Solange du deine Füße... - Walter Schmidt - E-Book

Solange du deine Füße... E-Book

Walter Schmidt

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  • Herausgeber: Eichborn
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Kinder können einen wahnsinnig machen. Und plötzlich ertappt man sich bei einem Spruch, den man selbst schon als Kind gehört - und vor allem gehasst hat. Was steckt hinter unseren Erziehungsfloskeln? Wenn sie wenigstens nützen würden ... Oder schaden und verletzen manche nur? Welche Werte geben wir damit tatsächlich weiter? Und welche Erkenntnis über mich als Erzieher kann ich daraus gewinnen?

Walter Schmidt diskutiert mit Experten 60 typische Elternsprüche und zeigt die verschiedenen Möglichkeiten, eingefahrene Verhaltensweisen zu ändern. Ein Buch, das auf unterhaltsame Weise Eltern dazu einlädt, über sich und die großen und kleinen Fragen des Lebens nachzudenken. Und so manche Floskel dann doch endlich auf die Müllhalde zu werfen.

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Seitenzahl: 403

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WALTER SCHMIDT

SOLANGE DUDEINE FÜSSE …    

Was Erziehungsfloskelnüber uns verraten

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Soweit notwendig, wurden in den Fallbeispielen Namen und Angaben, die Rückschlüsse auf die Identität der in diesem Buch genannten Personen zulassen würden, zum Schutz der Persönlichkeitsrechte geändert.

Originalausgabe

Copyright © 2014 by Eichhorn Verlag in der Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Dr. Ines Lauffer, Frankfurt Umschlaggestaltung: Jeannine Schmelzer Umschlagmotiv: © shutterstock/alexkatkov/Obak/Madlen E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-8387-5297-6

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für meine Eltern, die – solange sie lebten – nur mein Bestes wollten und ihr Bestes gaben. Und für meine Tochter, dieihrBestes hoffentlich einmal selbst finden wird.

Inhalt

CoverTitelImpressumWidmungOMAS HAMMERWARUM WIR DIE EIGENEN ELTERN NACHBETENNEUNMALKLUGE ELTERNDu wirst uns noch mal dankbar sein!Euch geht es viel zu gut!Von mir hast du das aber nicht!Für Sex bist du noch viel zu jung!Frag mir keine Löcher in den Bauch!Du bist schön genug!Wir wollen ja nur dein Bestes!Du hast doch etwas Besseres verdient!Schäm dich!So gehst du mir aber nicht aus dem Haus!Pass auf, sonst wächst du noch am Handy fest! Du hängst ja nur noch vorm Computer rum!GEFAHRENVon Fremden nimmt man nichts an!Sei bloß vorsichtig!Bleib weg von der Spinne!Wo hast du dich wieder herumgetrieben?Das ist pfui, lass das liegen!Dafür bist du noch zu klein!BENEHMENJetzt reiß dich mal zusammen!Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst …!Eine Ohrfeige hat noch niemandem geschadet!Was sollen denn die Nachbarn denken!Das hätte ich mal zu meinem Vater sagen sollen!Sei schön brav!Sag’s aber nicht deiner Mutter!Muss ich erst schimpfen?Soll ich das dem Papa sagen?Wie heißt noch mal das Zauberwort?Geh sofort auf dein Zimmer!Beeil dich!Sei pünktlich!Man muss immer schön die Wahrheit sagen!Kannst du denn keine Ordnung halten?Bist du zu deinen Freunden auch so frech?Sei nicht so faul und pack mit an!ESSENEin Löffel für Mami, ein Löffel für PapiIss, damit du groß und stark wirst!Gegessen wird, was auf den Tisch kommt!Den Teller isst man leer!Mit vollem Mund spricht man nichtAnderswo hungern die Kinder, und du wirfst dein Pausenbrot weg!TRÖSTENDavor musst du doch keine Angst haben!Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen!Die Drei ist die Eins des kleinen MannesMan darf nie aufgeben!Auch andere Mütter haben schöne TöchterWegen sowas brauchst du doch nicht zu weinen!ERFOLGDein Bruder kann das längst!Aus dir wird nie etwas!Wenn du nicht genug schläfst, leidet die Schule darunter!Nimm endlich die Schule ernst!Lerne lieber was Anständiges!Ohne Fleiß kein Preis!Du musst dich halt anstrengen!Mach erst schön die Hausaufgaben!Lehrjahre sind keine Herrenjahre!VERMÖGENÜber Geld spricht man nicht!Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach!Gib nicht immer alles aus!Haste was, biste was!WO SOLL DAS NUR ENDEN?MEIN DANK …ANMERKUNGEN

OMAS HAMMER

Wenn ich selber früher Sprüche von Erwachsenen nicht ausstehen konnte, dann vor allem einige meiner Großmutter. Besuchte ich sie wieder einmal, für ihren Geschmack natürlich viel zu selten, holte sie rasch zu einem ihrer üblichen Donnerschläge aus: »Wie hast du denn überhaupt den Weg noch zu mir gefunden!« Ein Fragezeichen verbietet sich, denn eine Frage war es nicht. Es lief fast immer gleich ab: Ich klingelte, Oma schlurfte zur Haustür und öffnete sie, musterte mich kurz und sagte dann zum Beispiel: »Ja, erkennst du mich denn überhaupt noch?« Oder auch: »Weißt du denn noch, wer ich bin?« Statt sich über mein ersehntes Auftauchen zu freuen, versetzte sie mir schon an der Haustür kunstvoll einen Gewissensbiss, so dauerhaft wie ein Tattoo. Es nervte und führte nur dazu, dass ich mir bis zum nächsten Besuch bei Oma noch mehr Zeit ließ, wodurch ihre Begrüßungssprüche noch kläglicher klangen, was wiederum meine Lust, sie zu besuchen … Aber Sie wissen schon!

Verrückt nur, dass ich über dreißig Jahre später selbst bisweilen versucht bin, meine Tochter so ähnlich zu empfangen. Sie ist jetzt 15 und lebt bei ihrer Mutter, und vor allem ist sie seit Menschengedenken in der Pubertät – was soll ich da noch viele Worte verlieren. Jugendliche stehen nicht morgens auf und beginnen sogleich damit, sich nach ihren Eltern zu verzehren. Sie interessieren sich auch mehr für ihre Mitesser als dafür, mitzuessen, wenn die Mahlzeit auf dem Tisch dampft. Auch einem Vater, der woanders wohnt, rennt man in diesem Alter nicht hinterher, selbst wenn man ihn mag. Die interessanteren Männer sind nun mal deutlich jünger, auch wenn sie mehr Pickel haben, aber dafür auch noch alle Haare.

Immerhin ist mir bisher noch keiner von Omas Sprüchen über die Lippen gekommen. Nur gedacht habe ich den einen oder anderen: klammheimlich, ein wenig gekränkt und vor allem entsetzt über mich selbst. Denn was nachdenkliche Eltern verstören kann und gerne auch darf, ist ihre Neigung, die eigenen Kinder mit denselben Maximen und Ermahnungen zu traktieren, denen sie selbst früher ausgesetzt waren und die mit der Zeit zu eingefleischten Familienregeln geworden sind. Wenn es gut läuft, wehren sich unsere Söhne und Töchter erst einmal dagegen und denken später im Stillen darüber nach. Viele Redensarten sind schließlich auch hilfreich oder haben zumindest einen wahren Kern.

Doch weder sagen Eltern nur vernünftige Dinge, noch tun sie es immer auf faire Weise. So sind wir Menschen halt, und oft ist das auch nicht weiter schlimm. Doch mit manch unbedachter Floskel können auch liebevolle Eltern ein Kind sehr kränken oder nachhaltig verunsichern. Und leider wachsen nicht wenige Jungen und Mädchen in Elternhäusern auf, in denen mit überaus heiklen oder auch hinterhältigen Sprüchen regelrecht manipuliert und zurechtgebogen wird, was nicht passend oder unbotmäßig erscheint. Öfter, als man denkt, müssen Kinder dabei noch für Demütigungen büßen, die ihren Eltern bereits von den Großeltern zugefügt worden sind. Auf diese Weise muss sich so mancher junge Mensch noch heute hinter die Ohren schreiben, was schon dem Opa eingebläut worden ist – oder sogar dem Urgroßvater. Nicht nur Geld und Häuser werden vererbt.

Die meisten Kinder, selbst ältere, nehmen sich sehr zu Herzen, was wichtige Bezugspersonen zu ihnen sagen. Im Guten können wir unserem Nachwuchs auf diese Weise Liebe, Kraft und Rückhalt einpflanzen. Doch leider prägen sich gerade problematische Erziehungsfloskeln den Kindern leicht ein und können zur lebenslangen Bürde werden – wie bei einer Bekannten aus dem Rheinland, deren Vater seinen Kindern immer wieder den düsteren Spruch »Wer nicht arbeitet, bekommt auch nichts zu essen!« vorhielt. Wie auch immer der Mann das gemeint haben mag: Schon als Vorschulkind malte sich das Mädchen aus, dass es wohl verhungern müsse, wenn es zu Hause nicht ausreichend mithalf. Und zu tun gab es auf dem Bauernhof der Eltern unentwegt etwas. Der Spruch ist über die Kinderjahre hinaus zum inneren Antreiber geworden. Noch heute, mit über fünfzig Jahren, macht die Industriekauffrau die Worte ihres Vaters dafür verantwortlich, sich bei der Arbeit oft zu überfordern und manchmal krank vor Stress zu sein. »Wer möchte schon gerne verhungern«, sagt sie im Rückblick auf ihre Kindheit. Hätte ihr Vater das seinerzeit doch nur gewusst! Denn schaden wollte er ihr sicher nicht.

Nur das Beste wird sich auch die Mutter Elvira Weibelmanns für ihre Kinder gewünscht haben. Ihre wiederholte Mahnung »Sein Herz darf man nicht überanstrengen!« hat einen tiefen Eindruck bei ihrer Tochter hinterlassen. Das ist auch kein allzu großes Wunder, denn sowohl die Großmutter als auch die Mutter der ängstlichen Mittsechzigerin aus dem Ruhrgebiet sind tatsächlich einem Infarkt erlegen – wenn auch nicht, weil ihre Herzen schon in Kindertagen durch Rennen oder Herumtollen überfordert worden wären. Weibelmann sucht häufig Ärzte auf, denkt oft an den Tod und sagt von sich, sie selbst habe »noch keinen« Herzinfarkt gehabt, was so klingt, als werde einer sie irgendwann ereilen. Immerhin weiß sie, dass der Spruch der Mutter zu ihrer Krankheitsfurcht ganz wesentlich beigetragen hat. Es gibt schönere Andenken an die Eltern.

WARUM WIR DIE EIGENEN ELTERN NACHBETEN

Gute Eltern und erfolgreiche Erzieher brauchen weniger pädagogisches Wissen als Selbsterkenntnis und ein damit übereinstimmendes Handeln.

Hans-Joachim Maaz, Die narzisstische Gesellschaft. Ein Psychogramm1

Arbeit habe »noch niemandem geschadet«. Das ist einer der Sprüche, deren Bärte ungefähr so lang sind wie die Liste von Argumenten, die man gegen sie vorbringen könnte. Man denke hier nur an die Folgen von Zwangsarbeit oder die Herzinfarkte übermäßig leistungsorientierter Väter, die Kinder zu Halbwaisen gemacht haben. Und dennoch rutscht einem die Floskel schon mal selbst heraus, wenn man die Faulheitsattacken seiner Kinder rasch parieren möchte und keine eigenen Worte findet. Sogleich erinnert man sich dann daran, den Spruch mehr als einmal gehört zu haben: aus Mutters oder Vaters Mund oder auch vom alten Nachbarn, der ein strenger Schulmeister gewesen war. Nicht nur ewige Wahrheiten, falls es sie denn gibt, sondern auch Fragwürdiges und Schiefes haben halt irgendwo ihre Wurzeln.

Doch welcher Teufel reitet einen da eigentlich, wenn man auf altbackene Sprüche zurückgreift? Zunächst einmal ist es bequem, sich auf das zu stützen, was man eh schon weiß und glaubt verstanden zu haben. Unser Hirn spart gerne Energie, wo es doch so viel davon verbraucht bei seiner Arbeit Tag für Tag. Oft wiederholte Wendungen haben sich mit der Zeit ins Gehirn gefräst, sind eingängig geworden wie Hohlwege, auf denen Fuhrwerke jahrhundertelang durch die Landschaft rumpelten und dabei immer tiefere Rillen im Boden hinterließen. Freilich darf man sich einen verinnerlichten Elternspruch nicht als Furche in unserem Denkorgan vorstellen, sondern eher als Netz von Nervenzellen, die durch häufigen Gebrauch innig miteinander verschaltet sind und immer dann gemeinsam aktiv werden, wenn wir nach einem guten Argument suchen. Sehr treffend nennt der Sprichwort-Forscher Wolfgang Mieder die fix und fertig abgespeicherten Sprüche oder Redensarten »strategisch eingesetztes, vorformuliertes Weisheitsgut«, auf das wir bei passender Gelegenheit oder mangels besserer Einfälle sehr gerne zurückgreifen.2

Dieser Rückgriff läuft umso eher automatisch ab, je erregter wir sind. Denn unter Stress fällt es unserem Gehirn sehr schwer, Probleme kreativ zu lösen; es behilft sich stattdessen mit bewährten Strategien wie Flucht oder Kampf, wobei stammesgeschichtlich ältere Hirnteile besonders aktiv sind. Wenn unser Sohnemann uns also gehörig auf die Palme bringt mit einer patzigen Antwort, schwillt uns nicht nur leicht die Zornesader, sondern wir geben Sprüche zum Besten, die uns selbst schon bald darauf ziemlich abgedroschen vorkommen. Dasselbe passiert aus Angst, wenn unser Töchterchen auf dem Gehweg oder im Stadtpark plötzlich losspurtet, weil es auf der dicht befahrenen Straße oder am Wegesrand unglaublich Interessantes entdeckt hat. Dann rutscht uns eben ein schrilles »Bleib schön stehen!«, ein hingezischtes »Lass das liegen!« oder ein überängstliches »Fass die tote Maus nicht an!« heraus. Solange wir unsere Kinder lieben und sie das spüren, ist das auch nicht tragisch. »Solche Sprüche sind von den Eltern erst einmal gut gemeint, denn sie wollen ihre Kinder ja schützen«, sagt die Psychologin Elfriede Billmann-Mahecha von der Universität Hannover. »Außerdem ist es gut für Kinder, wenn sie klare Ansagen bekommen, nur muss man ihnen diese auch immer gut begründen.« Später und vor allem in der Pubertät überprüfen Kinder die von den Eltern übernommenen Haltungen ohnehin, legen manche davon ab und ersetzen sie durch andere.

Für Pubertierende gehört es selbstverständlich zum guten Ton, sich möglichst vielem zu widersetzen, was ihre Eltern daherbeten. Man darf das getrost gelassen sehen, denn wie man von sich selber weiß, wirkt das Vorbild der Eltern immer nach, auch wenn einzelne ihrer Weisheiten abgelehnt werden. Nicht selten brechen sich später ausgerechnet solche Sprüche wieder Bahn, die lange belächelt und mit Macht verdrängt worden sind. Gerade das, wogegen man sich ständig wehrt, bleibt wirksam und liegt griffbereit zur Hand, wenn man die eigenen oder gelegentlich auch fremde Kinder maßregeln möchte. Doch dieses für Söhne und Töchter so nervige Nachbeten abgedroschener Floskeln kann ja auch gute Seiten haben – dann nämlich, wenn die betreffenden Sprüche sinnvoll sind und junge Menschen unterm Strich ganz ordentlich auf das Leben vorbereiten. Dass zum Beispiel »noch kein Meister vom Himmel gefallen« sei, ist als Maxime nicht die schlechteste.

Dennoch schadet es nicht, sich klar darüber zu werden, was wir, im Guten wie im Schlechten, anrichten können mit unseren Sprüchen, genauer: mit der Haltung hinter ihnen, ganz gleich, ob wir unsere Tochter vor den Gefahren beim Erklimmen hoher Mauern warnen wollen oder unserem fünfjährigen Sohn vorhalten, für dieses oder jenes sei er »einfach noch zu klein« – denn vielleicht nimmt er sich unseren Kommentar so sehr zu Herzen, dass ihm für manche Herausforderungen des Lebens immer der Mut fehlen wird. Und vor allem sollte uns das Ziel vor Augen stehen, unseren Kindern zu zeigen, wie sie zu eigenen Werturteilen gelangen können. Denn es geht am Ende eben nicht darum, unsere Überzeugungen weiterzugeben, sondern unseren Sprösslingen zu ihren eigenen zu verhelfen. Hilfreich sei deshalb, in der Schule wie im Elternhaus, eine »Erziehung zum Werten«, meint der Bonner Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin. Was sollen unsere Kinder auch anfangen mit Werten und sogenannten Weisheiten, die sie selbst nicht teilen? Und die ihnen dann nicht helfen, wenn sie vor unbekannten Aufgaben stehen? Moderne Pädagogen täten also gut daran, Kinder nicht mit regelhaften Sprüchen für letztlich unvorhersehbare Situationen auszustatten. Vielmehr gelte es, junge Menschen zu befähigen, sich als selbstständig denkende Individuen in unvertrauten Situationen zu bewähren. »Dazu benötigt man keine Sprichwörter, also kein Regelwissen, sondern Urteilskraft«, findet Ladenthin.

Der Freiraum, nervige Vorgaben der Eltern offen hinterfragen zu dürfen, ist für ältere Kinder unverzichtbar, um zu wirklich mündigen Erwachsenen heranzureifen. Nur so können sie eine persönliche, zu ihnen passende Moralität entwickeln. Wer hingegen Merksätze der Eltern wie »Ehrlich währt am längsten« oder »Brave Kinder tun das nicht« zeitlebens artig befolgt, sei »auf der Skala moralischer Urteilsfähigkeit eher niedrig einzustufen«, meint auch der Psychologe Georg Lind von der Universität Konstanz. Solche geistig eher starren, zumindest aber bequemen Menschen gerieten zudem immer wieder in Konflikt mit anderen moralischen Anforderungen, die »kaum vernünftig lösbar sind«. Denn aus ihrer Sicht sollen die übernommenen Gebote der Eltern ja »unbedingt gültig« sein und »keinerlei Ausnahmen erlauben« – nicht gerade ein günstiges Klima für echte Weisheit. Sie zu entwickeln gelingt viel eher Menschen, die sich an den Elternsprüchen zwar orientieren, doch »im Konfliktfall wichtigeren Prinzipien aus guten Gründen den Vorzug geben«, wie Lind es ausdrückt. Solche Zeitgenossen besitzen den Mut und die Urteilskraft, eigene Wertmaßstäbe zu entwickeln«. Die ethisch Souveränen haben ihre Eltern nämlich dort überwunden, wo deren Werte einfach nicht zu ihnen passen.

Das schmeckt manchen Müttern und Vätern natürlich ganz und gar nicht. Gekränkt greifen sie dann zu dem beleidigten Spruch »Aber wir wollen doch nur dein Bestes!«, als ob sie wüssten, was das sein könnte. »Wir meinen viel zu oft, Gutes zu tun, wenn wir ein Gegenüber mit Werturteilen verproviantieren«, findet der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer.3 Dennoch bleibt es schwer auszuhalten, dass unser Nachwuchs unsere Werte nicht einfach dankbar übernimmt. Kinder seien eben »selten so, wie ihre Eltern sie sich gewünscht haben«, was übrigens auch umgekehrt gilt. Dem dürften die meisten Eltern zähneknirschend zustimmen, und dennoch finden viele von ihnen es »schrecklich, die Illusion vollständig aufzugeben, dass etwas von dem, was uns kostbar ist, in unseren Kindern weiterlebt«. Das klingt sehr pessimistisch.

In Wahrheit übernehmen Kinder eine ganze Menge von ihren Erzeugern, auch an Haltungen und Ansichten. Die Saat geht bloß erst später auf – leider auch im Schlechten, indem die Kinder zum Zerrbild ihrer Eltern werden: Dann verjubelt der Sohn des ehrbaren Bankiers all sein Geld, und der Vater, der seinem Jungen seit jeher Sparsamkeit vorgelebt hat, ist dem Verzweifeln nahe. Schmidbauer rät in solchen Fällen davon ab, unserem Sohnemann Lektionen über sinnvolle Notgroschen oder den unterschätzten Zinseszins-Effekt von Spareinlagen zu erteilen. Lieber sollten wir unseren Kindern Geschichten erzählen; darüber nämlich, wie wir selber so sparsam geworden sind, welche Lehren die eigenen Eltern uns erteilt haben und wie das Leben uns dann weiter mitgespielt und dadurch geprägt hat. Auch der entsetzte Bankier sollte bereit zum Zuhören sein; vielleicht würde er so ja erfahren, wie viel Lust es bereiten kann, Geld eben nicht zu horten, sondern sich ab und an etwas spontan zu gönnen – eine schöne Lust, die ein zwanghaft sparsamer Mensch sich zeitlebens mühsam versagt und die er deshalb in seinem Jungen bekämpfen muss: als dunklen »Schatten« der eigenen Seele. So bezeichnete der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung (1875–1961) jene Anteile der eigenen Psyche, die man fürchtet und deshalb verdrängt und regelmäßig in anderen Menschen bekämpft.

Beim Zuhören könnten beide Männer, der junge und der ältere, einander wirklich begegnen, womöglich ja erstmals. Und wer weiß: Am Ende wären beider Blickwinkel geweitet. »Einen Punk im Haus zu haben, der aus seinem Leben erzählt, kann sehr interessant sein«, findet Schmidbauer mit Blick auf Eltern, die sich statt eines grellen Irokesen-Schnitts und diverser Nadel-Piercings lieber einen adretten Jung-Akademiker oder eine Versicherungskauffrau in Nadelstreifen gewünscht haben – Kinder also, aus denen »etwas geworden« ist, wie man so sagt. Dabei kann so vieles aus ihnen werden, das für die Eltern noch unsichtbar ist, und der Schein der frühen Jahre kann am Ende mächtig trügen – bei aufmüpfigen Punks wie bei frisch Promovierten mit angeblich »glänzender Perspektive«.

Was Erziehungsfloskeln über uns verraten ist also nicht nur eine Zeitreise in die eigene Kindheit, in der wir selbst durch typische Elternweisheiten und eingeschliffene Familienregeln geprägt worden sind. Das Buch versteht sich auch als Erkundungstour in den Nebel erzieherischer Ziele, die wir oft sehr unbewusst verfolgen, auch und gerade mit Hilfe altbackener Sprüche. So kann deutlicher werden, was wir als Eltern im Guten wie im Zweifelhaften bezwecken – ein Zugewinn nicht nur an Selbsterkenntnis, sondern auch an Selbstvergewisserung. Denn die Floskeln verraten uns ja nicht nur etwas über unsere verborgenen Sehnsüchte, verdrängten Verletzungen und Ängste, sondern auch über Lebenswerte, an denen wir festhalten möchten, weil sie echte Weisheit in sich tragen.

NEUNMALKLUGE ELTERN

Du wirst uns noch mal dankbar sein!

Das weltweite Netz ist eine aberwitzige Wunderkiste. Zwar findet man darin nicht immer, was man gesucht hat, dafür aber häufig Dinge und Menschen, auf die zu stoßen man nicht im Mindesten hoffte. Auf verschlungenen Pfaden dringt man beispielsweise zu »Momoman12« vor, einem Jugendlichen, der mit 14Jahren in einem Ratgeber-Forum folgendes Problem beschrieben hat:1 »Vor zwei Jahren wollte ich mal ausprobieren, Geige zu spielen, und ich habe meinen Eltern auch gesagt, dass ich es nur ausprobieren möchte. Das erste Jahr war in Ordnung.« Man ahnt bereits, wie es weitergehen wird, und tatsächlich: »Im zweiten Jahr hatte ich schon keine Lust mehr.« Dennoch erschien der Junge regelmäßig zu den Geigenstunden in seiner Schule; seine Miene dabei kann man sich ungefähr vorstellen.

Inzwischen schwänzt er die Streich-Einheiten allerdings. »Ich habe wirklich überhaupt keine Lust mehr, dieses Schei…instrument zu spielen. Meine Eltern zwingen mich aber dazu«, vertraut er dem Internet voller Unmut an. Er selber würde »viel lieber wieder Gitarre spielen«, doch alles, was ihm Spaß mache, werde ihm verboten. »Mein Vater meint, ich soll noch dieses Jahr geigen, dann kann ich aufhören. Meine Mutter sagt, ich soll noch dieses Jahr machen, und im nächsten Jahr schauen wir mal.« Was aber letztlich wohl bedeute, dass er auch im übernächsten Jahr noch wird fiedeln müssen: »Ich kenne meine Mutter!« Dass der Geigenschüler wider Willen »weder Klassik noch Country« mag, sondern eher geigenferne Genres wie »Rock, Hard Rock und jede Art von Metal«, beeindruckt die Eltern offenbar nicht. »Die Argumentation meiner Mutter ist immer: ›Du wirst uns später noch dankbar sein!‹«, und außerdem sei das Ganze auch noch kostenlos. »Bitte helft mir, meine Eltern zu überreden, dass ich Geige aufhören darf.«

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