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Gwen muss bei ihrer Mutter nach dem Rechten sehen. Die Mutter schreibt in jedem ihrer Briefe, wie wunderbar der neue junge Untermieter und Drehbuchautor Luke ist, wie unverzichtbar in ihrem Leben und im Haus. Die Tochter ist überzeugt, dass Luke die Gefühle seiner Mutter nur ausnutzt. Sie wird Luke einfach aus dem Haus werfen. Aber als sie das erste Mal Augen auf den zwölf Jahre älteren Mann legt, ist die Dreiundzwanzigjährige fasziniert. Sie verliebt sich unrettbar in den Mann, den auch ihre Mutter liebt
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Seitenzahl: 211
Nora Roberts
Solange die Welt sich dreht
Roman
Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Jud
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
1. KAPITEL
Das Taxi kam wegen des starken Verkehrs am Flughafen nur langsam voran. Gwen Lacrosse spürte die drückende Hitze Louisianas, und obwohl die Fenster an beiden Seiten heruntergekurbelt waren, traten ihr leichte Schweißperlen auf die Stirn. Die Julisonne brannte genauso heiß wie vor zwei Jahren, als sie von zu Hause weggegangen war.
Das Taxi verließ die Innenstadt von New Orleans in südliche Richtung. Nein, dachte Gwen, hier hat sich wirklich nichts geändert. Nur ich bin anders geworden.
Von den Bäumen, die die Allee säumten, hing das Spanische Moos wie ein dichter grüner Schleier herab, sodass die Sonnenstrahlen gedämpft hindurchdrangen. Sanfter, süßer Blütenduft erfüllte die Luft. Gwen hatte fast vergessen, wie träge und müßig die Nachmittagsstunden hier waren – ganz im Gegensatz zu der hektischen Betriebsamkeit New Yorks.
Ja, sagte sie sich wieder, ich bin es, die sich gewandelt hat. Ich bin erwachsen geworden.
Sie war einundzwanzig Jahre alt gewesen, als sie Louisiana verlassen hatte. Aber sie war immer noch wie ein staunendes, unschuldiges Kind gewesen. Nun war sie dreiundzwanzig und fühlte sich selbstbewusst und erfahren. Gwen hatte als Assistentin der Mode-Redakteurin einer Frauenzeitschrift gelernt, mit beruflichen Schwierigkeiten fertig zu werden. Sie hatte nervöse Mannequins beruhigt und dafür gesorgt, dass die Ablieferungstermine für die Manuskripte pünktlich eingehalten wurden. Sie hatte es sogar geschafft, sich außerhalb des Berufes einen Freundeskreis aufzubauen. Doch zunächst hatte sie erfahren müssen, dass es nicht leicht ist, allein in einer fremden Stadt ohne die beruhigende Gewissheit zu leben, in der Familie und der vertrauten Umgebung geborgen zu sein.
In den ersten Monaten in New York hatte sie unter Heimweh gelitten. Sie hatte sich unsicher und verlassen gefühlt. Doch das ging vorüber. Gwen hatte die Verpflanzung aus dem sonnigen Süden in die kalte Atmosphäre der großen Stadt nicht nur unbeschadet überstanden, sie hatte sogar Erfolg gehabt. Nun war sie heimgekehrt, und das nicht nur für einige Urlaubswochen, sondern um eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Mit einer entschlossenen Geste verschränkte sie die Arme über der Brust.
Der Taxifahrer hatte sie im Rückspiegel beobachtet. Er betrachtete ihr zartes ovales Gesicht und das blonde lockige Haar. Besonders anziehend fand er die großen braunen Augen seines Fahrgastes, die allerdings seltsam ernst auf irgendeinen entfernten Punkt schauten. Die vollen, weich geschwungenen Lippen waren fest zusammengepresst, die Stirn war gerunzelt. Gwen ahnte nicht, dass sie beobachtet wurde. Sie sah auch nichts mehr von der Landschaft, durch die sie fuhren. Sie war vollkommen in Gedanken versunken.
Wie konnte eine siebenundvierzig Jahre alte Frau nur so schrecklich naiv sein? Warum machte sie sich zum Narren? Mama ist immer unpraktisch und verträumt gewesen, überlegte Gwen, aber nun geht es zu weit! Es ist alles seine Schuld, die Schuld von Luke Powers. Gwens Zorn wuchs, während sie an diesen Mann dachte. Sie wusste, dass er ein erfolgreicher Autor war, der mehrere Romane und Drehbücher verfasst hatte. Er galt als viel umschwärmter, aber standhafter Junggeselle und Weltenbummler. Doch für sie war er nichts als ein Schmarotzer, ein fünfunddreißigjähriger widerwärtiger Playboy.
Aber nun hat die Affäre mit meiner Mutter ein Ende, dachte sie entschlossen. Ich werde ihn hinauswerfen. In Gedanken kostete sie bereits aus, wie es sein würde, Luke Powers aufzufordern, seine Koffer zu packen und aus dem Haus ihrer Mutter zu verschwinden. Recherchen für ein neues Buch – dass ich nicht lache. Er kann seine Studien treiben, wann und wo er will, nur Mama soll er dabei in Ruhe lassen!
Mit besorgter Miene erinnerte sie sich an die Briefe, die sie in den letzten drei Monaten empfangen hatte. Luke Powers’ Name fand sich auf jeder Seite. Er hatte im Garten geholfen. Er hatte ihre Mutter ins Theater eingeladen oder ihr ein interessantes Buch gebracht. Er hatte kaputte Steckdosen repariert. Er war eben in jeder Hinsicht unentbehrlich geworden.
Anfangs war Gwen die häufige Erwähnung des Namens kaum aufgefallen. Sie war an die Begeisterungsfähigkeit ihrer Mutter gewöhnt. Außerdem hatte sie ihre eigenen Probleme. Gwen seufzte, als sie mit einer Mischung aus Kummer und schlechtem Gewissen an Michael Palmer dachte.
Michael, der so vernünftig und gescheit war, so zuverlässig, korrekt und selbstbewusst, hatte mehr von ihr erwartet und mehr verdient, als sie zu geben bereit war. Er verlangte ihre Liebe mit der Konsequenz totaler Hingabe – und sie hatte sich ihm verweigert. Während ihre Beziehung zu Michael gescheitert war, hatte sie in ihrem Beruf Karriere gemacht.
In den Augen der meisten Leute war die Welt der Mode etwas Aufregendes, Glänzendes. Schöne, elegante Mannequins besuchten eine Party nach der anderen und heirateten reiche Männer. Gwen hätte bei diesem Gedanken fast laut aufgelacht. Sie hatte erfahren, wie die Wirklichkeit aussah. Es war eine harte, nervenaufreibende Arbeit mit den temperamentvollen Fotografen, die die Besten auf ihrem Gebiet waren. Es gab viele allzu anspruchsvolle, ehrgeizige Mannequins, und man war ständig dem Zeitdruck von Terminen ausgeliefert.
Ich bin tatsächlich mit allem gut fertig geworden, stellte Gwen selbstzufrieden fest. Nun fürchte ich mich weder vor anstrengender Arbeit noch vor irgendwelchen Herausforderungen. Meine einzige Aufgabe ist es jetzt, meine Mutter vor einem Playboy wie Luke Powers zu beschützen.
An der Straße, die zu Gwens Elternhaus führte, standen üppig blühende Magnolienbäume. Als das Taxi in die Einfahrt einbog, sah sie voll freudiger Erwartung hinaus.
Sie blickte zum obersten Stockwerk des weißen Ziegelhauses mit der vorgebauten Veranda und den schmiedeeisernen Balkons hinauf. Das Erdgeschoss des anmutigen Gebäudes enthielt vier winzige Apartments für die Mieter, die ihre Mutter nach wie vor als »ihre Gäste« bezeichnete. Die Miete, die diese Gäste zahlten, machte es möglich, das Haus der Familie zu erhalten und die notwendigen Reparaturen ausführen zu lassen.
Gwen war seit ihrer Kindheit an die wechselnden Bewohner gewöhnt. Es gab nur selten Ärger mit ihnen. Aber nun bewohnte Luke Powers eines dieser Apartments.
Nicht mehr lange! schwor sich Gwen. Das Taxi hielt, und sie stieg aus. Nachdem sie den Fahrer bezahlt hatte, wandte sie sich dem Haus zu. Ein gleichmäßiges, dumpfes Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit, und sie sah unwillkürlich in die Richtung, aus der es kam. Hinter einer blühenden Kamelie fällte ein Mann eine abgestorbene Eiche. Sein Oberkörper war nackt, die Jeans umspannten schmale Hüften. Arme und Rücken waren sonnengebräunt und schweißtriefend. Sein volles braunes Haar lockte sich feucht im Nacken.
Die Bewegungen des Mannes verrieten Vertrauen in die eigene Kraft und Tüchtigkeit. Er schwang die Axt mühelos. Obwohl Gwen sein Gesicht nicht sehen konnte, erriet sie, dass ihm seine Arbeit Spaß machte. Bewundernd sah sie den sparsamen, kraftvollen Bewegungen des fremden Mannes zu. Die Axt fuhr in die Mitte des Stammes, und Gwen lächelte unbewusst voll stummer Anerkennung, als die Eiche langsam und knarrend zu Boden sank.
»Gut gemacht!«, rief sie.
Er hob den Arm, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, und wandte sich dabei zu ihr um. Die Sonne stand nun in seinem Rücken. Gwen kniff die Augen zusammen, doch sie konnte trotzdem sein Gesicht nicht klar erkennen, weil das Licht sie zu sehr blendete. Der hoch gewachsene, sehnige Körper des Mannes und das dichte, lockige Haar wurden von den Sonnenstrahlen vergoldet.
Er sieht wie ein Gott aus, dachte Gwen unwillkürlich. Wie ein primitives Götzenbild männlicher Kraft und Stärke. Während sie ihn stumm ansah, lehnte er die Axt an den Baumstumpf und kam auf sie zu. Er bewegte sich wie ein Mensch, der mehr daran gewöhnt war, auf Sand oder Gras zu gehen als auf Asphalt.
Gwen hatte die Augen mit der Hand beschirmt und sah ihm entgegen. »Ich hoffe, es hat Sie nicht gestört, dass ich Ihnen zugeschaut habe.«
»Nein. Zumal Sie anerkannt haben, dass ich gute Arbeit geleistet habe.«
Er spricht ohne den hier üblichen Südstaatenakzent, stellte sie überrascht fest. Aber sie vergaß es im gleichen Augenblick, als sie sein Gesicht klar erkennen konnte. Es war ein fein geschnittenes, schmales Gesicht mit einer Andeutung von Grübchen im Kinn. Die klaren Augen musterten sie mit einer fast beunruhigenden, gelassenen Überlegenheit. Die kraftvolle Ruhe, die dieser Blick ausstrahlte, nahm sie so gefangen, dass sie wie gelähmt einfach nur dastand. Sie war sich beinahe sicher, dass er auch ohne Worte wusste, was sie dachte.
»Ich habe bestimmt noch nie jemandem zugesehen, der einen Baum mit solcher Leichtigkeit fällte. Ist es für so eine anstrengende Arbeit nicht viel zu heiß?« Sie lächelte ihm zu. Er wirkt distanziert, dachte sie, aber nicht abweisend oder gefühllos.
»Sie sind nur viel zu warm angezogen«, erwiderte er ruhig und musterte sie von oben bis unten. Als er ihr wieder ins Gesicht sah, verriet seine Miene weder Geringschätzung noch Bewunderung. Gwen wich seinem Blick nicht aus. Sie hoffte nur, dass man ihr ihre Verlegenheit nicht ansah.
»Ich war natürlich für eine Flugreise angezogen und nicht, um im Garten zu arbeiten.« Es klang ein wenig gereizt, und sie sah, dass er belustigt lächelte. Seine Augen ruhten aufmerksam auf ihr. Sie wandte sich um, doch ehe sie ihr Gepäck aufnehmen konnte, war er schon neben ihr. Sie berührte seine Hand am Koffergriff. Es war, als ob sie einen elektrischen Schlag erhielt, und sie fuhr zurück.
Ich benehme mich geradezu kindisch, stellte sie ärgerlich fest. Absolut lächerlich.
Er betrachtete sie mit einer aufmerksamen Gelassenheit, die sie noch mehr verunsicherte. Sie erriet, dass er in ihren Augen jede Gefühlsregung las und richtig deutete.
»Danke«, sagte sie endlich, als sie ihre Fassung zurückgewonnen hatte. »Ich will Sie aber nicht von der Arbeit abhalten.«
»Ich hab Zeit.« Er hob die schweren Koffer mühelos hoch. Gwen passte sich seinen Schritten an, während sie nebeneinander über den Plattenweg aufs Haus zugingen. Selbst in den hochhackigen Pumps reichte sie ihm nur knapp bis zu den Schultern.
»Sind Sie schon lange hier?«, erkundigte Gwen sich, nachdem sie die Verandastufen erklommen hatten.
»Einige Monate.« Er setzte einen Koffer ab und griff nach der Klinke. Doch er öffnete die Tür noch nicht. Er stand und studierte wieder so aufmerksam ihr Gesicht, als ob er es sich für alle Zeit einprägen müsste.
»In Wirklichkeit sind Sie viel hübscher als auf Ihrem Foto, Jenny«, stellte er ruhig fest. »Viel weicher und verletzlicher.« Gleich darauf hatte er die Tür aufgestoßen und trug das Gepäck hinein.
Eine leise Ahnung ließ sie wie erstarrt stehen bleiben. Doch es dauerte nur eine Sekunde, dann lief sie hinter ihm her und griff nach seinem Arm. »Woher kennen Sie meinen Kosenamen? So nennt mich niemand außer …« Sie unterbrach sich mitten im Satz. Sie fühlte sich ihm gegenüber so wehrlos. Er wusste zu viel, und er durchschaute sie viel zu rasch.
»Ihre Mutter spricht dauernd von Ihnen. Sie ist sehr stolz auf Sie.«
Er stellte die Koffer in der weiß tapezierten Diele ab, legte zwei Finger unter ihr Kinn und hob es leicht empor. Sie musste ihn ansehen. »Die Schönheit Ihrer Mutter ist allerdings ganz anders als Ihre. Sie ist fraulicher, nicht so herausfordernd, sondern eher besänftigend. Würde ein Mann bei Ihnen Ruhe oder Trost finden?«
Er wandte den Blick nicht von ihrem Gesicht. Gwen verspürte eine sonderbare Erregung, die sie stumm machte. »Ihre Mutter hat sich um Sie geängstigt, weil Sie in New York so allein sind.«
»Man kann dort gar nicht allein sein«, wandte sie ein. »Sie hat mir übrigens nie geschrieben, dass sie sich Sorgen macht.«
»Natürlich nicht. Sie wollte vermeiden, dass Sie sich deswegen Gedanken um sie machen.« Er lächelte.
Verwirrt bemerkte Gwen, dass sie die Berührung seiner Finger durchaus genoss. »Sie kennen meine Mutter offenbar sehr gut«, begann sie, um gleich darauf erschrocken zu verstummen. Die endgültige Erkenntnis war niederschmetternd. »Sie sind Luke Powers.«
»Ja.« Das hinreißende Lächeln machte einer erstaunt fragenden Miene Platz. »Gefällt Ihnen etwa mein letztes Buch nicht?«
»Ich habe eher etwas gegen Ihr nächstes Buch einzuwenden«, erwiderte sie scharf und drehte den Kopf so abrupt, dass er die Finger zurückziehen musste.
»Ach ja?« Er verhehlte seine Belustigung und Neugierde nicht.
»Genauer gesagt, ich habe etwas gegen die Tatsache einzuwenden, dass Sie es hier schreiben, im Haus meiner Mutter.«
»Gibt es irgendwelche moralischen Einwände, ich meine, gegen das Thema, Jenny?«
»Ich bezweifle, dass Sie überhaupt wissen, was Moral ist.« Sie blickte ihn mit zornig blitzenden Augen an. »Außerdem wünsche ich nicht, dass Sie mich mit diesem Namen ansprechen. Das Recht hat nur meine Mutter.«
»Wie schade. Ich finde, Jenny klingt so romantisch. Haben Sie womöglich auch etwas gegen Romanzen einzuwenden?«
»Wenn sie sich zwischen meiner Mutter und einem Hollywood-Casanova abspielt, ganz gewiss. Zumal, wenn er um Jahre jünger ist als sie. Ich habe allerdings eine andere Bezeichnung dafür.«
»Ich verstehe«, meinte er nachdenklich. »Würden Sie mir verraten, wie Sie eine solche Beziehung nennen würden?«
»Ich möchte mich mit Ihnen darüber nicht länger unterhalten. Es genügt wohl, wenn ich Ihnen erkläre, dass ich diese Beziehung nicht länger dulde.« Gwen drehte ihm den Rücken zu.
»Ach, wirklich nicht?« Es klang beinahe drohend. »Hat denn Ihre Mutter gar nichts zu bestimmen?«
»Meine Mutter ist viel zu gütig, zu vertrauensvoll und reichlich naiv.« Gwen sah ihn wütend an. »Ich lasse es nicht zu, dass Sie sie lächerlich machen.«
»Meine liebe Gwen, sind Sie nicht selbst gerade dabei, sich lächerlich zu machen?«
Ehe sie ihm antworten konnte, vernahm sie das Klappern von hohen Absätzen auf den Holzstufen der Treppe. Sie bezwang ihren Zorn und ging ihrer Mutter entgegen.
»Mama!« Sie ließ sich liebevoll umarmen.
»Jenny!« Annabelle Lacrosse sah ihre Tochter zärtlich an.
»Ach Mama«, wiederholte Gwen gerührt und löste sich ein wenig aus Annabelles Armen, um in das vertraute Antlitz zu blicken. Der Teint war immer noch rosig und makellos, die großen blauen Augen schimmerten glücklich, die vollen weichen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und ließen zwei Grübchen erscheinen. »Hast du meinen Brief nicht bekommen?«
»Natürlich. Du schriebst, dass du am Freitag ankommen würdest.«
Gwen küsste ihre Mutter auf die Wange. »Heute ist Freitag, Mama.«
»Ja, das weiß ich. Aber ich dachte, du meintest den nächsten – ach, Liebling, was spielt das für eine Rolle.«
Sie hob beschwichtigend die Hand. »Lass dich anschauen.« Annabelle trat einen Schritt zurück und musterte ihre Tochter prüfend. Sie erblickte ein schlankes, hoch gewachsenes schönes Mädchen, das ihr die Erinnerung an ihren verstorbenen Mann zurückbrachte. Sie war nun schon zwanzig Jahre verwitwet und hatte ihn fast vergessen. »Du bist viel zu dünn«, meinte sie schließlich. »Isst du etwa nicht genug?«
»Nicht immer«, gestand Gwen und betrachtete lächelnd die etwas füllige Figur ihrer Mutter. Man sah ihr wirklich nicht an, dass sie bald fünfzig Jahre alt werden würde. »Du siehst gut aus. Du hast dich überhaupt nicht verändert.«
Annabelle lachte. Es klang jung und fröhlich. »Das macht das Klima. Wir haben hier nicht den schrecklichen Smog oder die eisigen New Yorker Schneestürme.« Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie einen Zuschauer hatten. »Oh, Luke. Haben Sie Gwen schon begrüßt?«
Er streifte Gwens Gesicht mit einem flüchtigen Blick. »Ja. Wir sind schon beinahe alte Freunde.«
»Das stimmt. Wir kennen einander bereits recht gut«, meinte Gwen vieldeutig.
»Das freut mich«, warf Annabelle arglos ein. »Ich habe es mir gewünscht, dass ihr beide euch gut verstehen würdet.« Sie streichelte ihre Tochter liebevoll. »Möchtest du dich zunächst frisch machen oder willst du lieber erst Kaffee trinken?«
»Kaffee wäre wunderbar.« Sie vermied es, Luke anzusehen.
»Ich werde Ihre Koffer hinaufbringen«, bot er an.
»Vielen Dank, mein Lieber«, rief Annabelle, ehe Gwen Nein sagen konnte. »Gehen Sie nur möglichst Miss Wilkins aus dem Weg, ehe Sie Ihr Hemd wieder angezogen haben. Ich weiß nicht, ob sie dem Anblick von so viel Männlichkeit gewachsen ist.« Sie lachte fröhlich. »Miss Wilkins ist eine meiner Gäste«, erklärte sie Gwen, während sie mit ihr zur Küche ging. »Ein liebes, schüchternes Wesen, das Aquarelle malt.«
»Ach ja?«
Gwen wandte sich zu Luke um, der am Fuß der Treppe stehen geblieben war und ihnen nachsah. Durch die Fenster fiel das Sonnenlicht auf sein Haar und den braungebrannten Oberkörper. »Aquarelle malt sie?«, fragte sie mechanisch. Dann ging sie mit raschen Schritten weiter.
Auch in der Küche hatte sich nichts verändert. Sie war geräumig, sonnig und wie immer makellos sauber. Tillie, die hagere Köchin, stand am Herd.
»Tag, Miss Gwen«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. »Der Kaffee ist gleich fertig.«
»Hallo, Tillie.« Sie ging zu ihr und strich ihr sacht über die runzelige Wange. »Wie geht’s dir?«
»Man muss zufrieden sein«, murrte die Köchin. Doch sie strahlte vor Freude über die liebevolle Begrüßung. »Aber Sie sind viel zu mager geworden.«
»Das hab ich schon mal gehört.« Sie lachte, denn Tillie nahm nie ein Blatt vor den Mund. »Du hast einen Monat Zeit, mich wieder zu verwöhnen.«
»Ja, ist das nicht wunderbar?«
Annabelle deckte den Kaffeetisch. »Gwen bleibt volle vier Wochen bei uns. Wir sollten eine Party geben. Im Augenblick habe ich drei Gäste. Da ist als erster Luke, dann Miss Wilkins und Mr Stapleton. Er ist ebenfalls Künstler. Er malt Ölgemälde. Ein recht begabter junger Mann.«
Gwen nutzte die Bemerkung ihrer Mutter sofort aus, um das Thema in die von ihr gewünschte Richtung zu lenken. »Mr Powers soll ja ein unerhört talentierter Schriftsteller sein.« Sie blickte nicht auf, als Annabelle ihr Kaffee einschenkte.
»Luke ist geradezu einmalig begabt«, erwiderte sie mit einem stolzen Lächeln. »Du hast doch bestimmt eines seiner Bücher gelesen oder einen der Filme gesehen, für die er das Drehbuch schrieb? Sie haben mich förmlich überwältigt. Die Charaktere in seinen Werken wirken so lebendig und überzeugend. Die Liebesgeschichten sind von einer so zarten Schönheit, dass man weinen könnte.«
»In einem der Filme tritt eine nackte Frau auf!«, warf Tillie missbilligend ein. »Vollkommen nackt!«
Annabelle lächelte ihre Tochter über den Rand der Kaffeetasse an. »Tillie macht hauptsächlich Luke für die mangelnde Moral im Theater und in den Filmen verantwortlich.«
»Keinen Faden am Leib«, murrte Tillie vorwurfsvoll.
Obwohl Gwen Luke Powers moralische Qualitäten ebenfalls bezweifelte, äußerte sie sich nicht dazu. Sie bemerkte nur mit betont gleichgültiger Stimme: »Für sein Alter hat er wirklich eine Menge erreicht. Mehrere Bestseller hintereinander und eine Reihe von Filmen, die alle Kassenschlager waren. Dabei ist er doch erst fünfunddreißig?«
»Das beweist doch nur, wie unwichtig das Alter eines Menschen ist«, erwiderte Annabelle mit so viel Überzeugung, dass Gwen zusammenzuckte.
»Dabei ist ihm der Erfolg kein bisschen zu Kopf gestiegen. Er ist der gütigste, freundlichste Mann, dem ich je begegnet bin. Er hat immer Zeit für mich. Ich kann dir gar nicht sagen, wie gut er mir tut. Ich fühle mich wie neugeboren.«
Gwen verschluckte sich, und Tillie klopfte ihr kräftig auf den Rücken, bis sie sich beruhigt hatte. Nach einem Blick in die arglosen Augen ihrer Mutter beschloss sie, das Thema erst einmal fallen zu lassen. »Ich denke, ich werde hinaufgehen und meine Koffer auspacken.«
»Ich helfe dir.«
Annabelle wollte aufstehen, aber Gwen legte ihr rasch eine Hand auf die Schulter. »Es wird nicht lange dauern. Ich möchte erst duschen und mich nach dem Auspacken umziehen. Spätestens in einer Stunde bin ich wieder unten.« Sie hoffte, dass sie ihre Fassung bis dahin wiedergewonnen hätte. Sie fühlte sich plötzlich uralt. »Ich hab dich sehr lieb, Mama«, sagte sie mit einem leisen Seufzer und hauchte einen Kuss auf das duftende Haar.
Auf dem Weg in ihr Zimmer machte sie sich klar, dass sie mit Worten bei ihrer Mutter offenbar nichts ausrichten konnte. Um ihre Beziehung zu Luke Powers zu beenden, musste sie wohl zu stärkeren Mitteln greifen. Auf alle Fälle war er die treibende Kraft. Sie fand keine Bezeichnung, die der Rücksichtslosigkeit dieses Mannes gerecht wurde.
2. KAPITEL
Helles Sonnenlicht fiel durch die zarten weißen Gardinen in Gwens Zimmer.
Sie trat ans Fenster, zog die Vorhänge zurück und stieß die Fensterflügel weit auf. Der Duft der Blüten drang bis zu ihr hinauf. Am Ende des Rasens stand eine uralte Zypresse mit graugrünem Moosbehang. Sie erschien Gwen wie ein Wächter, der das Haus beschützt. Die Sonnenstrahlen umspielten den Baum und warfen filigranartige Muster auf die grüne Rasenfläche. Vogelgesang und Bienensummen erfüllten die Luft. In der Ferne schimmerte das geheimnisvolle Blaugrün eines Mississippi-Armes durch die Laubkronen hindurch.
New Yorks überfüllte, lärmende Straßen waren vergessen. Gwen hatte die Herausforderung der großen Stadt bereitwillig auf sich genommen, aber nun genoss sie die Heimkehr wie eine Belohnung. Sie spürte erst jetzt, wie sehr ihr das Zuhause gefehlt hatte. Erleichtert und getröstet wandte sie sich vom Fenster ab. Nachdem sie sich rasch ausgezogen hatte, zog sie sich einen leichten Morgenmantel über und lief ins Badezimmer.
Mama sieht wieder einmal alles in viel zu rosigem Licht, stellte sie fest. Die starken Wasserstrahlen wuschen alle Reisemüdigkeit von ihr ab. Gwen genoss die Dusche, aber ihre Gedanken kreisten weiter um Annabelle. Sie schätzt die Männer immer falsch ein. Und ich? fragte sie sich gleich darauf, als ihr Michael einfiel. Nein, über ihn wollte sie jetzt nicht nachdenken.
Ich werde nicht zulassen, dass dieser Luke Powers meiner Mutter Kummer macht. Er ist es gewöhnt, dass ihm die Frauen nachlaufen. Aber ich habe mit zu vielen eitlen, erfolgsverwöhnten Männern zu tun gehabt. Ich werde auch mit ihm fertig!
Erfrischt und mit neuem Selbstvertrauen, summte sie leise vor sich hin, während sie sich trockenrieb. Nachdem sie den Morgenmantel übergezogen und den Gürtel verknotet hatte, ging sie über den Flur in ihr Zimmer zurück.
»Was suchen Sie hier?«, rief sie überrascht. Luke Powers stand mit dem Rücken zur Tür vor dem Spiegeltisch. Er drehte sich ohne Hast zu ihr um und schaute sie gänzlich unbekümmert an. Ihm schien zu gefallen, was er sah. Der Morgenmantel reichte Gwen nur bis zu den Knien. Ihr zierlicher Körper zeichnete sich unter dem dünnen Stoff deutlich ab. Das Gesicht, ohne eine Spur von Make-up, wirkte zart, die Augen waren größer und dunkler als sonst.
»Annabelle meinte, Sie würden sich über die Rosen freuen!« Er deutete auf die schlichte Vase mit den nur halb erblühten rosafarbenen Blumen. Nur seine Hand hatte sich bewegt, sein Blick blieb auf Gwens Gesicht gerichtet.
»Warum haben Sie mich nicht gerufen?«
»Das habe ich ja getan. Aber Sie haben mich wohl nicht gehört.« Er trat unerwartet rasch auf sie zu, hob die Hand und streichelte sacht ihre Wange. »Sie haben eine unbeschreiblich zarte Haut. Wie die Blätter einer Rose nach einem Regenschauer.«
»Lassen Sie das.« Gwen hatte sich von ihrer Überraschung erholt und stieß seine Hand weg. »Fassen Sie mich nicht an.«
Lukes Augen verengten sich, doch seine Antwort klang völlig gelassen. »Ich berühre gern alles, was ich schön finde.«
»Sie sollen mich gar nicht schön finden!«
»Das habe ich auch nicht gesagt!« Sein belustigtes Lachen verstärkte noch seine Anziehungskraft. »Ich habe nur erklärt, dass ich Ihren Teint schön finde.«
»Lassen Sie jedenfalls die Hände von mir. Und in Zukunft bitte auch von meiner Mutter. Kann ich das von Ihnen erwarten?« Gwen glaubte, noch immer die Wärme seiner Berührung auf ihrer Haut zu spüren.
»Wie kommen Sie auf die Idee, dass Ihre Mutter und ich …?« Er hob ein Parfümfläschchen an die Nase und schnupperte daran.
»Ihre Briefe waren deutlich genug.« Sie riss ihm das Fläschchen aus der Hand und stellte es achtlos auf den Tisch zurück. »Seit Monaten handeln sie fast nur von Ihnen. Dass Sie mit ihr ins Theater oder zum Einkaufen gefahren sind. Dass Sie das Auto repariert haben oder die Pfirsichbäume mit Pflanzenschutzmittel behandelt haben. Und dass Sie vor allem ihrem Leben neuen Auftrieb geben!«
»Und aus all dem haben Sie geschlossen, dass Annabelle und ich etwas miteinander haben?« Es blieb sekundenlang still im Zimmer.
»Nun ja, natürlich.« Sein ironischer Ton hatte sie aus der Fassung gebracht. Was amüsiert ihn so? fragte sie sich. Um seine fein geschnittenen Lippen zuckte es, als müsste er das Lachen zurückhalten. Gwen reckte das Kinn in die Höhe. »Streiten Sie es etwa ab?«
Luke steckte die Hände in die Hosentaschen und spazierte durch das Zimmer. Vor dem Fenster blieb er stehen und betrachtete die Aussicht.
»Nein, warum sollte ich? Ich erkläre Ihnen einfach, dass es Sie nichts angeht, und sonst sage ich nichts dazu.«
»Mich nichts angeht?« Sie stotterte vor Erregung. »Aber sie ist doch meine Mutter.«
»Vor allem aber ist sie sie selbst, eine eigenständige Persönlichkeit«, sagte er und wandte sich zu ihr um. »Oder haben Sie darüber nie nachgedacht?«
»Ich finde nicht, dass …«
Er schnitt ihr das Wort ab. »Nein, offensichtlich haben Sie es wirklich nie getan. Aber es ist höchste Zeit, dass Sie einmal über Ihre Mutter nachdenken. Ich bezweifle, dass Sie Annabelle jemals um ihre Einwilligung bitten, wenn Sie eine Beziehung zu einem Mann anfangen.«
»Das ist doch etwas völlig anderes!«, empörte sich Gwen. Sie stellte sich direkt vor ihn hin und sah hoch zu ihm. »Sie brauchen mir nichts über meine Mutter zu erzählen, Sie nicht! Sie können so viele Affären mit Schauspielerinnen oder meinetwegen auch mit Damen der Gesellschaft haben, wie Sie möchten, aber …«
»Danke«, unterbrach er sie wieder. »Ich freue mich über Ihre Großzügigkeit.«