Skorpion - Matt Basanisi - E-Book
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Skorpion E-Book

Matt Basanisi

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Beschreibung

»Ein sehr großer, internationaler Stoff. Das schreit ja förmlich nach einem Blockbuster!« Romy Hausmann

In Palermo wird ein Priester erschossen, in Antwerpen stellen Ermittler drei Tonnen Kokain sicher, in Zürich wirft der lang geklärt geglaubte Selbstmord eines Piloten neue Fragen auf. Doch bei der Schweizer Bundeskriminalpolizei verdichten sich im Sommer 2003 die Hinweise, dass alles mit dem Ex-Banker Baumann zu tun hat, der in Diensten südamerikanischer Narcos steht. David Keller, Bundesermittler und Mafia-Experte, wird auf den vermeintlichen Routinefall angesetzt. Schnell wird klar, dass er es mit einer internationalen Verschwörung zu tun hat, die alles bedroht, woran er je geglaubt hat – und seine Gegner ihm vertrauter sind, als er ahnen kann ...

Wenn die Realität zur Fiktion wird und der Ermittler zum Autor, bleibt man als Leser*in schockiert, gefesselt und fasziniert zurück.

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Seitenzahl: 428

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Buch

Sommer 2002: In Palermo wird ein Priester erschossen, in Antwerpen stellen Ermittler drei Tonnen Kokain sicher, in Zürich begeht ein Pilot Selbstmord. Drei scheinbar isolierte Vorfälle. Doch bei der Schweizer Bundeskriminalpolizei verdichten sich die Hinweise, dass alle mit dem Ex-Banker Baumann zu tun haben, der in Diensten südamerikanischer Narcos steht. David Keller, Bundesermittler und Mafia-Experte, wird auf den vermeintlichen Routinefall angesetzt. Schnell wird klar, dass er es mit einer internationalen Verschwörung zu tun hat, die alles bedroht, woran er je geglaubt hat – und seine Gegner ihm vertrauter sind, als er ahnen kann …

Autoren

Matt Basanisi, geboren 1966, wuchs als Kind einer deutschen Mutter und eines italienischen Vaters am Bodensee in der Schweiz auf. Basanisi ist ausgebildeter Polizist und Kriminologe. Im Anschluss an einen Militäreinsatz für die Schweizer Armee im Kosovokrieg zur Jahrtausendwende trat Basanisi der Abteilung Organisierte Kriminalität der Schweizer Bundeskriminalpolizei bei, 2005 dann dem internen Ermittlungsdienst der Vereinten Nationen. Matt Basanisi ist heute als Berater für Sendeunternehmen im Bereich der digitalen Piraterie tätig.

Gerd Schneider kam 1974 als jüngstes Kind eines Polizisten und einer Küsterin zur Welt. Er studierte Katholische Theologie in Bonn und Wien und bereitete sich auf das Priesteramt vor. Nach dem Diplom begann er ein Regiestudium an der Filmakademie Baden-Württemberg. Sein Spielfilmdebüt »Verfehlung« über den Umgang der katholischen Kirche mit sexuellem Missbrauch feierte 2015 seine Kinopremiere und gewann zahlreiche nationale und internationale Preise. Gerd Schneider dreht TV-Filme wie den Tatort oder die Tragikomödie »Now or Never« und arbeitet derzeit an mehreren neuen Filmprojekten.

Die beiden Autoren lernten sich 2015 in Rom anlässlich der Präsentation von Schneiders »Verfehlung« kennen.

Matt Basanisi & Gerd Schneider

SKORPION

Thriller

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.Dieses Buch ist ein Roman und kein Tatsachenbericht. Das Beschriebene hat sich so nicht ereignet. Trotz der von den Autoren in künstlerischer Freiheit gewählten fiktiven Handlungsabläufe mögen im Einzelfall Anklänge an Verhaltensweisen lebender oder verstorbener Personen oder an öffentlich bekannte Unternehmen nicht immer vermeidbar gewesen sein; dies ist aber von der grundgesetzlich geschützten Freiheit der Kunst umfassend geschützt.

Copyright © 2023 Matt Basanisi und Gerd Schneider

Copyright 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: René Stein

Covergestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com (elxeneize) und shutterstock.com (Anatoly Vartanov, donatas1205)

JaB · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-30191-0V007

www.blanvalet.de

Das Buch ist durch tatsächliche Ereignisse inspiriert.Einige Charaktere, Namen, Unternehmen, Begebenheiten und Orte wurden aus dramaturgischen Gründen fiktionalisiert.Jede Ähnlichkeit mit Personen, deren Namen und Geschichten ist rein zufällig und unabsichtlich erfolgt.

»Verrat, Sire, ist nur eine Frage des Datums.«

Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord, französischer Staatsmann, auf dem Wiener Kongress 1814 zu Zar Alexander I. von Russland

Prolog

Palermo, Sommer 2002

Vom baufälligen Turm herunter hatte es einmal dumpf geschlagen. Dreizehn Uhr. Vereinbart hatten sie zwölf Uhr dreißig.

Er hätte es wissen müssen.

Andächtig schweigend saßen sie im Seitenschiff der Chiesa La Martorana, dieser prunkvollen dreischiffigen Kreuzkuppelkirche aus dem 11. Jahrhundert, gelegen unmittelbar an der Südseite der Piazza Bellini im Zentrum von Palermo. Vor einer knappen Stunde waren sie aus der gleißenden Mittagssonne in das kühle, stille Halbdunkel der heiligen Stätte eingetaucht. Und wie die Handvoll Besucher hatte auch er sich beim Betreten des Gebäudes von der Schönheit der byzantinischen Goldgrundmosaike und den Malereien an den Säulen, Decken und Wänden überwältigt gezeigt.

Nur hatte der Gedanke an das bevorstehende Ereignis bald einmal jeden Sinn für Ästhetik weggeblasen.

Er blickte zu seinem italienischen Kollegen, der ganz in sich versunken und die Ruhe selbst schien – eine Eigenschaft, die David Keller nachhaltig an dem Italiener bewunderte.

Wieder sah Keller auf die Uhr.

»Er wird kommen«, flüsterte Andrea Monti neben ihm auf Italienisch. »Entspann dich, genieß einfach die Pracht des Ortes.«

Andrea Monti, achtundvierzig Jahre alt und Hauptmann der Carabinieri, war bereits zwei Jahrzehnte bei der DIA, der Direzione Investigativa Antimafia. Der Auftrag dieser mit beispielloser Machtfülle ausgestatteten Sondereinheit des Innenministeriums ließ sich in einem simplen Satz zusammenfassen: die Mafia aufzuspüren und zu zerschlagen. Ersteres war weniger das Problem, zumindest nicht in Italien. Zweimal jährlich veröffentlichte Montis Behörde auf garantiert fünfhundert Seiten den Straftatenkatalog sowie Territorium für jeden der mehreren Hundert Mafiaclans zwischen Sondrio und Siracusa, inklusive Namen, Vornamen und Familienverhältnisse der capi.

Man kannte sich also.

La piovra, die Krake, so wurde die Mafia in Italien auch genannt. Denn wie es Kraken so an sich haben – schlägt man ihr ein Tentakel ab, wächst ein neuer nach, immer und immer wieder. Den zweiten Teil von Montis Aufgabe konnte man also getrost als Herausforderung bezeichnen.

Der geschiedene Monti war Vater von zwei Kindern aus erster Ehe, seit Kurzem aber wieder verheiratet. Seine erste Frau hatte sich von ihm scheiden lassen, und zwar mit der (wie Monti Keller gestanden hatte) leider zutreffenden Begründung, dass sie sich schließlich keinen Mann gesucht habe, den sie noch seltener zu sehen bekomme als Toto Cutugno, ihr Hitparadenidol und Jugendschwarm. Monti war, wie bei der DIA üblich, für viele Jahre fernab der Heimat stationiert gewesen, zu Beginn in Mailand, dann in Turin und zuletzt in Neapel. Zu groß wäre sonst die Gefahr, dass selbst triviale Freund– und Bekanntschaften von DIA-Ermittlern sich als solche zu lokalen Exponenten der Mafia erweisen könnten, und damit Sicherheit und Erfolg der Mission gefährdeten. Dass die Behördenleitung trotzdem entschieden hatte, Monti wieder in seine Geburtsstadt Palermo zurückzuversetzen, musste demnach einen triftigen Grund gehabt haben. Wieso genau, das sollte Keller bald genug erfahren, unter denkbar dramatischen Umständen.

Ihre Zusammenarbeit hatte begonnen, nachdem Keller vor zwei Jahren die Leitung eines der Kommissariate zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität – im Jargon schlicht OK – bei der Schweizer Bundeskriminalpolizei übernommen hatte.

Montis letzter Anruf lag wenige Tage zurück. Einer seiner Informanten hatte sich gemeldet.

»Er ist meine beste Quelle. Was genau er zu sagen hat, erfahren wir beim Treffen. Was ich weiß: Es geht um einen Schweizer. Du solltest dabei sein.«

Genauso wie Keller Monti vertraute, vertraute Pius Moser seinem Kommissariatsleiter. Moser war Kellers Vorgesetzter am Hauptsitz der Bundeskripo in Bern. Beide kannten sich seit zwanzig Jahren, seit ihrer gemeinsamen Zeit bei der Züricher Stadtpolizei.

»Meinetwegen, fahr hin«, hatte Moser gemeint. »Drei Tage, mehr liegt nicht drin. Dafür bring du mir einen erstklassigen Nero d’Avola mit. Die Reise soll sich ja irgendwie auszahlen«, hatte ihm Moser dann noch leicht spöttisch hinterhergerufen. Die Flasche lag bereits auf seinem Hotelzimmer, ein Tancredi aus dem Weingut Donnafugata. Moser schuldete ihm neunzig Euro. Er hatte es so gewollt.

Dreizehn Uhr fünfunddreißig.

Die Zeit kroch dahin, und zum wer weiß wievielten Male wanderte Kellers Blick über die kunstvollen Steinfiguren des barocken Hochaltars, die den Tabernakel und das Altarbild filigran umrankten. Julie wäre sicher beeindruckt gewesen und hätte ihm begeistert erklärt, wie gelungen Byzantinisches und Barockes miteinander harmonierten.

Keller liebte seinen Beruf. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass es etwas anderes geben könnte, was ihn morgens mit gleicher Leidenschaft aus dem Bett steigen ließ wie die Arbeit eines Ermittlers. Und trotzdem gab es Tage, wo er ihn inständig verfluchte.

Letzte Woche war einer dieser Momente gekommen. Montis Anruf bedeutete, dass die gemeinsamen Tage mit Julie in den Walliser Alpen zu Ende sein würden, kaum dass sie begonnen hatten. Und damit idyllische Nächte in einer Skihütte, am Fuß des Matterhorns, dem höchstgelegenen Skigebiet Europas, wo man selbst im Sommer über die Pisten wetzen, Schneemänner bauen und abends vor dem Kaminfeuer sitzen konnte. Das hatten sie dann auch getan, wenigstens für zwei Tage.

Der Ausflug war lange geplant gewesen, sein Weihnachtsgeschenk an Julie. Doch zu seinem Glück war Julie Profi genug, dass sie deswegen kein Drama gemacht hatte. Oder zumindest nicht für lange. In der Hinsicht ging sie mit kalifornischer Gelassenheit und dem Gleichmut der erfahrenen Surferin an die Dinge heran: »There’s always a next wave.« Was nicht bedeutete, dass Julie nicht auch bissig werden konnte. Den Spitznamen »Sharky«, den ihr eine durch einen Surf-Unfall verursachte kleine Einkerbung am rechten Ohr eingebracht hatte, trug sie nicht umsonst. Und nicht ohne Stolz.

Julie war das Beste, was Keller seit langer Zeit passiert war. Und sie würden nach Zermatt zurückkehren, darauf hatte Julie bestanden.

Das leise Knarzen von Holz zwang Kellers Gedanken zurück in die Gegenwart. In den Bänken seitlich von ihnen saßen zwei alte Frauen in stiller Andacht und beteten den Rosenkranz. Aus dem barocken Beichtstuhl auf Höhe der Frauen trat ein Mönch im feldmausbraunen Habit der Franziskaner. Der Mönch faltete seine Stola und schritt langsam an ihnen vorbei Richtung Hochaltar. Der Ort wurde wieder von allumfassender Stille eingenommen, einzig gewisperte Wortfetzen der betenden Frauen drangen herüber.

Wieder sah Keller auf seine Uhr.

Nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit standen die beiden Frauen auf und verließen das Gotteshaus durch das Hauptportal, das dumpf hallend hinter ihnen ins Schloss fiel.

»Es ist so weit«, raunte Monti, stand auf und gab Keller ein Zeichen, ihm zu folgen.

Keller blickte sich verwundert um. Hatte er etwas übersehen? Er war sich sicher, niemand hatte die Kirche betreten. Er zögerte, also wiederholte Monti seine Geste.

Sein italienischer Kollege ging auf den Altar zu, bekreuzigte sich, schritt rechts daran vorbei und blieb vor der Sakristei stehen, deren Tür nur angelehnt war. Monti klopfte sachte gegen das dunkle Holz.

»Transiddi, transiddi – tretet ein, tretet ein!« Die Worte kamen in unüberhörbar schwerem sizilianischem Dialekt.

Keller folgte Monti in die Sakristei, in der der einzig Anwesende, ein Mönch, gerade dabei war, sein Messgewand auszulegen. Bedächtig strich der Franziskaner die Kasel glatt, und als er sich schließlich zu ihnen umdrehte, erschien ein breites Lächeln auf seinem Gesicht. Der bärtige, groß gewachsene Monti ging auf den einen Kopf kürzeren Mönch zu und schloss ihn herzlich in seine kräftigen Arme.

Keller konnte nicht anders als die beiden Männer verblüfft anzustarren. Er hatte mit vielem gerechnet, nur nicht damit, dass Montis Informant ein Ordensbruder war, derselbe, der Minuten zuvor noch andächtig an ihnen vorbei zum Altar geschritten war.

Keller schätzte den Mann auf Mitte fünfzig, und was ihm als Erstes auffiel, waren seine stahlblauen Augen und der rotblonde Haarschopf. Die Zeiten lagen zwar lange zurück, aber Sizilien hatte auch unter normannischer und schwäbischer Herrschaft gestanden. Somit gab es sie, die blauäugigen blonden Sizilianer.

»Lo svizzero?«, fragte der Ordensbruder Monti, nun mit ernster Miene.

»Ja«, antwortete Monti.

»Für Sie«, meinte der Blauäugige knapp und reichte Keller einen Umschlag.

»Danke. Und das ist was?«

Der Padre lächelte. »Nun, Informationen. Über eine sehr wichtige Person, sie organisiert das Kokain für U siccu. Tonnenweise. Und sie wäscht sein Geld, man könnte sagen, auch das tonnenweise.«

»U siccu. Das ist Matteo Messina Denaro?«

»Ja«, warf Monti ein. »Der Boss von Trapani. Noch wichtiger: Alles spricht dafür, dass er der neue capo di tutti i capi ist, der Nachfolger von Provenzano und Riina.«

»Die Nummer eins der Cosa Nostra? Hmm … Und wieso geben Sie die Informationen mir?«

»So ist es nicht, sie sind für euch beide gedacht. Aber derjenige, der sich um U siccus Finanzen kümmert, ist nun mal Schweizer. Er ist nicht der Einzige, aber angeblich der Beste.«

»Wieso überrascht mich das nicht …«, murmelte Keller. »Kennen Sie seinen Namen?«

»Nein. Hier nennen sie ihn nur banchiere. Oder lo svizzero.«

Der Mönch umarmte Monti kurz und kräftig. »Ich muss los. Ich melde mich.« Dann ergriff er Kellers Hand.

»Viel Glück. Und Gott sei mit euch.«

Ohne ein weiteres Wort schlüpfte der Pater durch eine kleine Seitentür, die Keller erst jetzt als solche erkannte. Der Blick des Schweizers ging wieder zurück zum Umschlag in seiner Hand, dann zu Monti.

Der Carabiniere sah Keller triumphierend an. »Ich hatte es ja gesagt: Er wird kommen.«

»Dein Informant ist ein Mönch?«

»Ein Padre. Padre Alfonso. Wir sind in der gleichen Straße aufgewachsen, hier, in Palermo, im Stadtteil Bagheria.« Monti hielt kurz inne und strich sich nachdenklich durch sein dunkles, gewelltes Haar. Etwas schien ihn zu verunsichern. »Nun, du musst wissen … Es gibt definitiv schönere Plätze auf Mutter Erde als Bagheria. Die Mafia ist allgegenwärtig, sie beherrscht jeden Winkel des Viertels. Ich hab verdammt viel von Alfonso gelernt. Ob das umgekehrt auch gilt? Vielleicht … Jedenfalls, am Ende ging er zu den Franziskanern, ich zur Polizei.«

Keller blickte noch immer ungläubig zur Tür, durch die der Padre verschwunden war.

»Aber wie kommt einer wie er an solche Informationen? Wohl kaum als U siccus Beichtvater.«

»Natürlich nicht. Alfonso hat einen jüngeren Bruder, der einen etwas anderen Weg eingeschlagen hat als Alfonso. Der Bruder wurde Consigliere in U siccus Organisation, ein Strategieberater der Cosa Nostra, wenn man so will. Trotzdem, sie haben nicht vergessen, dass sie gleichen Blutes sind.«

»Reue?«, fragte Keller, aber Monti schüttelte den Kopf – das Thema war abgehakt. So wie Keller seine Geheimnisse pflegte, so hatte Monti seine, und das war okay so.

Monti verriegelte die Tür zur Sakristei, nahm Keller den Umschlag aus der Hand und kippte den Inhalt kurzerhand auf den Boden: Dutzende Seiten kopierter Dokumente, außerdem Abzüge von Fotos. Qualität und Aufnahmewinkel der Aufnahmen ließen auf eine versteckte Kamera schließen.

Auf den Fotos sah man Männer an einem Tisch beim Essen. Es schien eine private Veranstaltung zu sein. Mit einem Stift eingekreist, war ein Mann in Anzug und Krawatte, während die anderen Männer am Tisch einfache Straßenkleidung trugen.

Monti deutete auf die rot eingekreiste Person.

»Das muss der Schweizer sein. Die anderen kenne ich. Das sind U siccus Leute.«

Keller zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Noch nie gesehen.«

Dann Kontoauszüge, Überweisungsbelege und Eigentumsbescheinigungen. Sie alle waren von der gleichen Bank ausgestellt.

Der Banca Rasini.

Monti pfiff leise durch die Zähne. »Schau an, schau an. Die Rasini.« Dass die Mailänder Kleinbank de facto die Hausbank der Cosa Nostra war, war Keller genauso bekannt wie Staatsanwaltschaften und Gerichten quer durch Europa. Trotz einer groß angelegten Aktion der Mailänder Staatsanwaltschaft namens »Operazione San Valentino« Jahre zuvor war, auch was die Rasini betraf, bis heute vieles im Dunkeln geblieben. Unter anderem, ob auch Italiens Premier und Medienmogul Silvio Berlusconi über die Banca Rasini schmutzige Finanzgeschäfte abgewickelt hatte. Mancher behauptete Zufall, andere nicht – jedenfalls war Silvios Vater Luigi Berlusconi einer der Direktoren der Rasini gewesen.

Keller betrachtete wieder das Foto der Männerrunde. Die Rolle, die sein mit Rotstift markierter Landsmann darin spielte, konnte er auf die Schnelle nicht erkennen. Lupenrein jedenfalls dürfte sie kaum sein. Sie würden sich die Dokumente später in Ruhe anschauen, sie hatten Zeit. Und wo ein Gesicht war, gab es auch einen Namen.

Ein trockener Knall durchbrach die Stille. Der plötzliche Krach ließ Keller und Monti zusammenzucken. Sogleich folgte ein zweiter und dann ein dritter Knall. Die beiden Männer sahen sich erschrocken an, und auch ohne es auszusprechen, wussten beide, was sie zu bedeuten hatten: Pistolenschüsse, und sie kamen aus Richtung des Haupteingangs, der Piazza Bellini.

»Oddio!«, entfuhr es Monti, der bereits seine Waffe in der Hand hielt, und vorsichtig die Tür zum Altar hin öffnete.

Die Kirche war menschenleer.

»Nichts … Warte hier!«, rief Monti knapp zu Keller und sprintete das Kirchenschiff entlang zum Hauptausgang.

Momente später ertönten die klagenden Rufe einer Frauenstimme.

»Hanno sparato il padre!«

Es folgten weitere Stimmen, deren Schreie mit schaurigem Klang in den turmhohen Gewölben der Kirche widerhallten. »Hanno sparato il padre! Hanno sparato il padre!«

Ein eiskalter Schauer kroch über Kellers Rücken. Seine Gedanken rasten, er wollte losrennen, zum Ausgang, doch er hatte ein Problem: Er war auf Dienstreise im Ausland, er trug keine Waffe.

Aber hier warten? Nein.

Keller spähte in das Halbdunkel der Kirche. Noch immer war niemand zu sehen. Hastig sammelte er die Unterlagen vom Boden auf und stopfte alles in die Jackentasche. Dann rannte er los, hielt sich, so gut es ging, im Schutz der Marmorsäulen entlang des Kirchenschiffs und folgte seinem italienischen Kollegen nach draußen.

Am Fuß der kleinen Steintreppe hinunter zur Piazza Bellini hatte sich eine Menschentraube gebildet. Kellner der Pizzeria an der Ecke eilten mit Kissen und Decken herbei.

Andrea Monti kniete neben dem Padre, inmitten einer Blutlache, den Kopf des Franziskanermönchs in seinem Schoß. Die stahlblauen Augen blickten leblos in den Himmel.

Padre Alfonso war tot.

Monti schaute hoch zu Keller, mit feuchten Augen, das Gesicht schmerzerfüllt. Sanft legte Keller seinem Kollegen die Hand auf die Schulter.

Sirenen heulten durch die Straßen, und Minuten später war die Piazza Bellini zugestellt mit Streifenwagen und Ambulanzen.

Mehr und mehr Menschen strömten auf den Platz, bald staute sich die Menge bis in die Seitengassen.

Jemand aus der Menge hob die Faust.

»Mafia vaffanculo!«

Eine zweite Stimme kam dazu, dann eine dritte. Momente später war die Piazza zu einem einzigen Chor der Wütenden angeschwollen.

»Mafia vaffanculo! Mafia vaffanculo!«

Keller traf die Wucht der Szenerie völlig unvorbereitet. Noch nie hatte er Ähnliches erlebt. Sie spiegelte das ganze Elend einer gebeutelten Region wider, die seit langer Zeit unter dieser organisierten Gewalt litt. So kraftvoll der Ausbruch von Wut und Trauer der Menschen auf der Piazza war, so bedrückend hilflos wirkte er auf Keller.

Andrea Monti weinte jetzt hemmungslos, während ein Sanitäter den Leichnam des Padres abdeckte. Keller nahm den Kollegen in den Arm und blickte verbittert auf das weiße Tuch, das sich langsam mit dem Blut des Mönchs vollzusaugen begann.

Im Verborgenen agierten Menschen, meist Männer, vereinzelt auch Frauen, mit ihrer ganz eigenen Agenda von Gewalt, Gier und Macht, und in der Konsequenz lag hier eines ihrer Opfer in seinem Blut. Die Bedeutung der Nachricht, die ihnen der Padre übermittelt und die ihn das Leben gekostet hatte, ging weit über Palermo hinaus. Dessen war sich Keller sicher.

Wohin sie ihn noch führen würde – er konnte es nicht im Entferntesten erahnen.

1

Belgien, Oktober 2002

Die Reise der SELINA endete am Churchill-Dock, Liegeplatz 402. Sie war ein bereits in die Jahre gekommener Massengutfrachter, in den Siebzigern in Dienst gestellt und mit dem einen oder anderen Rostfleck zu viel auf dem stählernen Rumpf. Ein neuer Anstrich wäre ihr sicher gut bekommen. Aber auch das hätte nichts daran geändert, dass sie in nicht allzu ferner Zukunft als rostiges, trostloses Skelett auf einem Schiffsfriedhof enden würde.

Die Überfahrt verlief ohne Zwischenfälle, von Venezuela nach Belgien, einmal quer über den Nordatlantik, achtundzwanzig Tage, sechstausendzweihundert Seemeilen.

Für Pieter Van Woudt bedeutete Churchill-Dock, dass seine Schicht an diesem nasskalten Oktobermorgen mit einer längeren Dienstfahrt beginnen würde. Es war vier Uhr dreißig, um fünf Uhr wollte er bei der SELINA sein. Für den Hundeführer der Zollfahndung am Antwerpener Containerhafen blieben noch ein paar Minuten Zeit, sich einen Becher heißen Milchkaffee aus dem Automaten zu besorgen. Leila, seine deutsche Schäferhündin, wartete bereits ungeduldig im Heck des Transporters.

Ihre Fahrt führte um das westliche Hafenbecken des Albert-Docks einen Kilometer nach Norden, und dann nach links über eine enge Zufahrtsbrücke, an deren Ende das Eingangstor zum Churchill-Dock lag. Zähe Nebelschwaden hingen zwischen den turmhohen Flutlichtmasten, deren Scheinwerfer das weitläufige Gelände in gelbliches Licht tauchten.

Der Zollfahnder parkte sein Fahrzeug am Fuß der Gangway, nahm die letzten Schlucke aus dem Pappbecher und überflog nochmals die wichtigsten Angaben auf seinem Klemmbrett:

Reiseroute: Maracaibo -> Antwerpen, nonstop

Oberdeck: 34 Container Früchte, Gemüse, Gewürze

Laderaum: 12.240 Tonnen Zinnerz

Die Aufmerksamkeit der belgischen Zollfahndung hatte die SELINA nicht wegen des Zinnerzes in ihrem Bauch auf sich gezogen. Ihr Interesse galt dem Inhalt der Container auf dem Oberdeck.

Pieter Van Woudt meldete sich über Funk beim wachhabenden Brückenoffizier, entließ die ungeduldige Leila ins Freie und ging mit ihr an Bord des Frachters. Beladematrosen wurden aus dem Schlaf geholt und angewiesen, die mittschiffs gestapelten Container zu öffnen.

Beim sechsten Container schlug Leila an. Aufgeregt kletterte sie von Kiste zu Kiste, sprang kreuz und quer durch den Laderaum. Derart aus dem Häuschen hatte Pieter Van Woudt die Hündin nur selten erlebt.

Der Zollfahnder wusste, etwas musste hier faul sein, und das kaum der geladenen Früchte wegen. Van Woudt stieg seiner Leila hinterher, und sogleich schlug ihm ein süßlicher Gestank entgegen. Der Container war nur zu etwa zwei Dritteln beladen. Im Lichtkegel der Handleuchte erschienen übereinandergestapelte Kartons, gefüllt mit Bananen, und wie der Gestank schon vermuten ließ, die allermeisten verrottet. Es dürfte schwierig sein, dafür noch einen Abnehmer zu finden.

Van Woudt griff zu einer ersten, einer zweiten und einer dritten Kiste und schüttete den Inhalt auf den Boden. Vor seinen Füßen lagen verdorbene Bananen – und ziegelsteingroße, in Plastik und Paketband eingewickelte Päckchen.

Das Entladen und Zählen dauerte bis in den späten Morgen. Bei Schichtende standen Pieter Van Woudt und seine Kollegen der Zollfahndung Antwerpen vor einem Turm von 3.065 Paketen aus reinstem Kokain – jedes auf das Gramm genau ein Kilo schwer.

2

Bern, circa acht Wochen später

Von Osama bin Ladens Gefolgsmann kam keine Antwort mehr. Nur wer genau hinhörte, konnte sein unterdrücktes, angestrengtes Atmen hören.

Eine orangefarbene Stoffbinde verdeckte seine Augen. Die Hände mit Kabelbinder am Rücken gefesselt, saß der Jemenit auf dem Ledersofa, den Oberkörper in unnatürlicher Haltung vornübergebeugt. Er trug eine Diadora-Trainingsjacke und kurze Sporthosen, seine nackten Füße steckten in schwarzen Lederhalbschuhen. Ein maskierter Beamter des Anti-Terror-Einsatzkommandos hatte sich ihm gegenüber aufgestellt, die Maschinenpistole Modell MP5 gegen den Boden gerichtet.

Abgesehen von der wuchtigen Sitzgarnitur entlang der weiß getünchten Wände und dem weiß-rot gemusterten Teppich in der Mitte, war das Zimmer kaum möbliert. Ein mintgrüner Stoffvorhang bedeckte das einzige Fenster im Raum. In der linken Ecke stand ein Beistelltisch, darauf ein gewöhnliches Telefon, daneben pinkfarbene Rosen aus Plastik in einer Keramikvase. Gegenüber dem Sofa ruhte ein TV-Gerät für Satellitenempfang auf dem Fußboden, von der Decke leuchtete eine nackte Glühbirne.

So wie das Deckenlicht strahlte die gesamte Wohnung Kälte aus und ließ David Keller unwillkürlich frösteln. Hier lebte eine arabische Großfamilie, Mann, Frau und fünf Kinder, und das seit sieben Jahren. In der Wohnung war kein einziges Familienfoto zu finden gewesen.

Seit seiner Verhaftung vor drei Stunden hatte der Jemenit noch kein Wort gesprochen. Keller hatte Special Agent Banks gebeten, es auf Arabisch zu versuchen. Ohne Erfolg, der Al-Kaida-Mann schwieg.

An diesem kalten Novembermorgen hatte in den frühen Morgenstunden ein Einsatzkommando der Schweizer Bundeskriminalpolizei die Wohnung im Zentrum von Biel gestürmt. Ein halbes Dutzend weitere Al-Kaida-Verdächtige waren in anderen Teilen der Schweiz gefasst worden.

Die kleine Stadt, gelegen am Jurasüdfuß im Westen der Schweiz, war Standort weltbekannter Uhrenmanufakturen, darunter Rolex, Omega und Swatch. Nach dem heutigen Tag würde Biel ein weiteres Prädikat erhalten – Schweizer Al-Kaida-Nest. Bei der Durchsuchung fanden Kellers Leute gefälschte Ausweise und Dokumente von Al-Kaida-Kämpfern, die meisten gesucht mit internationalem Haftbefehl. Dutzende Ausweise wurden in der Wohnung sichergestellt, dazu Fälschungswerkzeug.

Sie hatten einen Volltreffer gelandet.

Es war seit knapp einem Jahr »the new normal« für Keller und seine Kollegen bei der Bundeskriminalpolizei. In den Monaten nach nine eleven hatte das US-Justizministerium ein Team von Special Agents der Financial Crime Unit des FBI in die Schweiz entsandt, das von da an überall in den Fluren des Verwaltungsgebäudes der Bundeskriminalpolizei im Berner Weissenbühl-Quartier anzutreffen war und – so die offizielle Verlautbarung – den Schweizer Kollegen »ausschließlich beratend« zur Seite stehen sollte. Wie genau diese »Beratung« in der Praxis umgesetzt wurde, war den Verantwortlichen im Justizministerium jedoch ziemlich egal. Die Lösung hieß: bloß nicht hinschauen.

Überhaupt nicht in das Bild der breitbeinigen Strafverfolger aus Washington mit stetem Hang zu Präpotenz passen wollte Special Agent Julie Banks. Die Versetzung in die Schweiz war der erste Auslandseinsatz der Vierunddreißigjährigen aus San Diego. Mit ihren blonden, mittellangen Haaren und dem gebräunten, sommersprossigen Teint wirkte sie wie das klassische All-American-Girl, verteilt auf exakte ein Meter vierundsiebzig, wie ihr Diplomatenpass verriet. Sportlich in erkennbar bester Verfassung unterschied sie sich aber auch durch ihre kultivierte Umgangsart von ihren oft verbissen wirkenden Kollegen. Ein Grund dafür war wohl, so schloss Keller aus der Biografie der FBI-Agentin, dass sie ihre Jugend mehrheitlich im Ausland verbracht hatte.

Julie Banks’ Vater Reginald hatte sein Leben lang als Diplomat für das US-Außenministerium gearbeitet. Die Familie Banks – bestehend aus Vater, Mutter und drei Kindern – war unter anderem nach Argentinien, Saudi-Arabien, Mexiko, Frankreich und Deutschland entsandt worden.

Mit zwanzig war Julie zurück in die USA gegangen und hatte sich an der University of San Diego School of Law eingeschrieben. Mit sechsundzwanzig und einem Master in Law im Gepäck war sie dem FBI beigetreten.

Und anders als Keller verstand Julie nicht nur etwas von den Tricks und Kniffen der Geldwäscher sowie – nomen est omen – Bankauszügen: Im Gegensatz zum penetranten »English, please« ihrer US-Kollegen sprach Julie auch fließend Spanisch, Französisch, Arabisch und ganz passables Deutsch.

Die Begeisterung über den Einfall der Amerikaner auf Vergeltungsmission hielt sich allerdings in sehr überschaubaren Grenzen. Auch bei Keller.

Aber das FBI war nun mal da. Und irgendwann hatte Keller keine Lust mehr, den immer gleichen Hahnenkämpfen um Glanz und Gloria bei der Jagd nach Al Kaida tatenlos zuzuschauen. Dafür ging es um zu viel.

»Lass mich mit der Banks arbeiten«, hatte er eines Tages beim Morgenkaffee zu Moser gemeint. »Du siehst es ja selbst: Unter all den Gockeln aus Washington ist sie die Einzige, die tatsächlich etwas draufhat. Und die wirklich will.«

Pius Moser hatte Keller aufmerksam betrachtet. »Ist das so? Was ich sehe: Sie ist die einzige Frau. Und dann auch noch verdammt hübsch. Ich bin verheiratet, im Gegensatz zu dir. Deswegen bin ich aber nicht blind.«

»Gott, Pius! Darum gehts nicht. Wann warst du zuletzt im Task-Force-Raum? Die eine Hälfte berichtet nach Hause, wie toll es hier in Schweden ist, der Rest kommt direkt von der Academy in Quantico. Banks ist anders. So kommen wir nicht voran, Pius. Du willst Resultate sehen? Dann gib mir die Banks.«

Und ja, Moser wollte Resultate sehen.

Trotzdem hielt Keller wenig von der Suche in Schweizer Bankunterlagen zu einem Verbrechen, geplant irgendwo am Hindukusch in Zentralasien und ausgeführt in den USA. Zu viel anderes blieb liegen, womit sie sich ebenso dringend hätten beschäftigen sollen. Etwa der nicht minder wichtige Kampf gegen das organisierte Verbrechen, Kellers eigentliche Aufgabe und sein Fachgebiet, wofür er überhaupt erst nach Bern gekommen war. Seit dem Mord am Padre in Palermo waren sie in dieser Hinsicht kaum einen Schritt weitergekommen.

Bis jetzt schienen die Haftrichter seine Auffassung zu teilen. Auch das eine neue Erfahrung für Keller. Keiner der Verdächtigen, die sie bisher aufspüren konnten, blieb nach dem Haftprüfungstermin hinter Gitter. Die Beweislast war schlicht zu dünn.

Das änderte sich erst, als sich der saudi-arabische Nachrichtendienst mit Informationen zum Jemeniten aus Biel meldete. Erstmals hatte Keller das Gefühl, dass das hier anders laufen, dass es ein Erfolg werden könnte. Sie begannen, die Telefone des Jemeniten abzuhören; Julie wertete tagsüber Geldüberweisungen aus und beriet sich nachts mit ihrem Hauptquartier in Washington. Die Informationen der Saudis schienen zu stimmen. Ihr Ziel musste ein Al-Kaida-Mann sein.

Dann waren sie zur Wohnung nach Biel gefahren, hatten das Familienoberhaupt tage- und nächtelang observiert, bei seinen Gängen zum Postamt, zur Moschee, zu Treffen in Shisha-Bars. Sie hatten auch seine Postsendungen abgefangen.

Aber der Jemenit war kein Anfänger. Wochen verstrichen, ohne dass sie den letzten Beweis dafür finden konnten, wovon Julie und er überzeugt waren: dass Abdul Hamid Al-Fahtani ein radikaler Dschihadist war, der auf der Gehaltsliste der Al Kaida stand. Doch Keller ließ nicht locker, bearbeitete den zuständigen Staatsanwalt bei der Bundesanwaltschaft so lange, bis dieser grünes Licht für die Kommandoaktion gab.

Keller hatte eine Menge riskiert. Es hätte genauso gut schiefgehen können. Aber nun hatten sie den handfesten Beweis: Es gab sie, die Verbindung von Al Kaida zur Schweiz. Der gereizten Stimmung in der Taskforce würde es guttun. Der Druck, Resultate zu liefern, war von Woche zu Woche gestiegen.

Und für die Chefs gab’s endlich Aussicht auf gute Presse.

Keller schaute wieder auf die Frau neben sich. Immer wieder schlug sie die Hände vors Gesicht, warf sie gegen die Zimmerdecke, begleitet von arabischen Klagegesängen.

Das Gejammere begann, an Kellers Nerven zu zerren. Wo war Julie? Sie sollte sich endlich um die Frau und die Kinder kümmern. Er fand sie in einem Nebenzimmer bei einem Haufen Kisten mit sichergestellten Unterlagen.

»This is fucking great!« Julie hielt Keller einen Stapel Papiere hin. »Visumanträge für das Schweizer Konsulat in Sanaa. Hier … und hier … und hier. Sie sind gefälscht. Mit Garantie. Und der Typ auf dem Foto hier. Klingelt es bei dir?«

Keller schaute auf die Porträtaufnahme eines schnauzbärtigen Mannes, um die vierzig Jahre alt, mit rundlichem Gesicht. Offensichtlich ein Araber. »Wer soll das sein?«

»Das ist Jamal Muhammad Ahmad Al-Badawi. Hat noch andere Namen. Einer der Planer des Anschlags auf die USS Cole im Hafen von Aden im Jemen vor zwei Jahren. Siebzehn Tote. Al-Badawi steht auf der Most-Wanted-Liste. Good job«, flüsterte sie plötzlich in sein Ohr und gab Keller hastig-verstohlen einen Kuss auf die Wange.

Keller sah sich erschrocken um und lächelte erleichtert zurück. Es hatte sie niemand beobachtet. Er stieß einen leisen Pfiff aus. »Das war er? Könnte aber auch ein Kamelhirte sein. Nicht?«

Julie verdrehte die Augen. »David! Ganz im Ernst jetzt. Die Bilder müssen nach D. C. Unverzüglich.«

»Dann lass uns keine Zeit verlieren. Al-Fahtani muss als Erstes nach Bern zum Erkennungsdienst, dann ab mit ihm in die Zelle. Aber davor hab ich noch eine Bitte. Ich brauche deine Arabisch-Kenntnisse.« Keller führte Julie in den Korridor zur Jemenitin. »Kannst du seine Frau etwas beruhigen? Sag ihr, ihr Mann kommt erst mal in ein ordentliches Schweizer Gefängnis. Dumm gelaufen, aber er wirds überleben.«

Die Jemenitin hatte mit dem Klagen aufgehört. Julie musste den feindseligen Blick der Frau spüren, ließ sich aber nichts anmerken und begann zu übersetzen. Dann spitzte die Frau plötzlich ihren Mund und spuckte Julie mitten ins Gesicht.

»What the fuck!« Julie machte einen Sprung rückwärts. Keller sah die Frau baff an. Julie wischte sich die Antwort der Frau mit dem Ärmel aus dem Gesicht. Die Jemenitin wandte sich Keller zu. Ihr Englisch war simpel.

»Mein Mann in Gefängnis. Mein Mann okay. Ich weiß.«

Keller war zum zweiten Mal sprachlos. Dass die Frau Englisch sprechen könnte, daran hatte niemand gedacht. Ihre nächsten Worte waren wieder an Julie gerichtet. In jedem Wort schwang Hass mit.

»Du … Amerikanerin … Wieso hier? Hier nicht dein Land!« Sie machte einen Satz auf Julie zu, bekam ihren Jackenkragen zu fassen und schrie die FBI-Agentin hysterisch an. »Amerika sterben! Allahu Akbar!«

»Allahu Akbar!«

Aus dem Wohnzimmer erscholl die laute Stimme des Ehemanns, ein dröhnendes Echo auf den Ruf seiner Frau. Sein Bewacher nahm blitzschnell die MP5 in Anschlag, doch das Paar machte weiter und ließ das zum Kampfschrei verzerrte Bekenntnis durch die Räume gellen wie Sirenen bei einem Fliegerangriff.

Dann setzte Julie dem verbalen Aufstand ein Ende. Sie setzte einen kurzen, trockenen Ellbogenhieb gegen das Kinn der Frau, und die Jemenitin fiel wie ein Stein zu Boden. Hätte Julie eine Pistole getragen, sie wäre nun wohl auf die Stirn der Frau gerichtet gewesen.

Diese Aufgabe übernahm Keller.

»Alles gut, alle beruhigen sich wieder!«

Keller steckte seine Waffe weg und gab dem Einsatzbeamten ein Zeichen.

»Bring die Frau in das Nebenzimmer. Und dann ab mit dem Kerl nach Bern!«

Für den Moment war Kellers Laune verflogen.

»Dann soll er es bleiben lassen … vergiss es … Nein! Ganz bestimmt nicht mein Problem. Soll er doch eine Beschwerde schreiben, Zeit hat er nun genug … mir egal … danke … dir auch.« Keller legte den Hörer auf. Draußen war es schon längst dunkel geworden. Sie waren nun seit zwanzig Stunden im Einsatz.

»Wer war das?« Julie saß am Schreibtisch gegenüber.

Keller streckte seine müden Glieder. »Das Untersuchungsgefängnis. Al-Fahtani verweigert das Essen. Er verlangt Halal-zertifizierte Speisen. Das Letzte, was mich im Moment interessiert. Kann er morgen alles dem Staatsanwalt erzählen.«

In den vergangenen Stunden hatten sie sich durch die sichergestellten Papiere gearbeitet. Al-Fahtani war wohl nicht nur Dokumentenfälscher für Al Kaida sondern betrieb auch ein Netzwerk für Menschenschmuggel. Trotz des Erfolgs war Julie unüblich schweigsam.

»Alles gut bei dir? Das war doch ein Volltreffer. Deine Bosse werden dir einen Orden verleihen. So schön amerikanisch, mit Zeremonie und Blaskapelle und allem Drum und Dran.«

»Na klar, so weit kommts noch. Nein, bin nur erledigt, das ist alles.«

»Al-Fahtanis Frau, oder? Tut mir leid. Nimm es nicht persönlich. Überleg dir mal, in was für einer Welt sie lebt. Ich meine … zwanzig Jahre Gehirnwäsche. Das kommt dann dabei raus.«

»Die Frau?« Julie zuckt mit den Schultern. »Nein. Die Kinder. In was für einer kaputten Welt wachsen sie auf? Was lernen sie von ihren Eltern? Nichts außer Hass. Mit fünfzehn tragen sie dann Sprengstoffgürtel.« Julie quälte sich aus dem Drehstuhl. »Aber okay, das müssen andere geradebiegen. Bringst du mich raus? Ich muss in die Botschaft. D. C. wartet auf die Fotos.«

Zutritt und Verlassen nur in Begleitung, so lautete die Anweisung im Umgang mit den FBI-Agenten. Ging auch gar nicht anders. Elektronische Schleusen sicherten die einzelnen Arbeitsbereiche ab.

Keller begleitete Julie nach draußen. Niemand war zu sehen, also gab Keller ihr einen Kuss. »Mach nicht mehr zu lange. Ich werd’ dann wohl schon schlafen.«

Dann meldete er die Kollegin beim Pförtnerhaus am Haupttor ab, wo ein Eishockeyspiel des Hauptstadtclubs SC Bern lief. Für Keller eine Gelegenheit für eine Zigarette. Er versuchte, auf dem kleinen Bildschirm etwas zu erkennen.

»Letztes Drittel? Wie viel stehts?«

»Vier zu null!« Hans, ein pensionierter Kollege der Stadtpolizei Bern, war zufrieden. Beide hatten sie eine Saisonkarte für die Spiele im Stadion. Die Meisterschaft war noch jung, aber für Hans war der dritte Titel in Folge jetzt schon Tatsache.

»Kommst du am Samstag zum Derby?«

»Gegen Biel? Na, ich hoffe es …«

So wie der Al-Fahtani-Fall sich gerade entwickelt, wird daraus wohl nichts, dachte er. Keller zündete sich eine zweite Zigarette an.

Und dann war er wieder da, der Flashback.

Wie so oft seit den Terroranschlägen in den USA.

Der Krieg zwischen der serbischen Armee und den NATO-Truppen hatte im Sommer 1999 seinen Höhepunkt erreicht. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes sollte auch die Schweiz an einem Militäreinsatz im Ausland teilnehmen. Keller hatte beschlossen, sich zu melden. Ihm gefiel die Vorstellung, Teil dieses historischen Ereignisses zu sein.

Nach seiner Ankunft im Kosovo Ende 1999 wurde Keller einer Special-Operations-Einheit im Süden des Kosovo zugeteilt. Wie andere NATO-Einheiten versuchten auch sie, Sicherheit und Ordnung wenigstens einigermaßen wiederherzustellen. Es gelang mehr schlecht als recht. Zwar war der Krieg offiziell beendet, aber kaum ein Tag, der ohne Schießereien, Entführungen, Bombenanschläge und Tote verging.

Unterbrochen von wenigen Stunden Schlaf, war Kellers Team rund um die Uhr im Einsatz, sammelte Informationen über Verstecke kosovotreuer Untergrundkämpfer, machte Durchsuchungen, Festnahmen, Verhöre, befragte Opfer und Zeugen. Die lokale Justiz aber war der Gnade der Kriegsfürsten ausgeliefert, und damit jenen Personen, die auch an der Spitze der Clans der Organisierten Kriminalität im Kosovo standen. Die Clans hatten Politik, Wirtschaft und Verbrechen bereits zu Friedenszeiten beherrscht, und sie taten es auch weiterhin, im Krieg. So kamen Gefangene schneller wieder auf freien Fuß, als Keller und seine Kameraden neue festnehmen konnten. Die Gewalt zwischen kriminellen Banden und paramilitärischen Einheiten im Untergrund nahm stetig zu, und Kellers Einheit, so professionell sie auch arbeitete, war zu klein, um ihr ernsthaft etwas entgegensetzen zu können.

Ebenso verging kaum ein Tag ohne Meldungen über Funde neuer Massengräber, entdeckt in dieser oder jener Ortschaft mit Namen, die Keller wenig sagten, deren Bilder ihn aber nur schwer losließen.

Dann, an einem Frühlingstag im März 2000, erhielten Keller und ein Kamerad der Deutschen Bundeswehr den Auftrag, in die südwestlich gelegene Provinzstadt Prizren zu fahren. Die Nachrichtenzelle ihrer Brigade Süd hatte einen Hinweis erhalten, »eine Person von Interesse«, wie sie banal beschrieben wurde, halte sich in einem bestimmten Gasthof auf.

Der Befehl enthielt außer einem Namen und einem Foto nur eine Anweisung: bei Antreffen festnehmen und Instruktionen abwarten.

Ein Auftrag wie viele andere, Routine – wenn es denn so was wie Routine im Kosovo der Jahrtausendwende überhaupt geben konnte. Besondere Dringlichkeit? Nein. Besondere Gefahr? Ebenfalls nein.

Auf dem Weg in die Stadt hielten die beiden bei einem Straßenimbiss, besorgten sich Pljeskavica, mit Hackfleisch gefüllte Teigtaschen, aßen und fuhren zum Hotel.

Ja, der freundliche Herr sei sein Gast gewesen, meinte der Hotelwirt, aber vor etwa zwei Stunden abgereist. Die Rechnung habe der Gast in bar beglichen. Der Hotelwirt konnte auch keine Angaben machen, weshalb der arabische Geschäftsmann, wie ihn der Wirt bezeichnete, das Hotel verlassen habe, und wohin. Vielleicht wollte er aber auch nichts sagen. Der Argwohn im Kosovo war allgegenwärtig. Jeder misstraute jedem.

Das Zimmer jedenfalls erwies sich als geräumt.

Besser so. Stand vierzehn Uhr hatte das Bezirksgefängnis Prizren »ausgebucht« gemeldet. Gegen achtzehn Uhr würden die lokalen Richter einige der Gefangenen wieder freilassen. So lief es immer. Aber die nächste Nachtschicht stand kurz bevor, und wenn nichts Außergewöhnliches passierte, würden sie jede freie Zelle brauchen – für die wirklich gefährlichen Typen da draußen.

Keller und sein Kamerad meldeten das Ergebnis an die Zentrale, fuhren bei einem Getränkehändler vorbei, besorgten ein paar Kisten Bier und fuhren zurück ins Camp. Ein Bundesliga-Abend auf Großleinwand stand an.

Im September 2001 lag Kellers Kosovo-Einsatz ein Jahr zurück. Es war in den Tagen nach den Anschlägen, als er die Nachrichten verfolgte und in ihm der grauenvolle Verdacht reifte, dass ihr Auftrag an jenem Märztag eine einmalige Gelegenheit gewesen war, dieses Jahrhundertverbrechen zu verhindern.

Und wohl auch die letzte.

Doch im Frühling 2000 war der gescheiterte Versuch zur Festnahme des saudi-arabischen Geschäftsmanns mit dem klangvollen Namen Usāma ibn Muhammad ibn Awad ibn Lādin, oder etwas kürzer, prosaischer und westlicher Osama bin Laden, nur ein bedeutungsloser Vermerk im Tagesjournal der Multinationalen Brigade Süd gewesen – bereits wieder vergessen bei Bier und Leinwand-Fußball ein paar Stunden später

Zwei beschissene Stunden.

Er hatte nie darüber geredet und würde es auch nie tun. Konnte man diesen Tag, diese Stunden in Prizren überhaupt erklären? Keller glaubte nicht daran. Eine banale Episode und Weltgeschichte in einem. Nur dass Letztere nicht stattfand, und was nicht existiert, verlangt nach keiner Erklärung.

Das Monster bin Laden war ihnen entkommen. Hatten sie versagt? Er konnte es nicht sagen. Sicher – zwei Stunden früher, und der Gang der Welt hätte wohl einen anderen Verlauf genommen. Tausende wären noch am Leben, Amerika würde nun nicht davon sprechen, in den Krieg zu ziehen, mit vielen weiteren Toten und unabsehbaren Folgen, für Jahre, vielleicht Jahrzehnte.

Sicher – niemand hatte jemals die Behauptung aufgestellt, er und sein deutscher Kamerad hätten etwas falsch gemacht. Geschenkt. All das hätte man auch Schicksal nennen können, nur dass es sich damit noch beschissener anfühlte.

Was blieb übrig? Wenig. Aber zumindest das wollte er richtig machen. Auch deshalb war er zu Moser gegangen und hatte um Julie Banks als Partnerin gekämpft.

Keller drückte die Zigarette aus und ging ins Büro zurück. Bald waren vierundzwanzig Stunden um, und sein Tag war noch nicht zu Ende. Die erste Einvernahme von Al-Fahtani war auf morgen zehn Uhr angesetzt. Er musste dem Staatsanwalt Material in die Hände geben. Wenn nicht, war auch Al-Fahtani wieder auf freiem Fuß.

Vielleicht war Julie doch vor ihm zu Hause.

In einer halben Stunde würde die Sonne aufgehen. Die verblassenden Sterne am klaren Nachthimmel versprachen einen sonnigen Wintertag.

Das Rumpeln der ersten Tram hatte Keller aus dem Schlaf geholt, viel zu früh für einen normalen Arbeitstag. Was davon kam, wenn das Fenster über Nacht offen blieb, weil nach dem Sex keiner mehr Lust hatte, aus dem warmen Bett zu steigen.

»Don’t slam the door …«, murmelte Julie schlaftrunken.

Keller drückte ihr sachte einen Kuss auf die Wange. »Natürlich nicht.«

Auch heute würde es nichts werden mit dem gemeinsamen Frühstück. Julies Vorgesetzte beim FBI saßen an der US-Ostküste, weswegen sie oft bis spät nachts arbeitete. Er wiederum sollte um sieben Uhr im Büro sein, zur morgendlichen Lagebesprechung in der Zentrale der Schweizer Bundeskriminalpolizei.

Er schlich sich aus dem Zimmer, duschte, zog sich an und machte sich auf den Weg zur Arbeit.

Am Nachmittag stand ein Besuch in Zürich auf dem Programm, wo ein Komplize des Al-Fahtani in Untersuchungshaft saß. Zwei Monate waren seit den Festnahmen vergangen. Und nun, so hatte der Verteidiger des Komplizen ausrichten lassen, wolle sein Klient gerne etwas mitteilen.

Der Intercity nach Zürich fuhr aus dem Hauptbahnhof und überquerte die Aare. Keller liebte das Smaragdgrün des Flusses, der tief unter ihnen hindurchrauschte, und überlegte, wie oft er diese Strecke in seinen fünfundvierzig Jahren wohl schon zurückgelegt hatte. Heute jedenfalls öfter als früher.

Vor zwanzig Jahren hatte er in Zürich die Polizeiausbildung gemacht, war wie jeder junge Polizist Streife gefahren und hatte sich so seine ersten Sporen verdient. Mehr als Blaulichtfahrten und die Jagd auf mehr oder weniger kleine Verbrecher hatte ihn in diesen Jahren aber die offene Drogenszene auf dem Platzspitz geprägt, einer einst herrlichen Grünanlage mitten in der Stadt, direkt neben dem Landesmuseum. Tausende Süchtige hielten sich in jenen Tagen dort auf. Es gab Schichten, bei denen er gleich mehrere Male den Rettungsdienst hatte aufbieten müssen, um tote Drogensüchtige aus dem Park zu bergen. Ein Ort des Verfalls und des Elends.

Was Keller wirklich interessierte war die Kripo. Nach fünf Jahren in Uniform hatte er zur Kriminalpolizei Zürich wechseln können, und damit konnte er sich jetzt um jene kümmern, die für einen Großteil des Elends verantwortlich waren – die Drogenhändler.

Später dann kam der Einsatz im Kosovo. Einen Preis für das Abenteuer hatte er allerdings zu bezahlen, denn die Beziehung zu Aline, einer Flugbegleiterin der Swissair, hatte es nicht überlebt. Sie sei nun mit einem Flugkapitän zusammen, hatte sie ihm später gesagt, als sie ihre letzten Sachen aus ihrer gemeinsamen Züricher Wohnung holen kam. Er hatte es nicht über sich gebracht zu fragen, seit wann denn genau.

Mitten in dem Chaos des Kosovo-Einsatzes hatte ihn Pius Moser angerufen, der soeben zum Abteilungsleiter Organisierte Kriminalität in der neu gegründeten Bundeskripo in Bern berufen worden war.

»Ich könnte ein paar gute Leute hier gebrauchen. Überleg es dir, bevor du dir da unten noch eine verdammte Kugel einfängst.«

Lange überlegen musste er nicht. Keller hatte seine Sachen gepackt, kehrte in die Schweiz zurück und ging nach Bern.

Keller stand im Hof der Züricher Hauptwache und hatte sich eine Zigarette angezündet. Die Befragung des Al-Fahtani-Komplizen war zu Ende. Keller konnte zufrieden sein. Er hatte, was er brauchte. Er hatte ein Geständnis, und Al-Fahtani ein Problem.

»David! Einen Augenblick noch!«

Karl Wirtz, mit dem er seinerzeit seine ersten Streifengänge absolviert hatte, hastete über den Hof.

Karls Atem ging schwer. Alter und Dienstgrad hatten ihn schon vor Jahren vom dienstlichen Sportunterricht entbunden – zum Nachteil seines körperlichen Allgemeinzustands.

Karl drückte Keller eine Akte in die Hand.

»Hab gehört, dass du hier bist: Jemand müsste sich dem hier mal annehmen. Und wenn du mich fragst, besser noch in diesem Jahrzehnt.«

Keller musste an Mosers Worte bei der letzten Teamsitzung denken. Und dass, wenn er sich nicht beeilte, er seinen Zug nach Bern verpassen würde.

»Und mit jemand meinst du uns? Keine neuen Fälle. Weisung von Pius.«

»Schon klar. Nur, das hier kommt aus deinem Stall. Eine Anfrage von Interpol Bern.«

»Das Interpol-Büro gehört nicht zur Bundeskripo, andere Abteilung. Muss ich dir doch nicht erklären.«

Wirtz rümpfte die Nase. »Da hat sich aber einer gut eingelebt in der Hauptstadt. Den Kleinkram hübsch an die Kantone abschieben. Ist aber kein Kleinkram. Ganz im Gegenteil. Und die Frage ist, wieso wir dazu seit zwei Monaten nichts mehr hören.«

»Jetzt rate mal, wieso ich hier bin? Genau: Al Kaida. Auf meinem Flur hat sich ein ganzes FBI-Team eingenistet. Amtssprache ist jetzt Englisch.«

»Mir kommen gleich die Tränen.« Wirtz wies mit dem Kinn auf die Akte in Kellers Händen. »Jetzt lies einfach mal.«

Keller blickte auf die Uhr. Einen Moment Zeit hatte er noch.

»Okay. Um wen gehts?«

»Walter Baumann. Finanzberater, Ex-Banker und nach dieser Meldung hier auch Drogenschmuggler. Hat eine Firma hier in Zürich.«

Keller zog das Deckblatt aus der Akte. Wie bei Interpol üblich, war das Schreiben in Französisch und in Versalien verfasst.

LAHAYE 2002CB005019966 21 OCTOBRE 2002

URGENT

INTERPOL BERN

NOTRE DOSSIER No.: 2002CB005019966

AM 09–10–02 WURDEN IM HAFEN VON ANTWERPEN/BELGIEN 3 065 KG KOKAIN BESCHLAGNAHMT. DIE DROGEN WAREN IN EINEM CONTAINER MIT BANANEN AUS VENEZUELA VERSTECKT. DER CONTAINER WAR AN EINE FIRMA IN DEN NIEDERLANDEN ADRESSIERT. DIE BELGISCHEN BEHÖRDEN HABEN DIE NIEDERLÄNDISCHEN BEHÖRDEN UM ERÖFFNUNG EINES STRAFVERFAHRENS ERSUCHT.

Keller stieß einen langen Pfiff aus.

»Drei Tonnen? Auf einen Schlag? Herzlichen Glückwunsch an die Kollegen. Bringt, na ja, einhundert Millionen auf der Straße. Könnte ein Rekord sein.«

Karl nickte. »Jedenfalls verdammt viel.«

Keller las weiter.

DIE DEN-HAAGER POLIZEI HAT EIN VERFAHREN ERÖFFNET.

ES WURDE FESTGESTELLT, DASS BAUMANN PN WALTER DER ORGANISATOR DES TRANSPORTS WAR UND KONTAKT ZU MITGLIEDERN EINE KRIMINELLEN ORGANISATION IN SÜDAMERIKA UNTERHÄLT.

BAUMANN WALTER IST INHABER DER SCHWEIZER TEL. NR. (DETAILS SIEHE S. 2). BAUMANN WOHNT MIT EINER GEWISSEN RITA, SPANISCH SPRECHEND, ZUSAMMEN. SIE KÖNNTE VENEZOLANISCHER HERKUNFT SEIN.

BAUMANN STEHT IN KONTAKT MIT MITGLIEDERN KRIMINELLER ORGANISATIONEN VON HÖCHSTEM RANG IN MEXIKO, DEN NIEDERLANDEN, DEN VEREINIGTEN STAATEN, DEN NIEDERLÄNDISCHEN ANTILLEN UND VENEZUELA. BAUMANN VERFÜGT ÜBER GROSSE FINANZIELLE RESSOURCEN. SO WURDE ER ZWECKS INVESTMENT IN EIN LUFTFAHRTUNTERNEHMEN AUF DEN ANTILLEN ANGEFRAGT.

Dem Text folgte die übliche Bitte um Bekanntgabe von Erkenntnissen.

Keller kratzte sich am Hinterkopf. »Starker Tobak. Hört sich so an, als ob dieser Finanztyp, dieser Baumann …«

»… ganz weit oben in der Organisation sitzt. Sagen die Holländer«, ergänzte Karl. So langsam war er zu Atem gekommen.

»Genau. Sagen die Holländer. Übersetzt heißt das dann wohl, sie hören mit. Und bei euch hat Baumann eine saubere Weste, sagst du?«

Karl nickte. »Keine Vorgänge. Könnte theoretisch auch sein, dass ihm das Handy geklaut wurde und der Mann gar nichts damit zu tun hat. Glaub ich nur nicht.«

»Dann hätte er die Nummer längst sperren lassen. Hmm … Baumanns Wohnsitz ist in der Schweiz?«

»Nein. Nur eine Geschäftsadresse, hier in Zürich. Über diese läuft auch die Handynummer aus der Interpol-Meldung. Baumann ist seit Anfang der Neunziger in den USA gemeldet.«

»Haben wir ein Foto?«

Karl griff in die Akte und zog ein Blatt hervor. »Das ist Walter Baumann.«

Keller spürte, wie sich ihm die Nackenhaare kräuselten. Vor seinem Auge tauchten hässliche Bilder auf.

Die Schüsse.

Die Schreie der alten Frau.

Der Padre auf der Piazza, in seinem Blut liegend.

Der Chor der wütenden Menge.

Und die Schwarz-Weiß-Aufnahmen, zerstreut auf dem Boden der Sakristei.

Das Gesicht auf dem Foto hatte einen Namen bekommen: Walter Baumann. Es würde den Padre nicht wieder lebendig machen, wahrscheinlich nicht einmal zu seinem Mörder führen. Aber nun hatte sich eine Tür in eine düstere Welt geöffnet, wenigstens einen Spalt breit, in der ein Leben nichts bedeutete, wenn bestimmte Interessen gestört wurden.

»Gibts ein Problem?« Wirtz sah Keller leicht verwirrt an.

Kellers Sinn stand nicht mehr nach langen Erklärungen. Er lächelte kurz. »Nein … alles gut. Mir ist nur eingefallen, dass es außer Al Kaida noch was anderes gibt.«

Wirtz lachte auf. »Na, siehst du! Wusste ich’s doch.« Er griff in die Jackentasche und zog einen Aktenhefter hervor. »Noch etwas: Baumann scheint auf dem Papier vielleicht ein Saubermann zu sein. Aber es gibt da eine Akte zu einem Suizid. 1996 in Kloten. Wer sich da eine Kugel in den Kopf gejagt haben soll, war Peter Röthlisberger. Und dieser Röthlisberger war der Pilot von Walter Baumann, wenn der wieder mal im Privatjet unterwegs war. Nach Aktenlage wohl ziemlich oft.«

Keller blätterte den Schlussbericht durch. Er war kaum fünf Seiten lang. »Selbstmord wegen einer Affäre also … Siehst du einen Zusammenhang?«

»Nebst dem Büro im Kreis 9 ist es das Einzige, was ich zu Baumann gefunden habe. Du kennst doch Urs Gehrig aus dem Dezernat Leib und Leben? Gehrig hat damals den Röthlisberger-Suizid bearbeitet.«

»Gehrig? Der lief doch diese verrückten Marathonrennen.«

»Genau. Nur trinkt er mittlerweile für meinen Geschmack etwas zu viel. Ist nicht mehr der Gleiche. Wie auch immer. Vielleicht solltest du mal mit ihm reden.«

Keller nickte und wedelte mit den Papieren. »Also. Darf ich?«

»Ich dachte, du darfst nicht?«

»Sagte ich das? Da musst du mich falsch verstanden haben.«

Bereits im Treppenhaus roch Keller den Duft frischer Pancakes. Julie musste schon zu Hause sein. Zu Hause sollte heißen: seine Wohnung. Manchmal – selten – verbrachten sie ihr zuliebe auch eine Nacht in ihrer Wohnung.

Keller musste sachte grinsen. Nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht hatte Julie ebenfalls Pancakes gebacken. So hatte es begonnen, als Affäre. Nun waren sie zwar mehr als das, allerdings nicht in der Öffentlichkeit. Nicht, weil einer von ihnen verheiratet oder anderweitig offiziell gebunden gewesen wäre.

Julie Banks’ Arbeitgeber war das FBI, eine US-Regierungsbehörde, er arbeitete für eine Schweizerische, was die Sache mit ihrer Beziehung kompliziert machte. Denn genau genommen, hätten sie ihre vorgesetzten Dienststellen über ihr Verhältnis informieren müssen. Was aber bedeuten könnte, dass einer von ihnen seinen Job aufgeben müsste oder versetzt werden würde. Andere Paare hatten mit misstrauischen Ehepartnern zu tun, sie mit misstrauischen Arbeitgebern.

Keller und Julie hatten sich darauf geeinigt, die Dinge auf sich zukommen zu lassen. Er wurde dieses Jahr fünfundvierzig, Julie fünfunddreißig. Niemand wusste, was in sechs Monaten, in einem Jahr sein würde. Julie könnte, zum Beispiel, nach Moskau versetzt werden (potenzieller Trennungsgrund für Keller), oder Keller nach Rom (potenzieller Heiratsgrund für Julie).

Julie hatte einen ganzen Berg Pancakes gebacken. Keller warf Jacke und Tasche auf die Couch, gab Julie einen Kuss, schwang sich auf den Barhocker und schnappte sich das oberste Stück.

»Ich liebe deine Pancakes. Das Rezept deiner Mom? Wie kommt es, dass du schon hier bist? Keine Arbeit im Büro?« Keller aß und sprach gleichzeitig.

Julie sah ihn tadelnd an. »Wenn ich verstehen würde, was du sagst, könnte ich dir auch antworten. Ich probier’s mal: ›Nein‹, von Grandma. Und ›ja‹, aber auf morgen verschoben.«

Keller schluckte den Bissen hinunter und lächelte. »Sagte ich doch.«

Julie schob die letzte Portion fertiger Pancakes zum Warmhalten in den Ofen und setzte sich neben Keller.

»Wie ist denn dein Tag gelaufen? Vielleicht bringt uns ja diese Diskussion weiter.«

»Mein Tag? Sehr erfolgreich, danke der Nachfrage. Ich habe genau das gemacht, was der Chef sagte, was ich nicht tun sollte.«

»Wieso überrascht mich das nicht. Ich hatte schon länger den Verdacht, ohne Ärger wirds dir schnell langweilig. Und was genau hast du gemacht?«

Keller leckte sich die Fingerspitzen ab und goss einen großzügigen Schuss kanadischen Ahornsirup über Pfannkuchen vier und fünf.

»Ich habe einen Fall aus Zürich nach Bern geholt. Eine Interpol-Meldung. Und weil unser Interpol-Büro sowieso in Bern sitzt, kann Moser nichts dagegen haben, stimmts?«

Julie deutete mit den Daumen nach oben und nickte aufmunternd. »Ein schlagendes Argument. Unantastbar.«

»Eben.«

»Um was gehts? Al Kaida?«

»Nein, Liebes. Für diesmal keine Al Kaida. Nur die gute alte Organisierte Kriminalität. Geldwäsche, Drogen. So was hat die Welt noch selten gesehen.«

»Hört, hört!«, lachte Julie spöttisch.

»Wenn ich’s dir sage. Drei Tonnen. Mindestens.«

Julie blieb der Bissen im Mund stecken. »Drei wie viel?«

»Drei Tonnen. Reinstes Kokain. Im Hafen von Antwerpen.«

Julie schaute Keller ungläubig an. »Holy Shit! Ich nehme alles zurück. Und wo liegt der Haken?«

»Welcher Haken?«

»Bei so einer Sache gibt es immer einen Haken.«

»Ich würde es nicht Haken nennen.«

»Wie denn?«

»Nennen wir es … eine Frage der Betrachtung. Der Organisator der Lieferung ist ein Schweizer Ex-Banker.« Keller schnitt einen weiteren Pancake auseinander. »Der ermordete Padre letztes Jahr in Palermo, Montis Informant? Du erinnerst dich?«

»Natürlich. Und?« Julie sah Keller aufmerksam an.

»Nun, sieht so aus, als hätten wir einen neuen Ansatz, um aus dem Material etwas zu machen. Ich muss mit Monti sprechen.«

Julie klatschte in die Hände. »Mein Gott, das wäre großartig!«

»Ich sage, der Fall gehört hierher, zu uns nach Bern. Moser ist dagegen. Sagt er zumindest. Keine neuen Mafia-Fälle, solange Al Kaida läuft. Pius glaubt selbst nicht an diesen Mist. Dafür kenne ich ihn zu gut.«