Sonderauftrag - Gabriela Heidenreich - E-Book

Sonderauftrag E-Book

Gabriela Heidenreich

4,3

Beschreibung

Im Jahr 1995 werden in Nordvorpommern bei Umbauarbeiten in einem Gutshaus ein eingemauertes Skelett und eine Kiste mit verschollenen Kunstschätzen gefunden. Ermittlungen der Stralsunder Kriminalpolizisten Kröger und Vollert ergeben, dass es sich bei dem Toten um Wernher von Schleyersdorf handelt, Sohn des ehemaligen Gutsbesitzers und Angehöriger einer Spezialeinheit der SS. Bald darauf wird die polnische Kunstexpertin Ewa Bednarek ermordet aufgefunden. Reicht der Schatten des Krieges bis in unsere Zeit?

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Gabriela Heidenreich / Thomas Trczinka

Sonderauftrag

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2013 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung und E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Increa – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4166-0

1

Langsam quälte sich der Lastkraftwagen durch die Straßen von Stralsund. Vorbei an Ruinen und Häusern, aus denen kein Lichtschein drang. Verdunkelung war das Gebot der Stunde. Unbeeindruckt davon flogen jeden Tag und jede Nacht alliierte Bomber und warfen zielsicher ihre tödliche Fracht über dem Reichsgebiet ab.

Der Gefreite am Lenkrad konnte vor Müdigkeit kaum noch die Augen offen halten. Die Wirkung des Pervitins ließ nach. Das Klingeln der Feuerwehrglocken ließ ihn an die Seite fahren. Er blickte zu seinem Beifahrer und bemerkte: »Herr Obersturmbannführer? Wenn Sie noch ’ne Hermann-Göring-Pille für mich hätten? Mir fallen gleich die Augen zu!« Er sprach den breiten ostpreußischen Dialekt seiner Vorfahren, ganz anders als der Offizier neben ihm.

Der Angesprochene schaute kurz zu ihm und meinte dann: »Wir sind bald da, Radzuweit! Da brauchen Sie keine Pille mehr. Spätestens in einer Stunde werden Sie schlafen wie Gott in Frankreich. Mensch, Sie sind doch jung, da stecken Sie die fehlenden Stunden einfach weg oder schlafen nachher ein bisschen schneller!« Er lachte meckernd, bemerkte dann aber die aschgraue Gesichtsfarbe seines Fahrers. »Hier, nehmen Sie mal einen Schluck aus der Pulle. Bester französischer Kognak! Der wird Ihnen guttun.«

Er hielt dem Gefreiten die Feldflasche hin und nickte ihm aufmunternd zu. Dieser griff zu und nahm einen kräftigen Zug. Die Wärme des Kognaks rann durch seine Kehle und verbreitete sich wohltuend im ganzen Körper. Er atmete tief aus und gab das Getränk zurück.

»Danke!«

Der Offizier verschloss das Gefäß und nickte nur kurz. »Na los, die restlichen Kilometer schaffen wir auch noch. Sieg Heil und fette Beute!« Die letzten Worte wurden übertönt von der Feuerwehr, die an ihnen vorbeirumpelte. Irgendwo in der Stadt brannte es wieder.

Radzuweit fuhr erneut an. Der Kognak mobilisierte die letzten Reserven in dem jungen Körper. Der Offizier hatte es sich wieder bequem gemacht, so gut es ging. Vorsichtig schaute er auf den kleinen Vorrat von Pervitin-Tabletten. Das fehlte ihm noch, dachte er, die wenigen mit seinem Fahrer zu teilen. Er würde sie noch dringend benötigen und weitere waren nicht mehr zu bekommen.

Als Hermann-Göring-Pille, Panzerschokolade oder Stuka-Pille war dieses Medikament in den ersten Kriegsjahren bei der kämpfenden Truppe beliebt gewesen. Es vertrieb Müdigkeit, man hatte plötzlich Selbstvertrauen und ein Gefühl der Stärke. Wen interessierte es, dass es süchtig machte und zu Psychosen führte? Niemanden! Da die häufige Einnahme von Pervitin zur Gewöhnung und zum Wirkungsverlust führte, war es in den letzten Jahren lediglich auf Rezept zu bekommen. Der Offizier hatte es nur im äußersten Notfall genommen, und bald würde wieder so ein Notfall sein, er konnte es förmlich fühlen.

Der Fahrer wischte sich den Schweiß von der Stirn. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er nach draußen, wo die schmalen Schlitze der Scheinwerfer es kaum schafften, das Dunkel ein wenig zu erhellen.

Plötzlich war das schwache Auf und Nieder eines roten Taschenlampenlichtes zu sehen. Der Fahrer trat auf die Bremse. Kreischend hielt der Laster. Ein Kontrollposten war quer über die Straße aufgebaut worden. Jedes Fahrzeug, das die Stadt verlassen oder in sie hinein wollte, wurde kontrolliert.

Ein Posten trat an die Beifahrertür und verlangte die Papiere. Der Offizier griff in seine Kartentasche und reichte durch das geöffnete Fenster das Gewünschte hinaus. Die Taschenlampe wurde aufgeblendet, grelles Licht fiel auf die Papiere und danach auf das Gesicht des Obersturmbannführers. Geblendet drehte dieser den Kopf weg und knurrte den Posten an: »Sind Sie noch bei Trost? Leuchten Sie mit Ihrer Funzel sonst wen an, aber nicht mich.«

Die Stimme des Offiziers klang schneidend und befehlsgewohnt, doch der Posten schaute gelangweilt und müde in das Gesicht des Mannes. Hier hatte er das Sagen.

»Aussteigen! Ladungskontrolle!« Er winkte nur kurz mit der MP. »Und das Ganze zack, zack!«

»Sehen Sie zu, dass Sie den Weg freigeben, oder ich lasse Sie erschießen!« Die Stimme des Offiziers war nur um eine Nuance lauter geworden, aber sie klang noch schneidender als vorher. Leise setzte er hinzu: »Schauen Sie gefälligst auf die Weisung des Reichsführers SS, Sie Trottel.«

Der Gescholtene warf einen intensiven Blick auf die Papiere des Offiziers. Hatte er vorher nur flüchtig kontrolliert, ließen ihn die Stimme und die Selbstsicherheit des Mannes vorsichtig werden. Plötzlich stutzte er. Er nahm Haltung an, knallte die Hacken zusammen und reichte mit einem leisen »Entschuldigung, Herr Obersturmbannführer!« die Papiere wieder in den Wagen hinein. Dann riss er den rechten Arm zum Gruß nach oben. Die zwei sichernden Posten senkten ihre MP-Läufe und gaben die Straße frei.

Ärgerlich verstaute der Offizier die wichtigen Dokumente wieder. »Geben Sie Gas, Radzuweit! Los, los, wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Der Fahrer kuppelte ein und langsam gewann der Laster wieder an Fahrt. Stralsund blieb hinter ihnen zurück und mit ihm der Kontrollpunkt, von denen es so viele gab. Versprengte Wehrmachtseinheiten und Deserteure wurden durch diese Kontrollen aufgespürt und gesammelt, um das endgültige Ende des Krieges noch ein wenig hinauszuzögern.

Sie fuhren auf Kopfsteinpflaster und kamen zügig voran. Auf einer Allee rollten sie jetzt, nur noch wenige Kilometer vom Heimatort des Offiziers entfernt. Hier kannte der Mann sich aus. »In etwa 300 Metern kommt auf der rechten Seite ein Weg, da biegen wir ein. Tanken und Ladungskontrolle!«

»Jawoll, Herr Obersturmbannführer!«

Der Fahrer riss sich zusammen. Gott sei Dank, nur noch wenige Meter, dann konnte er sich erst mal die Beine vertreten. Die letzten Kilometer war er nur noch wie in Trance gefahren. Diese verdammte Müdigkeit! Es war ja auch idiotisch, von Königsberg bis Thüringen und dann bis hier hoch an die vorpommersche Küste zu fahren. Von Thüringen bis zu den Amerikanern wäre es nur ein Katzensprung gewesen. Wie sicher und gemütlich hätte man dort auf das Kriegsende warten können. Aber nein! In geheimer Mission bis hierher. Immer den Russen im Nacken. Vorbei an endlosen Flüchtlingsströmen, an abgekämpften Soldaten und Offizieren, Tote und Verwundete hinter sich lassend. Das Artilleriefeuer des Russen wurde von Tag zu Tag lauter. Die Einschläge kamen immer dichter. Die Front rückte näher. Radzuweit dachte an seine Familie, die wohl auch den Hof in Ostpreußen verlassen hatte. Dort war der Russe schon und hierher würde er auch bald kommen. Es war nur noch eine Frage von Tagen.

»Rechts rein, Mann!«

Der Ruf schreckte ihn aus seinen Gedanken. Er bremste scharf, und mechanisch schlug er das Lenkrad ein. Gehorsam bog der Opel Blitz in den Seitenweg ein und Radzuweit hielt. Der Motor erstarb, als bräuchte auch er eine Pause. Eine ungewohnte Stille hüllte die beiden Männer ein.

»Los, schnell!« Der Offizier trieb zur Eile. »Pennen können Sie nachher! Ich übernehme dann das Steuer!«

Überrascht schaute Radzuweit zu seinem Vorgesetzten hinüber.

»Nun gucken Sie nicht wie ein abgestochenes Kalb! Raus aus dem Wagen! Die frische Luft wird Ihnen guttun.« Aufmunternd nickte er dem Gefreiten zu, dann öffnete er die Beifahrertür und sprang hinaus. Tief atmete er die klare Nachtluft ein. Hier roch es nach Land und nach Frühjahr. Keine Spur von Tod und Verbranntem.

Radzuweit hatte ebenfalls die Fahrerkabine verlassen. Er ging zum Heck des Wagens und öffnete die Klappe zur Ladefläche. Mühsam zog er mehrere Kanister herunter. Trotz der Dunkelheit fand er zielsicher den Tank, setzte den Trichter auf und begann, einen Kanister nach dem anderen einzufüllen. Die geleerten schmiss er achtlos ins Gras, denn sie hatten ihren Zweck erfüllt, und Sprit, um sie wieder vollzumachen, gab es nicht mehr.

Der Offizier stand etwas abseits und beobachtete das Betanken mit wachsamem Blick.

Soeben hatte der Fahrer den letzten Kanister weggeworfen und schaute nun zu ihm.

»Ladungskontrolle!«

Radzuweit nickte schwach. Für ein Jawoll fehlte ihm die Kraft. Er ging nach hinten, um wie befohlen nach der Ladung zu sehen. Diese Scheißkisten, dachte er noch, dann hörte er ein trockenes Knacken. Einen Laut, den er schon oft vernommen hatte, aber er hätte nie geglaubt, dass dieses Geräusch einmal für ihn bestimmt sein würde. Es war dieses Klicken, wenn eine Patrone in den Lauf geschoben wird, das ihn augenblicklich stehen bleiben ließ. Er wollte sich umdrehen. Den Schuss, der ihn in den Rücken traf, hörte er nicht mehr. Als sein Körper auf dem Boden aufschlug, war er schon tot.

»Hab doch gesagt, ich übernehme.« Ein höhnisches Grinsen trat in das Gesicht des Offiziers. Er sicherte die Pistole und steckte sie wieder in die Tasche.

Ungerührt trat er an die Ladefläche. Sein Blick streifte die restlichen Kanister, die darauf standen, von Reservebereifung umringt. Sprit und Reifen waren in diesen Zeiten mehr als Gold wert, aber die Zeiten würden sich auch wieder ändern. Wichtiger waren die drei Kisten im hinteren Teil. Nur ihretwegen hatte er die Strapazen auf sich genommen, von Süd nach Nord zu fahren.

Er schloss die Ladungsklappe und sicherte die Riegel mit den Splinten. Leicht fröstelnd schlug er den Kragen der Uniformjacke hoch. Dann schwang er sich hinter das Lenkrad. Mit ruhigen Fingern zündete er sich eine Zigarette an und inhalierte tief einatmend den Rauch.

Vieles hatte er lernen müssen, auch das Töten. Er schoss nicht oft, aber der Fahrer war eine Gefahr geworden – zu viel hatte er gesehen und gehört, genauso wie der Unterfeldwebel vor einigen Wochen. In den letzten Monaten hatte er mehr Menschen erschossen als all die Jahre zuvor. Er durfte keine Mitwisser hinterlassen, alle Spuren der Vergangenheit mussten ausgelöscht werden.

Ein kurzer Blick noch durch das kleine Kabinenfenster in Richtung Ladefläche, dann startete er den Motor, legte einen Gang ein und wendete den Laster. Wieder zurück auf der Allee beschleunigte er stark. Die Reifen dröhnten auf dem Kopfsteinpflaster. Nur noch wenige Kilometer und er würde sein Elternhaus erreichen. Von da an ginge es nur noch Richtung Westen. Ihn kriegten die Russen nicht – ihn nicht. Sein Gesicht war zu einer hässlichen Fratze verzogen, die ihm etwas Dämonenhaftes gab.

2

Mit kräftigen Schlägen trieb Werner Peters den Meißel in die Fuge. Langsam löste sich der erste Stein aus dem Verbund. Gleich würde er den Ziegel herausheben können und es würde leichter werden.

Mit seinen 48 Lenzen war er der Älteste in der Brigade und froh, überhaupt noch Arbeit zu haben. Der Umbau des ehemaligen Gutshauses zu einem Hotel war wie ein warmer Sommerwind über die Region gekommen. In diesem ruhigen, abgelegenen Winkel von Vorpommern entstanden endlich wieder neue Arbeitsplätze.

Lage für Lage hob Werner Peters die ehemals roten Ziegel ab und ließ sie in die hinter ihm stehende Schubkarre fallen. War diese gefüllt, so schob der Lehrling sie mit kräftigem Schwung über die ausgelegten Bohlen aus dem Keller und kippte sie in den bereitgestellten Container.

Seit zwei Wochen arbeiteten sie schon hier. Der Umbau hatte sie bisher vor keine Probleme gestellt. Heute würden sie den zugemauerten Gewölbeteil öffnen und morgen könnten sie an den Abriss des Ofenfundamentes gehen. Dieses Fundament machte ihm einige Sorgen. Stahlbewehrter Beton war vor circa 100 Jahren beim Unterbau der Heizungsanlage verwendet worden. Große Technik konnten sie im Keller nicht einsetzen und so mussten sie alles in mühseliger Handarbeit herausschaffen. Zu allem Überfluss war am Morgen auch noch der elektrische Meißelhammer ausgefallen.

Werner Peters arbeitete in ruhigen, gleichmäßigen Zügen. Die Arbeit machte ihm Spaß. Hier sah man noch, was man schaffte, außerdem gab es kaum Krach. Wenn es nach ihm ginge und wenn das Fundament nicht wäre, dann könnte der Meißelhammer noch länger defekt bleiben, aber der Vorarbeiter war schon nach Ersatz unterwegs. Heute musste alles schnell, schnell gehen. Peters hielt kurz inne und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann machte er weiter. Mit seinen großen Händen schaffte er Stein für Stein beiseite. Schon konnte man in den seit Jahrzehnten von niemandem betretenen Teil des Kellers hineinschauen.

Staub lag wie Nebel in der Luft und machte das Atmen schwer. Peters bekam Durst. Die Zunge klebte ihm am Gaumen und der Staub kribbelte in seiner Nase. Nur noch die letzten Lagen Ziegel, dann konnten sie Pause machen. Plötzlich wurden die Bewegungen von Werner Peters immer langsamer. Etwas in dem freigelegten Abschnitt erregte seine Aufmerksamkeit.

»Hol mal die Lampe«, rief er dem Lehrling zu, »und leuchte da rein!« Er zeigte mit behandschuhtem Finger in Richtung des freigelegten Teils, der, in Dunkelheit gehüllt, vor ihnen lag.

Der Lehrling nahm die nächstbeste Baulampe vom Haken und beugte sich über den stehen gebliebenen Rest der Wand. Er erblickte auf dem Boden einen menschlichen Schädel, dessen leere Augenhöhlen ihn anzustarren schienen. Im kalten Licht der Lampe sah der Schädel bleich und unnatürlich aus, ein gespenstisches Relikt aus vergangenen Zeiten. Weitere Knochen und dunklen, zerfallenen Stoff riss das Licht erbarmungslos aus der Finsternis. Ein Goldzahn glänzte, als er direkt angeleuchtet wurde, kurz auf.

»Meine Fresse!«, staunte der Lehrling. »Ein totes Skelett!«

»Blödmann, ein Skelett in diesem Zustand ist immer tot«, erwiderte Werner Peters. »Such ein Telefon, ruf die Polizei und halt nicht Maulaffen feil!«

Langsam bewegte sich der Lehrling, die Lampe wie einen Schild vor sich haltend, aber je mehr er sich dem Kellerausgang näherte, umso schneller wurde er. Werner Peters blieb mit dem Skelett und seinen Gedanken allein zurück.

3

Oberkommissar Kröger genoss den ersten Schluck seines geliebten Bürokaffees, eines Gebräus, das mehr Kaffeepulver als Wasser enthielt, jedenfalls nach Meinung mancher Kollegen. Er liebte diese Art von Kaffee. Stark musste er sein, von Hand gebrüht und selbstverständlich ungefiltert.

Andächtig hielt er die Tasse in beiden Händen und pustete vorsichtig den Schaum von der Oberfläche. Ein träumerischer Zug trat in sein Gesicht, als er so dasaß. Wer ihn nicht kannte, ließ sich von diesem versonnenen Ausdruck leicht täuschen. Kröger war kein Träumer. Wann er aufgehört hatte, seinen Fantasievorstellungen nachzujagen, wusste er selbst nicht mehr. Die 30 Jahre Polizeidienst mochten dazu beigetragen haben.

Er schaute über die Tasse zu seinem jüngeren Kollegen Vollert. Dieser hatte die Tageszeitung vor sich aufgeschlagen und studierte die Immobilienanzeigen.

»Immer noch auf Wohnungssuche?«

Vollert nickte nur.

»Kauf dir ein Haus.« Kröger lächelte seinen Kollegen an, der überrascht aufschaute.

»Dasselbe meint Sigrun auch, aber …«

»Was aber – wenn deine Frau das auch meint, worauf wartest du noch?«

Das Klingeln des Telefons enthob ihn einer Antwort.

Kröger hob ab.

»Ja? … Ja! … Ach nee! … Ein was? … Ist schon gut. Ich dachte nur, mich verhört zu haben. Die Spusi? … Und Gerichtsmedizin? … Alles klar, wir fahren raus. … Ja, du auch.«

Er legte auf und trank einen Schluck seines Kaffees.

»Und?« Vollert schaute neugierig zu Kröger.

»Trink deinen Kaffee aus, wir haben einen Fall. Naja, vielleicht.«

»Wieso vielleicht?«

»Ein Skelett wurde gefunden, in Reedich, bei Umbauarbeiten. Spurensicherung und Gerichtsmedizin sind schon draußen. Nur wir fehlen noch. Also komm!«

Er erhob sich. Vollert faltete die Zeitung akkurat zusammen.

»Schmeiß die weg und bau dir ein Haus.« Kröger hielt Vollert lächelnd den Autoschlüssel hin. Er verabscheute das Autofahren. Bei jeder passenden und auch mal unpassenden Gelegenheit drückte er sich davor.

Vollert schraubte seine Einsfünfundneunzig nach oben. Er war nicht ganz so schlank wie Kröger, aber als dick konnte man ihn auch noch nicht bezeichnen. Vielleicht in zehn oder 15 Jahren, wenn er weiter so wenig auf seine Ernährung achtete wie jetzt. Hastig nahm er noch einen Schluck aus der Tasse, griff dann nach dem Autoschlüssel und verließ hinter seinem Kollegen das Büro.

Die Fahrt in das zehn Kilometer entfernte Reedich verlief fast schweigend. Vollert hatte seine Stirn in Falten gelegt. Wahrscheinlich dachte er über Krögers Vorschlag nach. Das schlechte Kopfsteinpflaster riss ihn aus seinen Überlegungen. »Mein Gott, was für eine Straße!«, fluchte er und bremste den Wagen ab.

»Ja, mehr Löcher als ein Schweizer Käse«, bestätigte Kröger, der sich an den Haltegriff über der Tür geklammert hatte. Beide wurden kräftig hin- und hergeworfen, bis das Fahrzeug seine Geschwindigkeit verringert hatte. Die einzelnen Bodenwellen schlugen heftig in das Fahrzeuginnere durch. Polternd dröhnten die Reifen auf dem Pflaster.

»Dass es überhaupt noch solche Straßen gibt!« Vollert schüttelte den Kopf.

»Mehr, als du denkst. Du musst nur mal raus aus deinem Neubaublock.«

»Sicher!«

»Außerdem ist das doch eine schöne Allee.« Kröger entspannte den Griff und ließ sich wieder in den Sitz gleiten.

»Schöne Allee. – Schmal wie ein Bettvorleger!« Er versuchte, den größten Fahrbahnunebenheiten auszuweichen, aber nach einigen erfolglosen Bemühungen ließ er es bleiben. Ein Traktor, der ihnen entgegenkam, zwang ihn, an die Seite zu fahren.

»Mann, hast du das gesehen?« Ärgerlich schaute er dem Gespann hinterher. »Der macht kein bisschen Platz, der Sausack!«

Kröger lachte kurz auf und meinte dann kopfschüttelnd: »Carsten, wo soll der Trecker denn hier hin? Sich in Luft auflösen?«

»Platz machen soll er! Wie er das macht, ist mir egal.« Vollert kuppelte wieder ein und fuhr weiter. Wenige Minuten später kam das Ortsschild von Reedich in Sicht. Er bremste und bog nach rechts ab.

In einiger Entfernung sahen sie den Turm des Gutshauses, das von allen hier nur ›Schloss‹ genannt wurde. Auf einer kleinen Anhöhe stand es, das Dorf weit überragend, prachtvoll. Es war Anfang des 19. Jahrhunderts im klassizistischen Stil erbaut worden, um vom Reichtum und der Macht seiner Bewohner zu künden.

Die beiden Kriminalisten fuhren langsam die Dorfstraße entlang. Nicht, weil sie sich den Ort ansehen wollten, sondern wegen der Straßenverhältnisse: War die Allee schon eine Zumutung, so war die Dorfstraße eine Kata­strophe. Das Kopfsteinpflaster ragte in der Mitte der Straße in die Höhe, aber die Randbereiche waren im Lauf der Jahrhunderte stark eingefahren worden. An manchen Stellen hatte sich das Pflaster gefährlich gesenkt und Vollert hatte Angst, mit dem Wagen aufzusetzen.

»Himmel, Arsch und Wolkenbruch! Was ist das für ein Weg!« Behutsam gab er Gas und aufmerksam nach vorn schauend lenkte er das Fahrzeug um die gefährlichsten Löcher herum. Für die Schönheit der angrenzenden Häuser hatte er keinen Blick. Kröger dagegen konnte in Ruhe die Fassaden und Einfahrten bewundern. Nur Jahreszahlen an den Giebeln verrieten, dass die meisten dieser Häuser um die Jahrhundertwende gebaut worden waren. Man sah ihnen das Alter nicht an. Moderne Fenster und Türen, blanke Dächer und farbenfrohe Fassaden kündeten vom Fleiß ihrer Bewohner. Viel war in den letzten Jahren geschaffen worden, vorbei die Zeit der Mangelwirtschaft. Baumärkte und Handwerksbetriebe buhlten um Kunden.

Rumpelnd nahm der Wagen eine leichte Steigung, vorbei an einer großen Kastanie. Die Zufahrt zum Schloss war gesperrt, sie wurden von einem uniformierten Posten angehalten. Als er Kröger und Vollert erkannte, wies er die beiden kurz ein.

»Am besten, ihr parkt gleich hier vorn. Die Spurensicherung ist bereits da und Doktor Hüpenbecker ist auch schon bei der Arbeit.«

»Staatsanwaltschaft?«

»Ja, Frau Meinke.«

Kröger bedankte sich bei dem Posten und Vollert parkte das Auto unter einer alten Ulme. Er schaute, den Kopf in den Nacken gelegt, angestrengt nach oben, in die Krone des Baumes.

»Suchst du was?«

»Ja. Ich schau nach trockenen Ästen, oder möchtest du dem Chef später beichten, dass der Dienstwagen von herunterfallenden Ulmenästen beschädigt wurde?«

»Nein, das müsstest du dann übernehmen. Erstens bist du der Kraftfahrer und zweitens der mir Unterstellte.«

Vollert drehte langsam den Kopf zu seinem Kollegen. Als er die Lachfältchen in dessen Gesicht sah, winkte er nur ab. »Ja, klar. Alles Unangenehme macht Vollert. Wusstest du eigentlich, dass man im alten Rom den Überbringer schlechter Nachrichten hinrichten ließ?«

»Ja. Aber zum Glück leben wir nicht mehr im alten Rom. Stell dir mal unsere Nachrichtensprecher vor: Nach jeder Sendung würde ein Arbeitsplatz frei. Aber sag mal, woher weißt du, dass es sich bei diesem Baum um eine Ulme handelt?«

»Tja, Horst«, Vollert spielte mit dem Autoschlüssel, »ich kann dir sogar erklären, warum die Ulmen in den letzten Jahrzehnten vielerorts abgestorben sind. Deshalb wundere ich mich ja, hier ein solches Prachtexemplar zu sehen.«

»Na, dann klär mich mal schnell auf, denn viel Zeit bleibt dir nicht, Frau Meinke von der Staatsanwaltschaft kommt auf uns zu.«

»Ein Pilz, Horst.«

»Wo?«

»Quatsch. Das Ulmensterben wird durch einen Pilz hervorgerufen.« Vollert tippte sich an die Stirn.

»Ich hoffe, das gilt nicht mir?« Frau Meinke schaute Vollert forschend an.

»Nein, bestimmt nicht, Frau Staatsanwältin.« Er versuchte, ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern, doch Frau Meinke hatte sich schon Kröger zugewandt und strahlte ihn an. Sie mochte den Ermittlungsbeamten, der immer gut gekleidet war und mit seinen grauen Haaren noch manches Frauenherz zu schnellerem Schlagen bewegen konnte. Irgendwie erinnerte er sie an die Gentlemen aus den alten Schwarz-Weiß-Filmen, die ihre Oma so sehr mochte. So auch jetzt, während er ihr die Hand schüttelte und galant eine leichte Verbeugung andeutete.

»Sie können uns bestimmt schon einiges sagen, Frau Meinke?« Bei diesem Satz schaute er ihr direkt in die Augen, und die Staatsanwältin hatte das Gefühl, von seinem Blick durchleuchtet zu werden. Sie musste sich förmlich losreißen und antwortete endlich: »Na, viel ist es nicht. Bauarbeiter fanden bei den Umbauarbeiten im Keller des Schlosses ein Skelett, eingemauert in einem Gewölbeteil. Der Gerichtsmediziner ist schon bei der Arbeit und die Kollegen von der Spurensicherung haben den ersten Teil des Kellers bereits freigegeben, und wenn Sie möchten …?« Einladend zeigte ihre Hand in Richtung des Schlosses.

»Einen Moment bitte noch … Wer sind die Bauarbeiter, die das Skelett fanden?«

»Ein Herr Peters, zusammen mit einem Lehrling. Dieser verständigte dann auch die Polizei. Die beiden finden Sie vermutlich dort beim Bauwagen.« Eine kurze Bewegung mit dem Kopf deutete die Richtung an.

»Übernimmst du die Befragung der Arbeiter?«

Vollert nickte und scherzte zuversichtlich: »Wir werden schon herausbekommen, wer hier seine unliebsame Verwandtschaft hat verschwinden lassen. Ist ja wie im Groschenroman.« Kopfschüttelnd wollte er losgehen, doch die Bemerkung der Staatsanwältin: »Was Sie alles lesen, Herr Vollert!«, ließ ihn noch einmal innehalten.

»Um Gottes willen, nein! Meine Frau ist gelernte Bibliothekarin, die würde mich steinigen bei solcher Art von Lektüre.«

Sie gingen an die Arbeit, Vollert in Richtung des Bauwagens, Kröger zum Schloss. Frau Meinke blieb noch einen Augenblick stehen und schaute Kröger hinterher, der sich seinen Weg bahnte, vorbei an Bauzäunen, Maschinen und Baumaterial.

Der Kellereingang befand sich im Seitenbereich, weit weg vom Haupteingang. Nichts sollte die damalige Herrschaft stören, schon gar nicht die Anlieferung von Heizmaterial oder der Abtransport der Asche. Alles schön getrennt, dachte Kröger, als er die ausgetretenen Stufen zum Keller hinabstieg. Wie mögen die hier früher gelebt haben? Auf der einen Seite die Herren, auf der anderen, schön im Verborgenen, die Bediensteten.

Unwillkürlich zog er den Kopf etwas ein, als er die Kellerräume betrat. Er blieb am Eingang stehen und versuchte, sich erst einmal einen Überblick zu verschaffen. So hielt er es an jedem Fund- oder Tatort. Sein Blick ging hinauf zur Decke, dann weiter auf den Boden, der von Baustaub bedeckt war, in dem es von Fußspuren nur so wimmelte. Die Halogenstrahler der Spurensicherung tauchten die Kellerräume in gleißendes Licht, neben dem die wenigen Baulampen verblassten. Staubkörner tanzten in dem Lichtermeer auf und nieder. Kröger sah einzelne Räume, früher durch Türen vom Hauptraum abgeteilt, die man im Zuge der Bauarbeiten entfernt hatte, sodass die Türdurchbrüche wie Höhleneingänge wirkten. Die Wände sahen schäbig aus, Putz war stellenweise nicht mehr vorhanden, der kahle Backstein war sichtbar. An der Seite stand ein Monstrum von Heizkessel. Kröger sah zum Eingang und dann noch einmal abschätzend zum Kessel. Wie hatte der nur durch die Tür gepasst? Oder wurde der Keller um den Kessel gebaut? Blödsinn, sinnierte er, irgendwie werden unsere Altvorderen den hier schon reinbekommen haben.

Ein Mitarbeiter der Spurensicherung unterbrach seine Gedanken: »Morgen, Herr Oberkommissar. Gehen Sie ruhig durch, der Chef und einige Kollegen sind hinten.« Er machte eine Kopfbewegung in die entsprechende Richtung und schob sich dann an ihm vorbei.

Kröger nickte und setzte vorsichtig einen Fuß in den Staub des Bodens. Eine kleine Wolke staubte auf, um sich dann sogleich auf seinen blank geputzten Schuh zu setzen. Auch das noch, dachte er. Seufzend ging er weiter, in die Richtung, die ihm der Kollege der Spurensicherung angedeutet hatte. Der Staub war allgegenwärtig, und nach wenigen Schritten hatten seine Schuhe eine zementgraue Färbung angenommen. Auch seine Hose zeigte schon erste Spuren dieses Schmutzes, der durch jede Pore zu dringen schien. Kröger spürte ein Kribbeln in der Nase und unterdrückte mühsam das Bedürfnis zu niesen.

Abseits, in einer Art Gewölbe, sah er schließlich die Kollegen. Akribisch untersuchten sie jeden Zentimeter. Kröger schaute über den Rest der eingerissenen Mauer und entdeckte den Gerichtsmediziner Dr. Hüpenbecker, der vor einem Skelett kniete. Der Arzt schaute kurz auf. »Ach, sieh an, die Polizei, dein Freund und Helfer.« Dann widmete er sich wieder den Knochen.

»Wir sind auch Polizisten!« Dr. Brauner, der Leiter der Spurensicherung, war zu Kröger herangetreten. »Morgen, Horst.« Er grüßte mit einer Hand, die in einem Gummihandschuh steckte. Der weiße Schutzanzug gab ein raschelndes Geräusch von sich. »Wenn du magst … Anzüge habe ich noch im Koffer!«

Kröger nickte. »Ist wohl besser. Die Schuhe habe ich mir schon versaut und bevor die Hose ganz hinüber ist, zwäng ich mich lieber auch in einen eurer modischen Overalls.«

Dr. Brauner gab ihm einen der speziellen Schutzanzüge und zwei Minuten später war Kröger von den Männern der Spurensicherung nicht mehr zu unterscheiden.

Er kletterte über das Stückchen Mauer und trat zu Dr. Hüpenbecker.

»Morgen, Herr Doktor, und wie sieht’s aus?«

»Schau selbst.« Der Arzt zeigte auf das Skelett.

Kröger ging in die Knie und betrachtete die Knochen, an denen Stofffetzen hingen. »Mmh …, irgendwas, das uns weiterhilft?« Er sah den Gerichtsmediziner an.

»Witzbold! Soll ich dir hier gleich eine Differenzialdiagnose stellen? Was erwartest du? Namen, Vornamen und Krankengeschichte des Mannes?«

»Also ein Mann?«

»Wahrscheinlich … ja. Das Becken ist wohl das einer männlichen Person. Was auffällig ist …«, er nahm den Schädel in die Hand, »hier, dieser Bruch. Fragt sich, ob diese Hinterhauptfraktur zu Lebzeiten oder post mortem erfolgte – ein wenig Geduld werdet ihr aufbringen müssen.« Vorsichtig legte er den Schädelknochen zurück.

»Und sonst?«

»Nichts! Ich kann dir weder die Todesursache noch die Todeszeit sagen. Was ich sagen kann …«, er kam aus der Hocke hoch und rieb sich das eine Knie. »Oh je, man wird alt. Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, wahrscheinlich männlich, Liegezeit unbestimmt, ebenso das Alter. Wobei – da werde ich euch schon weiterhelfen können, aber, wie gesagt, Geduld.«

»Und die Stofffetzen?« Kröger deutete auf die vermoderten Stücke.

Dr. Hüpenbecker zuckte mit den Schultern.

»Da bin ich wohl eher der richtige Ansprechpartner.« Dr. Brauner war an die beiden herangetreten, die ihn nun erwartungsvoll ansahen.

»Und?«

»Nichts ›und‹. Es handelt sich wohl um die Überreste einer Uniform. Die Knöpfe lassen darauf schließen.« Er hielt eine kleine Zellophantüte hoch, in der ein Knopf lag. Schemenhaft war der Reichsadler mit dem unsäglichen Hakenkreuz erkennbar. Die gleichen Knöpfe waren auch an den Stoffresten zu erkennen.

»Diesen fanden wir übrigens hier.« Dr. Brauner zeigte auf eine Stelle etwa zwei Meter von dem Toten entfernt. »Wahrscheinlich abgerissen.«

»Ein deutscher Soldat?« Kröger hatte die Frage mehr sich selbst gestellt, doch der Leiter der Spurensicherung antwortete: »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wie Dr. Hüpenbecker schon sagte – etwas Geduld. Wobei ich eher auf einen Offizier tippe.«

»Warum?«

»Die Überreste der Stiefel und das Koppel deuten mehr auf einen gehobenen Dienstgrad. Die Pistole, die wir fanden, ergänzt diesen Eindruck.«

Kröger schaute sich suchend um. »Wo habt ihr die guten Stücke?«

Dr. Brauner zeigte auf eine profane Klappbox, in der, ordentlich etikettiert und nummeriert, kleine und große Zellophantüten lagen.

Kröger beugte sich nieder und schaute sich die Fundstücke an. Die Waffe war von einer dünnen Rostschicht überzogen. »Ist die noch schussfähig?«

»Unser Waffenexperte sagt, ja. Ordentlich aufpolieren und du hast eine feine Pistole.« Dr. Brauner schnalzte mit der Zunge.

Kröger winkte ab. Er mochte keine Waffen. Er arbeitete lieber mit dem Kopf.

Sie wurden von einem Kollegen der Spurensicherung unterbrochen.

»Die Kiste ist okay, Chef. Keine äußere Sprengfalle. Was allerdings drin ist, kann ich nicht sagen.«

Dr. Brauner dankte dem Mann und Kröger schaute verwundert drein. »Was für eine Kiste?«

»Du weißt doch, Horst, das Beste zum Schluss – oder hier das Rätselhafteste. In der Ecke fanden wir eine Kiste, ungefähr einen Meter lang, 50 cm hoch und genauso breit. Überzogen von einer Schicht …«

»Staub«, unterbrach ihn Kröger.

»Nein … ja … auch, Herrgott, du bringst einen ganz durcheinander. Ja, natürlich war auch Staub auf der Kiste! Aber …«, er machte eine Pause, um die Bedeutung seiner Worte noch zu vertiefen, »aber sie ist komplett mit Bitumen umschlossen, wie eine Seekiste.«

»Und der Inhalt?« Kröger schritt zu dem ominösen Behälter.

»Kann ich dir nicht sagen. Und halt bitte ein wenig Abstand.«

Abrupt blieb Kröger stehen. »Ist das Ding gefährlich?« Er schaute zuerst zum Behälter, dann zu Dr. Brauner, der die Schultern zuckte.

»Hast ja gehört, von außen ist nichts feststellbar, aber um den Inhalt mache ich mir schon Sorgen.«

»Warum?«

»Nun, wenn diese Kiste wirklich aus der Zeit des so genannten 1000-jährigen Reiches stammt, dann ist Vorsicht angebracht. Irgendetwas Wichtiges wird sie schon enthalten, und wichtige Sachen sichert man ab. Wenn wir Glück haben, enthält sie nur Akten, aber wenn wir Pech haben, irgendwelche Waffenproben … chemischer Art, Giftgas oder biologische Waffen.«

»Schön Schiet!« Unwillkürlich war Kröger einen Schritt zurückgetreten. »Biologische Waffen oder Giftgas? Kann uns das heute noch gefährlich werden?« Er schaute zu dem Gerichtsmediziner, der sich wieder dem Skelett gewidmet hatte.

»Ja, Horst. Eindeutiges Ja! Noch heute werden wiederholt Überreste von chemischen Kampfstoffen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Ostsee versenkt wurden, angespült, und leider führen sie immer noch zu Verletzungen. Phosphor ist einer dieser Stoffe. Du glaubst, Bernstein gefunden zu haben, steckst dir den Brocken in die Tasche und nach einigen Augenblicken brennt der Phosphor lichterloh. Letztes Jahr hat sich auf diese Weise ein Urlauber auf Usedom schwerste Brandverletzungen zugezogen.«

»Und das 50 Jahre nach dem Krieg.« Auf Krögers Stirn bildeten sich Unmutsfalten.

»Ja, unsere Eltern und Großeltern hätten sich 1945 wohl nicht träumen lassen, dass die Hinterlassenschaft des Dritten Reiches noch 1995 ein Problem sein würde.« Der Gerichtsmediziner war aufgestanden. Sein Knie gab ein knackendes Geräusch von sich. »Also, ich bin erst mal fertig. Ich kümmere mich dann um den Abtransport, einverstanden?«

Dr. Brauner und Kröger stimmten zu.

»Bis wann kann ich eure Berichte haben?« Krögers Blick wanderte von einem zum anderen.

Dr. Brauner lachte auf und der Gerichtsmediziner zeigte dem Kriminalisten ungeniert einen Vogel. »Geduld sollst du haben, Horst, Geduld! Und nicht jetzt schon nach dem Bericht gieren.«

»Man wird doch mal fragen dür…«

»Fragen darfst du, aber auch die Antwort respektieren. Ach, ihr Beamten …« Er machte eine wegwerfende Handbewegung und ging in Richtung des Ausganges.

Dr. Brauner lächelte Kröger an. »Wo er recht hat …, nur das mit den Beamten, das hätte er nicht sagen sollen.« Dann widmete er sich erneut dem rätselhaften Behälter. Kröger ging schmunzelnd dem Arzt hinterher.

Dr. Hüpenbecker stand vor dem Kellereingang und zündete sich eine Zigarette an.

»Auch eine?« Er hielt dem Ermittlungsbeamten die Schachtel hin.

»Nee, lass mal sein. Deinetwegen fang ich nicht wieder an.« Kröger streifte sich den Anzug ab. »Und du als Arzt?«

Dr. Hüpenbecker nahm einen tiefen Zug und meinte: »Ja, ja, ich weiß. Irgendwann werden diese Sargnägel mich umbringen, aber ein Laster muss der Mensch ja haben.«

Kröger knüllte den Schutzanzug zusammen und schaute sich um, wo er ihn lassen könnte.

»Gib schon her!« Der Arzt trat die Zigarette aus und nahm Kröger das Bündel aus der Hand. »Ich sag’s ja – Beamte.«

»Pass mal auf, mein Lieber. Das werden wir auf der Tatami klären.«

»Gerne, Sportsfreund Kröger. Judotraining Mittwochabend – aber komm diesmal bitte. Hast schon die zwei letzten Trainingstage verpasst.« Er verbeugte sich vor Kröger, der den Gruß erwiderte.

Der Kriminalist blickte sich suchend nach seinem Kollegen um. Vollert kam soeben aus dem Bauwagen und ging auf ihn zu.

»Und?«

»Na ja, ein Werner Peters fand das Skelett, zusammen mit dem Lehrling Alexander Rudnik. Die beiden gaben an, seit sieben Uhr den Gewölbeteil freigelegt zu haben. Es handelt sich um einen Raum von etwa drei mal vier Metern, der irgendwann in der Vergangenheit zugemauert wurde. Der Lehrling hat dann uns informiert, und zwar rief er vom Büro des Bürgermeisters an. Betreten haben sie den freigelegten Raum nicht.«

Kröger musste heftig niesen. Der Kellerstaub forderte seinen Tribut.

»Gesundheit!«

Heftig schnäuzend dankte er. »Wem gehört das Gebäude?« Kröger verstaute sein Taschentuch in der Hosentasche.

»Das konnten mir die zwei nicht sagen, irgendeiner Gesellschaft.«

»Und sonst jemand, der uns darüber Auskunft geben könnte?«

»Zurzeit nicht! Der Polier ist unterwegs, muss irgendein Werkzeug besorgen. Ich habe mir aber die Telefonnummer des Baubetriebes geben lassen. Und bei dir?«

Kröger setzte seinen Kollegen ins Bild. Sie gingen zur Staatsanwältin hinüber, die abseits im Schatten der Ulmen wartete und die wachsende Schar Neugieriger im Auge behielt. »Schauen Sie, endlich was los im Dorf.«

Kröger und Vollert informierten sie über die ersten Ermittlungsergebnisse. Sie beschlossen, die Berichte der Spurensicherung und des Gerichtsmediziners abzuwarten.

4

In der Dienststelle angekommen, hieß es für Kröger und Vollert erst einmal, routinemäßig Papier auszufüllen. Die Anfertigung der Berichte nahm den restlichen Vormittag in Anspruch. Nach einem schnellen Mittagessen musste noch ein anderer Fall abgeschlossen werden, damit dieser anderentags der Staatsanwaltschaft übergeben werden konnte.

Am Morgen darauf meldete sich Dr. Hüpenbecker bei den Ermittlern. Er hatte einen vorläufigen Bericht angefertigt, wollte diesen aber gern mit den Kriminalisten persönlich durchsprechen. Kröger versprach ihm einen ordentlichen Kaffee.

Mit blassem Gesicht betrat der Mediziner das Dienstzimmer.

»Mensch, wie siehst du denn aus! Schlecht geschlafen?« Kröger musterte Hüpenbecker besorgt.

»Fast gar nicht«, winkte der ab und ließ sich auf einen der Stühle fallen. »Ich habe mich euretwegen durch Berge von Fachliteratur gearbeitet, um den Bericht fertigzubekommen.« Er rieb sich die Augen und schob Kröger einen dünnen Hefter zu. Vollert stellte ihm eine frisch gebrühte Tasse Kaffee hin. Behutsam pustete der Gerichtsmediziner in das Getränk, um dann vorsichtig einen Schluck zu nehmen. »Das tut gut! Also ehrlich, Kaffee kochen könnt ihr.«

»Das freut uns, nicht wahr, Carsten?«

Der nickte nur und Kröger fuhr fort: »Und was kannst du uns über das Skelett sagen?«

»Einiges – steht auch alles in meinem Bericht.« Der Arzt trank noch einen großen Schluck.

»Schön«, Kröger beugte sich nach vorn, »jetzt gesteh, du bist nur zu uns gekommen, um mal einen Tapetenwechsel zu haben.«

Dr. Hüpenbecker musterte Kröger und antwortete dann: »Wenn du mich schon so verhörst: Die Tasse Kaffee war der Grund. Meiner ist gerade alle.«

»Na toll, aber jetzt mal im Ernst.«

»Okay, das Skelett war sehr gut erhalten. Ich brauchte nicht einmal ein Gipsbett für den Transport anzufertigen.« Er trank und fuhr dann fort: »Wie schon vermutet, handelt es sich um das vollständige Skelett eines Mannes. Er war zu Lebzeiten etwa einen Meter und 82 Zentimeter groß und wog ungefähr zwischen 70 und 80 Kilogramm. Die Knochen zeigen keine Auffälligkeiten, bis auf eine verheilte Fraktur der Elle und der Speiche. Diesen Bruch muss er sich als Kind zugezogen haben. Er hatte ein sehr gut gepflegtes Gebiss mit einem Goldzahn. Keine Mangelernährung feststellbar und er hat weder körperlich schwere Arbeit verrichtet noch Leistungssport betrieben.« Zufrieden lehnte er sich zurück und genoss den Rest Kaffee, der sich noch in der Tasse befand.

Kröger schaute überrascht auf den Gerichtsmediziner und Vollert pfiff leise anerkennend durch die Zähne.

»Das hast du alles aus ein paar Knochen gelesen?« Kröger griff zum Hefter. »Aber zur Todesursache kannst du nichts sagen? Was ist mit dieser Fraktur am Schädel?«

Dr. Hüpenbecker lächelte. »Ist wahrscheinlich die Todesursache. Wahrscheinlich deshalb, weil auch etwas anderes zum Exitus geführt haben könnte. Bei so wenig Material …«

»Gift?«

»Zum Beispiel, oder sonst was. Ich kann es nicht weiter eingrenzen. Was ich euch sagen kann: Die Person, die zuschlug, war kleiner als der Tote oder dieser stand erhöht, und der Schlag wurde mit einem runden, länglichen Gegenstand mit ziemlicher Wucht ausgeführt. Mit einem Rohr vielleicht oder mit einer Brechstange, irgendwas in der Art.« Dr. Hüpenbecker zeigte seine leere Tasse vor. »Wenn es nicht unverschämt ist: Hättet ihr noch einen Kaffee für mich?« Er gähnte herzhaft.

Wortlos stand Vollert auf, nahm dem Arzt die Tasse aus der Hand, setzte den Wasserkocher in Betrieb und wusch ihre Tassen ab. Kröger schaute währenddessen den Hefter durch. Der Bericht war knapp, aber präzise gehalten. Fotos der einzelnen Knochen waren als Ergänzung und Erklärung eingefügt.

»Nun verrat uns aber mal, wie du das alles aus den Knochen lesen kannst.« Kröger tippte auf eines der Fotos, auf dem das vollständige Skelett zu sehen war.

»Ich lese nicht aus Knochen. Du kannst vielleicht im Kaffeesatz lesen, das hier ist aber reine Wissenschaft. Schau, hier«, er nahm Kröger den Hefter aus der Hand, »die Größe kann man hochrechnen. Du setzt das Skelett zusammen und gibst zehn bis elf Zentimeter für Muskeln und Gewebe dazu, zur Kontrolle dient einer der Oberschenkelknochen. Dessen Länge mit sieben multipliziert ergibt bei einem Mitteleuropäer, wie du und ich es sind, dann die Größe.«

Vollert stellte eine neue Tasse Kaffee vor Dr. Hüpenbecker auf den Tisch.

»Danke, Carsten! Machen wir weiter … Das Gewicht kann man errechnen aufgrund von Spuren an den Knochen und Gelenken, ebenso erkennt man eventuelle Erkrankungen, die auf falsche oder unzureichende Ernährung zurückzuführen sind. Sport und körperliche Arbeit hinterlassen auch Spuren an den Gelenken, und das Alter lässt sich anhand der Knochenverwachsungen, der Degeneration und auch der Zähne gut bestimmen. Da die Hinterhauptfraktur prämortaler Art ist, deutet alles auf sie als Todesursache. Habt ihr sonst noch Fragen?« Vorsichtig nahm er die heiße Tasse, um einen Schluck zu trinken.

»Was kannst du uns zur Todeszeit sagen?«

»Nichts! Ich kann nicht einmal die Liegezeit konkretisieren. Es gibt zurzeit keine Methode, die eine halbwegs genaue Datierung der Liegezeit bei knöchernen menschlichen Überresten der letzten 100 Jahre zulassen würde.«

»Nicht mal ansatzweise?«

»Nein.« Der Gerichtsmediziner schüttelte sein ergrautes Haupt. »Wir können sagen, ob es 10 000 Jahre sind oder 100 000 Jahre, aber nicht auf das Jahrzehnt genau. Selbst bei Funden von ein und demselben Friedhof ist das nicht möglich. Wenn ihr zwei eine Methode entwickeln solltet, die Wissenschaft wäre euch dankbar.«

»Leider müssen wir da passen, Herr Doktor.« Vollert hatte diesen Satz gesprochen, denn Kröger war völlig in Gedanken versunken.

»Der Meister denkt wohl?« Dr. Hüpenbecker sprach leise, so als wollte er Kröger nicht stören.

»Ja. Er probiert öfter neue Sachen aus. Heute mal das Denken.« Vollert grinste, als hätte er einen besonders guten Witz gerissen.

»Ich werd’ euch gleich …! Ich glaube, ich muss dich an dein Unterstellungsverhältnis erinnern, Kollege.« Und zum Gerichtsmediziner gewandt: »Und du trink deinen Kaffee, sonst wird er noch kalt.« Dann griff er sich das Telefon und rief im Labor der Spurensicherung an. Das Gespräch war kurz. Viel konnten die Mitarbeiter der Spusi noch nicht sagen. Kröger musste seinen ganzen Charme aufbieten, um überhaupt einige Antworten zu bekommen. Als er auflegte, hatte er die Stirn krausgezogen.

»Die vom Labor sagen, die Stoffreste und die Knöpfe gehören zu einer SS-Uniform. Viel mehr haben sie noch nicht. Außer, dass sie noch eine Kartentasche unter den Stoffresten gefunden haben. Der Tote muss direkt darauf gelegen haben.« Er nahm sich ein Blatt Papier. »Die Kollegen von der Spusi geben an, dass diese Art von Uniform 1937 eingeführt wurde. Wenn wir davon ausgehen, dass niemand Anfang Mai 1945 mehr so rumlief, dann haben wir acht Jahre. Acht Jahre, auf die wir uns konzentrieren können, oder hast du als Arzt eine andere Meinung?«

Dr. Hüpenbecker setzte die Tasse ab, überlegte einen Augenblick und schüttelte den Kopf. »Ich kann dir nur ein Zeitfenster nennen.«

»In Ordnung!« Kröger nickte. Er hatte Verständnis für Hüpenbeckers Vorsicht und achtete die Meinung des Rechtsmediziners. »Wir setzen dann den Zeitraum von 1937 bis Mai 1945 als Arbeitshypothese an.«

»Ich würde den Zeitraum nach September 1939 legen, bis Kriegsende.« Vollert schaute von einem zum anderen.

»Begründung?« Kröger hatte den Stift, mit dem er sich Notizen machte, weggelegt.

»Nun, ich stelle mir vor …, also wenn 1937 ein SS-Mann verschwand, das muss doch aufgefallen sein.«

»1939 nicht?«

»Da war Kriegsbeginn!«

»Richtig, aber trotzdem verschwanden auch schon vorher Menschen, und dass es sich um einen SS-Mann handelt, ist auch nur hypothetisch. Wir haben zu wenige Anhaltspunkte, und ich glaube nicht, dass die Staatsanwaltschaft uns mit weiteren Ermittlungen beauftragt. Also, wir nehmen als Hypothese den Zeitraum von 1937 bis Kriegsende. Dein Einspruch wird abgelehnt, Carsten.«

Der nickte und fragte dann den Arzt: »Der Zahnstatus, würde der uns weiterhelfen?«

»Wenn ich Vergleichsmaterial hätte, dann schon, aber so? Wobei …«

»Ja?«

»Die stomatologischen Arbeiten waren von hoher Qualität. Da wurde Gold verwendet und die Zähne sind in einem sehr guten Zustand. Die wurden gepflegt!« Er stand auf, gähnte herzhaft und verabschiedete sich.

»Viel konntest du ja noch nicht sagen.« Kröger sah enttäuscht aus.

»Du wirst es überleben, Horst. Wenn du heute Feierabend machst, dann schalt ab und lass dich von deiner Frau mal so richtig verwöhnen.«

Vollert lachte kurz auf: »Oh ja, das wird unserem Strohwitwer richtig guttun!«

»Wieso Strohwitwer?« Der Gerichtsmediziner schaute von einem zum anderen.

»Meine Frau ist seit gestern in Schweden, mit ihrer Schulklasse. Sonst noch Fragen?« Krögers Lächeln wirkte gequält.

Vollert, der um den Gemütszustand seines Kollegen wusste, versuchte ihn aufzuheitern: »Sind doch nur noch wenige Tage, dann kannst du deine Frau wieder in die Arme schließen.«

»Sicher, heute ist ja schon Dienstag und am Sonntag ist mein geliebtes Weib wieder bei mir. Danke für den Trost!«

»Horst, ehrlich gesagt, ich wäre froh, wenn meine Frau mich mal eine Woche allein lassen würde.« Dr. Hüpenbecker grinste bei diesem Satz, als hätte er einen schlüpfrigen Witz gerissen.

»Ja, du! Mach es doch wie Kollege Schneider, ein Lehrgang jagt den nächsten.«

Kröger zeigte auf den verwaisten Schreibtisch, der in der einen Ecke des Büros stand.

»Nee, lass mal, dann lieber meine Frau immer um mich rum.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »So, Männer, ich hau jetzt wirklich ab. Wenn es was Neues gibt, lass ich es euch wissen.« Er schüttelte beiden die Hand und schloss hinter sich leise die Bürotür.

Vollert sah ihm nach. »Wann kommt Schneider wieder?«

»Übermorgen haben wir wieder das Vergnügen mit unserem Kollegen.«

»Vergnügen ist gut! Können wir ihn nicht gleich zum nächsten Lehrgang …«

»Bestimmt nicht! Der Chef hat mich schon diesmal gefragt, ob unsere Abteilung nur diesen einen Kollegen hat, und als ich ihm antwortete, dass wir zurzeit nur auf diesen einen verzichten könnten, schien er gerade auf eine Zitrone gebissen zu haben.«

»Aber das stimmt doch! Auf Schneider können wir getrost verzichten. Ob der nun da ist oder nicht, die Arbeit müssen doch eh wir erledigen.«

»Nun mach ihn nicht ganz so schlecht.« Auf Krögers Stirn bildeten sich Falten. »Er hat seine Ecken und Kanten wie wir alle. Schau mal«, setzte er schnell hinzu, als er sah, dass Vollert antworten wollte, »er ist nicht der beste Kriminalist, zugegeben, aber du hast persönliche Probleme mit ihm und das ist nicht gut. Klär das endlich mal mit ihm.« Er war aufgestanden und blickte Vollert direkt an.

Der winkte ab. »Ich akzeptiere Mitarbeiter, die ihre Arbeit 100-prozentig erledigen. Die Kollegen aus Berlin waren damals bestimmt froh, als sie Schneider zu uns delegieren konnten.«

»Red doch kein Blech.« Die Falten auf Krögers Stirn vertieften sich.

»Dich stört, dass er aus der Großstadt kommt, eine andere Vita hat als wir und dass er ein Selbstbewusstsein an den Tag legt, wie wir es nicht kennen.«

»Quatsch!« Vollert tippte sich mit dem Finger an die Stirn.

»Was mich stört, ist seine Art. So von oben herab, und dann, sei mal ehrlich, der Hellste ist Schneider nicht.«

Krögers Stirn glättete sich und die Grübchen in den Wangen vertieften sich wie immer, wenn er lächelte.

»Wer ist das schon? Wir haben alle unsere Schwächen, und man muss die Menschen nehmen, wie sie sind. Und glaub mir, doof ist Schneider nicht.«

Vollert musterte seinen Kollegen. »Deine Einstellung möchte ich haben, immer nur das Gute im Menschen zu sehen.«

Kröger lachte auf. »Ich bin Optimist.«

»Optimist, so, so. Und warum konnten wir nicht Roggenthin vom Einbruchsdezernat bekommen? Ein erstklassiger Mann.«

»Und mit dem würdest du besser klarkommen?« Er tippte Vollert auf die Brust.

»Na klar! Und weißt du, warum?«

»Weil er aus Hamburg und nicht aus Berlin ist?«

»Weil er seinen Job erstklassig macht.«

»Und das kannst du beurteilen? Auch Roggenthin wird Fehler haben, so wie du und ich. Sprich dich mit Schneider aus, wenn er wieder da ist.«

Als Vollert zur Antwort ansetzte, unterbrach Kröger ihn erneut.

»Keine Widerrede, bitte. Sobald Schneider vom Lehrgang wieder da ist, rede mit ihm. Und jetzt komm!« Er schlug Vollert krachend auf die Schulter.

»Lass uns noch mal nach Reedich fahren.«

Die Fahrt verlief schweigsam, beide hingen ihren Gedanken nach. Kröger war innerlich bei seiner Frau und spürte einmal mehr, wie sehr er sie vermisste, und Vollert dachte über diesen seltsamen Fall nach. Keiner von ihnen hatte einen Blick für die Natur, obwohl die Felder, an denen sie vorbeifuhren, quittengelb leuchteten, der Raps stand in voller Blüte.

Der betäubende, süße Duft drang schließlich in das Fahrzeuginnere und weckte in Kröger Assoziationen zu frischen Brötchen mit Honig. Jetzt nahm er die Umgebung wahr. Er liebte diese Jahreszeit. Die Natur war verschwenderisch mit Farben und Düften und entschädigte für den langen Winter. Die Alleebäume prangten in frischem Grün und die Sonne zeichnete eigenartige Schattenspiele auf den Asphalt. Es war kaum Verkehr und so kamen sie zügig voran.

Gelb wie der Raps leuchtete auch das Ortseingangsschild von Reedich. Vollert verminderte die Geschwindigkeit, blinkte und bog in das Dorf ein. Stille herrschte im Ort, nur ein Hahn krähte irgendwo.

»Zum Schloss!« Kröger zeigte nur kurz mit der Hand die Richtung. Vollert nickte und steuerte den Wagen zum Gutshaus. Sie fuhren bis kurz vor den Eingang. Aus den oberen Stockwerken drang Baulärm.

Vom angrenzenden Park her näherte sich ein Maurer. Durch seine weiße Kluft und die darauf befindlichen Mörtelreste war er schon von Weitem als solcher erkennbar. Als er die Kriminalisten bemerkte, wurde sein Schritt langsamer. Misstrauisch beäugte er sie.

»Suchen Sie wen?« Er hielt drei Schritte Abstand.

»Ja. Den Vorarbeiter und Ihren Kollegen Peters.« Kröger hatte sich dem Maurer zugewandt.

»Moment mal.« Der Mann legte eine Hand an den Mund und rief dann in einer markerschütternden Lautstärke: »Heiner! Heiner, dein Typ wird verlangt!«

Sekunden später tauchte an einem der oberen Fenster ein Gesicht auf.

»Wat bölkst’n du, Schröder?«

»Hier, die beiden wollen zu dir!« Schröder zeigte auf die Beamten.

»Sollen warten, ich komm runter!« Der Kopf verschwand wieder.

»Sie sollen warten, er k…«

»Wir haben es gehört«, unterbrach Kröger den Mann. Der zuckte die Schultern und stapfte den Eingang hinauf. Einen Augenblick später kam der Vorarbeiter herausgestürzt.

»Was gibt’s?«

Kröger und Vollert wiesen sich aus.

»Ach nee, die Arbeitsverhinderer.« Der Mann stemmte die Arme in die Seiten.

Kröger schaute ihn fragend an. »Warum sind wir Arbeitsverhinderer?«

»Weil ich Ihretwegen den ganzen Bauablauf ändern musste! Oder haben Sie nicht dafür gesorgt, dass der Keller versiegelt wurde und wir deswegen in den Obergeschossen arbeiten müssen?«

»Das schon, aber w…«

»Papperlapapp!« Er machte eine wegwischende Handbewegung. »Lassen Sie uns unsere Arbeit tun. Geben Sie den Keller frei und wir werden Freunde.«

»Wenn Sie uns unsere Arbeit machen lassen, dann werden Sie auch bald wieder in den Keller können.« Kröger ging einen Schritt auf sein Gegenüber zu.

Der Vorarbeiter schaute von einem zum anderen und nahm dann seinen gelben Bauhelm ab. Eine im Sonnenlicht spiegelnde Glatze kam zum Vorschein, die im Kon­trast zu seinem roten Vollbart stand. Aus der Tasche holte er ein kariertes Taschentuch, das Kröger von der Größe her an ein Geschirrtuch erinnerte. Mit kräftigen Bewegungen wischte er sich über den haarlosen Oberkopf und versuchte dann, auch das Schweißband des Helmes trocken zu bekommen. Scheinbar zufrieden musterte er das Ergebnis, dann steckte er das Tuch wieder in die Hosentasche zurück.

»Können Sie mir sagen, wann meine Leute wieder im Keller arbeiten können?«

»Das entscheidet die Staatsanwaltschaft, aber ich kann nachfragen, wenn Sie es wünschen.«

»Staatsanwaltschaft …« Nachdenklich sprach der Vorarbeiter das Wort aus. »Arbeitet da nicht die kleine Hübsche?«

»Wenn Sie Frau Meinke meinen, dann haben Sie recht.«

»Wie sie heißt, weiß ich nicht, aber niedlich ist sie. Wenn Sie ’ne Telefonnummer haben, dann frag ich selber mal nach, will Ihnen ja keine unnötige Arbeit machen.«

»Ja, sicher! Hier haben Sie die Karte von der Dame, aber Vorsicht!« Grinsend gab Vollert ihm die Visitenkarte der Staatsanwältin.

»Wieso, ist sie verheiratet?« Er schaute auf die Karte.

»Meinen Sie, dass die Staatsanwältin in diesem Falle Ihre Frage zur Arbeitsaufnahme anders beantworten wird?« Vollerts Grinsen wurde immer breiter.

»Äh, … natürlich nicht. War ja nur ’ne Frage.« Vorsichtig steckte der Bauarbeiter die Visitenkarte in die Brusttasche seines Oberhemdes.

»Was ich Sie fragen wollte«, Kröger schaute den Mann an, »wer ist auf die Idee gekommen, gestern den Gewölbeteil freizulegen?«

»Unser Zeitplan oder, um genauer zu sein, der Architekt in Abstimmung mit unserem Chef.«

»Dass ein Stück des Kellers zugemauert ist, war bekannt?«

»Ja. Im Bauwagen habe ich eine Zeichnung, darauf ist die Wand eingezeichnet. Ansonsten hätten Peters und der Lehrling nicht den Auftrag bekommen, die Wand wegzureißen.«