit zu vermitteln, auch auf die Gefahr hin, dass dies ein negatives Echo hervorruft.
Vor dieser Wahl, vor die uns Sprache stellt, stehen wir auch bei allem, was wir erschaffen. Wie wollen wir unsere künstlerische Stimme einsetzen? Wollen wir eine positive Reaktion bei anderen hervorrufen, indem wir ihnen sagen, was sie hören wollen? Oder wollen wir mit dem, was wir machen, unsere eigene Wahrheit ausdrücken, auch wenn die Reaktion der Leute nicht die ist, die wir uns wünschen?
Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen in London ist es, in der National Gallery am Trafalgar Square in Raum 22 zu sitzen. Ich bin beim besten Willen kein Kunstexperte, und ich weiß nicht viel über die von ihm verwendeten Techniken oder die Geschichte seiner Arbeit, aber etwas an Rembrandts Porträts spricht mich an.
Er arbeitete zu einer Zeit, in der Maler wie er ihr Geld damit verdienten, Porträts von privilegierten Bürgern anzufertigen, also von Menschen, die reich genug waren, um die vielen Stunden, die ein Künstler für die Fertigstellung eines Werks benötigte, in Auftrag zu geben.
Als Auftragskünstler wäre es für ihn also sehr verlockend gewesen, seine Porträtierten »aufzuhübschen« und sie attraktiver und strahlender aussehen zu lassen, als sie vielleicht in Wirklichkeit waren. Hätte er sich dafür entschieden, seine beträchtlichen Fähigkeiten im Dienste der Erwartungen dieser Leute einzusetzen, hätte dies zu glücklichen Kunden geführt. Die hätten sich durch das vorteilhafte Abbild ihrer selbst geschmeichelt gefühlt, was wiederum zu einer Flut von neuen Aufträgen geführt hätte.
Warum also starb er mittellos, und warum wurde er anonym beigesetzt?
Nun, das ist eine komplizierte Geschichte, aber vielleicht liegt es zum Teil daran, dass er sich weigerte, Erwartungen zu erfüllen. Ich bin mir nicht sicher, wie die Menschen, die sich von ihm porträtieren ließen, auf seine Arbeit reagierten. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass jeder Porträtierte glücklich war. Ich bin Porträtfotograf und weiß, wie empfindlich manche Menschen auf ihr eigenes Aussehen reagieren, selbst wenn ihnen das Licht schmeichelt. Ich kann mir also nur vorstellen, wie die eitelsten unter Rembrandts Porträtierten reagiert haben.
Denn seine Porträts sind ehrlich. Sie zeigen die Porträtierten in düsteren und erdigen Tönen. Rembrandt verwendete hartes Licht und scheute sich nicht vor Schatten. Er schien die Falten in der Kleidung und in den Gesichtern zu betonen, anstatt sie zu verbergen. Er zeigte seine Porträtierten so, wie er sie wirklich sah – als gleichberechtigte Opfer von Zeit und Entropie.
Mit sich selbst verfuhr er nicht anders. Man nimmt an, dass er im Laufe seiner Karriere etwa 80 Selbstporträts malte, von denen einige in Raum 22 der National Gallery hängen. Wenn seine Porträtierten dachten, er sei unfreundlich zu ihnen gewesen, war er ebenso unfreundlich zu sich selbst. Seine Selbstporträts offenbaren einen schonungslos ehrlichen Blick auf einen Mann, der durch die Höhen und Tiefen des Lebens geht, und bezeugen wie ein unerbittliches visuelles Tagebuch, welchen Tribut der Zahn der Zeit von einem menschlichen Gesicht fordert.
Aber wenn ich mir seine Porträts ansehe, finde ich sie bewegend und fesselnd. Sie geben mir ein Gefühl dafür, wie zerbrechlich wir als Menschen sind und welche Schönheit in unserer unausweichlichen Vergänglichkeit steckt. Sie geben mir ein Gefühl für die Art und Weise, wie wir altern, zerfallen und schließlich verschwinden. Für mich drückt Rembrandt mit seinem Werk Wahrheiten aus und versucht nicht nur, seinen Kunden positive Kritiken zu entlocken. Das ist der Grund, warum man sich an ihn erinnert und warum ich in der Nationalgalerie sitzen und mich von dem großen Ganzen in seiner Malerei trösten lassen kann. Für mich ist sein Werk Logos, weil es mir eine schwierige Wahrheit vermittelt, die mir angesichts unseres Verfalls und Niedergangs Trost und innere Ordnung gibt. Er bietet mir einen Haken, an dem ich diese große Idee aufhängen kann, und lässt mich wissen, dass wir alle im selben Boot sitzen und dass das letztlich so in Ordnung ist. Ich bin mir sicher, dass es Mut, Überzeugung und Hingabe brauchte, um ein solches Werk zu schaffen, und ich für meinen Teil bin dankbar dafür.
Diesen Mut versuche ich mir für meine Arbeit anzueignen.
Porträts waren schon immer mein bevorzugtes Arbeitsfeld in der Fotografie. Die Herausforderung, einen ehrlichen Augenblick einer Person einzufangen, eine Facette ihrer Persönlichkeit, eine Lücke in der Rüstung, die einen Hauch von dem durchlässt, was diese Person wirklich ausmacht, hat mich immer gereizt.
Als ich anfing, mir das nötige Wissen anzueignen und ein Portfolio aufzubauen, machte ich das, was viele Fotografen tun: kostenlose Shootings für Models und Schauspieler. Das ist zwar zweifellos eine gute Möglichkeit, sich die technische Seite der Porträtfotografie anzueignen und genügend Bilder für den Aufbau einer Website zu sammeln, aber ich war schnell frustriert davon, wie gleichförmig meine Arbeiten aussahen. Die Gesichter, die »Guck mal, wie sexy ich bin«-Posen, die Mimik – alles ähnelte sich.
Ich will diese Art von Fotografie nicht schlechtreden, sie macht mir immer noch Spaß – aber ich wusste für mich selbst, dass ich sie immer mehr als »Arbeit« und immer weniger als »Kreativität« empfand. Es war also Zeit, die Dinge neu anzugehen.
Also setzte ich mich im März 2017 in einen Flieger nach Namibia, ein Land, das ich schon viele Male besucht und das immer einen besonderen Platz in meinem Herzen hatte.
Ich flog ans andere Ende der Welt, um Porträts von Mitgliedern des Himba-Stamms zu machen, einem faszinierenden, in der Wüste lebenden indigenen Volk, das in diesem Teil der Welt beheimatet ist. Ich organisierte einen lokalen Guide und verbrachte etwas Zeit in einem Dorf, das bereit war, mich aufzunehmen. Anstatt mich den Leuten in den Weg zu stellen, um sie zu fotografieren, wählte ich einen konservativeren Ansatz. Ich bezog etwas abseits Stellung und bat meinen Guide, den Leuten zu erklären, dass sie zu mir kommen könnten, wenn sie Fotos wollten (die ich später ausdrucken und zuschicken würde). So verbrachte ich zwei glückliche Abende hintereinander damit, einige der eindrucksvollsten Porträts zu schießen, die ich bis dahin gemacht hatte.
Eine Besonderheit bei diesen Aufnahmen war, dass ich meinen Gesprächspartnern nicht erklären konnte, dass ich mehrere Aufnahmen machen und die besten auswählen würde. Sobald sie das Klicken der Kamera hörten und der Blitz ausgelöst hatte, gingen sie einfach weg, weil ich gesagt hatte, dass ich ein Foto machen würde, und nun hatte ich es gemacht, also musste ich wohl fertig sein. Und weil ich nicht wollte, dass sich jemand unwohl fühlte und gezwungen war, länger dort zu stehen, nahm ich die Herausforderung an: für jedes Porträt nur eine Aufnahme.
Dabei wurde mir klar: Ich hatte bei den meisten Stammesmitgliedern zwar nur eine einzige Chance für ein Bild, aber mehr brauchte ich auch gar nicht. Sie mussten nicht erst »mit der Kamera warmwerden«, und es gab keinen dieser unbeholfenen Versuche, die »sexy Pose zu finden«, die viele Menschen machen. Die Himba legten eine unverblümte Offenheit an den Tag. Sie traten einfach vor die Kamera, schauten mich ganz unumwunden an und die Verbindung war da. Da war nichts Künstliches, nur die offene Wahrheit darüber, wer sie waren. Jeder Porträtfotograf wird Ihnen bestätigen, dass das ein Geschenk ist, das nicht viele zu geben bereit sind.
Als ich die Bilder noch in der gleichen Nacht in meinem Zelt betrachtete, wurde mir klar, dass ich mehr von meiner Fotografie wollte. Ich wollte mehr von dieser Offenheit, ganz gleich, wen ich fotografierte. Hatte ich es also geschafft? Hatte ich einen Weg gefunden, meine Arbeit wahrhaftiger zu machen?
Nun, ein paar Monate später war ich wieder in London und beschloss, ein paar anständige Abzüge von diesen Porträts zu machen, um sie zu Hause an die Wand zu hängen. Ich machte mich auf den Weg zu einer der besten Druckereien der Stadt, die für einen Großteil der Fotoaustellungen im Vereinigten Königreich und für viele Magnum-Fotografen arbeitet.
Während das Papier aus den Maschinen lief und meine Bilder nach und nach in satten Farben zum Vorschein kamen, unterhielt ich mich mit dem Creative Director, der mir an diesem Tag half. Dieser Mann kannte sich wirklich gut aus, er druckte die Arbeiten einiger der weltbesten Fotografen. Als das erste Bild auf den Proofing-Tisch fiel, hoffte ich insgeheim, dass er beeindruckt sein würde, und in einer für mich eher untypischen Anwandlung (ich hole nur selten die Meinung anderer zu meiner Arbeit ein) fragte ich: »Was meinen Sie?«
Er antwortete: »Das sind technisch gute Bilder von sehr interessanten Menschen, aber sie interessieren mich überhaupt nicht.«
Er sagte das nicht etwa unfreundlich, aber in einem Moment brutaler Ehrlichkeit brachte er mich dazu, diese Porträts über ihr technisches Können hinaus zu betrachten. Ich war völlig davon eingenommen gewesen, dass ich begeisterte Kritiken und überschwängliche Komplimente von Leuten für diese Aufnahmen bekommen hatte. Aber die Wahrheit war, dass dieser Mann aus irgendeinem Grund keine Verbindung zu ihnen fand.
Er fuhr fort und sagte, dass er zu erkennen glaubt, wenn ein Fotograf eine Verbindung zu seiner Arbeit hat und ihm die Bilder persönlich etwas bedeuten. Und dieses Gefühl hatte er bei diesen Bildern nicht.
Hatte ich schöne und aussagekräftige Porträts gemacht? Oder hatte ich brauchbare Porträts von schönen Menschen gemacht? Machte man mir die Komplimente wegen etwas, das ich getan hatte, oder wegen der Menschen, die sie waren?
Es bedurfte nicht allzu viel Ehrlichkeit mir selbst gegenüber, um mir diese Frage zu beantworten. Die Arbeit war wahrhaftig, aber es war die Offenheit und Wahrhaftigkeit des Stammes, nicht meine. Mir wurde klar, dass die Bemerkung des Creativ Directors mehr als fair war – sie war wichtig, wenn ich es mit dieser Reise ernst meinte. In seinem eigenen Akt von Logos hatte er mir ein Geschenk gemacht, indem er mir die schwierige Wahrheit sagte, anstatt zu versuchen, mir einen Gefallen zu tun.
Ich möchte an dieser Stelle sagen, dass ich diese Bilder nicht ablehne. Sie hängen bei mir zu Hause, und ich bin immer noch stolz auf sie. Und ich bin froh, dass ich diese Reise gemacht habe, denn sie war ein sehr wichtiger Schritt auf meinem Weg. Die Bemerkung des Creative Directors an jenem Tag hat nicht dazu geführt, dass ich mich plötzlich für diese Bilder schäme. Um ehrlich zu sein, werde ich in Zukunft mit ziemlicher Sicherheit weitere Reisen dieser Art unternehmen, denn ich bin der Meinung, dass ein regelmäßiger Wechsel des Kontexts und des Themas für das eigene Wachstum von entscheidender Bedeutung ist.
Was mir diese Bemerkung jedoch ganz klar gezeigt hat, war, dass ich es besser machen kann. Dass ich noch weitergehen und tiefergraben könnte, wenn ich bereit wäre, mich auf eine Reise in mein Inneres zu begeben. Ich musste einen Weg finden, über die Wahrheit zu sprechen, die ich persönlich erfahren hatte.
Zu dieser Zeit hörte ich den Musiker John Mayer in einem Interview sagen, dass sein Songwriting von einem sehr einfachen Mantra geleitet würde: »Mach dich klein und sag die Wahrheit.« Das blieb bei mir hängen, und ich wusste, dass was auch immer als Nächstes kommen würde, es dabei weniger um ausgefallene Fototechniken oder die Suche nach visuell ansprechenden Motiven gehen musste, sondern vielmehr darum, eine einfache und persönliche Wahrheit zu vermitteln.
Also schmiedete ich einen Plan. Im Dezember desselben Jahres reiste ich zurück nach Südafrika, wo ich fast 20 Jahre lang gelebt hatte. Der Plan war, eine Reihe von sehr schnörkellosen Porträts dreier Männer zu machen, die mir sehr viel bedeuten. Ich reiste 1.600 km von Kapstadt über Grahamstown nach Durban, um drei meiner Mentoren zu fotografieren, die in den entscheidenden Momenten meines Lebens für mich da waren und dort einsprangen, wo mein Vater eine Lücke hinterlassen hatte. Die Porträtsitzungen selbst waren etwas Besonderes und völlig anders als die, die ich bis dahin gemacht hatte. Ich kannte diese Menschen gut und hatte sie eine Weile nicht gesehen. Die Aufnahmen selbst würden jeweils knappe zehn Minuten dauern. Ich kam bei ihnen zu Hause an, wir plauderten etwas und brachten uns gegenseitig auf den neuesten Stand. Ich hatte ihnen schon im Vorfeld eine E-Mail geschickt und erklärt, was ich vorhatte, und bei einer kurzen Gesprächspause fragte ich einfach, wo ich meine Sachen am besten aufbauen könne.
Ich verwendete die einfachste Beleuchtung, die möglich war – nur einen schwarzen Hintergrund und einen Blitz –, weil ich nicht wollte, dass es bei diesen Bildern um irgendwelche technischen Tricks geht. Ich wollte mich hinter nichts verstecken müssen und sicherstellen, dass meine Verbundenheit mit den Personen, die ich liebte, in den endgültigen Bildern zu spüren war.
Wir unterhielten uns also, lachten und schwelgten in Erinnerungen, während ich ein paar Fotos schoss. Ich machte insgesamt jeweils um die 30 Bilder. Dann packte ich meine Ausrüstung zusammen, ohne das Gespräch zu unterbrechen. Normalerweise kann ich mich sehr in die technischen Aspekte eines Fotoshootings vertiefen, und ich würde normalerweise mehr als 300 Bilder machen, aber diesmal war ich mehr daran interessiert, Zeit mit diesen Männern zu verbringen. Das Fotografieren war also zweitrangig. Ich gebe zu, dass ich mir im Anschluss an diese Fotosessions Sorgen machte, sie nicht ernst genug genommen zu haben und dass die Bilder deshalb schwach sein würden. Aber die Wahrheit ist, dass sie für mich zu den stärksten Bildern gehören, die ich bislang gemacht habe.
Als Betrachter kann man eine stärkere Verbindung zu diesen Bildern und zu mir als Fotograf spüren. Auch wenn meine Modelle in dieser Serie nicht so markant sind wie die Stammesmitglieder der Himba, sind die Bilder doch stärker, weil mich mit ihnen eine Geschichte verbindet. Das ist das Feedback, das ich von vielen erhalten habe, ohne dass sie die Geschichte kannten.
Ich denke, es liegt daran, dass ich diese Menschen liebe, und vielleicht können Sie das beim Betrachten der Bilder erkennen. Ich brauchte einen Vater, und in gewisser Weise waren diese Männer genau das für mich, auch wenn es nicht ihre Aufgabe war. Den Gefallen, den sie mir taten, hatte ich mir nicht verdient. Heute hängen die Abzüge dieser Porträts hinter mir, wenn ich Videos für meinen YouTube-Kanal drehe, weil ich die Symbolik dahinter mag. Ich kann zu anderen Menschen reden und ihnen beibringen, was ich gelernt habe, nur weil es Menschen wie sie gab, die mich zu dem gemacht haben, der ich heute bin.
Ich habe einen kurzen Dokumentarfilm über diese Reise und meine Beziehung zu diesen Vaterfiguren gedreht. Mehr als bei anderen meiner Filme meldeten sich danach Männer bei mir, um mir ihre eigenen Geschichten zu erzählen, insbesondere darüber, wie sie ohne einen Vater aufwuchsen. Eine E-Mail nach der anderen erzählte mit Hingabe von den großzügigen Männern, die die Lücke füllten und ihnen halfen, selbst gute Menschen zu werden. Das sind existenzielle Wahrheiten, mit denen sich Männer auf der ganzen Welt auseinandersetzen. Indem ich Porträts und einen Kurzfilm erstellt hatte, in denen ich meine eigene Geschichte so ehrlich wie möglich erzählte, hat das vielen anderen Trost gespendet, die ebenfalls diese besondere, chaotische Situation eines abwesenden Vaters erlebt haben.
Das ist Logos.
Es ist kein gradliniger oder einfacher Prozess. Viele Künstler sagen über ihre Arbeit: »Manchmal bin ich mir nicht sicher, worauf ich abziele oder wie ich genau dorthin komme, aber ich erkenne es, wenn ich es sehe.« Ob wir es schräg oder direkt, subtil oder offen sagen, ob wir bewusst oder intuitiv dorthin gelangen, Kunst ist am kraftvollsten, wenn wir durch das, was wir erschaffen, die Wahrheit sagen und Ordnung in das kollektive Chaos bringen.
Das ist die Kunst, die tief in uns eine Reaktion hervorruft.
Ich bin oft zu Tränen gerührt, wenn ein Sänger von seinem wirklichen Schmerz singt.
Ich lache noch mehr über einen Komiker, der in seinen Sketchen Absurdität mit Verletzlichkeit vermischt, sodass ich die Schwere dahinter erahnen kann.
Ich halte inne im Innenraum einer meisterhaft gestalteten Kathedrale, der von der Erhabenheit des Göttlichen kündet.
Ich brauche nach einem beeindruckenden Film etwas Zeit für mich, um die existenziellen Wahrheiten darin zu verdauen.
Irgendetwas in mir spürt die Wahrheit in dem, was ich erlebe. Und selbst wenn ich nicht sagen kann, warum, spricht das Werk des Künstlers etwas in mir an, und ich spüre diese menschliche Verbindung inmitten des existenziellen Durcheinanders unseres täglichen Lebens.
Und ich bin nicht damit zufrieden, nur Konsument zu sein. Ich will mich engagieren. Ich muss auch etwas schaffen.
Es ist schwer zu erklären, warum. Abgesehen von der Art und Weise, wie ich durch dieses Kapitel gestolpert bin, hat es etwas damit zu tun, dass ich mich beim Projekt »Logos« engagieren möchte. Ich möchte mitmachen. Ich möchte die Wahrheit der Dinge aussprechen, mich mit allen anderen zusammenschließen, die versuchen, wenn auch im kleinen Maß, zu beschreiben, wie die Dinge sind.
Deshalb malte ich mit neun Jahren Löwen aus meinen Tierbüchern ab.
Deshalb entwarf und betrieb ich mit 15 Jahren die Beleuchtung für unser Schultheater.
Deshalb sang ich mit 20 Jahren in einer Band und schrieb mit meinen Freunden Musik.
Deshalb hielt ich mit 25 Jahren Vorträge vor Massen von Teenagern und 20-Jährigen, um sie zu inspirieren, besser zu werden.
Deshalb machte ich mit 32 Jahren unzählige Fotos, um mir alles über diese eindrucksvolle Kunstform anzueignen.
Deshalb drehte ich mit 38 Jahren Filme für meinen neuen YouTube-Kanal.
Und deshalb schreibe ich jetzt, mit 42 Jahren, das Buch, das Sie gerade lesen.
Ich muss etwas schaffen. Ich muss die Wahrheit über das Leben beschreiben, egal ob ich zeichne, singe, Lieder schreibe, Reden halte, fotografiere, Filme mache oder dieses Buch schreibe.
Alle Kunst ist Logos, und wenn einer von uns es hinkriegt, und sei es auch nur für einen Moment, fühlen wir anderen uns weniger allein. Wir halten uns im übertragenen Sinne an den Händen und geben zu, dass wir unseren Krieg gegen die Entropie letztlich nicht gewinnen werden – und irgendwie ist das in Ordnung.
Ich glaube, deshalb bringt mich gute Kunst zum Weinen.
https://www.seantucker.photography/logos