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Dana Jai

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Beschreibung

"SOLD" erzählt die packende Geschichte der 17-jährigen Sky, die nach dem tragischen Verlust ihrer Eltern in die Fänge eines skrupellosen Menschenhändlerrings gerät. Fortan auf sich gestellt, muss sie sich in einer gefährlichen Welt behaupten, in der nichts so ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Mit jeder Seite enthüllt sich ein Netz aus Intrigen, Verrat und unerwarteten Wendungen, dass die junge Protagonistin bis an ihre Grenzen treibt. Wird sie es letztlich schaffen, ihrem Schicksal zu entkommen und im finalen Showdown als Siegerin hervorzugehen? Oder hat ihr Kampf in Wahrheit gerade erst begonnen? Tauche ein in die düstere Welt von 'SOLD' -dem Auftakt einer fesselnden-Buchreihe und erlebe einen Dark Romance Thriller, der unter die Haut geht!

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Beliebtheit




Dieses Buch ist für euch. Es ist für all jene, die Schmerz und Leid erfahren haben, sei es durch Missbrauch oder das Gefühl eines gebrochenen Herzens. Ihr seid nicht allein.

»Eine Welt, in der die Grenzen zwischen richtig und falsch verschwimmen. In der Sex, Gewalt und Missbrauch die Oberhand gewinnen können. Eine düstere Vorstellung, erschreckend und faszinierend zugleich. Denkst du, du kannst den Unterschied zwischen Verlangen und Manipulation erkennen? Ja? Dann frag ich dich, Kleines, wirst du meine Hand nehmen und mir folgen?«

INHALTSVERZEICHNIS

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Danksagung

PROLOG

Der Regen fiel vom Himmel herab.

Die Tropfen waren so groß, dass sie einem beim Aufprall das Gefühl gaben, in einen Teich gefallen zu sein.

Dunkle Wolken zogen sich über den Himmel und verhüllten die Sonne, während der Tag in einen grauen Schleier gehüllt war. Die Luft war eisig und mein Atem vermischte sich mit dem kalten Nebel, der hier in Ohio hing.

Es war ein perfekter Tag, um im Bett zu bleiben und ein gutes Buch zu lesen oder einen Film anzusehen. Vielleicht einen Klassiker oder einen Film, den man schon lange nicht mehr gesehen hat. Ein Tag, an dem man am liebsten unter der warmen Decke bleiben und dem Alltag entfliehen wollte.

Aber nicht heute. Heute war ein anderer Tag, ein Tag, der nicht leicht zu bewältigen war. Die kalte Luft durchdrang meine Kleidung und ließ mich frösteln. Der Gedanke an ein gutes Buch oder einen Film als Ablenkung war verlockend, aber ich wusste, dass ich heute keine Flucht suchen durfte. Es war nicht der Tag selbst, der mein Herz mit Traurigkeit erfüllte, sondern die Situation, die mich aus meinem Leben riss.

Als ich mich umsah, konnte ich viele Menschen sehen, doch in ihren Gesichtern spiegelte sich die Traurigkeit wider.

Die fröhliche Supermarktverkäuferin mit den bunten Haaren, die normalerweise ein T-Shirt mit einem Regenbogen trug, war heute in schwarz gekleidet und hatte ihr Lächeln verloren. Ihre Haare waren zu einem Zopf geflochten, um die bunte Vielfalt an Farben auf ihrem Kopf zu verbergen. Die Falten auf ihrem Gesicht waren deutlich sichtbar.

Auch unser Gärtner, der sonst immer in kurzen Hosen herumlief, stand wie eine Statue in einem schwarzen Anzug gegenüber von mir. Keine Miene verzog sich auf seinem Gesicht. Freunde, Bekannte, sie alle waren gekommen. Auch mein Gesicht war hier nicht unbekannt, ich war die Tochter einer Schneiderfamilie. Meine Mutter nähte Kleider und mein Vater nahm die Aufträge entgegen.

Wir führten ein gewöhnliches Leben, und die Arbeit meiner Eltern zahlte sich aus. Wir hatten ein schönes großes Haus, einen Pool, Autos und konnten uns sogar einen Gärtner leisten. Warum spreche ich in der Vergangenheit? Nun, kommen wir zu dem Tag, der mein Leben veränderte.

Es war so still.

Ich fühlte mich leer, taub und konnte und wollte nichts um mich herum wahrnehmen. Dennoch bemerkte ich all die Blicke, die auf mir hafteten.

Dieses wehmütige und bemitleidende Gefühl, so etwas hatte ich zuvor noch nie erlebt.

Wenn man sich meine Umgebung ansah, konnte man vieles entdecken.

Sie war mit Blumen bedeckt, viele bunte Blumen wie Rosen und Lilien.

Das Gras war gepflegt und durch den Regen stieg einem der Duft der frischen Wiese in die Nase.

Das war jedoch das Einzige, was hier bunt war. Ich stand in der ersten Reihe, während die Tropfen gegen meinen Regenschirm prallten und das Wasser zur Erde fiel. Ich sah hinab auf das große Loch, das so dunkel und tief war.

Es war so trüb und kalt wie das Wetter. Meinen Blick wandte ich zum Pfarrer, der irgendetwas von sich gab, aber ich konnte seine Worte nicht hören, sie erreichten mich einfach nicht. Es war einer dieser Momente, in denen man einfach aufhört zu leben und zu denken. Man ist zwar physisch anwesend, aber das Leben scheint aus einem herauszufließen. Links von den tiefen Gruben befanden sich zwei prächtig geschmückte Särge. Sie hatten einen hellen Braunton und waren mit Blumenkränzen versehen. Ich beobachtete, wie Männer in schwarzer Kleidung zum Grab schritten und kurz innehielten.

Da war er also, der Moment, in dem ich loslassen musste. Alle Erinnerungen schossen mir auf einmal durch den Kopf. Weihnachten, Ostern, Geburtstage, Familienausflüge, Urlaube - all das gehörte nun der Vergangenheit an.

Wenn einem nichts bleibt, dann zumindest der eigene Verstand und die Erinnerung an all das, was man geliebt und erlebt hat.

Zwei Menschen, die gestorben sind.

Meine Eltern. Sie sind ohne Vorwarnung gegangen, einfach so.

Auf diesen Moment kann dich niemand vorbereiten. Denn wenn er erst da ist, lernst du erst zu schätzen, dass nichts im Leben selbstverständlich ist. Mir wurde erzählt, dass es ein tragischer Autounfall war.

Zumindest laut unserem Officer McLoy, der den Anruf tätigte, der mein Leben für immer aus dem Gleichgewicht bringen sollte.

Ein Moment, der alles verändert hat…

KAPITEL 1

Mein Name ist Sky Atkins, ich bin 17 Jahre alt. Alt genug, um zu wissen, was richtig ist, aber dennoch zu jung, um für mich selbst zu sorgen. Zumindest laut dem Testament meiner Eltern. Es besagt, dass ich erst mit 18 die Wahl habe, allein zu leben oder mich selbst zu versorgen. Aber dazu später mehr.

Ich bin in Ohio aufgewachsen, im Herzen des mittleren Westens Amerikas. Wer schon einmal dort war, weiß, wofür wir berühmt sind: idyllische Natur, American Football und den kalten Eriesee. Meine Familie war wohlhabend, und wir hatten alles, was wir brauchten. Es fehlte uns an nichts.

Als Kind machte ich mir keine Gedanken darüber, denn das war eigentlich Sache meiner Eltern, oder? Ich ging zur High School und war eine gute Schülerin mit großen Plänen. Mein Wunsch war es, Anwältin zu werden.

Warum? Ich denke, weil ich das Recht verteidigen und Menschen helfen wollte. Kurz gesagt, ich wollte zwischen Recht und Unrecht unterscheiden können.

Die Anwaltskarriere schien wie der richtige Weg, um meine Vorstellung von Gerechtigkeit zu verfolgen.

Während andere Jugendliche sich um die neuesten Trends oder die coolsten Partys kümmerten, verbrachte ich meine Zeit damit, in Büchern über Rechtssysteme zu schmökern und mich für Gerichtsverhandlungen zu interessieren.

Meine Eltern hatten mir stets den Wert von Bildung und Selbstständigkeit vermittelt. Doch dann, an einem schicksalhaften Tag, änderte sich alles. Der Autounfall, der nicht nur ihre Leben, sondern auch meine Zukunft auf einen Schlag zerstörte.

Es war ein sonniger Tag, als ich den Anruf von Officer McLoy erhielt, der mir die tragische Nachricht überbrachte. Der Himmel schien blau und sorglos, während meine Welt in einem Augenblick in Dunkelheit getaucht wurde. an.

Wir lebten in einem großen Haus mit einem schönen, weitläufigen Garten. An der Vorderseite befand sich eine typisch amerikanische Veranda mit einer hängenden Bank. Dort konnte ich meine Mutter oft beobachten, wie sie morgens ihre Zeitung bei einer Tasse Kaffee las. Um sie herum blühten unzählige Blumen. Meine Mutter liebte Blumen, jede Art von ihnen, und sie war immer von ihnen umgeben.

Rechts von der Bank hing eine amerikanische Flagge, die bei jedem Windstoß stolz flatterte. Unser Haus, ein modernes zweistöckiges Gebäude, strahlte eine zeitlose Eleganz aus. Der untere Bereich war unserer Küche gewidmet, die eher im Landhausstil gehalten war, da meine Mutter das heimelige Ambiente mochte.

Die Küche war hell und geräumig, mit großen Fenstern, die einen malerischen Blick auf den Garten boten.

Eine kleine Bar für meinen Vater war in einer Ecke eingerichtet, wo er gelegentlich seinen Whiskey trank, während er die Zeitung las. Er trank ihn gerne und hatte daher von jeder erdenklichen Sorte eine Flasche im Regal stehen. Er war jedoch kein Alkoholiker, er genoss seinen Whiskey einfach gerne.

Der Garten erstreckte sich weit hinter dem Haus und war ein wahres Paradies für meine Mutter. Blumenbeete in allen Farben des Regenbogens schmückten den Rasen, und die Vögel zwitscherten fröhlich in den Bäumen.

Eine lange, schöne helle Holztreppe führte zum oberen Stockwerk, wo sich unsere Schlafzimmer befanden. Die Stufen waren von einer angenehmen Wärme durchzogen, während das Sonnenlicht durch die Fenster im Treppenhaus einen goldenen Schimmer auf das Holz warf. Jeder Aufstieg war von einem leisen Knarren begleitet, das dem Haus eine gewisse vertraute Melodie verlieh.

Als Einzelkind genoss ich die Ruhe, die meine eigenen vier Wände im oberen Stockwerk mir boten. Meine Eltern hatten eigentlich keine Kinder geplant, da meine Mutter laut den Ärzten keine Kinder bekommen konnte. Doch das Schicksal hatte andere Pläne. Sie wurde schwanger und nannte mich immer ihr kleines Wunder, und das zauberte mir jedes Mal ein Lächeln ins Gesicht. Sie haben mich geliebt und beschützt, wie es sich jedes Kind wünscht. Mein Schlafzimmer war ein Raum voller Persönlichkeit.

Die Wände waren mit Postern von meinen Lieblingsbüchern und Filmen geschmückt, und ein gemütliches Bett stand im Mittelpunkt.

Das Fenster erlaubte einen Blick auf den Garten. Die Holztreppe, die zu meinem Rückzugsort führte, wurde zu einer symbolischen Brücke zwischen der Welt der Erwachsenen im Erdgeschoss und meiner eigenen kleinen Welt oben.

Die familiäre Atmosphäre, die in jedem Raum unseres Hauses pulsierte, machte es zu einem Ort, den ich nicht nur mein Zuhause, sondern auch mein sicherer Hafen nannte. Doch das alles sollte sich bald ändern, und die Erinnerungen an das Haus und meine Eltern würden einen bitteren Beigeschmack erhalten, der meine Seele für immer prägen sollte.

Während ich über unser Haus und meine Kindheit nachdachte, ging ich gerade zum letzten Mal die Treppen unseres Hauses hinunter. Jeder Schritt schien mir vertraut, doch zugleich fühlte es sich an, als würde ich in eine Vergangenheit hinabsteigen, die nicht mehr existierte.

Die Erinnerungen an Momente wie damals am See, als Dad am Steg ausgerutscht und ins Wasser gefallen ist, strömten lebhaft in meine Gedanken.

Mit meinem Handy in der Hand blätterte ich durch die digitalen Bilder, die ein Mosaik unseres Familienglücks bildeten. Da war der lachende Dad am Grill im Garten, Mom mit ihrem strahlenden Lächeln auf der Veranda, und Gena, unser damaliger Hund, der immer für ein Abenteuer zu haben war. Besonders das Bild von dem Vorfall am See blieb mir im Gedächtnis.

Dad fiel ins Wasser, nass und mit einem verärgerten Blick, während Gena, unser treuer Husky‑ Mischling, bellte und versuchte, ihm aus dem Wasser zu helfen. Die Szene war so typisch für unsere Familie – Momente voller Leben, Liebe und manchmal auch chaotischem Spaß.

Gena dachte wohl, Dad ertrinke, und sprang mit voller Begeisterung ins Wasser. Ihr Hundeverstand sagte ihr, dass sie ihm helfen musste. Dad, anfangs sauer über die nasse Überraschung, konnte schließlich nicht anders, als über den unerwarteten Einsatz unseres treuen Gefährten zu lachen.

Leider mussten wir wenig später unsere Gena einschläfern lassen, da sie Krebs hatte.

Sie wurde nur fünf Jahre alt.

Oder damals, als ich am Weihnachtsmorgen von dem herrlichen Geruch von frisch gebackenen Keksen geweckt wurde. Meine Mutter war eine fabelhafte Bäckerin.

An diesem Tag hatten wir volles Haus, meine Großmutter, Freunde meiner Eltern und meine Freunde waren da. Wir waren eine glückliche kleine Familie. Doch wie in jeder Familie gibt es immer jemanden, der aus der Reihe tanzt.

Tante Claire. Aber von ihr werdet ihr noch einiges hören.

Als ich die letzte Stufe erreichte, schweifte mein Blick nach oben, und ich ließ all die Erinnerungen noch einmal in meinem Kopf abspielen. Ich sah mich als Kind die Holzstufen rauf und runter rennen. Ich sah meine Mutter in ihren Hausschuhen elegant die Treppe hinabgleiten und meinen Vater, wie er mich als krankes Kind die Treppe hinauftrug. Ich erinnerte mich an Gena, wie sie unter der Treppe schlief.

Der Duft von Weihnachtskeksen erfüllte meine Erinnerungen, und ich konnte förmlich den Zauber dieses besonderen Morgens wieder spüren.

Die festlich geschmückten Treppengeländer, die klingelnden Glöckchen am Weihnachtsbaum und das Lachen meiner Familie, das den Raum erfüllte.

Die Geburtstagsfeiern, die wir in der geräumigen Küche veranstalteten. Die Übernachtungspartys, Halloween. Mein Herz wurde schwer, und meine Augen füllten sich mit Tränen. Die Erinnerungen an all die fröhlichen Momente, die dieses Haus einst erfüllten, schienen wie Geister der Vergangenheit, die mich umhüllten und meinen Abschied umso schmerzlicher machten.

Es war keine leichte Situation für mich, und um ehrlich zu sein, wusste ich kaum, wie ich diese bewältigen sollte. Jeder Raum, jeder Winkel schien mit den unsichtbaren Fäden der Vergangenheit durchzogen zu sein, die mich festhielten und gleichzeitig loslassen wollten.

Meine Hand streifte über die glatte Oberfläche des Geländers, als ob ich versuchte, die Vergangenheit zu berühren. Die Erinnerungen waren wie ein doppelschneidiges Schwert – schmerzhaft, weil sie nicht wiederkehren konnten, und gleichzeitig kostbar, weil sie die Essenz meiner Kindheit und Familie verkörperten.

KAPITEL 2

Eine bestimmende, weibliche Stimme riss mich aus meinen Erinnerungen.

»Bist du fertig?«

Sie war keine Unbekannte. Die Dame, die sich hinter mir aufstellte, war eine große, blonde Frau mit einer üppigen Oberweite und einer wunderschönen Figur. Ihre Nägel waren rot lackiert, und sie trug ein knielanges schwarzes Kleid, an dessen Hüfte eine weiße Lilie befestigt war.

Die glatten Haare fielen locker über ihre Schultern, und ihre blauen Augen waren mit Wimperntusche und Kajal betont, um sie besser zur Geltung zu bringen. Ihr Name war Claire. Die einzige Schwester meiner Mutter. Meine Tante.

»Ja, bin ich«, antwortete ich knapp und wandte meinen Blick wieder von ihr ab.

Tante Claire war schon immer eine schwierige Person gewesen. Ihre Präsenz war wie ein Sturm, der Unruhe und Spannung mit sich brachte.

Ich konnte ihre Augen auf mir spüren, obwohl ich mich nicht umdrehte.

Tante Claire war von jeher eine eigenständige Persönlichkeit.

Kinder passten nicht in ihr Leben, und sie machte keinen Hehl daraus, dass sie wenig Geduld für kindliche Unschuld und Spielfreude hatte.

Ihre Kritik an mir war nie konstruktiv, und ich spürte oft, wie ihre kühlen Blicke meinen Weg kreuzten, als würde sie nach Fehlern suchen, die es zu tadeln galt.

Sie war die Tante, die keine Süßigkeiten verteilte, sondern eher einen skeptischen Blick auf die Zahnhygiene warf. Kein Lächeln, das Kinderaugen zum Leuchten bringen konnte, sondern ein Stirnrunzeln, das dazu aufforderte, sich ernsthafter zu verhalten. Für sie waren Kinder eine Herausforderung, die sie am liebsten umging.

Ihre Ehrlichkeit war oft schmerzhaft und man musste lernen, mit ihren scharfen Worten umzugehen und nicht persönlich zu nehmen, was leichter gesagt als getan war.

Sie war bereits etwas älter, 45 Jahre, aber sie sehnte sich immer noch nach ihrer Jugend. Sie war die Art von Frau, die man nicht seinem Ehemann vorstellen wollte - eine Verführerin.

Sobald ein Mann etwas mehr Geld hatte, konnte man darauf wetten, dass Claire an seiner Seite auftauchte. Tante Claire strahlte eine Aura der Sinnlichkeit aus, die manch einen in ihren Bann zog.

Ihr Blick, durchdringend und faszinierend, konnte unvorbereitete Herzen gefangen nehmen. Sie wusste genau, wie sie einem Mann den Kopf verdrehen konnte, und deshalb war sie auch eine Einzelgängerin. Claire hatte keine Freunde und vermied den Kontakt zur Familie, so gut sie konnte. Die Männer wechselte sie ziemlich oft aus.

Bei jeder Feier erschien sie mit einem neuen Begleiter an ihrer Seite. Ihre Partner waren meist jünger als sie, sogar deutlich jünger und sie war eine Meisterin der Verführung. Sie schien sich bewusst von festen Bindungen fernzuhalten, vielleicht aus Angst vor dem Verlust ihrer Freiheit oder aus einem tief verwurzelten Misstrauen gegenüber dauerhaften Beziehungen. Ihre Freiheit war ihr kostbar, und sie hegte eine Abneigung gegenüber jeglichen Verpflichtungen.

»Wir müssen jetzt gehen!«, sagte sie und deutete zur Tür. Ich seufzte leise und folgte ihr widerwillig. Es war an der Zeit, Abschied von unserem Haus zu nehmen, da es zum Verkauf angeboten wird. Ein neues Kapitel würde beginnen, aber ich konnte nicht leugnen, dass ich ein Stück meines Herzens in diesem Haus zurückließ.

»Das Begräbnis fängt bald an, und wir sind schon spät dran, weil du immer trödelst«, fauchte Claire in meine Richtung. Sie stand schon ungeduldig in unserer Einfahrt.

»Das ist mein Elternhaus, und ich bin zum letzten Mal hier. Denkst du nicht, dass es nur verständlich ist, dass ich etwas Zeit brauche, um hier wegzugehen?«

Während ich zur Haustür blickte und einen schweren Kloß im Hals hatte, würgte ich die Worte nur so heraus, denn sie hatte einfach kein Verständnis, und es war, als hätte sie ihrer Schwester gegenüber keinerlei Gefühle empfunden. Tante Claire, in ihrer gewohnten Härte, schien meine Worte kaum zu registrieren.

Als meine Eltern starben, übernahm Claire alles.

Ihr fragt euch bestimmt, warum sie mich zu sich genommen hat, obwohl sie keine Kinder mochte und ich sie offensichtlich auch nicht mochte. Nun, wie bereits erwähnt, war Tante Claire die einzige nahe Verwandte in meiner Familie. Und dann gab es noch eine Sache: Das Familienerbe.

Natürlich wollte Tante Claire mich zu sich nehmen, da sie wusste, dass meine Eltern etwas zu vererben hatten und sie im Testament als meine Bezugsperson genannt war.

Sie wollte auch bei meiner Großmutter einen guten Eindruck hinterlassen, damit diese ihr ebenfalls mit gutem Gewissen einen Teil ihres Erbes überlassen konnte. Sie würde nicht alles bekommen, sondern nur einen Teil. Denn meinen Anteil würde ich erst mit 18 Jahren erhalten, daher war ich auf sie angewiesen. Meine Großmutter war leider zu krank und zu alt, um sich um irgendetwas kümmern zu können.

Sie befand sich im Altersheim, und als meine Eltern noch lebten, besuchten wir sie gelegentlich Es war eine arrangierte Angelegenheit, geprägt von Pflichtgefühl und dem Wunsch, das Familienvermögen zu sichern. Tante Claire war stets darauf bedacht, ihren Status und Einfluss innerhalb der Familie zu festigen. Die Tatsache, dass sie mich aufnahm, war weniger eine Geste der Liebe als vielmehr eine strategische Entscheidung, um ihre Position zu stärken.

Leider konnte sie sich aufgrund ihrer Demenz nicht mehr an mich erinnern, was für mich sehr schmerzhaft war, da ich bei meiner Großmutter als Kind sehr viel Zeit verbracht habe. Mein Großvater starb noch bevor ich auf der Welt war, daher habe ich ihn nie kennengelernt.

Claire protestierte zunächst, als sie erfuhr, dass sie sich um mich kümmern musste. Ihre erste Frage war, ob mich kein Heim aufnehmen konnte. Zum Glück konnten der Anwalt und Officer McLoy sie überzeugen, und sie unterschrieb widerwillig die Obsorge. Nachdem das erledigt war, beschloss sie sofort, mein Elternhaus zum Verkauf zu stellen. Es konnte ihr nicht schnell genug gehen. Wie bereits erwähnt, liebte sie Geld und wusste, wie sie zu Geld kam. Da ich zu dem Zeitpunkt 17 Jahre alt war, bekam Tante Claire einen Anteil des Geldes und rechtfertigte es damit, dass sie für meine Unterhaltskosten aufkommen würde.

»Wir haben nicht ewig Zeit. Wenn du dich nicht beeilst, kannst du allein mit dem Taxi fahren!«, dieser genervte Tonfall kam aus ihr heraus. Mit einem Seufzen stieg sie in ihren Wagen. Ich schüttelte meinen Kopf, denn ich wusste, dass bei Tante Claire kein Verständnis zu erwarten war. Sie war immer nur auf Geld fixiert und küm‑

merte sich nur um sich selbst. Wie konnte ich nur denken, dass sie irgendetwas für mich fühlen würde oder es verstehen würde?

Beim Hinausschreiten aus dem Haus, ließ ich einen Nieser zurück.

Das Echo, welches sich ausbreitete, ließ mich erschrecken. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie leer das Haus geworden war. Die Möbel waren weg und mit ihnen die Erinnerungen.

Der Duft meiner Mutter, das Lachen meines Vaters, das den ganzen Raum erfüllen konnte, und dieses Gefühl von Geborgenheit, das jedes Mal da war, wenn man die Türschwelle überschritt. Alles war nun verschwunden.

Der Moment war also gekommen, ich blickte ein letztes Mal in das leere Haus. Ich hatte in den letzten Tagen so sehr getrauert, dass ich gar nicht mitbekommen hatte, was hier eigentlich passiert war.

Die Umzugsfirma ging ein und aus. Ich hatte alles ausgeblendet. Wie hätte es auch anders sein können? Alles war verloren, ein Leben, das ich bisher kannte, würde ich nie wieder führen können.

Nun musste ich das Beste daraus machen. Allein.

Nun ja, praktisch allein, denn Claire zählte ich nicht dazu. Ich sah noch zu den braunen Kisten auf dem Boden, aus denen ein paar letzte persönliche Gegenstände herausragten, als Tante Claires aufdringliche Autohupe erklang.

Genervt schloss ich die Tür hinter mir und ging zu ihrem Wagen.

Während ich die Autotür öffnete, versuchte ich den Kloß in meinem Hals zu unterdrücken. Die Frau gab einem keine Zeit zum Trauern. Vielleicht war das aber auch ihre Art, das alles zu bewältigen. Konnte jemand tatsächlich so kalt sein?

»Was wird aus den restlichen Sachen?«, erkundigte ich mich.

»Welche restlichen Sachen?«, runzelte Claire die Stirn, ehe sie losfuhr.

»Na, die Boxen auf dem Boden. Dort sind einige persönliche Gegenstände drin, wie Bilder, der Schmuck meiner Mutter, die Zigarren meines Vaters.«

Meine Augen füllten sich mit Tränen, aber ich konnte nicht sagen, ob es an der Trauer lag oder an Claires aufdringlichem Parfüm.

Das Motto weniger ist mehr, kannte sie nicht.

»Die Umzugsfirma kommt heute noch einmal und nimmt den Rest mit«, sagte sie und blickte nachdenklich auf die Straße.

»Und was passiert dann mit den Sachen?«

»Wenn du sie haben willst, kannst du sie behalten«, seufzte Claire genervt.

»Wenn ich sie haben will?«

Eine so dumme Aussage hätte ich nicht einmal von Claire erwartet.

Ich lehnte mich zurück und sah aus dem Fenster. Es fing an zu regnen, es war kalt und der Wind heulte draußen. Ein typisches Wetter für Beerdigungen, dachte ich.

Die Autos reihten sich aneinander.

Viele Freunde waren angereist, um Anteilnahme am Begräbnis zu nehmen.

Ein paar bekannte Gesichter, aber viele unter ihnen kannte ich nicht. Das waren Freunde von meinen Eltern, entfernte Verwandte.

Als ich die Tür des Wagens öffnete, sah ich auf das nasse Gras unter meinen Füßen. Es war fast schlammig und weich. Mein Blick schweifte zur Kirche. Es regnete und ich spannte meinen Regenschirm auf. Die große Glocke läutete, und wäre ich geistig anwesend gewesen, hätte ich mich über den lauten Klang aufgeregt. Aber ich war gedanklich abwesend.

Mein Körper war da, aber leer.

Mein Kopf war leer, genauso wie meine Augen. Meine Gedanken, alles war wie betäubt.

Es war der schwerste Gang meines Lebens.

Der Weg vom Wagen zum Friedhof fühlte sich an, als würde mir bei jedem Schritt ein Brocken aufgeladen, den ich tragen musste. Es war der schlimmste Tag meines Lebens.

Zumindest dachte ich das, denn wie unwissend ich doch war, was noch auf mich zukommen sollte.

Etwas, das ich mir nicht einmal in meinen Träumen hätte ausmalen können.

Die Trauer erfüllte die Luft, als ich die Blicke der Freunde meiner Eltern spürte, die mich verfolgten. Jeder Schritt fühlte sich wie eine Last an. Tiefstes Mitgefühl zeichnete sich auf ihren Gesichtern ab und ich wusste, dass sich jeder Einzelne von ihnen fragte, was wohl aus mir werden würde.

»Claire ist eine großartige Frau, sie wird sich bestimmt gut um sie kümmern«, hörte ich eine unbekannte Stimme aus der Menge tuscheln.

Jemand, der sie unmöglich kennen konnte.

Ich sah den Pfarrer auf mich zukommen, der mir seine Hand reichte. Er sprach irgendwas von Beileid und tiefem Kummer, aber ich konnte nicht zuhören. Wenn ich ihm zugehört hätte, wäre es noch schlimmer für mich gewesen, als es ohnehin schon war.

Während ich meinen Gedanken lauschte, erblickte ich sie. Die beiden Särge, in denen meine Eltern lagen.

Sie waren groß, hell, mit wunderschönen Blumen bedeckt.

Der Regen bedeckte das Holz und die Tropfen suchten ihren Weg ins Gras. Auf den Särgen ihre Bilder, in schwarzen Rahmen aufgestellt. Zwei lachende Gesichter, so freundlich und gutmütig. Für einen kurzen Augenblick stellte ich mir vor, wie sie neben den Särgen standen und mir zuriefen, ich solle zu ihnen kommen.

Meine Mutter streckte ihre Hand entgegen und ich wünschte mir, ich hätte sie einfach nehmen können.

Alles, was ich wollte, war eine letzte Umarmung, ein letztes Mal ein Ich liebe dich hören, einen letzten Kuss auf der Stirn spüren und ein letztes Mal Auf Wiedersehen sagen. Wir standen in der ersten Reihe. Claires Blick war auf ihr Handy gerichtet und sie lächelte. Unbegreiflich für mich, wie herzlos Claire in diesem Moment sein konnte.

Sie dachte mal wieder nur an sich, während ich hier stand und meine Eltern zu Grabe tragen musste. Wir hatten zwar kein gutes Verhältnis, aber ich hätte wirklich jemanden brauchen können. Eine Schulter zum Abstützen, ein Ohr zum Ausweinen, eine Umarmung, irgendwas.

Ich spürte eine Wut in mir aufsteigen, aber ich konnte nichts dagegen tun. Unfähig, mich zu wehren oder etwas zu sagen.

Die Predigt des Pfarrers drang kaum zu mir durch. Meine Gedanken waren woanders, bei meinen Eltern, bei all den Erinnerungen, die wir gemeinsam hatten. Ich vermisste sie so sehr, es fühlte sich an, als würde ein Teil von mir fehlen. Ich wollte einfach nur, dass dieser Albtraum vorbei war.

»Steh nicht so sinnlos da, geh zur Seite. Die Leute wollen etwas sehen und ich möchte heute noch nach Hause«, flüsterte Tante Claire und zog mich auf einen Sessel, damit die anderen Gäste freie Sicht hatten.

Ihr aufgesetztes Lächeln schweifte über die Menge und ihr fürsorgliches tun, konnte die anderen sehr gut täuschen. Sogar in dieser Situation zeigte sie ihr kaltherziges Wesen.

Gezwungen in der Situation zu beharren, wäre ich am liebsten davongelaufen, weit weg von hier, vom Geschehen, von der Realität. Während ich dasaß, beobachtete ich die Menschen, die gekommen waren. Einige weinten, andere schwiegen still. Manche sahen auf ihre Handys.

Tante Claire schien jemanden zu suchen und hielt Ausschau. Vielleicht eine Freundin oder ein Freund?

Wer weiß das schon. Meine Gedanken kreisten sich nicht um sie. Ich war vertieft in den Erinnerungen und in dem Moment.

»Ian, da bist du ja!«, riss mich ihre nahezu fröhlich klingende Stimme aus den Gedanken.

Verwundert folgte ich Claires Blick, um zu sehen, an wen ihre Worte gerichtet waren. Ich sah einen Mann in unsere Richtung kommen. Sein Gang war selbstbewusst und seine Haltung strahlte eine gewisse Autorität aus. Er hatte dunkle Haare, die perfekt gestylt waren. Sein Blick wirkte durchdringend.

Sie lief ihm entgegen und ich blickte kurz in die Menge der Gäste, die das genauso merkwürdig fanden wie ich.

Ein älterer Mann räusperte sich und wollte ihr wohl damit signalisieren, dass sie sich zusammenreißen sollte.

Es führte zu Getuschel in der Menge.

Sie warf sich ihm um den Hals, was in Anbetracht des Begräbnisses ihrer Schwester und ihres Schwagers unangebracht schien.

Dem Unbekannten war es sichtlich unangenehm, denn er entfernte ihre Hände von seinem Hals und sprach mit ihr.

Obwohl ich sie nicht verstehen konnte, da sie weiter entfernt von mir standen, war deutlich zu erkennen, dass er sie zurechtwies. Tante Claire schien es jedoch egal zu sein, also drehte ich mich wieder nach vorne und hörte dem Pfarrer zu. Ich dachte nicht weiter über den Unbekannten nach. Wahrscheinlich war er einer ihrer zahlreichen Männer.

Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis die Särge mit einem Seil in das Grab hinabgelassen wurden. Meine Augen warfen einen letzten Blick auf sie, mein Herz jedoch brannte sich dieses Bild hinein. Verdammt tat das weh. Neben den Gruben stand eine große Vase mit zahlreichen Blumen. Weiße, rote und gelbe Rosen.

Ich nahm zwei rote und warf sie hinein. Eine für Dad, eine für Mom. Natürlich hatte ich die Schönsten ausgesucht.

Rote Rosen, sie stehen für die Liebe. Für einen Moment verharrte ich. Das wars also?

»Dein Verlust liegt auch mir schwer im Herzen Sky, sie waren gute Menschen«, sagte der Pfarrer mitfühlend und fuhr fort:

»Der Tod ist eine schwere Prüfung, aber wir müssen uns daran erinnern, dass unsere Lieben in Frieden ruhen und dass wir sie in unseren Herzen tragen werden.«

Nickend sah ich zu ihm und versuchte, meine Tränen zu unterdrücken. Sie loszulassen war so surreal. Diese 2 Menschen, die dein Leben lang deine Hand hielten, sind plötzlich weg und du musstest die sein, die ihre Hand losließ.

Das Leben, das sie hinterlassen hatten, schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Es war der schlimmste Teil des Todes, die Gewissheit zu haben, dass sie für immer fort waren.

Tante Claire stand immer noch in der Menge und spielte die fürsorgliche Angehörige. Ihr falsches Lächeln verstärkte nur mein Gewissen, was für ein kaltherziges Monster sie war.

Aber dennoch wollte ich mich nicht weiter mit ihr beschäftigen. Ich musste mich auf den Abschied konzentrieren und versuchen, mit dem Verlust umzugehen. Die Hand des Pfarrers auf meiner Schulter gab mir etwas Trost und ich versuchte, mich auf seine Worte zu konzentrieren.

Als die Trauerfeier zu Ende war und die Menschen langsam den Friedhof verließen, blieb ich allein zurück. Kniend vor den Gräbern meiner Eltern legte ich meine Hand auf die nassen Blumen.

»Ich vermisse euch so sehr. Ich wünschte, ihr wärt hier bei mir. Ich werde euch immer lieben. Ich schaff das nicht allein.«

Tränen liefen über mein Gesicht, während ich ihnen leise meine letzten Worte zuflüsterte.

»Können wir endlich fahren?«, ertönte Claires Stimme hinter mir. Ich blickte zu ihr und sah sie in den Armen des unbekannten Mannes stehen.

»Jetzt warte doch mal kurz!«, unterbrach die männliche Stimme meine Gedanken. Der Mann legte ihre Arme weg und widmete sich mir.

»Hallo, mein Name ist Ian Woll. Sky richtig?« Ohne zu blinzeln, bohrte sich sein Blick förmlich durch meine Augen, direkt in meine Seele.

»Ja, ich bin Sky.«

Sein Blick war durchdringend. Jedoch hatte er irgendwas an sich, was Böses, was Spannendes, was Aufregendes. Man konnte es nicht genau sagen.

Er sah unglaublich gut aus. Das konnte ich vorher nicht erkennen, da er zu weit weg stand.

Seine Haare waren kurz und dunkel, seine Augen rehbraun. Eine Narbe schmückte sein Gesicht von der Nase bis über seinem Auge, die nicht weiter störte, ihn aber wahnsinnig Interessant machte. Wahrscheinlich ein Kindheitsunfall. Er sah deutlich jünger aus als meine Tante, vielleicht Anfang 30. War aber eindeutig Claires Beuteschema

Nach einer kurzen Weile nahm ich seine Hand, die er mir entgegenstreckte.

»Der Verlust deiner Eltern tut mir unendlich leid«, seine Lippen waren voll und sein kurzer Bart erzählte von einem Mann, der sich gerne pflegte.

»Aber ich verspreche dir, ich werde gut auf dich aufpassen«, fügte er hinzu und ließ meine Hand los.

Was meinte er damit?

Diese Fragte stellte ich mir selbst, als er hastig nuschelte:

»Beeilt euch, bevor wir nass werden!«

Als diese Worte seine Lippen verließen, eilte er zum Wagen, und hielt mir die hintere Tür offen. Mich ließ nicht los, was er damit meinte.

Er würde auf mich aufpassen? Ich musste nachfragen, was er damit meinte.

»Was genau meinen Sie damit, dass Sie auf mich aufpassen werden?«, fragte ich ihn, während ich vor dem Auto stehen blieb. Claire öffnete ebenfalls ihre Tür und blickte zu mir.

»Stimmt, das habe ich wohl vergessen zu erwähnen. Wir werden bei Ian wohnen. Er hat ein großes Haus. Er hat viel Platz, er wird sich gut um uns kümmern. Bitte mach jetzt kein Drama daraus, steig ein und wir können drinnen weiterreden.«

Ich war sprachlos. Claire hatte mir tatsächlich verschwiegen, dass sie mit diesem Mann zusammen war und dass wir bei ihm wohnen würden. Es fühlte sich an, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Ian sah mich mit einem besorgten Blick an.

»Claire und ich sind seit einiger Zeit zusammen und sie hat mich gebeten, euch bei mir aufzunehmen. Ich möchte nur, dass du weißt, dass ich kein Unbekannter bin und dass ich für euch da sein werde.«

Immer noch überwältigt von der plötzlichen Enthüllung nickte ich ihm zu, war ich jedoch ziemlich perplex.

»Ich verstehe«, brachte ich schließlich hervor.

»Ich hätte es nur gerne früher gewusst.«

Ian sah mich mitfühlend an und legte seine Hand auf meine Schulter.

»Ich kann verstehen, dass das für dich schwierig ist. Aber ich versichere dir, dass ich euch nichts Böses will. Ich möchte euch helfen, mit eurem Verlust umzugehen und euch ein neues Zuhause bieten, mehr nicht. Also gib mir die Chance, euch zu helfen. Ich verspreche, es wird eine aufregende Reise für uns alle werden.«

Seine Lippen formten ein fürsorgliches Lächeln, aber dennoch fühlte es sich nicht so aufrichtig an.

Mit einem skeptischen Blick setzte ich mich in den Wagen rein, ich wollte nicht unhöflich oder undankbar scheinen. Natürlich hatte ich keine andere Wahl, als mitzugehen. Ich wollte mich nicht aufregen, sondern dankbar sein.

Immerhin hätte ich genauso gut in einem Heim landen können. Vielleicht wird das Ganze ja gar nicht so schlimm, er schien nett zu sein.

Geheimnisvoll, aber nett. Dennoch wäre es schön gewesen zu wissen, dass wir nicht allein leben werden. Als wir im Wagen saßen und losfuhren, regte sich Tante Claire über jedes nur erdenkliche kleine Detail von der Beerdigung auf.

Der Pfarrer hatte zu lange geredet, die Gäste hatten sie nicht alle begrüßt und die Blumen waren zu bunt. Kaum etwas schien ihr zu passen.

Ich konnte und wollte mich nicht auf sie konzentrieren.

Meine Gedanken kreisten um all das, was gerade passierte.

Vorhin dachte ich noch, dass es nur Claire und ich sein würden, aber jetzt musste ich erst einmal damit klarkommen, mit einem anderen Mann als meinem Vater unter einem Dach zu leben.

Mit meinen 17 Jahren hatte ich keine Ahnung von Männern.

Ich erkannte den Weg zum Flugplatz und war ein wenig erstaunt.

»Wo fahren wir eigentlich hin?«, unterbrach ich Tante Claires Beschwerden.

Normalerweise war das nicht meine Art, aber ich schwor, dass sie seit dem Einsteigen ins Auto nicht den Mund gehalten hatte.

"Wir fahren zum Flughafen", hörte ich Ians erleichterte Stimme, als er merkte, dass endlich jemand anderes als Claire sprach.

"Und wohin fliegen wir?"

Ich bekam keine Antwort.

Nach einer Weile erreichten wir auch schon den Flughafen. Ian stieg aus dem Auto und öffnete höflich meine Tür.

»Danke.«

Überraschenderweise befanden wir uns nicht auf dem Parkplatz des Flughafens, sondern auf der Landebahn, wo ein eleganter schwarzer Jet auf uns wartete.

»Ist das etwa sein Jet?«, fragte ich erstaunt.

»Ian steht auf Luxus, deshalb ist er der perfekte Mann für mich, wir ergänzen uns einfach so gut«, antwortete Claire selbstbewusst.

Ich blickte zu Ian, der sich gerade mit dem Piloten unterhielt.

Ob ihm wohl bewusst war, was für eine Frau er da an seiner Seite hatte?

Claire war die Art von Frau, die gezielt nach wohlhabenden Männern suchte. Als Immobilienmaklerin konnte sie sich eigentlich alles leisten, was sie wollte. Dennoch war sie nicht bereit, ihr eigenes Geld auszugeben, wenn die Männer bereit waren, ihr alles zu geben, was sie begehrte.

»Kommt ihr?«, rief Ian.

Claire machte sich sofort auf den Weg zum Jet und stieg die Treppe hinauf, um im Inneren zu verschwinden. Ich beobachtete die Männer, die unser Gepäck in die Maschine luden.

Das Gepäck wurde von einer Firma gebracht. Ich nehme an, Claire hat ihnen angeordnet, unsere persönlichen Sachen zur Landebahn zu bringen.

»Fliegst du gerne?«, fragte mich Ian und lehnte seinen Kopf leicht zur Seite, während seine Augen meiner Silhouette entlangwanderten.

Ich spürte, wie sin Blick auf mir ruhte.

Er hatte diese Art an sich, die eine Frau leicht aus der Fassung bringen konnte. Natürlich wollte ich mir nichts anmerken lassen und antwortete bestimmt:

»Ja, meine Eltern sind jedes Jahr mindestens zweimal mit mir verreist. Sie wollten mir die Welt zeigen.«

»Ganz schön viel herumgekommen für zwei normale Verdiener, findest du nicht auch?«, antwortete er ein wenig herablassend.

Irgendetwas an seiner Antwort gefiel mir nicht. War es der Ton oder die Tatsache, dass er es aussprach? Im Übrigen, woher sollte er vom Vermögen meiner Eltern wissen?

Claire - stimmt. Sie hat ihm bestimmt alles erzählt.

»Komm schon.«, sagte er und legte seine Hand auf meinen Rücken.

Eine Gänsehaut überzog meinen gesamten Körper, als wir in das Flugzeug stiegen. Wenn ihr nur fühlen könntet, was ich in seiner Gegenwart empfinde. So gemischte Gefühle hatte ich noch nie bei einem Menschen, geschweige denn bei einem Mann.

Einerseits war er unheimlich, andererseits mysteriös und charmant.

Seine Art machte es einem leicht mit ihm zu reden, aber seinen Blicken wollte man entfliehen. Claire saß bereits auf ihrem Platz und hatte einen Spiegel in der Hand. Sie trug ihren roten Lippenstift auf. Das war sozusagen ihr Markenzeichen. Meiner persönlichen Meinung nach ist roter Lippenstift ein absolutes No-Go bei ihr.

Es stand ihr einfach nicht.

»Such dir einen Platz aus, Sky, wir starten gleich«, flüsterte er mir die Worte zu, als er hinter mir stand.

Ich folgte seinen Anweisungen und nahm den Fensterplatz. Immer, wenn ich mit dem Flugzeug unterwegs war, haben meine Eltern dafür gesorgt, dass ich am Fenster sitzen konnte.

Ich liebte es, rauszusehen und zu beobachten, was draußen vor sich ging. Ich konnte sehen, wie ein Mann mit unserem Auto davonfuhr, wie die Flughafenmitarbeiter draußen miteinander sprachen und ein paar Vögel am Fenster vorbeiflogen.

Ian setzte sich gegenüber von Claire und legte den Gurt an.

»New York«, erklang Ians Stimme Fragend sah ich ihn zu ihm.

»Du wolltest wissen, wohin wir fliegen. Nach New York, dort befindet sich mein Anwesen.«

»Ein Anwesen? Wow«, flüsterte ich leise vor mich