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Das geht alle an! Denn egal, ob Diaphragma, Kondome, Spirale, mit Zykluscomputer, NFP oder doch mit der Pille – die Methoden zur Empfängnisverhütung sind vielfältig und die Entscheidung sollte gut durchdacht werden. Gleichzeitig geistern viele Vorurteile durch die Welt, die vor allem junge Menschen schnell verunsichern können. Gynäkologin Dr. Mirjam Wagner klärt auf und nimmt in diesem Ratgeber die Verhütung in den Fokus. Kompetent und leicht verständlich stellt sie alle gängigen Methoden der hormonellen und natürlichen Verhütung vor, nennt ihre Vorteile und Risiken und gibt mit vielen Praxisbeispielen und einem Verhütungsquiz allen Menschen im fruchtbaren Alter ein umfassendes Werkzeug an die Hand, um sich selbstbestimmt für die individuell richtige Verhütungsmethode zu entscheiden.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 268
Für alle Menschen, die gut informiert und selbstbestimmt das Thema Verhütung angehen möchten. You rock!
DISCLAIMER
Dieses Buch wurde für alle Menschen geschrieben, unabhängig von ihrer Geschlechtsidentität und sexuellen Orientierung. Im historischen Kontext und weil die Hersteller von Verhütungsmitteln Menschen bisweilen binär in Frauen und Männer einteilen, spreche ich der Verständlichkeit halber in diesen Bezügen von Frauen und Männern. Daneben verwende ich die Bezeichnungen Mensch mit Vulva, Vagina, Gebärmutter oder Eierstöcken bzw. Penis oder Hoden sowie spermienbildender/-produzierender Mensch, geborene Frau oder geborener Mann, um die Variabilität unserer Sprache aufzuzeigen. Ich bin stets bemüht, meine Wortwahl so offen und inklusiv wie möglich zu gestalten, um jedem Menschen bestmöglich gerecht zu werden. Dazu gehört auch das Gendern, weshalb ich mich für die Verwendung des Gendersternchens entschieden habe. Ich bedanke mich für deine Offenheit.
… und noch ein kleiner Gedankenanstoß
Dieses Buch werden vermutlich hauptsächlich Menschen lesen, die freien Zugang zu Verhütungsmitteln aller Art haben. Ich möchte daran erinnern, dass dieses Privileg bei Weitem nicht allen Menschen zuteilwird. Weltweit wird Menschen der Zugang zu Verhütung und deren vielfältigen Möglichkeiten z. B. wegen ihres Geschlechts, ihrer Nationalität, ihres Familienstandes, ihres Einkommens oder ihrer sozialen Herkunft verwehrt. Ein barrierefreier Zugang zu Verhütungsmitteln bildet den Ankerpunkt für die sexuelle Selbstbestimmung, Gesundheit und Familienplanung aller Menschen.
Zum Einstieg
Es ist so genial, dass du dieses Buch ausgewählt hast, um deinem Wissen über Verhütung ein Update zu verpassen! Damit übernimmst du in der fruchtbaren Phase deines Lebens Verantwortung für deine Gesundheit und die deiner Sexualpartner*innen. Denn alles, was du heute an Medikamenten, Barrieremethoden oder medizinischen Interventionen in Anspruch nimmst (oder auch nicht), kann weitreichende Auswirkungen haben, z. B. auf deinen Körper, deine Psyche, dein Wohlbefinden, deine Liebesbeziehungen, deine Familie und deinen beruflichen Werdegang. Es hat sogar gesellschaftspolitische Relevanz. Frauen und als Frau geborene Menschen sind fast 40 Jahre lang fruchtbar. Das ist eine ganz schön lange Zeitspanne, in der sie schwanger werden könnten – und in der sie sich überlegen dürfen, wann und ob sie das überhaupt möchten.
Zum Schwangerwerden gehören jedoch zwei Menschen, und daher sollten sich auch beide die Verantwortung bei der Verhütung von Schwangerschaften teilen (und von sexuell übertragbaren Krankheiten übrigens auch). Die Realität sah und sieht oft anders aus: Die Geschichte der Verhütung ist von erheblicher Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern gekennzeichnet – das Patriarchat lässt grüßen. Doch dann kam die Pille und damit auch eine große Chance auf Freiheit und Selbstbestimmung. In den 1960er-Jahren wurde sie als feministischer Befreiungsschlag geradezu gefeiert. Heute wird sie teilweise regelrecht verteufelt, weil sie zu starke Nebenwirkungen habe und den Körper fremdsteuere. Bevor ich jetzt tiefer einsteige, sollst du aber erst einmal wissen, wer hier schreibt und warum dieses Buch entstanden ist.
Ich bin Mirjam, Ende dreißig, Mutter von zwei Kindern und Gynäkologin. Um dich gleich zu Beginn zu schockieren: Ich wurde nicht aufgeklärt. Nicht von meinen Eltern. Nicht in der Schule. In meinem Medizinstudium, und während meiner Weiterbildung zur Fachärztin der Gynäkologie und Geburtshilfe wurde das Thema Verhütung in sage und schreibe einer einzigen Vorlesung und einem freiwillig gewählten Workshop angesprochen. Mein erstes Kind ist sogar durch eine Verhütungspanne entstanden. Rückblickend war dies die beste Entscheidung, die mein Unterbewusstsein je getroffen hat. Damals aber war meine erste Reaktion: Echt jetzt? Das passiert mir als Gynäkologin? Ärzt*innen sind eben auch nur Menschen, und ich bin nicht die Einzige, die lieber sorglos geliebt hat, als dem schambehafteten Thema der Verhütung unerschrocken ins Auge zu blicken oder sich zu der alles verändernden Entscheidung, Nachwuchs in die Welt zu setzen, zu bekennen.
Eigentlich wusste ich zu dem Zeitpunkt, als ich dieses Buch zu schreiben begann, selbst nicht mehr so richtig, welchen Infos aus der Flut von Packungsbeilagen, aus der unüberschaubaren Auswahl an teils veralteten Lehrbüchern und schnell verfügbarem Online-Wissen ich Glauben schenken konnte. Was ist wissenschaftlich belegt? Was Marketing von Pharmafirmen oder Influencer*innen? Was ist Panikmache und Pillen-Bashing von unzufriedenen Ex-User*innen? Was Ammenmärchen und was Medizinmythos? Es ist alles andere als einfach, den Nebel aus Scham, der Sexthemen im Allgemeinen einhüllt, zu durchdringen und verlässliche Antworten zu finden.
Da es bestimmt nicht nur mir so geht, möchte ich dich, liebe*r Leser*in, an meinen Erkenntnissen teilhaben lassen. Verhütung darf Jahrzehnte hindurch ein Dauerbrenner-Thema in unser aller Leben sein, egal welche Geschlechtsidentität oder sexuelle Orientierung man hat. Es ist also für jeden Menschen extrem wichtig, Bescheid zu wissen. Daher ist es mehr als überfällig, dass wir diese Materie einmal gründlich und zeitgemäß unter die Lupe nehmen.
Viele Menschen, viele Meinungen. Das gilt auch für Gynäkolog*innen. Wir ticken eben nicht alle gleich. Um dieses Buch noch vielfältiger zu gestalten und so viel Erfahrung wie möglich einfließen zu lassen, habe ich einige Verhütungsexpert*innen interviewt und lasse dich in Kapitel 3 sogar an meinem Austausch mit meiner guten Kollegin Anna Stamm teilhaben. Es braucht nicht nur ein Dorf, um ein Kind großzuziehen, sondern auch, um gute Medizin zu machen und darüber zu schreiben.
Wie funktioniert Verhütung heute? Angesichts der Fortschritte in Wissenschaft und Gesellschaft sollte es doch wohl möglich sein, bedürfnisorientiert, sicher und geschlechtergerecht zu verhüten?! Ich sage: Ja, so ist es, und zugleich gibt es nicht die eine Methode, die auf jeden Menschen oder jedes Paar in jeder Lebensphase passt. Definitiv braucht es ein gewisses Maß an Körperkenntnis und Verständnis für die einzelnen Methoden, um die jeweils passende Lösung zu finden. Und, nicht zu vergessen, eine offene Kommunikation mit geteilter Verantwortlichkeit in der Partnerschaft, sofern vorhanden. Ohne Frage müssen zukünftig noch mehr Möglichkeiten für Männer und spermienbildende Menschen auf den Markt kommen. Damit die Forschung hierzu vorangetrieben wird, müssen wir diese Innovationen lautstark einfordern.
Mit diesem Buch möchte ich deinen Horizont erweitern, die Verhütungsmethoden, die wir bereits haben, wissenschaftlich und wertfrei betrachten und auch einen Blick in die Zukunft werfen. Wie schon in meinem ersten Buch Mein PMS und ich lautet mein Mantra auch hier: Verstehe deinen Körper und gehe informiert und selbstbestimmt deinen Weg. Individuell und sicher zu verhüten muss kein Widerspruch sein.
Bitte beachte: Dieses Buch ist ein Beitrag zur gesundheitlichen Aufklärung und ersetzt keinesfalls den Besuch in der gynäkologischen Praxis samt entsprechender Beratung. Ich darf in einem Buch keine ärztlichen Empfehlungen aussprechen und kann ohne ein Gespräch mit dir auch gar nicht beurteilen, was zu dir passt. Wohl aber kannst du dich mit diesem Buch wunderbar vorbereiten, um informiert mit Mediziner*innen in den Austausch zu gehen. Alle Informationen im Buch habe ich auf Basis aktueller Studien, der Leitlinien für hormonelle und nicht-hormonelle Empfängnisverhütung der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V., kurz AWMF, die für Deutschland, Österreich und die Schweiz gelten, den Empfehlungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und pro familia nach bestem Wissen und Gewissen aufbereitet. Da die Wissenschaft stetig neue Erkenntnisse hervorbringt, kann es natürlich mit der Zeit zu Abweichungen kommen. Sämtliche Quellen findest du übrigens hinten im Buch.
Wenn ich im Hinblick auf Sexualität von Verantwortung spreche, beziehe ich mich ausschließlich auf sexuelle Kontakte, die im Konsens geschehen. Sexuelle Übergriffe sind ein Verbrechen. Die Verantwortung dafür, dass solch schreckliche Taten geschehen, liegt niemals bei der missbrauchten Person. Wenn du betroffen bist, schweige nicht.
Jetzt geht es aber los. Wir beginnen unsere gemeinsame Reise zum ultimativen Verhütungswissen mit der vielleicht sogar wichtigsten Frage, die immer ganz am Anfang stehen sollte …
PS: Mehr Infos zu meiner privatärztlichen Sprechstunde und weiteren Angeboten (Kurse, Bücher, Podcast, Social Media) findest du unter www.gynsprechstunde.de. Schau dich gerne um. Ich freue mich von dir zu hören!
Kapitel 1:
Bist du gut aufgeklärt?
Gewusst wie: Wer aufgeklärt ist, verhütet sicherer
Was bedeutet es eigentlich, gut aufgeklärt zu sein? Es war einmal ein Bienchen, das flog zu einem Blümchen … Halt, stopp! So wollen wir hier gar nicht erst anfangen. Ich nenne die Dinge beim Namen: Vulva, Labien oder Vulvalippen (keine Scham nötig), Venushügel, Vagina (Scheiden umhüllen Schwerter, nicht unser intimes Wohnzimmer), Klitoris, Eichel, Vorhaut, Hoden und so weiter. Vulvina, eine Wortkreation aus Vulva und Vagina, finde ich auch wunderschön und passend. Unsere Sexualität steckt voller Möglichkeiten, und es ist wichtig, dass wir dafür eine offene, verständliche und respektvolle Sprache wählen. Niedliche Geschichten von Bienchen und Blümchen haben da meiner Meinung nach nichts verloren, nicht einmal in den Köpfen von Kleinkindern. Hier erwartet dich Klartext in einer tabufreien Zone. Legen wir los!
Verhütung – eine Begriffsklärung
Gibst du den Begriff Verhütung bei Wikipedia ein, bekommst du folgendes Ergebnis:
1. »Prävention, Maßnahmen zur Vermeidung unerwünschter Ereignisse.«
2. »Empfängnisverhütung, Maßnahmen zur Vermeidung ungewollter Schwangerschaften.«
3. »Safer Sex im allgemeinen Sinne, was neben Empfängnisverhütung auch Präventionsmaßnahmen gegen sexuell übertragbare Krankheiten umfasst.«1
Das finde ich schon mal nicht schlecht, denn diese Begriffsklärung enthält die zwei Haupteigenschaften, die nach allgemeinem Dafürhalten Verhütung erfüllen sollte, nämlich den Schutz vor ungewollten Schwangerschaften einerseits und sexuell übertragbaren Erkrankungen andererseits.
Wer sich intensiver mit Verhütung beschäftigt, stößt womöglich schnell auf überraschende Wissenslücken. Der Pearl-Index etwa galt bisweilen als der entscheidende Parameter für die Verhütungssicherheit der jeweiligen Methode. Tatsächlich ist er wegen erheblicher Ungenauigkeiten nicht mehr zeitgemäß und darf allenfalls als Anhaltspunkt für deine persönliche Situation herhalten. Die hormonelle Verhütung halten die meisten Menschen für weitestgehend sicher. Sie ist allerdings als nebenwirkungsreich gelabelt, wohingegen nicht hormonelle Methoden als riskant verrufen sind. Aber stimmt das wirklich? Für viele ist Verhütung auch heute noch »Frauensache« und damit gleichbedeutend mit Empfängnisverhütung, auf medizinisch Kontrazeption. Methoden zur Zeugungsverhütung für Männer und spermienbildende Menschen spielen bislang eine Nebenrolle. Und überhaupt, fehlt da nicht die Perspektive der Zeugungsverhütung in der Begriffsdefinition? Hallo, Gleichberechtigung und shared decision-making! Seid ihr wirklich Fremdwörter, wenn es um Verhütung geht?
Eine weitere, für mich überraschende und ehrlicherweise erschreckende Entdeckung ist, dass der in der Begriffsklärung enthaltene Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten (STIs) zumindest in den Industrieländern mehr und mehr ins Hintertreffen gerät. Dabei sollte dieser Aspekt bei der Wahl des Verhütungsmittels passend zur jeweiligen Lebenssituation gleichermaßen berücksichtigt werden, zumal STIs vor niemandem Halt machen und Infektionen wie Chlamydien, Tripper und Syphilis laut Daten des European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) wieder auf dem Vormarsch sind.2
Und last but not least: Wo bleibt die Frage nach den eigenen Bedürfnissen? Welche Rolle dürfen die eigenen sexuellen Vorlieben dabei spielen? Und kann man überhaupt bewusst verhüten, wenn man nicht rundum aufgeklärt ist?
Für mich darf Verhütung von heute folgende Anforderungen erfüllen:
1. Die Entscheidung für oder gegen eine Methode sollte auf guter Aufklärung über die Vorgänge in deinem Körper und dem deiner Sexualpartner*innen basieren. Du solltest dich mit dem Menstruationszyklus auskennen, über die Wirkweise der Hormone Bescheid wissen (körpereigene wie dem Körper zugefügte) und damit vertraut sein, was überhaupt passieren muss, damit man schwanger wird. Letzteres ist übrigens auch dann hilfreich, wenn man irgendwann die Verhütung einstellt, weil man schwanger werden möchte.
2. Verhütung sollte sich an den individuellen wie auch den partnerschaftlichen Bedürfnissen orientieren. Hast du dich schon mal gefragt, was dir alles bei der Verhütung wichtig ist? Hast du anderen Aspekten neben der Verhütungssicherheit Raum gegeben? Ich öffne diesen Raum und möchte dich motivieren, vorurteilsfrei darüber nachzudenken, um deiner Sexualität eine freie Entfaltung zu ermöglichen.
3. Verhütung soll eine Schwangerschaft sicher verhindern. Mach dir bewusst, was Sicherheit für dich bedeutet. Das kann sich durchaus von dem unterscheiden, was dein*e Freund*in oder auch dein*e Gynäkolog*in denkt. Wie sehr zahlen dein partnerschaftliches Verhalten und deine gelebte Sexualität auf deine Verhütungsentscheidung ein? In extremen Gegensätzen gesprochen, aber bitte wertfrei zu verstehen: Hast du eher monogamen Blümchensex oder lebst du polyamor oder feierst gerne Sexpartys? Welche Sicherheitsvorkehrungen machen in deiner Situation Sinn? Womit wir gleich beim nächsten Punkt wären:
4. Verhütung soll vor STIs schützen. Die Auswahl ist derzeit begrenzt: Es gibt Kondome, Femidome (das »Frauenkondom«) und Lecktücher. Wer sich, je nach Sexualverhalten mehr oder weniger regelmäßig, auf sexuell übertragbare Erkrankungen testen lässt und weitere Präventionsangebote wahrnimmt (wie z. B. die Impfung gegen die humanen Papillomaviren, kurz HPV), zeigt einen verantwortungsvollen Umgang mit Sexualität. Es ist wichtig, sich hier nicht wegzuducken nach dem Motto »Mir passiert schon nichts« oder »Ich bin sauber«. STIs sind oft mit bloßem Auge nicht zu erkennen und haben nichts mit Reinlichkeit zu tun. Unser großer Vorteil ist, dass sie sich nur verbreiten, wenn wir es zulassen.
5. Verhütung ist ein politisches Statement, ein Zeichen für Selbstbestimmung und von Geschlechter(-un-)gerechtigkeit. Viel zu selten wird hierauf Bezug genommen. Das Image von Pille & Co ist zweischneidig: Schenkt hormonelle Verhütung sexuelle Freiheit oder unterdrückt sie die Weiblichkeit? Ich empfinde es als hoffnungsvoll, dass jüngere Generationen die Hormoneinnahme kritischer hinterfragen und der Ruf nach Alternativen für Sie, Ihn und them lauter wird – als empfängnis- und zeugungsverhütende Maßnahmen. Ein Umdenken ist notwendig, nein überfällig.
All diese Punkte sollten gut durchdacht sein. Die Priorisierung mag von Mensch zu Mensch unterschiedlich ausfallen. Dennoch ermutige ich dich von ganzem Herzen, dich ehrlich mit sämtlichen Aspekten auseinanderzusetzen und Antworten zu finden, die für dich richtig sind und zu deiner Lebensrealität passen. Nimm dir dafür die Zeit, die du brauchst. Und ganz wichtig, gib dich nicht mit halb garen Lösungen zufrieden! Es geht schließlich um dein Wohlbefinden und um deine Gesundheit.
Mein Tipp:
In Kapitel 5 findest du einen Selbsttest, der dir helfen kann, deine Verhütungsprioritäten herauszufinden.
Der Menstruationszyklus als Ursprung des Lebens
Wenn du über die hormonellen Abläufe im Menstruationszyklus Bescheid weißt, seinen Einfluss auf das zyklische Erleben von Frauen/Menstruierenden kennst, dir über das fruchtbare Fenster im Zyklus im Klaren bist sowie über die Zusammenhänge, die letztlich zur Befruchtung führen und die Einnistung einer Eizelle in der Gebärmutter ermöglichen können, darfst du dieses Kapitel gerne überspringen. Solltest du jetzt aber denken: »Hormone? Das ist viel zu kompliziert. Das habe ich noch nie richtig gecheckt« oder: »Hm, eigentlich weiß ich gar nicht so genau, wann im Zyklus man schwanger werden kann und was da im Detail passiert«, dann lies unbedingt weiter. Dieses Wissen hat das Potenzial, deine Welt zu revolutionieren.
In fein aufeinander abgestimmten Reaktionen des Körpers, die durch die Sexualhormone ausgelöst werden, baut sich in einem Zyklus die Gebärmutterschleimhaut einmal komplett auf und blutet zu Beginn des neuen Zyklus wieder ab. Währenddessen reifen in den Eierstöcken mehrere Eibläschen, auch Follikel genannt, heran, bis das größte, schlauste oder coolste (wer weiß das schon so genau?) mit dem Eisprung seine Eizelle ins Rennen schickt. So kann sie in Verschmelzung mit einem Spermium zu einem neuen Menschen werden. Vorausgesetzt, ein Spermium schaut zur rechten Zeit am rechten Ort vorbei und tut seinen evolutionären Job. Damit die kleinen Schwimmerlis optimal vorankommen, verändert sich der Schleim des Gebärmutterhalses, auch Zervixschleim genannt, in seiner Konsistenz. Zum Eisprung ist er besonders dünnflüssig, glasig, fast schon ölig und lässt die Spermien geschmeidig hindurchgleiten. Zu anderen Zeiten im Zyklus ist der Zervixschleim dickflüssiger und erschwert den Spermien das Durchkommen, denn diese haben in der Gebärmutter nun eigentlich nichts mehr zu suchen. Sogar die Basaltemperatur (die Aufwachtemperatur bzw. Körpertemperatur in Ruhe) verändert sich im Laufe des Zyklus. Dadurch wird der Ofen ein wenig eingeheizt, um eine befruchtete Eizelle in ihrem Schleimhautnest willkommen zu heißen, wie ein Hollywoodsternchen im Luxushotel vor dem Kamin. Nistet sich keine befruchtete Eizelle im Hotel Uterus ein, sinkt die Temperatur wieder und die Gebärmutterschleimhaut wird renoviert. Deine Periode setzt ein, und der Film beginnt von vorne.
Schon gewusst?
Der Zervixschleim und die Basaltemperatur werden bei der natürlichen Familienplanung genutzt, um die fruchtbare Phase im Zyklus zu bestimmen. (siehe S. 76).
Und wer sorgt dafür, dass diese Veränderungen zur rechten Zeit stattfinden? Na klar, unsere Sexualhormone. In der Medizin wird der Zyklus in zwei Hälften oder Phasen unterteilt. Beginnend mit der Menstruation sind die Ereignisse der Follikelphase mit dem Aufbau der Gebärmutterschleimhaut und dem Wachstum der Eibläschen bis zum Eisprung die zentralen Events der ersten Zyklusphase. Die hormonelle Hauptdarstellerin ist das Östrogen. Es wird hauptsächlich im Eierstock in den sogenannten Theka- und Granulosazellen der Eifollikel produziert, aber zu einem geringen Teil auch von der Nebennierenrinde und im Fettgewebe. Auf der Ebene der Geschlechtsorgane sorgt Östrogen dafür, dass sich die Gebärmutterschleimhaut aufbaut, die Vaginalschleimhaut stärker durchblutet und der Zervixschleim dünnflüssiger und damit durchlässiger wird. Über einen Rückkopplungsmechanismus mit den Hormonen FSH und LH, auf die ich gleich noch eingehen werde, wirkt sich Östrogen auch auf das Eibläschenwachstum und den Eisprung aus. Außerdem beeinflusst Östrogen die Brustentwicklung und Intimbehaarung, es ist verantwortlich für die weibliche Fettverteilung, kann Wassereinlagerungen fördern, hat einen positiven Einfluss auf die Knochenstabilität, schützt die Nerven und beugt Herz-Kreislauf-Erkrankungen vor. Auf unsere Psyche hat es einen stimulierenden Effekt, der für gute Stimmung und Wohlbefinden sorgen und auch zur Steigerung des Lustempfindens führen kann. Zum Eisprung schickt Östrogen im Duo mit dem Sexualhormon Testosteron die Libido auf Höhenflug und poliert Haut und Haare auf Hochglanz. Letzteres sogar oft wortwörtlich, wenn die Talgproduktion übermäßig gesteigert wird, wodurch leider auch mal die Poren im Gesicht verstopfen oder die Haare fettig werden.
Die zweite Zyklusphase wird mit dem Eisprung eingeläutet und als Lutealphase bezeichnet. Nun sinkt das Östrogenlevel, sofern ein Eisprung stattgefunden hat, und macht Platz für die hormonelle Hauptdarstellerin des zweiten Aktes: Das Sexualhormon Progesteron wird von der leeren Follikelhülle der gesprungenen Eizelle gebildet. Man nennt diese auch Corpus luteum oder Gelbkörper. Progesteron bewirkt den Umbau der Gebärmutterschleimhaut zu einem wohligen Nest für die befruchtete Eizelle. Es verdickt den Zervixschleim wieder – denn Spermien sind ab sofort nutzlos in der Gebärmutter –, bewirkt eine Steigerung der Basaltemperatur um 0,2 bis 0,5 °C, entspannt die Gebärmuttermuskulatur und wirkt schwangerschaftserhaltend, sofern eine Schwangerschaft eingetreten ist. Sinkt der Progesteronspiegel wieder, weil sich keine befruchtete Eizelle eingenistet hat, ist dies der Auslöser für die nächste Periodenblutung. Ein neuer Zyklus beginnt.
Damit du dir die wichtigsten Veränderungen im Zyklus besser vorstellen kannst, habe ich dir eine Illustration vorbereitet.
Der Menstruationszyklus© Mascha Greune
In dieser Illustration tauchen noch zwei weitere Hormone auf, die ich eben schon erwähnt habe: das follikelstimulierende Hormon (FSH) und das luteinisierende Hormon (LH). FSH sorgt, wie sein Name schon sagt, für die Reifung der Eibläschen (Follikel) im Eierstock. LH wiederum löst den Eisprung aus. Beide Hormone werden in der Hypophyse, der Hirnanhangdrüse, gebildet. Ihre Ausschüttung wird aus der obersten Schaltzentrale im Gehirn, dem Hypothalamus, über zwei Hormone gesteuert, das Gonadotropin-Releasing-Hormon (GnRH) und das Gonadotropin-Inhibiting-Hormon (GnIH). Darüber hinaus können weitere Hormone einen Einfluss auf diesen Regelkreis haben, wie etwa die Stress- und Schilddrüsenhormone oder das die Pubertät anstoßende Hormon Kisspeptin. Aber hier mache ich mal einen Punkt. Du willst ja kein*e Endokrinolog*in werden, sondern die Grundzüge des Menstruationszyklus verstehen, damit du die verschiedenen Funktionsweisen von Verhütungsmitteln durchschaust. Merken solltest du dir vor allem dies: Sensibel aufeinander abgestimmte Signalgeber zwischen den Eierstöcken und dem Gehirn regulieren die Hormonausschüttung, die zum Eisprung führt und den Zyklus in seinem natürlichen Rhythmus hält. Dein ganzer Körper ist also involviert.
Die Hypothalamus-Hypophysen-Ovar-Achse© Mascha Greune
Der Menstruationszyklus in vier Jahreszeiten
Manche Menschen, die auf den Wechsel der Sexualhormone überempfindlich reagieren, wie beim prämenstruellen Syndrom (PMS) oder der prämenstruellen dysphorischen Störung (PMDS), können unter dieser Sensibilität auch leiden. In meinem Buch Mein PMS und ich greife ich unter anderem das Bild von den vier Jahreszeiten des Zyklus auf. Denn es verdeutlicht wunderbar eindrücklich mögliche emotionale und energetische Veränderungen im Zyklus. Wenn du Lust hast, lass dich auf eine Fantasiereise mit mir ein, wie sich ein bewusstes Zykluserleben anfühlen kann:
Wir starten im inneren Winter, der Zeit der Menstruation. Der Körper sehnt sich nach Ruhe und Geborgenheit. Du lümmelst vielleicht gerne auf dem Sofa herum, schläfst mehr als sonst und genießt am Wochenende lieber ein gutes Buch, als im Club nebenan Party zu machen. Menschen treffen, vor allem Fremde und dann auch noch Small Talk halten, strengt dich unfassbar an. Nun ist Selbstfürsorge gefragt, Zeit nur für dich allein und die eigenen Gedanken. Denn diese können ganz schöne Kapriolen schlagen, sich als Selbstzweifel zeigen, aber auch als wertvolle Reflexion über die vergangenen Wochen. Nimm die Selbstzweifel wahr, aber nicht zu ernst. Deine Intuition ist jetzt deine Superkraft, daher kann eine Rückschau gewinnbringend und heilsam sein: Was lief gut? Was lief weniger gut? Was fällt leicht? Wie lassen sich Hindernisse in Zukunft besser aus dem Weg räumen? Was tut gut? Jetzt dürfen sich Körper und Geist erholen. Denn der nächste Frühling kommt schon bald und dafür dürfen die Batterien gern aufgeladen sein.
Im inneren Frühling, der Follikelphase, erwacht neue Lebensenergie und löst die Intuition als Superkraft ab. Du hast wieder Lust, dich mit Menschen zu umgeben, kommunizierst oder flirtest gerne. Du verwandelst kreative Ideen in konkrete Projekte und stürzt dich ins Leben. Je näher der Eisprung rückt, desto mehr trägt dich deine Schöpferkraft. Du scheinst keine Grenzen mehr zu kennen, aber Achtung: Jede Zyklusphase hat ein Tempolimit.
Zur Ovulation, deinem inneren Sommer, fühlst du dich unschlagbar gut und legst eine Performance hin wie Lady Gaga auf der Bühne: dynamisch, verrückt und unwiderstehlich. Selbst introvertierte Personen gehen nun mehr ins Außen. Mit Ausdauer, Überzeugungskraft und Charme führst du erfolgreich Vertragsverhandlungen und meisterst unangenehme Gespräche, ohne zu viele Federn zu lassen. Deine Ovulation lässt dich strahlen und dieses Strahlen spürst du im Inneren wie im Äußeren. Deine Superkraft ist pure Attraktivität und Freude. Im Frühling und Sommer scheint es manchmal keine Sorgen zu geben – und auf jeden Fall gibt es jetzt kein PMS.
Der Menstruationszyklus in vier Jahreszeiten© Marie Pascale Gafinen
Danach wird es ruhiger, oder sagen wir, darf es wieder ruhiger werden. Denn mit der Lutealphase kehrt der innere Herbst ein. Leute treffen und plaudern mag sich von Tag zu Tag müßiger anfühlen. Manch eine*r denkt sich vielleicht: Hätte ich in den letzten Wochen bloß weniger Projekte begonnen … Teilweise überfordern dich nun alltägliche Aufgaben. Dein Bedürfnis wechselt von Networking zu Netflix. Bei Menschen, die vom PMS betroffen sind, zeigen sich nun die ersten Symptome, und diese werden oft schlimmer, je näher die Menstruation rückt: Unterbauchschmerzen, Krämpfe, Kopfschmerzen, Heißhunger, Durchfall, Pickel, Stimmungsschwankungen, Reizbarkeit, tiefe Traurigkeit, Ängste, Erschöpfung und vieles mehr. Mit dem ständigen »höher, schneller, weiter« deiner Umwelt willst du vielleicht gar nicht mehr mithalten. Und das ist auch gut so. Denn es tut dir nicht gut. Mit Eintritt der Menstruation schwinden die PMS-Symptome. Vielleicht begleiten dich Krämpfe oder ein Unwohlsein, vielleicht bist du auch ganz in Liebe und Wohlwollen mit dir und erlebst einen goldenen Herbst. Deine Superkraft liegt nun in der Verbindung zu dir selbst, die dir ganz genau sagt, was du jetzt brauchst. Nähre deinen Körper mit ausreichend Schlaf, ausgewogener Ernährung, sanfter Bewegung und Entspannung. Du weißt ja: Der nächste Frühling steht bald vor der Tür.
Die fruchtbare Phase
Wann genau im Zyklus kann man eigentlich schwanger werden? Immer? Nur in der Mitte des Zyklus? Jeden zweiten Tag? In einer bestimmten Woche? Aber mal ganz von vorn: Das große Zeitfenster, in dem Menschen mit gesunder Gebärmutter und Eierstöcken überhaupt schwanger werden können, öffnet sich mit der Menarche, der ersten Menstruationsblutung, und schließt sich mit der Menopause, der allerletzten Blutung. Korrekterweise sollte man sagen, dass bereits ungefähr 2 Wochen vor der Menarche die Fruchtbarkeit beginnt, denn vor der Blutung erfolgt schließlich der Eisprung. Im Durchschnitt haben Pubertierende ca. 2 Jahre nach Beginn dieser im Alter zwischen 10 und 16 Jahren ihre erste Menstruation. Die Menopause erreichen Europäer*innen im Schnitt mit 51 Jahren, wobei die mögliche Altersspanne hier sehr weit ist. Summa summarum sprechen wir im Normalfall aber von knapp 40 Jahren, in denen Verhütung für Menstruierende relevant ist.
Schon gewusst?
Menschen, die Spermien bilden, sind ab der Pubertät bis zu ihrem Lebensende zeugungsfähig – und das jeden Tag.
Die Annahme oder Furcht vieler Menschen, dass Menschen im gebärfähigen Alter tickende Fruchtbarkeitsbomben sind, stimmt allerdings nicht. Damit ein Mensch schwanger werden kann, braucht es vor allem eines: Timing. Denn zwei Akteur*innen müssen in einer exakt definierten Zeitspanne aufeinandertreffen: eine gesunde Eizelle, die frisch gesprungen ist, und eine funktionstüchtige Samenzelle, die seit weniger als fünf Tagen in der Gebärmutter umherirrt. Ihr »Meet & Greet« – oder besser: »Meet & Melt«? – findet im Eileiter statt. Das muss zügig über die Bühne gehen. Die Samenzelle hat in der Regel nach dem Eisprung zwischen 12 und 16 Stunden, jedoch allerhöchstens 24 Stunden Zeit, die Eizelle zu erobern, bevor diese ihr Verfallsdatum erreicht. Rechnet man die Überlebensfähigkeit von Spermien im weiblichen Körper hinzu, die maximal fünf Tage beträgt, ergibt sich eine fruchtbare Phase von sechs Tagen pro Zyklus.
Nach der Befruchtung wird die Eizelle durch die rhythmischen Bewegungen des Eileiters über mehrere Tage in den Gebärmutterkörper transportiert. Dort schlägt sie schließlich in der hoch aufgebauten Gebärmutterschleimhaut Wurzeln und macht es sich gemütlich. Für den weiteren Schwangerschaftserhalt ist das Progesteron, das im Gelbkörper gebildet wird, verantwortlich, bevor das Schwangerschaftshormon Humanes Choriongonadotropin, kurz HCG, das von der Plazenta produziert wird, zum Einsatz kommt. Damit alles seinen Lauf nimmt, sind neben dem Timing weitere Faktoren wichtig, wie die Eizell- und Spermienqualität, die Anzahl und Beweglichkeit der Spermien, die Durchlässigkeit der Eileiter (beeinträchtigt z.B. durch Infektionen oder Endometriose), die Funktionsfähigkeit des Gelbkörpers, die Anatomie von Gebärmutter und Eileiter, genetische Faktoren, oder Begleiterkrankungen und ein einigermaßen gesunder Lebensstil.
Plötzlich erscheint das Risiko, schwanger zu werden, gar nicht mehr so übermäßig groß und unberechenbar, oder? Aber bitte verstehe diese Anmerkung nicht als Freifahrtschein für Sex ohne Verhütung, sondern vielmehr als Hilfestellung zur bewussten Auswahl einer Methode.
Ach, du wusstest das alles schon? Mega. Dann hat sich dein Wissen nun verfestigt und du fühlst dich bestärkt. Und wenn du vorher noch nie was von all dem gehört hast, ist es auch nicht schlimm. Da bist du in bester Gesellschaft. Vermutlich wurdest du nicht gut aufgeklärt, wie die meisten von uns. Was mir die perfekte Überleitung zum nächsten Abschnitt bietet. Denn …
Über Sex spricht man nicht. Oder doch?
Sex sells. Ich kenne keinen Blockbuster ohne ihn. Offensiv, freizügig und geprägt von absolut unrealistischen Vorstellungen davon, wie Sex auszusehen hat, gespickt mit einer Prise sexueller Gewalt und Sexismus. Damit sich diese Szenen nicht weiter in den Köpfen (nicht nur) junger Menschen als Darstellungen von »echtem Sex« festsetzen, braucht es unbedingt eine gute Aufklärung und Austausch. Schauen wir uns einmal genauer an, wie in Familie, Schule und Internet Sexualität thematisiert wird – oder auch nicht.
Aufklärung in der Familie
In vielen Familien wird auch heute noch über Sexualität nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen. Dabei hat der allgemeine gesellschaftliche Umgang mit Sexualität gerade in den letzten Jahrzehnten einen starken Wandel erlebt, hin zu mehr Toleranz und der Akzeptanz sexueller Vielfalt, zumindest in meiner Bubble. Mir ist schon klar, dass der Soll-Zustand von vorurteilsfreier Offenheit noch lange nicht erreicht ist, aber die Vielfalt wird immer sichtbarer und der Dialog darüber salonfähiger.
Dennoch scheint es weiterhin nicht ins Weltbild vieler Erwachsener zu passen, Sexualität im Gespräch mit Kindern zu thematisieren. Da schrillen sofort die Alarmglocken. Man will die Kleinen ja nicht traumatisieren. Dabei ist sexuelle Aufklärung enorm wichtig für ein positives Körpergefühl, und zwar bereits im Kleinkindalter. Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass Kinder nur dann ein positives Körpergefühl entwickeln können, wenn sie aufgeklärt aufwachsen. Dazu gehört auch zu wissen, dass es völlig normal ist, sexuelle Bedürfnisse zu haben. Und diese verspüren schon Babys. Natürlich heißt das nicht, dass man mit einem dreijährigen Kind genauso wie mit einem 13-jährigen Teenie über Sex reden sollte. Oder gar Kindern ungefragt ein Gespräch über Sex aufdrückt, das es womöglich überfordert. Man sollte sich jedoch dem Kind gegenüber aufgeschlossen zeigen, wenn es selbst nach mehr Wissen verlangt, und dieses altersgerecht verpacken. Die Begriffe Vulva, Vagina und Penis sind dabei zeitlos FSK 0 und dürfen meiner Meinung nach immer beim Namen genannt werden.
Zumeist ist es die eigene Scham, die uns in Gesprächen über Sexualität im Wege steht und die wir, ohne es zu wollen oder zu bemerken, auf unsere Kinder übertragen. Höchste Zeit, diesen Teufelskreis endlich zu unterbrechen. Bist du dabei?
In Filmen wird des Öfteren suggeriert, dass Aufklärung an einem einzigen Tag passiert. Meistens setzt sich das gleichgeschlechtliche Elternteil mit dem pubertierenden Kind zusammen und erklärt, was Sex ist und dass man dabei auf Verhütung achten muss, um keine Schwangerschaft zu riskieren. Dem Teenie ist das Gespräch total unangenehm. Nicht selten fallen Sätze wie: »Boah, echt jetzt? Das weiß ich doch alles schon. Du bist so peinlich.« Die erwachsene Person ist erleichtert und das Thema ist vom Tisch. Ein Musterbeispiel für Scham, auf beiden Seiten. In den meisten Fällen sorgen wir in alltäglichen Situationen, in denen über Sexualität gesprochen werden kann, selbst für Befangenheit, weil unsere eigene Scham wie ein rosa Elefant im Raum steht. Zu den großen Herausforderungen einer modernen Erziehung gehört es meiner Meinung nach eben auch, den eigenen hemmenden Tabuzonen mit einem offenen Geist zu begegnen und sie bestmöglich zu enttabuisieren. Ich weiß nur zu gut, dass das nicht leicht ist. Aber es lohnt sich.
Mein Tipp:
Fällt es dir übermäßig schwer, deine Scham abzubauen, oder hattest bzw. vermutest du traumatische Erlebnisse in deiner Vergangenheit? Dann ermutige ich dich, dir professionelle Unterstützung zu suchen.
Wie geht sexuelle Aufklärung in den unterschiedlichen Lebensphasen nun genau? Ich bin keine Sexualpädagogin, habe mir jedoch als wissbegierige Person, Mutter und Gynäkologin sehr viele Gedanken zu diesem Thema gemacht und unzählige Bücher durchforstet. Diese Erkenntnisse und Empfehlungen haben mich überzeugt, von Beginn an der Sexualität meiner Kinder Raum zu geben und sie möglichst wertfrei und zugleich schützend zu begleiten. Denn ihre Erkundungen fangen bereits im Säuglingsalter an, z. B. bei der täglichen Körperhygiene. Lass körperliche Nähe und Wärme zu. Lass sie sich selbst berühren, damit sie spüren können, wie sich ihre Körperteile anfühlen. Achte nur darauf, dass sie sich oder andere nicht dabei verletzen. Tabuisiere keine Körperteile, etwa mit Sätzen wie: »Der Pipimann ist eklig, den fasst man nicht an.« Ganz im Gegenteil, es hat beim Penis sogar eine medizinische Relevanz, dass die Vorhaut durch das Kind erkundet wird, nämlich um mögliche Verklebungen zu lösen. Wähle auch keine irreführenden Verniedlichungen oder Fehlbezeichnungen, wenn du eigentlich die Vulva oder den Penis meinst. Wenn meine Tochter mit Fragen auf mich zukommt, bemühe ich mich, ihr ehrliche Antworten in altersgerechter Sprache zu geben. Lass dein Kind unbefangen in Kontakt mit seiner Sexualität gehen. Gib ihm nicht das Gefühl, etwas Falsches zu machen. Doktorspiele im Grundschulalter etwa zeugen von einer gesunden Neugier.
Vielmehr darfst du bedenken, was in diesem Rahmen okay ist: nämlich Neugierde und Konsens – und was nicht: nämlich die Grenzen der anderen Kinder überschreiten, die eigenen Grenzen überschreiten lassen oder Dinge in Mund, Nase, Ohren, Vagina, Penis oder Popo einführen. Stopp heißt Stopp.
Um damit komme ich endlich zu meinem zentralen Thema, denn in diesem geschützten Raum darfst du dann auch frühzeitig die erste Periode, Samenergüsse und Verhütung ansprechen. Wer gut informiert ist über die natürlichen körperlichen Veränderungen der Pubertät inklusive aufblühender Sexualität und Hormonchaos, erlebt diese Lebensphase als eine deutlich weniger unangenehme Überraschung. Das gilt auch für das »erste Mal«, das safe und im Konsens geschehen soll und entgegen den Erfahrungen der meisten Menschen, mit denen ich darüber gesprochen habe, auch Spaß bringen kann.
Natürlich ist mir bewusst, dass sich das offene Gespräch umso schwieriger gestalten kann, je älter die Heranwachsenden sind, da sie in der Phase der Abgrenzung während der Pubertät aktiv ihre Privatsphäre suchen und auch einfordern, was ausgesprochen wichtig ist für ihre persönliche Entwicklung. Es scheint außerdem die Bestimmung von Eltern zu sein, in irgendeiner Phase ihres Elternseins von ihren Kindern als mehr oder weniger peinlich abgestempelt zu werden. Wurde allerdings schon im Vorfeld ein vertrauensvolles Verhältnis zu den Kindern aufgebaut, wissen diese, dass sie sich immer an ihre Eltern wenden können, egal mit welchem Thema.
Schutz vor sexueller Gewalt
Ein Aspekt, den ich bei all der Aufklärerei essenziell finde und der dir vielleicht nicht gleich auf den ersten Blick in den Sinn kommt: Eine frühzeitige Aufklärung schützt Kinder und Jugendliche nicht nur vor unrealistischen, teils gewaltverherrlichenden Darstellungen von Sexualität und ungesunden Körperidealen in den Medien. Sie bietet zudem den besten Schutz vor sexueller Gewalt und sexuellen Übergriffen. Denn wer informiert und aufgeklärt ist, weiß um die Grenzen des eigenen Körpers und verfügt über das Wissen und den Mut, in solchen Szenarien NEIN zu sagen. In Deutschland wird jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von physischer und/oder sexualisierter Gewalt.3 Die Dunkelziffer liegt deutlich höher. Die meisten Übergriffe ereignen sich im Kindes- und Jugendalter und im familiären Umfeld. Der Bundesverband Frauen gegen Gewalt e.V. schätzte auf Grundlage von Erhebungen zwischen 2004 und 2014, dass nur zwischen 5 und 15 % aller Vergewaltigungen angezeigt werden.4 Ich finde diese Zahlen alarmierend. Weltweit sieht die Situation nicht besser aus. Mit Aufklärung können wir aktiv gegen sexuelle Gewalt vorgehen und Schutz bieten, unseren Kindern und uns selbst.
Wenn du Opfer von sexueller Nötigung oder Gewalt wurdest, kannst du das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen unter der Nummer 116 016 oder online rund um die Uhr anonym und kostenfrei erreichen.
Aufklärung in der Schule