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Im Kreuzfeuer der Gefühle
Die Feuerspringerin Rowan kämpft jeden Sommer erfolgreich gegen die verheerenden Brände in den Wäldern Montanas. Doch seit ihr Kollege dabei ums Leben kam, plagen sie Schuldgefühle. Hätte sie Jim wirklich nicht retten können, wie ihr der attraktive Gull immer wieder versichert? Als kurz darauf zwei weitere Leichen auftauchen, gerät Rowan unter Mordverdacht. Gull will ihr helfen, aber kann sie ihm vertrauen? Sie muss ihre Unschuld beweisen, sonst wird sie alles verlieren …
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Seitenzahl: 687
Für Bruce, dafür, dass du mich verstehst und trotzdem liebst
Wie dürre Reiser gleich angezündt und gleich verbrennt.
WILLIAM SHAKESPEARE
Gefangen im Fadenkreuz des Windes über den Bitterroot Mountains, tat sich das Flugzeug schwer, die richtige Strömung zu erwischen. Flammen loderten aus dichten Rauchsäulen empor, als würden sie drohend die Faust heben und zum finalen K.- o.-Schlag ansetzen.
Rowan Tripp beugte sich vor, um das Schauspiel einer schwer erzürnten Mutter Natur zu betrachten. In wenigen Minuten würde sie sich mittendrin befinden, umzingelt von sengender Hitze, lodernden Flammen und beißendem Rauch. Mit nichts als Schaufel und Säge, Mut und klugen Manövern würde sie in den Krieg ziehen, einen Krieg, den sie auf keinen Fall verlieren wollte.
Ihr Magen hüpfte mit dem Flugzeug auf und ab, ein Gefühl, das sie inzwischen ignorieren konnte. Sie war mit Flugzeugen groß geworden und bekämpfte seit ihrem achtzehnten Lebensjahr Waldbrände. Acht Jahre war das her, und seit vier Jahren arbeitete sie als Feuerspringerin.
Sie hatte gebüffelt, geblutet, sich gequält und sich verbrannt, Schmerz und Erschöpfung getrotzt, um eine der Zulies zu werden, der Feuerspringer von Missoula, Montana.
Sie streckte ihre langen Beine aus, so gut es ging, und ließ die Schultern unter dem Fallschirmrucksack kreisen, um sie zu lockern. Ihr Kollege ließ sie nicht aus den Augen. Seine Finger vollführten einen wilden Stepptanz auf seinen Oberschenkeln.
»Das sieht schlimm aus.«
»Wir sind noch schlimmer.«
Er grinste sie breit an. »Worauf du einen lassen kannst!«
Seine Nerven. Sie spürte regelrecht, wie sie unter seiner Haut zuckten.
Seine erste Saison neigt sich dem Ende zu, dachte Rowan. Jim Brayner musste sich vor dem Sprung noch etwas Mut machen. Manche brauchen das, überlegte sie, während andere ein kurzes Nickerchen machten, um dem drohenden Schlafmangel etwas entgegensetzen zu können.
Sie würde heute als Erste springen, Jim direkt nach ihr. Wenn er ein wenig Aufmunterung gebrauchen konnte, wollte sie ihm die nicht vorenthalten.
»Hauptsache, du machst dir nicht in die Hosen. Das ist der erste richtig böse Brand seit einer Woche.« Sie stupste ihn aufmunternd an. »Hast du nicht immer behauptet, die Saison wäre vorbei?«
Er fuhr damit fort, sich auf die Oberschenkel zu trommeln. »Nö, das war Matt«, korrigierte er sie mit nach wie vor breitem Grinsen und schob die Behauptung damit seinem Bruder in die Schuhe.
»Das ist wieder typisch für euch Bauernlümmel aus Nebraska. Hast du morgen Abend nicht ein heißes Date?«
»Meine Dates sind immer heiß.«
Das ließ sich nicht leugnen, sie selbst hatte schon oft miterlebt, dass Jim Frauen an Land zog wie Regenbogenforellen, sobald er seine Angel auswarf – und das jedes Mal, wenn ihre Einheit in der Stadt einen draufmachte. Auch sie hatte er angemacht, keine zwei Sekunden, nachdem er den Fliegerhorst betreten hatte. Trotzdem hatte er gut auf ihren Korb reagiert. Sie hatte strenge Prinzipien, was Kollegen anging.
Ansonsten hätte er sie durchaus reizen können. Er besaß ein offenes, unschuldiges Gesicht, das sein Grinsen und sein provozierender Blick etwas kaschieren sollten. Nur so zum Spaß, dachte sie. Um es mal wieder so richtig krachen zu lassen. Für etwas Ernsteres käme er sowieso nicht infrage – falls sie so etwas angestrebt hätte. Obwohl gleichaltrig, war er ihr zu jung und viel zu grün hinter den Ohren. Vielleicht war er auch etwas zu nett für sie.
»Und welches Mädchen muss dann traurig und allein ins Bett gehen, falls du immer noch den Feuerdrachen reiten solltest?«, fragte sie.
»Lucille.«
»Die Kleine, die so gern kichert?«
Seine Finger hörten gar nicht mehr auf, sein Knie zu bearbeiten. »Sie kann mehr als nur kichern.«
»Du bist ein Schwein, Romeo.«
Er legte den Kopf in den Nacken und grunzte mehrmals, woraufhin sie lachen musste.
»Hauptsache, Dolly bekommt nicht mit, wo du dich überall herumwälzt«, bemerkte sie. Es war ein offenes Geheimnis, dass er eine der Köchinnen des Fliegerhorsts den ganzen Sommer lang genagelt hatte.
»Mit Dolly komme ich klar.« Das Trommeln wurde schneller. »Das kriege ich schon hin.«
Aha, dachte Rowan, da gab es anscheinend Probleme. Und genau deshalb fing man als einigermaßen intelligenter Mensch nichts mit Kollegen an.
Sie gab ihm einen sanften Stups, denn das nervöse Trommeln machte ihr Sorgen. »Alles okay, Kumpel?«
Seine hellblauen Augen sahen kurz in die ihren, dann schaute er wieder weg, während sein Knie zu zucken begann. »Alles bestens. Das Ding hier werden wir locker durchziehen. Hauptsache, ich kann endlich da runter.«
Sie legte ihre Hand auf die seine und hielt sie fest. »Du solltest ganz bei der Sache sein, Jim.«
»Da ist er! Schau nur, wie der Feuerdrache seinen Schwanz durch die Luft peitscht«, sagte er. »Aber wenn wir erst bei ihm sind, wird er nicht mehr aufmucken. Wir werden ihn zur Strecke bringen, und morgen Abend feiere ich mit Lucille.«
Das dürfte sehr unwahrscheinlich sein, dachte Rowan. Wenn sie sich das Feuer so ansah, lagen bestimmt zwei Tage harter, schweißtreibender Arbeit vor ihnen – wenn alles glattlief.
Rowan griff nach ihrem Helm und nickte ihrem Absetzer zu. »Ich bin so weit. Bleib cool, Kumpel.«
»Ich bin so cool wie ein Eisblock.«
Cards bahnte sich seinen Weg durch die zehn Feuerspringer und die Ausrüstung bis ins Heck des Flugzeugs. Dort verband er seinen Haupttragegurt mit der Fangleine. Er hieß so, weil er ständig Spielkarten in der Tasche hatte.
Bevor Cards rief, sie sollten gut auf ihren Reserveschirm aufpassen, legte Rowan bereits schützend den Arm darüber. Cards, ein zäher Bursche, riss die Tür auf. Rauch und Treibstoffwolken wehten herein. Als er nach dem ersten Set Winddrifter griff, drückte Rowan den Helm auf ihre blonden Haare, schloss den Kinnriemen und rückte ihre Schutzmaske zurecht.
Sie sah zu, wie die Winddrifter einen farbenfrohen Tanz am rauchgeschwängerten Himmel aufführten. Ihre langen Papierstreifen flatterten wild inmitten der Turbulenzen, drehten sich nach Südwesten, stiegen sich überschlagend in die Höhe, zuckten im Fallen ein letztes Mal nach oben, bevor sie sich in den Bäumen verfingen.
»Weiter nach rechts«, rief Cards in sein Headset, und der Pilot gehorchte.
Das zweite Set Winddrifter wurde nach draußen gerissen und kreiselte wie das Jo-Jo eines Kindes. Die vormals aufgerollten Papierstreifen folgten dem Wind und fielen dann auf das von Bäumen gesäumte Zielgebiet.
»Die Windachse verläuft quer über diesen Bach, dann runter bis zu den Bäumen und dem Zielpunkt«, sagte Rowan zu Jim.
Über ihr nahmen Absetzer und Pilot weitere Anpassungen vor, und ein weiteres Set Winddrifter wurde von der Strömung fortgerissen.
»Der Wind ist ganz schön böig.«
»Ja, das ist mir auch schon aufgefallen.« Jim fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, bevor er Helm und Schutzmaske fixierte.
»Bring sie auf neunhundert Meter«, rief Cards.
Das war die Absetzhöhe. Als erste Springerin stand Rowan auf, um ihre Position einzunehmen.
»Etwa dreihundert Meter Abdrift«, rief sie Jim zu und wiederholte damit, was Cards dem Piloten gesagt hatte. »Aber der Wind ist böig. Lass dich nicht vom Fallwind erwischen!«
»Das ist schließlich nicht mein erster Sprung.«
Sie sah, wie er selbstbewusst hinter seiner Schutzmaske grinste, fast so, als könnte er es kaum erwarten. Aber für den Bruchteil einer Sekunde war da so ein merkwürdiger Ausdruck in seinen Augen … Sie wollte ihm noch etwas sagen, doch Cards hatte bereits seine Position rechts von der Tür eingenommen und rief: »Seid ihr so weit?«
»Wir sind so weit«, antwortete sie.
»Einhaken !«
Rowan hakte die Aufziehleine ein.
»In die Tür!«
Sie setzte sich, hielt die Beine in den tückischen Luftstrom und lehnte den Oberkörper zurück. In ihren Ohren dröhnte es. Unter ihren Beinen wütete rotgolden das Feuer.
In diesem Moment gab es nichts außer dem Wind, dem Feuer und dieser Mischung aus Angst und Aufregung, die sie immer wieder aufs Neue überraschte.
»Hast du die Drifter gesehen?«
»Ja.«
»Siehst du das Zielgebiet?«
Sie nickte, vergegenwärtigte sich beides und sah zu, wie die bunten Papierstreifen ihr Ziel erreichten.
Cards wiederholte beinahe Wort für Wort, was sie Jim bereits gesagt hatte. Sie nickte noch einmal, den Blick fest auf den Horizont geheftet, und atmete tief durch. Sie stellte sich vor, wie sie fliegen, fallen, die Mitte des Zielgebiets ansteuern würde.
Während das Flugzeug einen Kreis beschrieb, bis die Schnauze wieder nach vorn zeigte, ging sie ruhig noch einmal alle vier Punkte auf der Checkliste durch.
Cards zog seinen Kopf zurück. »Macht euch bereit.«
Auf die Plätze, fertig … hörte sie ihren Vater sagen. Sie hielt sich am Türrahmen fest und atmete tief ein.
Als ihr der Absetzer auf die Schulter klopfte, ließ sie sich hinausfallen.
Nichts sonst konnte diesen verrückten Moment toppen, in dem sie ins Leere sprang. Sie begann lautlos zu zählen, was genauso automatisch ging wie das Atmen, vertraute sich dem rauchgeschwängerten Himmel an und sah das Flugzeug abdrehen. Dann geriet Jim in ihr Blickfeld, der sich hinter ihr aus dem Flugzeug gestürzt hatte.
Wieder drehte sie sich in der Luft, kämpfte gegen den Wind an, bis ihre Füße nach unten zeigten. Mit einem Ruck öffnete sich ihr Fallschirm. Sie sah sich nach Jim um und war erleichtert, als sich sein Schirm vor dem leeren Himmel abhob. In diesem Moment unheimlicher Stille, jenseits von Flugzeuglärm und Feuerbrausen, griff sie nach ihren Steuerleinen.
Der Wind wollte sie hartnäckig nach Norden zerren, doch Rowan hielt genauso hartnäckig jenen Kurs, den sie sich bereits im Vorfeld zurechtgelegt hatte. Sie sah nach unten, während sie der heftigen Gegenströmung Widerstand leistete.
Die Turbulenzen, die schon die Drifter erfasst hatten, begegneten ihr als stürmische Böen, gleichzeitig schlug ihr von unten die Hitze des Brandes entgegen. Behielt der Wind die Oberhand, würde sie über das Zielgebiet hinausschießen, in den Bäumen landen und riskieren, sich darin zu verfangen. Oder aber er trieb sie nach Westen, direkt in die Flammen hinein.
Sie riss an ihrer Steuerleine und sah gerade noch rechtzeitig, wie Jim in den Fallwind und damit ins Trudeln geriet.
»Rechts ziehen. Rechts ziehen!«
»Verstanden, ich habe verstanden.«
Aber zu ihrem Entsetzen zog er links.
»Ich habe rechts gesagt, verdammt noch mal!«
Sie musste sich ein letztes Mal drehen, und die Freude über den fast ungetrübten Gleitflug wich nackter Angst: Jim hing hilflos an seinem Fallschirm und segelte nach Westen.
Rowan landete im Zielgebiet und rollte sich ab. Sie kam gleich wieder auf die Beine und trennte den Hauptschirm ab. Dann hörte sie ihn, inmitten der Feuersbrunst.
Den Schrei ihres Sprungpartners.
Der Schrei verfolgte Rowan, wenn sie im Bett hochschreckte, hallte in ihrem Kopf wider, wenn sie zusammengekauert im Dunkeln saß.
Stopp, stopp, stopp, befahl sie sich und ließ ihren Kopf auf den angezogenen Knien ruhen, bis sie wieder zu Atem gekommen war.
Das ist so sinnlos, dachte sie. Es bringt nichts, das Ganze noch mal zu durchleben – jedes einzelne Detail, jede Sekunde – und sich dabei zu fragen, ob sie etwas hätte ändern können. Dass Jim ihr nicht zum Zielgebiet gefolgt war, zum Beispiel. Dass er an der falschen Steuerleine gezogen hatte. Denn er hatte an der falschen Steuerleine gezogen! Und war direkt in die todbringenden Zweige der sich vor ihm auftürmenden, brennenden Bäume geflogen.
Das Ganze lag bereits Monate zurück, machte sie sich klar. Ein langer Winter lag hinter ihr, der ihr helfen sollte, darüber hinwegzukommen. Was sie im Grunde auch geschafft hatte. Ihre Rückkehr zum Fliegerhorst musste die Albträume ausgelöst haben. Sie fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht und die pflegeleichte Kurzhaarfrisur, die sie sich erst vor wenigen Tagen hatte schneiden lassen.
Die Waldbrandsaison stand kurz bevor. In wenigen Stunden begann das Auffrischungstraining. Erinnerungen, Selbstvorwürfe, Trauer – all das würde sie erneut heimsuchen. Aber sie musste schlafen, denn in einer Stunde klingelte der Wecker. Ein anstrengender Fünfkilometerlauf stand ihr bevor.
Normalerweise konnte sie überall und jederzeit schlafen, wenn es sein musste: An einem geschützten Ort während eines Brandes, in einem wackeligen Flugzeug. Sie konnte essen und schlafen, wenn es nötig war und sich die Möglichkeit ergab.
Aber als sie erneut die Augen schloss, sah sie wieder Jims Grinsen im Flugzeug vor sich.
Sie wusste, dass sie es verdrängen musste, und kletterte aus dem Bett. Sie würde duschen, sich Koffein und Kohlenhydrate zuführen und dann ein kleines Work-out machen, um sich auf den Fitnesstest vorzubereiten.
Ihre Kollegen wunderten sich, dass sie nur dann Kaffee trank, wenn ihr nichts anderes übrig blieb. Sie mochte kalte, süße Getränke. Nachdem sie sich angezogen hatte, nahm sich Rowan eine Cola und gönnte sich einen Energieriegel. Sie trug beides nach draußen, wo die Morgendämmerung noch nicht hereingebrochen war. Die Luft im Westen Montanas war zu Beginn des Frühlings noch kühl.
Am weiten Himmelszelt erloschen Sterne wie Kerzen, die ausgeblasen werden. Sie konzentrierte sich auf die Dunkelheit und die Stille und fand ein wenig Trost darin. In etwa einer Stunde würde der Fliegerhorst zum Leben erwachen, und die Luft wäre testosterongeschwängert.
Da sie sich unter Männern wohlfühlte, machte es ihr nichts aus, als Frau zur Minderheit zu gehören. Trotzdem genoss sie die seltenen Augenblicke, in denen sie allein sein konnte. Diese Momente wurden in der Hauptsaison immer seltener und kostbarer. Sie waren als Vorbereitung auf einen anstrengenden Tag das Zweitbeste nach Schlaf, dachte sie.
Sie brauchte sich keine Sorgen um den Morgenlauf zu machen, redete sie sich gut zu. Schließlich hatte sie den ganzen Winter streng auf ihre Fitness geachtet. Sie war so gut in Form wie noch nie in ihrem Leben. Doch das musste nichts heißen, es konnte alles Mögliche passieren: Sie konnte sich den Knöchel verknacksen, einen Aussetzer haben, einen Krampf bekommen. Oder einfach eine schlechte Zeit laufen. Das war anderen auch schon passiert. Manchmal erholten sie sich davon, manchmal nicht.
Aber eine negative Einstellung half ihr sicher nicht weiter. Sie knabberte am Energieriegel, führte ihrem Körper Koffein zu und beobachtete, wie das erste Tageslicht über die gezackten, schneebedeckten Gipfel im Westen kroch.
Als sie Minuten später in den Kraftraum schlich, merkte sie, dass ihre Zeit des Alleinseins vorbei war.
»Hallo, Trigger.« Sie nickte dem Mann zu, der Bauchpressen auf einer Matte absolvierte. »Was gibt’s Neues?«
»Nichts, außer dass wir alle komplett verrückt sind. Was zum Teufel mache ich hier eigentlich, Ro? Ich bin stolze dreiundvierzig.«
Sie rollte eine Matte aus und begann mit den Dehnübungen. »Wenn du nicht verrückt wärst, wärst du nicht da. Aber dreiundvierzig wärst du immer noch.«
Mit seinen einen Meter fünfundneunzig blieb Trigger Gulch knapp unter der maximal erlaubten Körpergröße. Er war ein taffer Typ mit einem texanischen Akzent und einer Vorliebe für Cowboystiefel.
Er absolvierte ein Set schneller Bauchpressen. »Ich könnte auch in Waikiki am Strand liegen.«
»Du könntest als Immobilienmakler in Amarillo arbeiten.«
»Ja, das könnte ich.« Er wischte sich übers Gesicht und zeigte auf sie. »Ein Bürojob für die nächsten fünfzehn Jahre, und danach ziehe ich mich an diesen Strand von Waikiki zurück.«
»In Waikiki soll es nur so von Leuten wimmeln, habe ich gehört.«
»Ja, das ist ja das Problem.« Er setzte sich auf.
Trigger war ein gut aussehender Mann mit grauen Schläfen und einer gezackten Narbe am linken Knie, die von einer Meniskusoperation herrührte. Er lächelte ihr zu, als sie sich auf den Rücken legte und ihr rechtes Bein zur Nase brachte. »Du siehst gut aus, Ro. Wie war die Winterspeck-Saison?«
»Stressig.« Sie wiederholte die Dehnung mit dem linken Bein. »Ich freue mich, dass ich wieder hier bin, damit ich mich endlich ein bisschen erholen kann.«
Er musste lachen. »Wie geht es deinem Dad?«
»Bestens.« Rowan setzte sich auf. »Zu dieser Jahreszeit wird er immer melancholisch.« Sie schloss die eisblauen Augen und zog ihre angewinkelten Beine in Richtung Scheitel. »Er vermisst den Beginn der Saison, das Wiedersehen mit den Kollegen. Aber seine Firma lässt ihm nicht viel Zeit zum Grübeln.«
»Sogar Leute, die nicht so sind wie wir, springen gern aus Flugzeugen.«
»Und zahlen dafür sogar gutes Geld. Letzte Woche hatten wir super Kunden.« Sie grätschte die Beine, beugte sich vor und griff nach ihren Zehen. »Ein Paar hat seinen fünfzigsten Hochzeitstag mit einem Fallschirmsprung gefeiert. Statt Trinkgeld habe ich eine Flasche französischen Champagner bekommen.«
Trigger blieb sitzen und sah zu, wie sie aufstand, um mit ihrem ersten Sonnengruß zu beginnen. »Unterrichtest du noch diese Hippies?«
Rowan ging aus dem aufschauenden in den herabschauenden Hund und drehte dann den Kopf, um Trigger einen mitleidigen Blick zuzuwerfen. »Das ist Yoga, alter Knabe, und ja, in der Nebensaison arbeite ich nach wie vor als Personal Trainer. Das hilft mir dabei, kein Fett anzusetzen. Und du?«
»Ich lege mir ein paar Speckröllchen zu, damit ich mehr zu verbrennen habe, wenn die eigentliche Arbeit wieder losgeht.«
»Wenn diese Saison genauso langsam beginnt wie die letzte, haben wir bald alle einen fetten Hintern. Hast du Cards gesehen? Der scheint in diesem Winter keine Mahlzeit ausgelassen zu haben.«
»Er hat eine Neue.«
»Echt?« Schon etwas lockerer, erhöhte sie das Tempo und fügte Ausfallschritte hinzu.
»Er hat sie im Oktober in der Tiefkühlabteilung eines Supermarkts kennengelernt. An Silvester ist er bei ihr eingezogen. Sie hat Kinder und ist Lehrerin.«
»Lehrerin? Kinder? Cards?« Rowan schüttelte den Kopf. »Das muss Liebe sein.«
»So was in der Art. Die Frau und die Kinder besuchen ihn vielleicht Ende Juli und bleiben dann für den Rest des Sommers, hat er erzählt.«
»Das hört sich nach was Ernstem an.« Sie ging in eine Drehhaltung und ließ Trigger dabei nicht aus den Augen. »Die muss etwas ganz Besonderes sein. Trotzdem sollte er abwarten, wie sie mit der Arbeitssaison klarkommt. Im Winter ist es leicht, mit einem Feuerspringer zusammen zu sein, aber im Sommer? Da zerbrechen die Familien reihenweise«, fügte sie hinzu, bereute es aber sofort, da Matt Brayner hereingekommen war.
Sie hatte ihn seit Jims Beerdigung nicht mehr gesehen. Obwohl sie ein paarmal mit seiner Mutter gesprochen hatte, war sie sich nicht sicher gewesen, ob er zurückkehren würde.
Er war gealtert, dachte sie, außerdem hatte er einen müden Zug um Augen und Mund.
Dass er seinem Bruder mit dem blonden Strubbelkopf und den hellblauen Augen so ähnlich sah, brach ihr fast das Herz. Sein Blick löste sich von Trigger und fand den ihren. Sie fragte sich, wie viel Überwindung es ihn wohl kostete, sie anzulächeln.
»Wie geht’s?«
»Ganz gut.« Sie richtete sich auf und wischte die Handinnenflächen an ihren Oberschenkeln ab. »Ich versuche nur, meine Nervosität vor dem Fitnesstest zu bekämpfen.«
»Ich hatte genau dieselbe Idee. Man könnte es auch bleiben lassen, einfach in die Stadt gehen und sich einen Berg Pfannkuchen bestellen.«
»Die gönnen wir uns nach dem Lauf.« Trigger ging zu ihm und gab ihm die Hand. »Schön, dass du da bist, Landei.«
»Gleichfalls.«
»Ich gehe einen Kaffee trinken. Bald werden wir ohnehin eingesammelt.«
Als Trigger ging, nahm sich Matt eine Zehn-Kilo-Hantel. Und legte sie wieder auf den Boden. »Es wird sich merkwürdig anfühlen. Alle, die mich sehen, denken …«
»Niemand wird ihn je vergessen. Ich bin froh, dass du wieder da bist.«
»Noch bin ich mir nicht sicher, ob es richtig ist. Aber zu etwas anderem war ich auch nicht in der Lage. Wie dem auch sei, ich möchte dir danken, dass du dich so lieb um meine Ma kümmerst. Das bedeutet ihr viel.«
»Ich wünschte … Na ja, wenn das Wünschen helfen würde, würde ich gar nicht mehr damit aufhören. Ich bin froh, dass du wieder da bist. Wir sehen uns am Wagen.«
Sie verstand sehr gut, dass Matt glaubte, nichts anderes tun zu können. Das galt auch für die Männer und die insgesamt vier Frauen, die sich in die Kleinbusse quetschten, um dorthin zu fahren, wo sie um ihre Jobs laufen würden. Sie lehnte sich zurück und ließ das Geblödel und Geprahle an sich abperlen.
Es fielen zahlreiche Bemerkungen über Winterspeck. Sie schloss die Augen und hing ihren Gedanken nach, spürte die unterschwellige Nervosität im ganzen Bus.
Janis Petrie, eine der vier Frauen der Einheit, ließ sich neben sie fallen. Ihre kleine, zierliche Figur hatte ihr den Spitznamen Elfe eingebracht, und sie sah aus wie eine kecke Cheerleaderin.
An diesem Morgen hatte sie knallrosa Fingernägel. Ihr glänzendes braunes Haar war mit einem Schmetterlingshaargummi zu einem wippenden Pferdeschwanz zusammengebunden.
Sie war hübsch, lachte gern und konnte vierzehn Stunden am Stück Bäume umsägen.
»Na, bist du bereit, Wikingerbraut?«
»Und ob! Wozu schminkst du dich vor diesem bescheuerten Fitnesstest?«
Janis klimperte mit ihren langen, dichten Wimpern. »Damit die Jungs was zu gucken haben, wenn sie über die Ziellinie laufen. Denn ich werde natürlich die Erste sein.«
»Du bist verdammt schnell.«
»Klein, aber zäh. Hast du die Neuen schon ausgecheckt?«
»Noch nicht.«
»Sechs von uns sind dabei. Vielleicht kriegen wir genug Frauen für einen kleinen Nähzirkel zusammen. Oder für einen Literaturkreis.«
Rowan lachte. »Und anschließend backen wir Kuchen für wohltätige Zwecke.«
»Cupcakes. Ich habe eine Schwäche für Cupcakes.« Janis beugte sich ein Stück weit vor, um besser aus dem Fenster schauen zu können. »Ich vermisse das hier, sobald ich weg bin, und frage mich, was ich eigentlich in der Stadt will, wenn ich mit Country-Club-Typen Krankengymnastik gegen ihren Tennisarm mache.« Sie seufzte. »Und im Juli frage ich mich dann, was ich eigentlich hier will, wenn ich an Schlafentzug leide und mir alles wehtut, wo ich doch meine Mittagspause am Pool verbringen könnte.«
»Zwischen Missoula und San Diego liegen Welten.«
»Allerdings. Du fühlst dich nicht so hin- und hergerissen. Du lebst hier. Für die meisten von uns ist das ihr Zuhause – so lange, bis die Saison vorbei ist. Dann ist unser Zuhause in der alten Heimat. Das kann einen schon ganz schön durcheinanderbringen.«
Als der Kleinbus hielt, sah sie Rowan mit ihren warmen braunen Augen an: »Da wären wir wieder.«
Rowan kletterte aus dem Bus und sog gierig die frische Luft ein. Der Frühling mit seinen grünen Wiesen, Wildblumen und sanften Brisen würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Sie entdeckte die Fähnchen, die die Strecke markierten. Der Leiter des Fliegerhorsts, Michael Little Bear, erklärte die Vorgaben.
Sein langer schwarzer Zopf fiel auf seine knallrote Jacke. Rowan wusste, dass als Ersatz für die Zigaretten eine Packung Bonbons in seiner Tasche steckte, da er sich über den Winter das Rauchen abgewöhnt hatte.
L. B. und seine Familie wohnten nur einen Steinwurf vom Fliegerhorst entfernt, und seine Frau arbeitete für Rowans Vater.
Jeder kannte die Vorgaben: Den Parcours ablaufen, und zwar unter zweiundzwanzig Minuten und dreißig Sekunden. Sonst konnte man gleich wieder kehrtmachen und es eine Woche später noch einmal probieren. Ging es erneut schief, musste man sich nach einem neuen Sommerjob umsehen.
Rowan machte Dehnübungen für Oberschenkel und Waden.
»Ich hasse diesen Mist.«
»Du schaffst es.« Sie rammte Trigger spaßeshalber den Ellbogen in den Bauch. »Stell dir vor, hinter der Ziellinie wartet eine fette Pizza auf dich.«
Er lachte schnaubend, während sie sich in die Startaufstellung begaben.
Sie machte sich Mut und konzentrierte sich, während L. B. zum Kleinbus zurückging. Als der losfuhr, rannten auch sie los. Rowan drückte auf den Startknopf der Stoppuhr und mischte sich unter die anderen. Sie kannte jeden Einzelnen, schließlich hatten sie gemeinsam geschuftet, geschwitzt, ja füreinander ihr Leben riskiert. Sie wünschte allen von Herzen viel Glück bei dem Lauf. Doch in den nächsten zweiundzwanzig Minuten und dreißig Sekunden war jeder Mann und jede Frau auf sich selbst angewiesen.
Sie rannte los, steigerte ihr Tempo und lief um das, was im Grunde ihr Leben ausmachte. Sie bahnte sich einen Weg durch die Menge und rief anderen ermutigende Worte oder Sticheleien zu – je nachdem, was den Betreffenden mehr anfeuerte. Sie wusste, dass viele Knieschmerzen, einen rasenden Puls oder Seitenstechen hatten. Das Frühlingstraining hatte manche fit gemacht, andere jedoch mit Verletzungen entlassen.
Aber an so etwas durfte sie jetzt gar nicht denken. Sie konzentrierte sich auf die ersten anderthalb Kilometer. Als sie die Markierung passiert hatte, sah sie auf ihre Uhr: vier Minuten und zwölf Sekunden.
Jetzt die nächsten anderthalb Kilometer, befahl sie sich und lief bewusst locker, mit gleichmäßigen Schritten – auch noch, als Janis sie grinsend überholte. Ein Brennen erfasste ihre Zehen, Knöchel und Waden. Schweiß lief ihr über den Rücken, die Brust, über ihr wild schlagendes Herz.
Sie hätte ihr Tempo drosseln können, denn sie lag gut in der Zeit, aber die Vorstellung, zu stürzen oder sich den Knöchel zu verstauchen, trieb sie weiter an.
Nur nicht nachlassen!
Nachdem sie die nächsten anderthalb Kilometer hinter sich gebracht hatte, ließ sie auch das Brennen und den Schweiß hinter sich. Ihr Kopf war vollkommen leer. Noch zwei Kilometer. Sie überholte einige und wurde von anderen überholt, während ihr das Blut in den Ohren pochte. Wie vor einem Fallschirmsprung hatte sie den Blick fest auf den Horizont gerichtet, dorthin, wo sich Himmel und Erde berühren. Ihre Begeisterung half ihr, auf den letzten Metern durchzuhalten.
Sie sauste durchs Ziel, hörte, wie L. B. ihren Namen und ihre Zeit rief. »Tripp, fünfzehn Minuten und zwanzig Sekunden.«
Rowan taumelte gut zwanzig Meter weiter, bevor sie ihren Beinen Einhalt gebieten konnte. Sie beugte sich weit vor und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Dabei kniff sie die Augen zusammen. Wie immer nach dem Fitnesstest hätte sie am liebsten geweint. Nicht vor Anstrengung – sie hatte weiß Gott Schlimmeres erlebt. Sondern vor Erleichterung, dass der Druck langsam nachließ.
Auch dieses Jahr konnte sie das tun, was sie tun wollte.
Sie verließ den Parcours und hörte, wie andere Namen und Zeiten gerufen wurden. Sie klatschte sich mit Trigger ab, der die Strecke ebenfalls hinter sich gebracht hatte.
Alle, die bestanden hatten, blieben in der Nähe. Sie bildeten wieder eine Einheit, und jeder Einzelne von ihnen war fest entschlossen, es zu schaffen. Sie sah auf die Uhr. Die Deadline rückte näher – vier von ihnen mussten noch durchs Ziel laufen.
Cards, Matt, Yangtree, der einen Monat zuvor seinen vierundfünfzigsten Geburtstag gefeiert hatte, sowie Gibbons mit einer Knieverletzung, die ihn auf den letzten Metern mehr humpeln als laufen ließ. Cards lief in den letzten drei Sekunden durchs Ziel, Yangtree folgte ihm auf dem Fuß. In Gibbons’ schweißgebadetem Gesicht stand nichts als Schmerz und Durchhaltewillen, aber Matt? Rowan kam es so vor, als würde er sich keine Mühe geben.
Ihre Blicke trafen sich. Sie ballte die Faust, wollte ihn und Gibbons über die Ziellinie zerren, während der Countdown lief. Sie hätte schwören können, dass in Matts Augen ein Funke aufglomm, dass er noch einmal alles gab.
Er lief nach zweiundzwanzig Minuten und achtundzwanzig Sekunden durchs Ziel, Gibbons eine halbe Sekunde nach ihm. Danach erhob sich ein Jubel, sie feierten eine weitere gemeinsame Saison.
»Wahrscheinlich wolltet ihr es nur besonders spannend machen.« L. B. ließ sein Klemmbrett sinken. »Willkommen daheim. Ruht euch eine Minute aus und kommt dann zum Bus.«
»Hallo, Ro.« Sie drehte sich zu Cards um, nur um zu sehen, wie er sich vorbeugte und seine Hose herunterließ.
Jedes Jahr derselbe Zirkus, dachte sie.
Gulliver Curry kroch aus seinem Schlafsack und zog Bilanz: Alles tat weh. Aber das wenigstens überall.
Es roch nach Schnee, und ein Blick aus dem Zelt zeigte ihm, dass über Nacht tatsächlich ein paar Zentimeter Neuschnee gefallen waren. Als er in seine Hose schlüpfte, bildete sein Atem dichte Wolken. Die Blasen an seinen Fingern machten das Ankleiden zu einer Herausforderung.
Doch er liebte Herausforderungen.
Am Vortag hatte er gemeinsam mit fünfundzwanzig anderen Rekruten vierzehn Stunden lang Feuergräben ausgehoben. Danach gab es einen Fünfkilometermarsch, bei dem jeder zweiundvierzig Kilo im Gepäck hatte.
Sie hatten Bäume mit Zweimannsägen gefällt, waren marschiert, hatten gegraben, das Werkzeug geschärft, gegraben, waren marschiert, auf riesige Kiefern geklettert und hatten wieder gegraben.
Ein Sommercamp für Masochisten, dachte er, doch eigentlich war es das Anfängertraining für Feuerspringer. Vier Rekruten waren bereits ausgeschieden – zwei von ihnen hatten den vorgeschalteten Fitnesstest nicht bestanden. Seine siebenjährige Erfahrung als Feuerwehrmann, davon die letzten vier als Teil eines Bodentrupps zur Waldbrandbekämpfung, verschafften Gull einen gewissen Vorsprung.
Aber das hieß nicht, dass er sich taufrisch fühlte.
Er fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht und spürte die Bartstoppeln. Kein Wunder, er hatte sich seit einer Woche nicht rasiert. Meine Güte, wie sehr er sich nach einer Dusche, einer Rasur und einem eiskalten Bier sehnte! Heute Abend, nach einem fröhlichen Marsch durch die Bitterroot Mountains mit diesmal fünfundfünfzig Kilo Marschgepäck, würde er gleich alles drei bekommen.
Und morgen begann die nächste Phase. Morgen würde er Fliegen lernen.
Feuerwehr-Bodentrupps trainieren unglaublich hart. Sie schuften wie Tiere, vor allem bei gefährlichen Flächenbränden. Aber sie springen nicht aus Flugzeugen. Das war eine ganz neue Erfahrung. Er fuhr sich durch sein dichtes, dunkles Haar und kroch dann kurz vor Tagesanbruch aus dem Zelt hinaus in die kristallklare Schneelandschaft.
Seine katzengrünen Augen wanderten nach oben, warfen einen prüfenden Blick in den Himmel. Kurz verharrte er so, groß und taff in seiner braunen Hose und dem knallgelben Hemd. Das war fast alles, was er brauchte, und bald würde er tun können, wofür er hergekommen war.
Er schätzte die Höhe der Goldkiefer zu seiner Linken. So um die dreißig Meter. Er war am Vortag hinaufgeklettert, hatte seine Haken in ihre Rinde geschlagen und aus der Höhe über den Wald hinweggesehen, mit Steigeisen gesichtert und angeseilt.
Eine Herausforderung.
Durch den Schnee- und Kiefernduft lief er zum Verpflegungszelt, während das Lager langsam zu neuem Leben erwachte. Und trotz seiner Schmerzen und Blasen freute er sich auf das, was vor ihm lag.
Kurz nach Mittag sah Gull zu, wie die Drehkiefer umfiel. Er schob seinen Helm so weit zurück, dass er sich den Schweiß von der Stirn wischen konnte, und nickte seinem Partner an der Ziehsäge zu.
»Wieder eine, die ins Gras beißt.«
Dobie Karstain brachte gerade so die geforderte Mindestgröße von einem Meter siebenundsechzig zusammen. Mit dem Bart und seinem braunen Haar sah er aus wie ein Waldschrat. Die Sicherheitsbrille ließ seine funkelnden Augen noch größer wirken.
Dobie fuchtelte mit der Kettensäge. »Komm, lass uns Kleinholz aus ihr machen.«
Sie arbeiteten im Gleichklang. Gull hatte Dobie für einen Wackelkandidaten gehalten, aber der Bursche aus Kentucky war kräftiger und zäher als gedacht. Er mochte ihn, obwohl der eine ziemlich rustikale und konservative Weltanschauung hatte, und bemühte sich um ein freundschaftliches Verhältnis.
Wenn Dobie das Aufnahmetraining bestand, war es nicht unwahrscheinlich, dass sie in Zukunft wieder gemeinsam mit Säge und Schaufel arbeiten würden. Und zwar nicht an einem klaren, strahlenden Frühlingsmorgen, sondern inmitten eines Feuers, wo Vertrauen und Teamwork genauso unverzichtbar sind wie eine scharfe Pulaski – ein Werkzeug, Axt und Querbeil in einem.
»An die würde ich mich gern heranmachen, bevor sie uns zusammenklappt.«
Gull sah zu einer der Rekrutinnen hinüber. »Wie kommst du darauf, dass sie zusammenklappt?«
»Frauen sind für so eine Arbeit nicht geschaffen, Kumpel.«
Gull zog das Sägeblatt durch die Kiefer. »Die sind nur fürs Kinderkriegen da, meinst du?«
Dobie grinste in seinen Bart hinein. »Ich habe das nicht erfunden. Ich reite sie nur gern.«
»Du bist ein Arschloch, Dobie.«
»Mit dieser Meinung bist du nicht der Einzige«, gab Dobie gut gelaunt zu.
Gull musterte die Frau, eine kecke Blondine, vielleicht zwei, drei Zentimeter kleiner als Dobie. Aus seiner Sicht hatte sie sich genauso wacker geschlagen wie alle anderen. Libby, Skilehrerin aus Colorado, fiel ihm wieder ein. Er hatte gesehen, wie sie am Morgen ihre Blasen verarztete.
»Ich wette zwanzig Dollar mit dir, dass sie durchhält.«
Dobie lachte, während ein weiteres Stück Stamm davonrollte. »Ich nehme die Wette an, Kumpel.«
Nachdem ihr Job erledigt war, verarztete Gull seine eigenen Blasen. Als die Ausbilder gerade nicht hinsahen, kümmerte er sich auch noch um die von Dobie.
Sie liefen durchs Lager zu ihrem Marschgepäck. Noch ein Fünfkilometermarsch, dachte Gull, und dann würde er diesen schönen Tag mit einer Rasur, einer Dusche und einem kalten Bier abrunden.
Er setzte sich, schnallte sein Marschgepäck um, zog eine Packung Kaugummi hervor und bot Dobie davon an.
»Danke, gern.«
Gemeinsam gingen sie auf alle viere und erhoben sich anschließend.
»Stell dir einfach vor, du würdest ein hübsches Mädel tragen«, riet ihm Dobie und schielte zu Libby hinüber.
»Bei diesem Gewicht wäre sie mir etwas zu zierlich.«
»Wenn wir den Marsch erst hinter uns haben, wird sie dir schwerer vorkommen.«
Das mit Sicherheit, dachte Gull, während der Ausbilder auf dem felsigen, steilen Weg ein alles andere als gemütliches Tempo anschlug.
Sie feuerten sich gegenseitig an, das gehörte dazu. Sie nahmen sich gegenseitig auf den Arm, machten sich Mut, beleidigten sich, um die Gruppe noch einen Schritt, den entscheidenden Meter weiterzubringen. Bis zum ersten Ernstfall waren es nur noch ein paar Wochen. Und bei einem Waldbrand muss sich jeder auf den anderen verlassen können, ihr aller Leben hing davon ab.
»Und was machst du so in Kentucky?«, wollte Gull von Dobie wissen, während ein Habicht über ihnen schrie und sich Männerschweiß mit Kiefernduft mischte.
»Mal dies, mal jenes. In den letzten drei Sommern habe ich Waldbrände im Nationalpark bekämpft. Nachdem wir eines Nachts ein Feuer gelöscht hatten, habe ich mir einen eingemützt und gewettet, dass ich mich zum Feuerspringer ausbilden lasse. Also habe ich mich beworben, und hier bin ich.«
»Du machst das nur wegen einer Wette?« Allein der Gedanke erschien ihm lächerlich.
»Es ging um hundert Dollar, Kumpel. Und meine Ehre ist mir viel wert. Bist du jemals aus einem Flugzeug gesprungen ?«
»Ja.«
»Dazu muss man ziemlich verrückt sein.«
»Allerdings.«
»Und wie fühlt er sich an, der freie Fall?«
»So wie scharfer fantastischer Sex mit einer schönen Frau.«
»Genau so etwas habe ich mir erhofft.« Dobie rückte sein Marschgepäck zurecht und zuckte zusammen. »Denn dieses beschissene Training sollte es schon wert sein.«
»Libby hält durch.«
»Wer?«
Gull hob das Kinn. »Deine letzte Wette.«
Dobie biss die Zähne zusammen, während sie eine weitere Steigung nahmen. »Der Tag ist noch lange nicht vorbei.«
Doch am Ende bekam Gull seine Dusche und seine Rasur. Er schaffte es sogar noch, ein Bier zu trinken, bevor er wie ein Stein in sein Stockbett fiel.
Michael Little Bear passte Rowan auf dem Weg in den Kraftraum ab. »Ich brauche deine Hilfe beim Anfängertraining. Eigentlich sollte das Cards machen, aber der kotzt sich gerade die Seele aus dem Leib.«
»Kater?«
»Nein. Magen-Darm-Grippe oder so. Du musst mit ihnen laufen, geht das?«
»Klar. Ich trainiere mit Yangtree am Landesimulator. Da scheuche ich gern mal einen Tag lang die Anfänger vor mir her. Wie viele sind es?«
»Fünfundzwanzig, und die machen einen ziemlich guten Eindruck. Einer hat unseren Rekord beim Zweikilometermarsch gebrochen. Er hat ihn in sechs Minuten und neununddreißig Sekunden geschafft.«
»Ein echter Speedy Gonzalez! Mal sehen, wie er sich heute anstellt.«
Sie strich eine halbe Stunde von den geplanten anderthalb Stunden im Kraftraum. Wenn sie gemeinsam mit den Rekruten den Hindernisparcours absolvierte, wäre das genug Ausgleich. Außerdem konnte sie sich so davor drücken, Namensetiketten auf die Fallschirmtaschen zu nähen.
Ein echt guter Deal, dachte Rowan, als sie ihre Stiefel anzog. Sie griff nach den Unterlagen, einem Klemmbrett, einer Wasserflasche, setzte eine blaue Baseballkappe auf und lief nach draußen.
Über Nacht hatte sich der Himmel bewölkt, die Wolken sorgten dafür, dass es angenehm warm blieb. Auf dem Fliegerhorst herrschte reges Treiben, Läufer trainierten auf der Tartanbahn oder auf den Wegen, Laster lieferten Vorräte, Männer und Frauen eilten zwischen den Gebäuden hin und her. Ein Flugzeug startete und nahm eine Gruppe zu einem Übungssprung mit.
Lange bevor es den ersten Feueralarm gab, musste man sich auf seine Arbeit konzentrieren. Man musste nähen, Ausrüstung sortieren, Sprunggurtzeug auseinandernehmen, trainieren, Fallschirme packen.
Sie lief zum Trainingsgelände und blieb kurz stehen, als sie Matt begegnete.
»Was hast du vor?«, fragte er.
»Ich kümmere mich um die Neulinge. Cards liegt mit einem Magen-Darm-Virus flach. Und du?«
»Ich bin heute Nachmittag da oben.« Er sah zum Himmel auf, während das Flugzeug höher stieg. »Heute Vormittag bin ich noch beim Transportflugzeug.« Er lächelte. »Willst du tauschen?«
»Hm, ich soll Ausrüstung einladen statt Neulinge quälen? Kommt gar nicht infrage.«
»Das habe ich mir bereits gedacht.«
Rowan lief weiter und sah, dass sich ihre Schützlinge bereits versammelten. Sie hatten eine Woche im Zelt und mit dem Ausheben von Feuergräben hinter sich. Wenn sie nur einen Funken Verstand besaßen, hatten sie versucht, heute Nacht eine gehörige Portion Schlaf zu bekommen. Sie würde schon dafür sorgen, dass sich bald niemand mehr frisch und ausgeruht fühlte.
Einige sahen sich den Hindernisparcours an, um sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Clever, dachte sie. Man soll seinem Feind stets ins Gesicht sehen. Der Wind wehte Stimmen und Gelächter zu ihr herüber. Sie machten sich Mut. Auch das fand sie gut.
Der Hindernisparcours war eine echte Zumutung am Anfang eines langen, harten Tages. Sie sah auf die Uhr, während sie zwischen den hölzernen Plattformen hindurchging, und nahm ihre Position ein. Nach einem Schluck aus der Wasserflasche stieß sie einen langen, schrillen Pfiff aus.
»Antreten«, rief sie. »Ich bin Rowan Tripp, eure Ausbilderin bei unserem heutigen Spaziergang. Jeder von euch muss diesen Hindernisparcours absolvieren, bevor wir uns an die nächste Übung machen. Mit Singen und Marshmallowrösten am Lagerfeuer so wie letzte Woche ist es endgültig vorbei. Wir machen Ernst.«
Sie erntete Stöhnen, Gelächter und einige nervöse Blicke. Einundzwanzig Männer und vier Frauen verschiedenen Alters von unterschiedlicher Größe, Statur, Hautfarbe. Ihr Job bestand darin, sie auf ihre Aufgaben einzuschwören.
Sie mussten durch den Schmerz hindurchgehen.
Sie warf einen Blick auf ihr Klemmbrett und rief alle namentlich auf. »Wie ich hörte, hat einer von euch unseren Rekord beim Zweikilometerlauf gebrochen. Wer war das?«
»Gull«, rief jemand. Sie sah, wie der kleine Kerl den Mann neben sich in die Rippen stieß.
Etwa eins achtundachtzig, schätzte sie, frisch gewaschenes, zerzaustes dunkles Haar, ein freches Grinsen und eine lässige Haltung. »Gull Curry«, sagte er. »Laufen macht mir Spaß.«
»Schön für dich. Aber aufs Tempo allein kommt es nicht an. Dehnen, Leute! Ich will nicht, dass mir später jemand was vorjammert.«
Sie bildeten bereits eine Einheit, erkannte sie, und hatten erste Beziehungen geknüpft. Freundschaften, Rivalitäten – beides konnte nützlich sein.
»Fünfzig Liegestützen«, befahl sie und hakte sie ab, nachdem sie erledigt waren. »Ich werde euch durch diesen Hindernisparcours führen. Wir beginnen dort.« Sie zeigte auf niedrige Tunnel aus Draht, durch die sie kriechen, die senkrechten Stahlwände, die sie überwinden, die Seile, an denen sie hochklettern, und die Stangen, an denen sie sich entlanghangeln mussten. Zum Schluss kamen das Trampolin für die Saltos und der Auslauf.
»Jedes dieser Hindernisse simuliert eine Situation bei einem Waldbrand. Habt ihr eines überwunden, geht sofort das nächste an! Wer scheitert, ist draußen. Wenn ihr den Parcours absolviert habt, seid ihr eventuell gut genug, um als Feuerspringer zu arbeiten.«
»Nicht gerade ein Zuckerschlecken.«
»Was?«, fragte Dobie auf Gulls Gemurmel hin.
Der zuckte nur mit den Schultern und sah an dem Seitenblick, den ihm die scharfe Blondine zuwarf, dass sie seine Bemerkung gehört hatte.
»He, du da, Speedy Gonzalez! Du fängst an. Der Rest folgt im Gänsemarsch. Wenn ihr stürzt, dann seht zu, dass ihr den Weg frei macht. Stellt euch hinten an und versucht es noch einmal.«
Sie zog eine Stoppuhr aus ihrer Tasche. »Seid ihr so weit?«
Die Gruppe antwortete, und Rowan drückte auf den Knopf. »Los.«
Gut, dachte Rowan, lauter Leute, die gut zu Fuß waren.
»Die Knie hochziehen«, rief sie. »Ein bisschen energischer, wenn es geht. Meine Güte, ihr seht aus wie eine Mädchenclique beim Sonntagsspaziergang.«
»Ich bin ein Mädchen«, erwiderte eine Blondine mit knallblauen Augen, und Rowan musste grinsen.
»Dann zieh die Knie hoch. Tu so, als würdest du diesen Typen einen Tritt in die Eier verpassen.«
Sie lief neben Gull her und joggte wieder zurück, während er nach vorn rannte, Anlauf nahm und das erste Hindernis überwand. Dann überraschte sie der kleine Typ damit, dass er wie eine Kanonenkugel darüberschoss. Sie kletterten, sprangen, krochen und zogen sich an den Hindernissen hoch. L. B. hatte recht: Das war eine verdammt gute Truppe.
Sie sah zu, wie Gull die erforderlichen Saltos auf dem Trampolin absolvierte. Sein kleiner Kumpel stieß ein wildes Kriegsgeheul aus, in das er einfiel. Ein echter Speedy Gonzalez, dachte sie, während sie nach wie vor vornweg lief. Mit Sicherheit würde er das Seil hochklettern wie ein Affe eine Liane.
Die Blondine holte auf, aber als sie zum Seil kam, rutschte sie schon in geringer Höhe ab.
»Nicht runterrutschen«, rief Rowan mit einer Stimme wie ein Peitschenhieb. »Mach mir bloß keine Schande, Barbie! Willst du das Ganze wiederholen?«
»Nein, bloß nicht.«
»Möchtest du Feuerspringerin werden oder dich lieber zu Hause beim Shoppen verausgaben?«
»Beides.«
»Dann hoch mit dir.« Rowan sah das Blut am Seil. Es war rau, riss beim Abrutschen die Handflächen auf, und das tat verdammt weh. »Klettere das Seil hoch!«
Sie kletterte grausame zwölf Meter.
»Runter da, los, weiter, los!«
Sie rutschte herunter und hinterließ einen blutigen Fleck auf dem nächsten Hindernis. Aber sie schaffte es.
Alle hatten es geschafft, stellte Rowan fest und ließ ihnen einen Moment Zeit, um zu verschnaufen, zu stöhnen und sich die schmerzenden Muskeln zu massieren.
»Gar nicht so schlecht. Wenn ihr das nächste Mal ein Seil oder eine Wand hoch müsst, hat sich der Wind gedreht und ein Lauffeuer euren Sicherheitsbereich erfasst. Da müsst ihr mehr bringen als das. Wie heißt du, Barbie?«
»Libby.« Die Blondine hatte ihre blutenden Hände mit den Handflächen nach oben auf die Oberschenkel gestützt.
»Libby Rydor.«
»Jeder, der mit blutigen Händen ein Seil hochklettert, schafft das.« Rowan klappte den Erste-Hilfe-Koffer auf. »Komm, verbinden wir die Hände. Versorgt eure Wehwehchen und holt euch dann eure Ausrüstung. Die volle Ausrüstung«, fügte sie hinzu, »um das Landen zu üben. Die wiegt fünfzehn Kilo.«
Gull sah zu, wie sie Libbys Handflächen mit Salbe einstrich und geschickt verband. Sie sagte etwas, das Libby zum Lachen brache, obwohl ihre Hände höllisch wehtun mussten.
Sie hatte diese Gruppe über den Hindernisparcours gejagt, mit genau der richtigen Mischung aus wüsten Beleidigungen und Scherzen. Außerdem konzentrierte sie sich auf diejenigen, die Probleme hatten, und fand das rechte Wort zur rechten Zeit. Beeindruckende Fähigkeiten, die er sehr zu schätzen wusste.
Auch ansonsten war er beeindruckt.
Diese Blondine hatte eine tolle Figur und war bestimmt einen Meter achtundsiebzig groß. Sein Onkel hätte sie als stattlich bezeichnet. Und er? Jedenfalls hatte sie eine Figur zum Reinbeißen. Dazu die blauen Augen mit den schweren Lidern und das Gesicht – alles in allem eine ziemlich unschlagbare Mischung. Selbstbewusst war sie noch dazu. Und er fand nichts attraktiver als Selbstbewusstsein. Also wartete er, bis sie das Trainingsgelände überquerte, und lief dann neben ihr her.
»Wie geht es Libbys Händen?«
»Das wird schon wieder. Auf diesem Spielplatz kommt kaum einer ohne Abschürfungen davon.«
»Du auch nicht?«
»Wenn man nicht blutet, woher will man dann wissen, ob man überhaupt dabei war?« Sie legte den Kopf schräg und musterte ihn mit Augen, die ihn an das Eisblau der Arktis erinnerten. »Wo hast du dich bisher rumgetrieben?«
»Kalifornien.«
»In Kalifornien gibt es eine tolle Feuerspringereinheit.«
»Ja, das stimmt. Die kenne ich sogar. Ich war fünf Jahre bei der Feuerwehr von Redding.«
»So was Ähnliches habe ich mir bereits gedacht. Wirst du in Kalifornien polizeilich gesucht, oder warum bist du nach Missoula gekommen?«
»Die Anzeige wurde zurückgezogen«, sagte er, woraufhin sie lachen musste. »Ich bin wegen ›Iron Man‹ Tripp nach Missoula gekommen.« Als sie stehen blieb, blieb er auch stehen. »Ich nehme an, er ist dein Vater.«
»Stimmt genau. Kennst du ihn?«
»Natürlich. Lucas ›Iron Man‹ Tripp ist eine lebende Legende. Ihr hattet im Jahr 2000 einen schlimmen Brand hier.«
»Ja.«
»Ich ging damals noch aufs College. Ich sah in einer Nachrichtensendung ein Interview mit Iron Man, aufgenommen auf dem Fliegerhorst, direkt nach vier Tagen in der Feuerhölle.«
Gull sah ihn wieder genau vor sich. »Sein Gesicht war rußgeschwärzt, seine Haare waren aschebedeckt und seine Augen blutunterlaufen. Er sah aus, als käme er aus einer Schlacht, was ja in gewisser Weise auch stimmte. Der Reporter stellte die üblichen idiotischen Fragen. ›Wie haben Sie sich in dieser Hölle gefühlt? Hatten Sie Angst?‹ Doch er blieb die Ruhe selbst. Man konnte sehen, wie erschöpft er war, aber er antwortete: ›Lassen Sie es mich so sagen: Der Feuerdrache wollte uns verschlingen, aber wir haben ihm gehörig in den Hintern getreten. ‹ Mit diesen Worten ließ er ihn stehen.«
Sie sah die Szene ebenfalls vor sich und konnte sich an weitere Details erinnern. »Das treibt dich nach Missoula? Deswegen willst du Feuerspringer werden?«
»Das war erst der Anfang. Die restliche Geschichte erzähle ich dir gern ein andermal bei einem Glas Bier.«
»Du wirst viel zu beschäftigt sein, um Bier zu trinken und mir deine Lebensgeschichte zu erzählen. Kümmere dich lieber um deine Ausrüstung. Du hast noch einen weiten Weg vor dir.«
»Meine Einladung auf ein Bier gilt jedenfalls. Ob ich dir dann meine Lebensgeschichte erzähle, bleibt abzuwarten.«
Sie sah ihn wieder mit diesem schräg gelegten Kopf an. Ein leichtes Grinsen spielte um ihre Mundwinkel, was er unheimlich sexy fand. »Du solltest mich lieber nicht anmachen, Feuerwehrmann. Ich lasse mich generell nicht mit Kollegen ein und schon gar nicht mit Anfängern. Wenn ich Zeit und Lust habe, mich ein bisschen zu amüsieren, halte ich lieber nach einem Außenstehenden Ausschau, mit dem ich ein bisschen spielen kann, wenn mir die langen Winternächte zu einsam werden. Und den ich dann wieder ablege, sobald die Saison beginnt.«
Dieses Selbstbewusstsein! »Vielleicht brauchst du ja mal Tapetenwechsel.«
»Du verschwendest nur deine Zeit, Grünschnabel.«
Als sie mit ihrem Klemmbrett davonstolzierte, musste er grinsen. Es war schließlich seine Zeit, die er da verschwendete, und sie war das wert.
Gull ertrug stoisch das Hochziehen und den Aufprall auf den Boden. Dieser Landesimulator schaffte es, die Belastungen für Knöchel und Knie bei einer Fallschirmlandung täuschend echt nachzuahmen.
Er schlug auf, wurde zusammengestaucht, rollte sich ab und zog sich dabei Beulen, blaue Flecke und Prellungen zu. So lernte er, Kopf und Körper zu schützen. Nun wusste er, was einem so durch den Kopf geht, wenn der Boden in einem Wahnsinnstempo näher kommt.
Der Sprungturm war die nächste Herausforderung. Er kletterte mit seiner Partnerin mörderische fünfzehn Meter nach oben.
»Wie läuft’s?«, fragte er Libby.
»Ich komm mir vor, als wäre ich über eine Felswand abgestürzt. Dafür geht’s ganz gut. Und dir?«
»Ich weiß nicht so recht, ob ich vom Felsen oder auf Felsen gefallen bin.« Auf der Plattform angekommen, grinste er Rowan an. »Macht das so viel Spaß, wie es aussieht ?«
»Oh, deutlich mehr Spaß.« Sarkasmus schwang in Rowans Stimme mit, als sie ihn am Seilzug befestigte. »Da unten ist dein Zielpunkt.« Sie zeigte auf einen Berg Sägemehl tief unter ihnen. »Du wirst einen gewissen Schwung mitbekommen, den du beim Landen spüren wirst. Roll dich zusammen und schütze deinen Kopf.«
Er musterte den Sägemehlhaufen. Von hier oben sah er verdammt klein aus. »Verstehe.«
»Seid ihr so weit?«, fragt Rowan beide.
Libby atmete tief durch. »Wir sind so weit.«
»In die Tür!«
Das ist schnell, dachte Gull, als er auf das Trainingsgelände zuraste. Sehr schnell sogar.
Ihm blieb kaum Zeit, seine Checkliste für die Landung durchzugehen, als er auch schon das Sägemehl vor Augen hatte. Er landete und rollte sich zusammen, während er mit beiden Händen seinen Helm festhielt. Mühsam nach Luft ringend sah er zu Libby hinüber. »Alles in Ordnung?«
»Diesmal bin ich definitiv auf dem Berg aufgeschlagen. Aber soll ich dir was sagen? Das hat Spaß gemacht. Ich will gleich noch mal.«
»Der Tag ist ja noch jung.« Er kam auf die Beine und streckte die Hand aus, um sie hochzuziehen.
Nach dem Sprungturm wartete das Klassenzimmer auf sie. Da er viele Jahre Feuerwehrmann gewesen war,
Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel Chasing Fire bei G. P. Putnam’s Son, Penguin Group (USA) Inc., New York
Copyright © 2011 Nora Roberts
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Redaktion | Claudia Krader Satz | Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-641-09186-6
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