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Die Liebe kann dich überwältigen – doch was, wenn sie dich in ihre dunkelsten Abgründe reißt? Romantik & Thrill von Bestsellerautorin Bianca Iosivoni!
San Francisco. Die junge ehrgeizige Journalistin Robyn ist geschockt, als die Polizei bei ihr auftaucht: Ihr Ex-Freund Julian wurde als vermisst gemeldet. Mit einem Schlag stürzt die Vergangenheit auf sie ein, und alles ist wieder da: Die Sehnsucht, der Schmerz – und die Enttäuschung. Dabei möchte Robyn nichts mehr, als zu vergessen. Zutiefst beunruhigt fragt sie sich, was Julian zugestoßen sein könnte, und findet Zuflucht bei ihrem besten Freund Cooper. Doch das, was sie für Cooper empfindet, geht längst über eine Freundschaft hinaus. Als er unter Verdacht gerät, mit Julians Verschwinden zu tun zu haben, weiß Robyn nicht mehr, was sie noch glauben oder fühlen soll – und vor allem, wem sie noch vertrauen kann. Vielleicht nicht einmal mehr sich selbst …
Starke Gefühle. Psychologische Spannung. Süchtig machende Twists. Ein unwiderstehlicher Mix!
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Seitenzahl: 437
Bianca Iosivoni begeistert mit ihren New-Adult- und Fantasy-Bestsellern seit Jahren unzählige Leser*innen. Sie liebt nicht nur prickelnde Lovestorys mit ihren Höhen und Tiefen, sondern auch clevere Thriller voller Twists – und erfüllt sich nun den Wunsch, beides zu vereinen: Mit SORRY. Ich habe es nur für dich getan, einem unwiderstehlichen Mix aus leidenschaftlichen Gefühlen und psychologischer Spannung, verursacht sie bei ihren Fans gleichzeitig Gänsehaut und Herzbeben.
BIANCA
IOSIVONI
SORRY
ICHHABEES
NURFÜR
DICH
GETAN
ROMAN
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Copyright © 2022 by Penguin Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch
die Langenbuch & Weiß Literaturagentur.
Redaktion: Melike Karamustafa
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München,
unter Verwendung eines Motivs von ivan_kislitsin/Shutterstock.com
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-28749-8V003
www.penguin-verlag.de
Liebe Leser*innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet sich hier eine Triggerwarnung. Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch. Wir wünschen allen das bestmögliche Leseerlebnis.
Bianca Iosivoni und der Penguin Verlag
Für dich.
Halte durch.
Kämpf weiter.
PROLOG
»Sie haben das Recht zu schweigen.«
»Ich war es nicht. Ich habe nichts damit zu tun!«
»Alles was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden.«
»Robyn! Sieh mich an. Ich war es nicht.«
»Sie haben das Recht, zu jeder Vernehmung einen Verteidiger hinzuzuziehen. Wenn Sie sich keinen Verteidiger leisten können, wird Ihnen einer gestellt.«
»Robyn!«
»Verstehen Sie diese Rechte?«
1. KAPITEL
Gegenwart
Juni
An manchen Tagen will ich die Welt brennen sehen – oder eher die Menschheit. Wenigstens ein paar ganz bestimmte Menschen. Dummerweise regnet es heute in Strömen, also wird daraus wohl nichts. Trotzdem kann ich nicht aufhören, die aktuellen News zu lesen, während der Bus viel zu langsam durch das Auf und Ab der Straßen San Franciscos tuckert. Ich bin sowieso schon viel zu spät dran, und wenn ich mich nicht ablenke, drehe ich durch. Also lieber die Schlagzeilen des Tages an diesem Junimorgen runterscrollen.
Friedensverhandlungen in Kriegsgebiet gescheitert. CO2-Ausstoß auf neuem Rekordhoch. Weitere Raketentests in Nordkorea.
Nein, das macht es nicht besser. Seufzend klicke ich auf die regionalen Nachrichten.
Die 49ers verlieren gegen die Indianapolis Colts. Amoklauf in San Francisco. Verzögerung der Baumaßnahmen am Netz der Golden Gate Bridge trotz gestiegener Selbstmordrate. Großdemonstration von Abtreibungsgegnern fürs Wochenende angekündigt.
Okay, das reicht. Ich schalte das Display aus und lasse das Handy in meine Handtasche fallen.
Schlimm genug, dass ich verschlafen habe, mir jemand vor dem Coffeeshop seinen kochend heißen Kaffee auf meine weiße Bluse geschüttet hat und ich bei strömendem Regen ohne Schirm und Jacke unterwegs bin. An jedem anderen Tag wäre das kein Grund für einen Weltuntergang, aber da ich meiner Chefredakteurin Monique letzte Woche ungefragt einen Artikel von mir auf den Schreibtisch gelegt habe, sollte ich am Montag darauf besser nicht zu spät kommen. Erst recht nicht, wenn meine berufliche Karriere davon abhängt.
In den letzten Monaten habe ich schon öfter versucht, in der Redaktion einen Schritt weiterzukommen – bis heute ohne Erfolg. Aber bisher habe ich Monique auch noch keinen so gut geschriebenen und umfassend recherchierten Artikel vorgelegt. Und statt jetzt im viel zu lauten Großraumbüro in Tenderloin an meinem Platz zu sein wie eine Vorzeigeangestellte, sitze ich durchnässt und mit einem nicht zu übersehenden Kaffeefleck auf der Bluse noch immer im Bus und starre die dicken Tropfen an, die an der Fensterscheibe hinunterrollen.
Frustriert wische ich mir den Mascara unter den Augen weg, mache es damit aber vermutlich nur schlimmer, und rücke meine Kopfhörer zurecht. Es ist ein nebliger Morgen, aber das ist normal in San Francisco. Der Regen und das Donnergrollen, das ich trotz Musik wahrnehme, sind es dagegen weniger. Aber wenigstens passt das Weltuntergangswetter zu meiner aktuellen Stimmung.
Als der Bus nach einer gefühlten Ewigkeit endlich an der richtigen Haltestelle in der Eddy Street stoppt, springe ich auf, quetsche mich an den anderen Leuten vorbei nach draußen – und renne los.
Ich haste über die Straße, weiche einem Fahrradkurier aus, der vor einem kleinen Pizzaladen eine Vollbremsung hinlegt, und erreiche den Eingang des Hochhauses, in dem sich die Onlineredaktion des Nachrichtenmagazins neben diversen anderen Unternehmen befindet.
Ein kaltes Prickeln in meinem Nacken lässt mich innehalten. Mein Puls fängt an zu rasen. Ich bleibe instinktiv stehen und ziehe die Schultern hoch. Statt hinein ins Trockene zu gehen, mache ich einen Schritt zur Seite, um einem Mann mit Aktentasche auszuweichen, der beinahe in mich hineingerannt wäre, und drehe mich langsam um. Mein Blick zuckt hektisch umher, von der Bushaltestelle und den Shops gegenüber zu dem Pizzaladen und dem Hotel an der Ecke. Es schüttet noch immer, und ein Ende ist nicht in Sicht. Ein Blitz erleuchtet den grauen Himmel über den Wolkenkratzern der Stadt. Gleich darauf folgt ein fast schon warnendes Grollen. Doch weder die Menschen, die durch den Regen eilen, noch die beiden Obdachlosen, die in einem Hauseingang Schutz gesucht haben, scheinen mich zu beachten. Da ist nichts, was dieses warnende Prickeln in meinem Nacken rechtfertigen würde.
Höchstens Alan, der Portier in der Lobby, der mich durch die Glastüren lüstern anstarrt, obwohl er mein Vater sein könnte. Aber er starrt auch, wenn meine Bluse nicht halb durchsichtig an meinem Körper klebt.
Ich versuche das beklemmende Gefühl, beobachtet zu werden, abzuschütteln, komme aber nicht gegen den Schauder an, der zusammen mit ein paar Regentropfen mein Rückgrat hinabläuft.
Ein letzter Blick über meine Schulter, dann betrete ich die Eingangshalle. Meine Schuhe quietschen bei jedem Schritt, als ich schnurstracks an Alan vorbeimarschiere, ohne ihm auch nur einen Blick zuzuwerfen, und dabei jede Menge Tropfen auf dem teuren Marmorboden hinterlasse.
Jessica, eine der beiden Damen am Empfang, steht mit einem mitfühlenden Lächeln auf und hält mir ein paar Papiertaschentücher entgegen, die ich dankend annehme. Wenn es weiter so regnet, kann sie den ganzen Tag mit der Packung hier stehen bleiben.
Erst im Fahrstuhl wage ich es, wieder richtig durchzuatmen, und drücke den Knopf für die zweiundzwanzigste Etage. Oben angekommen, steuere ich als Erstes die Damentoiletten an, um mich abzutrocknen. Ich bin zwar zu spät, aber ich muss wenigstens versuchen zu retten, was noch zu retten ist.
Ein einziger Blick in den Spiegel genügt. Meine Haut ist bleich, und meine Augen sind gerötet, da ich eine miserable Nacht hinter mir habe. Die Bluse klebt an meinem Körper, der Regen hat den Kaffeefleck natürlich nicht einfach ausgewaschen, sondern lediglich verlaufen lassen, und mein angeblich wasserfester Mascara ist verschmiert.
Frustriert puste ich mir ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. Oder versuche es zumindest, denn sie rühren sich nicht vom Fleck, da sie an meiner Stirn kleben. Seit ich sie vor etwa vier Wochen zu einem schrägen Pony habe schneiden lassen, fallen sie mir ständig in die Augen, aber jetzt liegen sie platt und mit Wasser vollgesogen an, genau wie der Rest meines dunkelbraunen Haares, der ebenfalls meiner Attacke mit der Küchenschere zum Opfer gefallen ist. Soweit ich mich erinnern kann, habe ich meine Haare immer lang getragen. Jetzt berühren sie nicht einmal mehr meine Schultern.
Irgendwie gelingt es mir mithilfe von Papiertaschentüchern und dem Inhalt meiner Handtasche, mich halbwegs wieder herzurichten und die Illusion zu erschaffen, ich wäre tatsächlich ein lebendiges und funktionierendes Mitglied der Gesellschaft. Ein Hoch auf Make-up und Ersatz-T-Shirts.
Knapp zehn Minuten später betrete ich die Redaktion, die natürlich schon voll besetzt ist. Der übliche Trubel liegt in der Luft. Menschen kommen und gehen. Es wird telefoniert, diskutiert und heftig auf die Tastaturen eingehämmert. Auf dem Weg an den vielen Tischen vorbei tue ich so, als würde ich bereits die ersten Arbeitsmails auf dem Handy lesen. Vielleicht kann ich damit überspielen, dass ich über eine Stunde zu spät komme. Wenn ich dadurch weder auffalle noch von irgendjemandem angesprochen werde, ist das ein zusätzlicher Bonus.
Allerdings kann ich nicht verhindern, dass mein Blick im Vorbeigehen Richtung Moniques Büro wandert. Durch die gläsernen Wände sehe ich, dass sie gerade telefoniert – und mein Zuspätkommen bemerkt. Verdammt. So war das nicht geplant.
Ich erreiche meinen Schreibtisch in der hintersten rechten Ecke unbehelligt, lege die Bluse zum Trocknen auf die Heizung und lasse mich auf den unbequemen Drehstuhl fallen. Geschafft! Doch gerade als ich das Handy weglegen will, vibriert es mit einer neuen Nachricht in meiner Hand.
Sie ist von Cooper.
Mein Magen macht einen kleinen Hüpfer, und mein Herz hämmert plötzlich auffällig stark. Ich hasse mich für diese Reaktion, kann aber auch nichts dagegen tun.
Wie lief es? Was hat sie gesagt?, fragt er.
Ich liege ihm seit über einer Woche mit diesem Artikel in den Ohren, und jetzt, da ich ihn endlich abgegeben habe, will er natürlich wissen, wie das Gespräch mit meiner Chefredakteurin war.
Bevor ich antworten kann, schickt er das Bild eines Koboldmakis hinterher. Der kleine Kerl schaut mit großen Kulleraugen in die Kamera, mit den langen Fingern seiner kleinen Hände umklammert er einen Ast.
Aww, verdammt.
Bis gerade eben wollte ich noch die ganze Welt brennen sehen, aber gegen so viel Niedlichkeit bin ich machtlos. Bei süßen Tieren mit großen Kulleraugen werde ich schwach – und der Mistkerl weiß das. Wann immer ich im College wegen irgendetwas sauer auf ihn war, einen schlechten Tag oder generell einen Hass auf die Menschheit hatte, hat Cooper mir Fotos von süßen Tierbabys geschickt, und schon war alles besser.
Wider Willen muss ich lächeln, als ich ihm antworte. Dann lege ich mein Handy schnell beiseite, fahre den Rechner hoch und tue so, als würde ich schon seit Stunden hier sitzen und arbeiten.
Ich liebe diesen Job nicht – zumindest nicht die Aufgaben, die ich bisher erledigen musste. An manchen Tagen hasse ich ihn sogar. Aber er bezahlt meine Rechnungen, und wenigstens habe ich einen ganz netten Ausblick auf die Postkarten und Bilder aus der ganzen Welt, die an der Pinnwand rechts von mir hängen. Fast keinen dieser Orte habe ich selbst besucht, dafür fehlte es immer an Geld und mittlerweile leider auch an Zeit. Einige der Postkarten haben mir meine Eltern geschickt, manche stammen von den Reisen meiner Schwester Sara, und wieder andere sind von ehemaligen Collegefreunden, zu denen ich mittlerweile den Kontakt verloren habe. Die Karten habe ich trotzdem aufbewahrt. Ich sehe sie gerne an und stelle mir manchmal vor, wie es wäre, an all diese Orte zu reisen. Allem einfach zu entfliehen und andere Menschen, Länder und Kulturen kennenzulernen. Und darüber zu schreiben.
Ich lehne mich auf dem Schreibtischstuhl zurück und versuche, einen Blick auf Monique in ihrem Büro zu erhaschen. Von der hintersten Ecke des Großraumbüros ist das kein leichtes Unterfangen, aber ich sehe sie kurz. Sie scheint noch immer zu telefonieren.
Am liebsten würde ich sofort aufspringen und sie fragen, ob sie schon eine Chance hatte, meinen Artikel zu lesen. Stattdessen reiße ich mich zusammen und kümmere mich um die vier Recherchen und die Korrekturen für die Redakteure auf meiner To-do-Liste. Ich bin sicher, dass im Laufe des Vormittags noch der eine oder andere Artikel eintrudeln wird, den ich retten, ach nein, redigieren soll. Es hat eine Zeit gegeben, in der sich das wie ein Sprung nach oben auf der Karriereleiter angefühlt hat. Dieses Hochgefühl ist mittlerweile vergangen. Ich habe wirklich keinen Nerv mehr, die Texte von anderen auf Hochglanz zu polieren und dabei zusehen zu müssen, wie sie das Lob und die Anerkennung dafür einheimsen.
»Immerhin keine Todesanzeigen mehr«, murmle ich und öffne das erste Dokument.
Ja, immerhin das.
Die nächsten Stunden vergehen wie im Flug, weil ich mich trotz fehlender Motivation in die Arbeit stürze. Ich sehe erst wieder auf, als ein Schatten über mich fällt.
»Hast du einen Moment?«, fragt Monique und setzt sich auf die Kante meines Schreibtisches.
Ich richte mich kerzengerade auf. »Klar.«
Es ist schon kurz vor der Mittagspause, und meine Haare sind glücklicherweise wieder getrocknet.
»Ich habe deinen Artikel gelesen.«
»Und …?«, frage ich und versuche, nicht so ungeduldig und nervös zu wirken, wie ich mich fühle.
»Ganz schön mutig, mir den einfach unaufgefordert hinzulegen. Der Text ist gut geschrieben«, sagt sie gedehnt.
Oh nein. Gleich kommt ein Aber. Ich weiß einfach, dass gleich ein großes, fettes Aber kommt.
»Aber es ist nichts, was wir in dem Format hier veröffentlichen möchten. Du bist fantastisch darin, die Arbeit der anderen Redakteure zu korrigieren, und ich möchte dich auf diesem Posten behalten. Fürs Erste«, fügt sie mit einem gönnerhaften Lächeln hinzu und steht auf.
Ich kann nur auf einen unsichtbaren Punkt in der Luft starren, während meine Gedanken rasen.
Journalistin zu sein, war schon immer mein großer Traum. Und jetzt habe ich meine erste richtige Chance in den Sand gesetzt? Nein, verdammt. Ich bin gut darin, die Texte von anderen zu redigieren, aber ich weiß, dass ich so viel besser sein könnte, wenn ich meine eigenen Artikel schreiben dürfte. Wenn man mich endlich lassen würde.
Ich sehe zum gläsernen Büro, in dem Monique wieder verschwunden ist. Ich könnte einfach reinmarschieren, ihr die Meinung sagen und kündigen. Aber ich brauche das Geld. Außerdem wäre es eine Lüge, wenn ich behaupten würde, dass ihre letzten beiden Worte nicht meinen Ehrgeiz angestachelt haben. Ich weiß, dass ich es kann. Ich muss es nur noch beweisen.
Auf dem Weg zur Kaffeemaschine im Pausenraum stelle ich in Gedanken einen Plan zusammen, als mir ausgerechnet Brendan entgegenkommt. Journalist in den Fünfzigern, Arschloch und – seiner Meinung nach – Gottes Geschenk an die Menschheit. Bevor ich eine Kehrtwende machen kann, hat er mich schon entdeckt.
Dieser Tag wird einfach nicht besser.
»Hey, Claymore«, begrüßt mich Brendan mit einem breiten Grinsen, das andere als charmant einstufen würden. Auf mich hat es schon immer aufgesetzt gewirkt. Könnte daran liegen, dass ich es nur zu sehen bekomme, wenn er etwas von mir will. So wie heute. »Lange nicht gesehen.«
»Ja, war schön.« Ich gehe seelenruhig an ihm vorbei zur Kaffeemaschine.
Er starrt mir einen Moment lang irritiert nach, dann lacht er übertrieben laut und folgt mir.
Wir sind allein im Pausenraum. Alle anderen werden erst in zehn, fünfzehn Minuten wie hungrige Zombies hier hereinstürmen. Obwohl mir Brendan nie mit mehr als seiner arroganten Art auf die Pelle gerückt ist, verspannen sich automatisch meine Schultern. Ich versuche, es mir nicht anmerken zu lassen, sondern bereite weiter in scheinbarer Seelenruhe meinen Kaffee zu. Dabei verfluche ich mich in Gedanken dafür, dass ich ihn nicht einfach schwarz trinke, sondern Hafermilch und Zucker dazu brauche.
»Der war nicht schlecht.« Brendan lehnt sich neben mich gegen die Arbeitsplatte. »Ich hatte ganz vergessen, was für ein Scherzkeks du sein kannst.«
Das glaube ich gern. Die meisten Leute denken, ich würde Witze reißen, dabei bin ich nicht mal besonders lustig, sondern nur brutal ehrlich.
»Was willst du – außer deine und meine Zeit noch länger zu verschwenden?«, knurre ich in der Hoffnung, ihn möglichst schnell wieder loszuwerden.
»Gut, dass du fragst. Monique hat meinen letzten Artikel abgelehnt. Er ist zu lang. Zu viele Füllwörter. Du musst ihn noch mal überarbeiten.«
Ich wünschte, ich wäre überrascht, aber das bin ich nicht. Der Text war grottenschlecht, und nicht mal ich kann aus einem Misthaufen Gold spinnen. Von der katastrophalen Recherche mal ganz abgesehen. Allerdings habe ich schon früh in diesem Job gelernt, den Mund zu halten und meine Arbeit zu machen, wenn ich nicht gefeuert werden will.
Zumindest der Part mit der Arbeit klappt bisher ganz gut.
»Ich sehe, was sich machen lässt«, gebe ich widerwillig nach und gieße die aufgeschäumte Hafermilch auf meinen Espresso. Wahrscheinlich werde ich diesen blöden Artikel von Grund auf neu schreiben müssen, weil er einfach nicht zu retten ist. Und dann wird Brendan das ganze Lob dafür einheimsen. Wie jedes Mal. Während mein eigener Text nicht mal veröffentlicht wird …
Frustration brodelt in mir hoch. Ich habe nicht fünf Jahre am City College und in Berkeley studiert und acht Monate in diesem Höllenloch überstanden, um für den Rest meines Lebens die Drecksarbeit für andere zu erledigen.
Es könnte schlimmer sein, meldet sich eine leise Stimme in meinem Kopf, und ich erstarre. Es könnte so viel schlimmer sein.
Ohne ein weiteres Wort stürme ich an Brendan vorbei aus dem Pausenraum, durchquere das Großraumbüro, ohne nach links und rechts zu sehen, und stürze mich geradezu auf mein Handy. Ich will mir noch mal das niedliche Foto anschauen, das Cooper mir geschickt hat.
»Robyn Claymore?«, ertönt plötzlich eine fremde Stimme.
Ich zucke zusammen und reiße den Kopf hoch. »Ja?«
Eine unbekannte Frau steht neben meinem Schreibtisch. Sie scheint Ende dreißig, Anfang vierzig zu sein, hat das glatte schwarze Haar zu einem strengen Pferdeschwanz zurückgebunden und trägt einen langen Mantel, auf dessen Schultern ein paar Regentropfen glänzen. Auf den ersten Blick wirkt sie völlig normal und so wie jede andere, die für ein Interview oder ein Bewerbungsgespräch in die Redaktion kommt. Was nicht normal wirkt, ist ihre ernste Miene. Und das Polizeiabzeichen an ihrem Gürtel.
»Mein Name ist Detective Vicario«, stellt sich die Frau vor. »Ich bin vom San Francisco Police Department.«
Mein Herz beginnt zu hämmern. Ich muss sofort an meine Schwester und meine kleine Nichte denken. An Cooper. An meine Eltern.
»Ist … Ist irgendetwas passiert?«
»Ich würde gerne mit Ihnen reden, Miss Claymore.« Eine kurze Pause. Und dann: »Es geht um Ihren Lebensgefährten Julian Richardson. Er wurde heute Morgen als vermisst gemeldet.«
2. KAPITEL
Zweieinhalb Jahre zuvor
Januar
Das gleichmäßige Prasseln draußen vor dem Wohnheim sollte eigentlich einen beruhigenden Effekt auf mich haben, leider übertönte es die Gedanken in meinem Kopf nicht. Oder vielmehr die heftige Diskussion, die ich bis vor wenigen Minuten geführt hatte.
Ich stand unter dem Vordach vor dem Eingang und verschränkte die Arme vor der Brust. Um mich vor der Kälte zu schützen? Oder eher, um mich zu beruhigen? Ich wusste es nicht.
»Überlegst du, eine Runde durch den Regen zu joggen?«
Ich drehte mich nicht zu Cooper um, sondern starrte weiter auf die anderen Gebäude, in denen mittlerweile Licht hinter den Fenstern angegangen war, und auf die vorbeifahrenden Autos, die im Regen verschwommen aussahen.
»Nein«, rang ich mir schließlich eine Antwort ab. »Eigentlich wollte ich mir die Kleider vom Leib reißen und nackt im Regen tanzen.«
Ein gedämpftes Lachen. »Immer diese leeren Versprechungen.« Er trat näher und blieb neben mir stehen. Cooper war ein ganzes Stück größer als ich – sogar wenn ich Schuhe mit Absätzen trug, was selten genug vorkam, da ich in den Dingern nicht richtig laufen konnte.
Ich warf ihm einen schnellen Seitenblick zu. Sein kurzes braunes Haar war feucht und wirkte dadurch dunkler als sonst. Anscheinend war er durch den Regen hierhergelaufen, denn er wohnte schon seit einer Weile nicht mehr im Wohnheim. Im Gegensatz zu mir, die noch immer reglos und völlig verkrampft dastand, wirkte er so entspannt wie nach einer seiner heiß geliebten Sporteinheiten. Er wippte sogar leicht auf den Fußballen vor und zurück, als könnte er seine Energie kaum im Zaum halten.
»Alles okay?«, fragte er, als ich nicht auf seinen Spruch reagierte.
Normalerweise gingen unsere Wortgefechte über mehrere Runden. Heute nicht.
»Ja.« Die Antwort kam mir automatisch über die Lippen. Ich musste nicht mal darüber nachdenken.
»Versuchen wir das noch mal, und jetzt sagst du mir die Wahrheit.«
Ich schnaubte nur.
»Was ist los, hm?« Er stieß mich mit der Schulter an. Eine Schulter, die er mir schon mehr als einmal zum Anlehnen und Ausheulen angeboten hatte. Ein Angebot, das ich nie so richtig angenommen hatte, da ich es hasste, andere mit meinen Problemen zu belasten. Dafür war ich schon einige Male abends auf dem Sofa mit dem Kopf an ebendieser Schulter eingeschlafen.
»Nichts.« Als ich die Zweifel in seinen braunen Augen las, seufzte ich tief. Wem versuchte ich hier eigentlich etwas vorzumachen? Cooper war mein bester Freund. Er wusste um das komplizierte Verhältnis zu meinen Eltern. »Meine Mutter macht schon wieder Stress. Ich hab gerade mit ihr telefoniert und wir hatten Streit. Mal wieder.«
Mittlerweile sollte ich mich wirklich daran gewöhnt haben, schließlich hatte Mom nie ein Geheimnis daraus gemacht, was für eine große Enttäuschung ihre Töchter für sie waren. Hieß es nicht, dass man irgendwann aus seinen Fehlern lernte? Aber es tat jedes Mal aufs Neue weh.
Falten erschienen auf Coopers Stirn. »Wegen dem Studium?«
»Ja, weil ich es gewagt habe, mich fürs Herbstsemester in Berkeley zu bewerben, um nach dem City College dort weiterzustudieren, statt mir endlich einen Job zu suchen. Ich glaube, insgeheim hofft sie immer noch, dass ich endlich zur Besinnung komme und etwas Vernünftiges studiere. Bei Sara hat sie zähneknirschend akzeptiert, dass aus ihr nie eine Ärztin, Anwältin oder CEO wird, aber mich erinnert sie täglich daran, dass sie so viel mehr von mir erwartet hat. Hey, manchmal sogar zweimal am Tag!«, fügte ich in gespielter Begeisterung hinzu. »Und als ich erwähnt habe, dass ich darüber nachdenke, mir nach dem Abschluss in zwei Jahren eine Auszeit zu nehmen und zu reisen, statt mir sofort einen Job zu suchen, ist das Gespräch komplett eskaliert.«
»Wow.« Cooper schüttelte den Kopf. »Wie kannst du es wagen?«
»Ach, sei still.«
»Aber du wirst es trotzdem durchziehen? Das Studium verlängern, meine ich, und danach reisen?«
Ich atmete tief durch, dann nickte ich entschlossen. »Auf jeden Fall. Ich spare schon seit Jahren dafür. Selbst wenn das bedeutet, dass Mom die nächsten Wochen nicht mehr mit mir redet.«
Das strafende Schweigen beherrschte sie wirklich bis zur Perfektion. Als ich mit dreizehn von einem Treffen mit Freunden zu spät nach Hause gekommen war, hatte sie eine Woche lang kein Wort mehr mit mir geredet. Nicht morgens vor der Schule, nicht danach, nicht mal beim Abendessen. Sie hatte mich behandelt, als wäre ich Luft, als würde ich nicht existieren, während sie sich fröhlich mit Dad und meiner Schwester Sara unterhielt. Danach war ich nie wieder zu spät nach Hause gekommen. Aber allem Anschein nach hatte ich meine Lektion trotzdem nicht gelernt, denn ich hoffte jedes Mal aufs Neue auf eine andere Reaktion ihrerseits. Verständnis oder Unterstützung wären eine nette Abwechslung. Mit Liebe oder stolzen Muttergefühlen rechnete ich bei ihr schon lange nicht mehr.
»Nicht traurig sein, Claymore. Es gibt genug andere Leute da draußen, denen du wichtig bist und die dich lieben. Definitiv nicht ich, aber … du weißt schon. Andere.«
Wider Willen musste ich lachen und sah zu ihm hoch.
Cooper grinste, wodurch dieses Grübchen in seiner Wange erschien, wurde dann jedoch langsam ernst. »Es ist dein Leben, Robyn. Ganz egal, was deine Eltern oder andere davon halten. Du allein entscheidest, was richtig und was falsch für dich ist.«
Ich atmete tief durch. »Sag das meiner Mutter, die meine Studiengebühren bezahlt. Wobei … ab sofort tut sie das ja nicht mehr, also kann ich mir auch gleich einen zweiten Nebenjob suchen.«
»Weißt du, was wir machen sollten?«
»Irgendwohin auswandern, wo uns niemand kennt und nervt?«
Er grinste. »Das ist die zweitbeste Idee.«
»Ich traue mich gar nicht zu fragen, was die beste ist.«
Cooper war in unserem Freundeskreis bekannt für seine verrückten Ideen. Mitten in der Nacht an den Strand fahren und im viel zu kalten Meer schwimmen gehen? Check. Im Morgengrauen auf das Dach eines Hochhauses steigen, das für die Öffentlichkeit gesperrt ist? Check. Freitagabend spontan ins Auto steigen, ohne Ziel losfahren und schauen, wo man ankommt? Check. Trotz seiner Abenteuerlust hatte er nie jemanden in Gefahr gebracht. Und falls doch mal was passierte, hatten wir mit ihm immerhin einen Notfallsanitäter in Ausbildung an unserer Seite.
»Die beste Idee ist, dass wir zuerst lecker essen und dann feiern gehen, damit du den ganzen Scheiß einfach mal vergisst. Da ist dieser neue Club in SoMa, der letzte Woche aufgemacht hat …«
»Ist das deine Lösung? Essen und Alkohol?«
Er zuckte mit den Schultern. »Kann zumindest nicht schaden. Außerdem hab ich bald deutlich weniger Zeit.«
Richtig. Mein bester Freund hatte mit dem Praxissemester das Paramedic Programm am City College abgeschlossen. Ab nächsten Monat würde er offiziell als Paramedic arbeiten. Damit erfüllte er sich einen Lebenstraum, weil er schon als kleiner Junge Notfallsanitäter hatte werden wollen, aber das bedeutete auch unregelmäßige Arbeitszeiten und sehr viel Stress. Und dass wir uns in Zukunft seltener sehen würden, wenn wir nicht mehr am selben College studierten.
Einerseits freute ich mich für ihn, dass er endlich seinen Traum verwirklichen konnte. Andererseits … Na ja, es würde seltsam ohne ihn werden. Sehr seltsam. Und ich war nicht gerade der Typ Mensch, der schnell Freundschaften schloss, also sah ich der Zukunft mit gemischten Gefühlen entgegen.
»Hm.« Ich tat, als würde ich angestrengt über seinen Vorschlag nachdenken. »Unter einer Bedingung.«
»Lass mich raten.« Er legte den Kopf in den Nacken und seufzte tief. »Du willst die Badewanne.«
Ich lächelte nur. Im Gegensatz zu mir wohnte Cooper nicht im Wohnheim und musste sich demnach kein Badezimmer mit dem ganzen Flur teilen. Nein, er hatte das Glück, ein Apartment in Outer Richmond nahe am Meer sein Eigen nennen zu dürfen, das ihm seine Großtante vor etwa einem Jahr überlassen hatte, als sie weggezogen war. Selbst wenn die Räume ziemlich klein waren, bildete das Badezimmer das Highlight, denn es gab eine Wanne. Groß und frei stehend und so wundervoll geschnitten, dass man bis zum Hals in warmem Wasser und Schaum versinken konnte, ohne dass irgendwelche Körperteile herausragten. Kurzum: Es war ein Luxus, den ich mir so oft gönnte, wie ich konnte. Oder so oft Cooper mich ließ.
Er schüttelte den Kopf. »Ich wusste es. Du bist nur wegen der Badewanne mit mir befreundet.«
»Awww.« Gespielt tröstend tätschelte ich ihm den Arm. »Keine Sorge, da draußen gibt es genug andere Leute, die dich wegen deines Aussehens und deiner strahlenden Persönlichkeit mögen. Definitiv nicht ich, aber du weißt schon … andere.«
Er lachte laut auf, als ich seine eigenen Worte gegen ihn verwendete, und auch ich musste grinsen. So ging es seit dem ersten Tag zwischen uns hin und her. Die meisten Leute kamen nicht gut mit meiner sarkastischen Art zurecht, und ich hatte schon einige Kommilitonen und Kommilitoninnen mit meinen Bemerkungen vor den Kopf gestoßen. Cooper dagegen? Er gab mir Kontra. Und das genauso trocken.
»Weißt du noch, was du mir gesagt hast, als wir uns kennengelernt haben?«, fragte er und legte den Arm um meine Schultern.
Allerdings.
»Du bist echt seltsam«, wiederholte ich die Worte von damals und musterte sein Gesicht. »Aber irgendwie mag ich dich.«
Ein Lächeln zeichnete sich auf seinen Zügen ab und vertiefte das Grübchen in seiner linken Wange. »Warum magst du mich, wenn ich so seltsam bin?«, spielte er das Spielchen mit.
Ich lächelte ebenfalls. »Weil wir zusammen seltsam sein können. Und das kann man nur mit ganz wenigen Menschen.«
»Richtig.« Wie nebenbei strich er mir eine lange Haarsträhne hinters Ohr und verharrte für einen Moment mit der Hand an meiner Wange. »Du kannst mein Bad besetzen, aber wenn du nicht rechtzeitig fertig wirst, gehen wir ohne dich.«
»Als ob.«
Denn wenn es eine Sache gab, derer ich mir noch sicherer war als der, dass wir heute hier zusammenstanden, war es die, dass Cooper mich nie zurück- oder im Stich lassen würde. Genauso wenig wie ich ihn. Er war mein bester Freund. Nichts und niemand würde etwas daran ändern.
Neben meiner sechs Jahre älteren Schwester Sara war Cooper Vaughn so ziemlich der einzige Mensch, auf den ich hörte – zumindest manchmal. In seltenen Fällen. Heute schien so ein Fall zu sein, denn an diesem Abend gingen wir mit ein paar gemeinsamen Freunden aus, nachdem ich eine Stunde lang Coopers Badezimmer in Beschlag genommen und in seiner traumhaften Wanne mit leiser Musik und einem guten Buch entspannt hatte.
Entgegen Coopers Vermutung war ich rechtzeitig fertig geworden und hatte mich gemeinsam mit ihm auf den Weg nach SoMa, South of Market, gemacht.
Für das italienische Restaurant mit der großen Weinauswahl, in dem wir mittlerweile schon zur Stammkundschaft gehörten, waren wir eindeutig overdressed. Trotzdem hatte ich nicht auf das schwarz-weiße Kleid verzichten wollen, weil mir spätestens beim Tanzen im Club später warm werden würde. Sara hatte es mir zum Geburtstag geschenkt, und seither gehörte es zu meinen absoluten Lieblingsteilen. Es zauberte ein hübsches, aber nicht zu auffälliges Dekolleté und hatte eine angenehme Länge, da es ein paar Zentimeter über den Knien endete. Außerdem gefiel es mir insgeheim, wie Cooper mich ansah, wenn ich es trug, auch wenn ich seinen intensiven Blick nicht genießen, ja, nicht mal wahrnehmen sollte, schließlich waren wir nur Freunde. Genauso wenig sollte er mir in diesem schwarzen Hemd, das er zu einer ausgeblichenen Jeans mit Rissen an den Knien trug, gefallen.
»Endlich.« Ich ließ mich auf die Eckbank neben Cooper und Claire, eine Biologiestudentin, die ein paar gemeinsame Kurse mit Cooper belegt hatte, fallen. Wir hatten uns beim Lernen in der Bibliothek kennengelernt und uns über Chips und Schokoriegel angefreundet. Seither paukten wir in Klausurphasen ständig zusammen. Das stand uns ab nächster Woche auch wieder bevor, aber ich wusste, dass wir uns gegenseitig pushen und zu Höchstleistungen antreiben würden. »Ich bin am Verhungern.«
»Ich auch«, bestätigte Roger, der den Platz neben Claire schräg gegenüber auf der Eckbank eingenommen hatte.
»Und ich verdurste.« Heather, die Fünfte im Bunde, saß als Einzige auf einem Stuhl und fächelte sich Luft zu, als wären wir mitten in der glühenden Sonnenhitze der Sahara gelandet statt in einem klimatisierten Restaurant.
»Denk daran, dass du nicht hier bist, um eine Kritik über den Laden auf deinem Blog zu veröffentlichen«, erinnerte Roger sie.
Heather klimperte mit den Wimpern. »Ich habe meine Kamera nicht mit, denn heutzutage dreht man Videos, Mister ›Ich bin im Jahr 2000 stecken geblieben‹.«
»Seltsam. Und ich dachte, heutzutage hat jeder ein Handy mit Kamera.«
»Ja, wenn man kleine Amateurvideos drehen will. Außerdem hat meine Handykamera einen Sprung, seit du mich auf unserem Trip ins Napa Valley zu Tode erschreckt hast.«
Bei der Erinnerung daran musste ich unwillkürlich schmunzeln. Es war eine von Coopers Spontanaktionen gewesen, und glücklicherweise hatten wir alle Zeit gehabt. Also waren wir ins Auto gestiegen und nach Napa Valley gefahren. Claire und die Jungs waren wandern gegangen, während Heather und ich uns einen Tag im Spa und am Pool gegönnt hatten. Als wir uns abends zum Wine Tasting wiedergetroffen hatten, war Roger von hinten an sie herangeschlichen und hatte ihr einen solchen Schreck eingejagt, dass sie sich an ihrer Weinprobe verschluckt und sowohl das Handy als auch das Weinglas von sich geworfen hatte.
Roger zuckte mit den Schultern, doch in seinen Augen lag etwas Herausforderndes. »Du hast dein Handy fallen gelassen, Schätzchen. Nicht ich.«
Ich wechselte einen Blick mit Cooper und gab mir keine Mühe, mein Grinsen zu verbergen. Heather und ich hatten uns im zweiten Semester kennengelernt. Da sie ebenfalls Journalismus studierte und eine ziemlich große Klappe hatte, hatten wir uns auf Anhieb gut verstanden. Allerdings wusste ich nie so genau, was zwischen ihr und Roger abging. In der einen Sekunde warfen sie sich Beleidigungen an den Kopf, in der nächsten flirteten sie hemmungslos miteinander. Aber was es auch war – ich würde die Show ebenso vermissen wie die beiden. Roger hatte sein Studium zusammen mit Cooper beendet und war zwar noch in San Francisco geblieben, aber Heather machte ihren Abschluss am Ende des Wintersemesters und würde dann nach Boston ziehen, wo sie ein Jobangebot bekommen hatte.
»Was ist mit dir, Robyn?«, wandte sich Claire an mich, während Roger und Heather weiter diskutierten. »Irgendetwas Neues?«
Ich dachte an das Horror-Telefonat mit meiner Mutter zurück, die mir im Zuge dessen auch noch jegliche finanzielle Unterstützung gestrichen hatte – und schüttelte den Kopf. Das war kein Thema, über das ich reden wollte.
»Nicht wirklich«, antwortete ich stattdessen. »Ich warte immer noch auf eine Antwort von Berkeley, ob sie mich für den Journalismus-Studiengang zulassen oder nicht.«
Claire lächelte. »Wenn es jemand schafft, dann du. Aber meine Daumen sind gedrückt.«
»Meine auch«, rief Heather und klinkte sich damit wieder ins Gespräch ein. »Obwohl ich ja nach wie vor die Hoffnung habe, dass sie absagen und du mit mir nach Boston kommst. Wir würden die Stadt so was von aufmischen.«
»Nichts da!«, schaltete sich Cooper ein. »Robyn bleibt schön hier in San Francisco.«
Ich grinste nur. So toll es auch wäre, zusammen mit Heather Boston aufzumischen, hatte ich im Gegensatz zu ihr keinen festen Job als Journalistin in Aussicht. Außerdem wollte ich wirklich weiterstudieren und mich spezialisieren. Und dann waren da noch meine Reisepläne …
»Wieso kommt eigentlich niemand?« Claire reckte den Hals. »Sonst muss man hier doch auch nicht so lange warten.«
Ich sah mich ebenfalls um, konnte aber niemanden vom Servicepersonal entdecken. Dabei war das Restaurant schon jetzt gut gefüllt und das Stimmengewirr so laut, dass es sogar die Musik im Hintergrund übertönte. »Sie scheinen heute etwas unterbesetzt zu sein.«
»Ich glaube, dahinten findet eine Feier statt«, warf Roger ein und deutete in Richtung eines Nebenraumes, in dem gerade eine Kellnerin mit mehreren Tellern in den Händen und auf dem linken Arm verschwand.
»Ich kann uns schon mal was an der Bar holen«, bot ich an, stand auf und fragte die anderen nach ihren Wünschen. Glücklicherweise waren sie nicht allzu kompliziert: Ein Bier für Cooper, Wein für Heather und mich, einen Cocktail für Claire und eine Cola für Roger. Das konnte ich mir merken.
Leider entdeckte ich weder auf dem Weg an den vielen Tischen vorbei noch an der Bar selbst auf Anhieb jemanden, bei dem ich unsere Getränkebestellung aufgeben konnte. Stirnrunzelnd sah ich mich um und lief vor dem Tresen hin und her. Es konnte doch nicht sein, dass hier niemand war, der …
Mit einem Mal prallte ich gegen etwas Großes, Warmes, das unvermittelt neben mir aufgetaucht war. Ich zuckte zusammen und stolperte zurück. »Oh, Shit! Sorry!«
»Kein Problem«, sagte eine tiefe Stimme. Eine Hand legte sich an meinen Arm, um mich zu stabilisieren. Sobald ich wieder sicher stand, ließ sie mich los. »Mein Fehler.«
Blinzelnd sah ich auf. Die tiefe Stimme gehörte einem Typen, der nur wenige Jahre älter sein konnte als ich. Mitte oder Ende zwanzig vielleicht. Irgendwie rechnete ich mit einer dummen Anmache – einfach, weil ich das schon zu oft erlebt hatte. Aber er riss weder einen Spruch darüber, dass mein Auftauchen den Boden für ihn erbeben ließ, noch fragte er mich, ob es wehgetan hatte, als ich vom Himmel gefallen war. Hatte es nicht. Ich war aus der Hölle gekrochen. Aber von Mister Unbekannt kam nichts dergleichen. Er stand einfach nur da und lächelte entschuldigend.
Ich betrachtete ihn genauer. Durchschnittlich groß. Blondes Haar, akkurat geschnitten und so lässig gestylt, dass es aussah, als hätte er keinen Gedanken daran verschwendet. Tief sitzende Brauen in einem etwas dunkleren Farbton. Seine Augen hingegen? Überraschend. Ich hatte dieses helle Blau, das fast schon ins Graue ging, nicht erwartet. Dazu die glatt rasierten Wangen, das kräftige Kinn und die breiten Schultern in dem eleganten weißen Hemd, das sich an einen schlanken Körper schmiegte.
Ich schüttelte den Kopf, wie um mich aus einem Tagtraum zu reißen. Irgendwie sah er fast ein bisschen zu gut aus … Wobei es nicht mal so sehr sein Äußeres war, das diese Wirkung auf mich hatte, sondern vielmehr seine Ausstrahlung.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte er und brach damit das Schweigen zwischen uns. »Wolltest du etwas bestellen?«
Mein Blick zuckte von ihm zur Bar und wieder zurück. »Äh, ja. Klar.«
Ich nannte ihm meine Getränkewünsche und beobachtete, wie er mit einem amüsierten Gesichtsausdruck hinter die Theke trat, sich ein Tablett schnappte und nacheinander Gläser und Flaschen darauf abstellte. Allerdings tat er es nicht in den schnellen, geübten Bewegungen von jemandem, der sich an diesem Ort auskannte.
»Du arbeitest nicht wirklich hier, oder?«
Überrascht hob er die Augenbrauen, während er die Cola ins Glas goss. »Was hat mich verraten?«
Wortlos deutete ich auf sein blütenweißes Hemd. Er hatte sich zwar die Ärmel hochgekrempelt und die obersten Knöpfe geöffnet, dennoch wirkte er zu elegant, um hinter dem Tresen zu stehen und Drinks zu mixen. Zumal die anderen Angestellten schlichte schwarze Shirts trugen, wie mir jetzt wieder einfiel, und keine gebügelten Hemden und Anzughosen. Genauso wenig wie einen Siegelring am kleinen Finger.
Er sah kurz an sich herunter und ließ ein Lächeln aufblitzen. »Erwischt. Wie es aussieht, helfe ich spontan einem Kumpel aus.« Mit dem Kopf deutete er in Richtung des Nebenzimmers, das gerade zwei Kellner mit einer großen Torte in den Händen ansteuerten. Funken stoben von den Wunderkerzen darauf empor und fielen auf den glänzenden Parkettboden. Sie kämpften kurz mit der Tür, um sie aufzubekommen, ohne die Torte fallen zu lassen. Für einen Moment sah es etwas wackelig aus, doch dann gelang es ihnen, und sie verschwanden hinter der Tür. Gedämpfte Stimmen sangen »Happy Birthday to you«.
Mein Blick wanderte zurück zu Mister Unbekannt, der nicht hier arbeitete und trotzdem wie selbstverständlich meine Bestellung aufgenommen hatte, um seinem viel beschäftigten Freund zu helfen. »Du bist also einer von der netten Sorte?«
»Kommt drauf an.« Er legte den Stift zur Seite, mit dem er etwas aufgeschrieben hatte, und richtete seine ganze Aufmerksamkeit wieder auf mich. Sein Blick wanderte ganz langsam an meinem Körper auf und ab und hinterließ dabei ein Prickeln auf meiner Haut, obwohl er mich nicht einmal berührte. »In bestimmten Situationen kann ich auch nicht so nett sein.«
Bildete ich mir das ein oder war seine Stimme etwas tiefer, etwas dunkler geworden?
Ich lächelte langsam. »Gut.«
»Warum?«
»Weil ich nicht auf nette Kerle stehe.«
Seine Mundwinkel zuckten. »Was für einen Wein möchtest du?«
Ich holte Luft, um zu antworten, entschied mich dann aber spontan anders. »Was würdest du mir denn empfehlen?«
Er nahm eine Weinflasche aus dem großen Regal hinter der Bar, warf einen kurzen Blick aufs Etikett und nickte, als wäre er mit der Wahl zufrieden. Dann zeigte er mir die Flasche. Es war ein Rotwein, ein Château Margaux Premier Grand Cru Classé, der schon vom Namen her verflucht teuer klang. Aber warum mir heute nicht ein Glas davon gönnen? Insbesondere wenn ein so heißer Typ mir ausgerechnet diesen Wein empfahl, also nickte ich.
Er goss den Margaux erst in das eine Weinglas, dann in das andere. »Wie heißt du?«, fragte er wie nebenbei.
»Robyn.«
»Freut mich, Robyn. Ich bin Julian.« Statt mir die Hand zu geben, stützte er sich mit den Unterarmen auf den Tresen und kam mir dadurch ein Stück näher. »Weißt du, was ich glaube, Robyn?«
Ich wich nicht zurück, kam ihm aber auch nicht entgegen. Irgendwie gefiel mir dieses kleine Spiel, das wir hier spielten. »Nein, aber du wirst es mir sicher gleich verraten.«
Er lehnte sich noch ein Stückchen vor und brachte seinen Mund nahe an mein Ohr. Sofort drang mir sein herber Duft in die Nase. Ich hatte keine Ahnung, was es für eine Mischung war, aber die Rosmarinnote darin war unverkennbar. Er roch verdammt gut.
»Ich denke, du und ich haben schon jetzt eine ganz besondere Verbindung.«
Ein überraschtes Lachen kam mir über die Lippen.
»Glaubst du mir etwa nicht?«
Ich drehte den Kopf zur Seite in der Erwartung, dass er zurückgewichen war. Was jedoch nicht der Fall war, und auf einmal waren unsere Lippen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Unwillkürlich senkte ich die Stimme. »Weißt du, was ich glaube? Dass du echt gut darin bist, Frauen um den kleinen Finger zu wickeln.«
»Warum?« Sein Blick wanderte zwischen meinen Augen und meinem Mund hin und her. »Hat es bei dir geklappt?«
Schmunzelnd griff ich nach dem Tablett mit den Getränken. »Bye.«
»Das ist keine Antwort!«, rief er mir nach.
Noch im Gehen drehte ich mich zu ihm um. Unsere Blicke trafen sich, und ein heißes Kribbeln schoss durch meinen Körper. Als würde er genau wissen, was er in mir auslöste, lächelte er eine Spur breiter.
Oh ja, er wusste ganz genau, welche Wirkung er auf mich hatte.
Kopfschüttelnd wandte ich mich ab und kehrte zu den anderen an den Tisch zurück, die mittlerweile in eine intensive Diskussion vertieft waren. Ich setzte mich wieder auf meinen Platz, stieß mit ihnen an und trank einen Schluck von meinem Wein.
Oh wow. Der intensive Geschmack des Margaux zerging mir förmlich auf der Zunge und entlockte mir ein zufriedenes Lächeln. Mit Sicherheit war dieser Wein teurer als jeder andere, den ich jemals getrunken hatte. Heute hatte ich zwar weder Geburtstag, und es war auch sonst kein Feiertag, aber ich hatte das Telefonat mit meiner Mom erfolgreich hinter mich gebracht und ihr die Stirn geboten, also genoss ich jeden einzelnen Schluck.
Cooper hatte recht. Das hier war mein Leben. Meine Entscheidung. Und das war verdammt noch mal ein teures Glas Wein wert. Vor allem, wenn er mir von so einem attraktiven Kerl serviert wurde wie gerade eben.
»Hey.« Cooper stupste mich von der Seite an.
Ich sah von meinem Glas auf. »Hm?«
»Steht unser Filmabend am Freitag noch?«
Schon während des Praxissemesters hatte Cooper feste Arbeitszeiten gehabt, weswegen wir uns seit einer ganzen Weile nicht mehr so spontan treffen konnten wie früher, was irgendwie schade war. Andererseits gab es dadurch immer etwas, worauf ich mich freuen konnte.
»Für Popcorn ist gesorgt«, fügte er hinzu. »Mit Parmesan, so wie du es liebst.«
Ich strahlte. »Du bist der Beste.«
»Oh, glaub mir, das weiß ich.«
Cooper musterte mich unentwegt, aber mein Blick glitt wie von selbst wieder Richtung Bar. Allerdings ohne ihn noch mal zu sehen.
Mittlerweile hatte sich das Restaurant deutlich gefüllt. Alle Tische waren besetzt, und die Luft war erfüllt vom Summen der Gespräche, von gedämpftem Gelächter und dem Klappern von Geschirr. Auch die Mitarbeiter schienen Unterstützung bekommen zu haben, denn wir konnten endlich bestellen.
Erst als ich mein leeres Glas zurück aufs Tablett stellte, bemerkte ich den zusätzlichen Bierdeckel, auf dessen Rand eine Reihe Zahlen standen. Eine Telefonnummer. Seine Telefonnummer. Mein Puls begann zu rasen, und meine Fingerspitzen kribbelten, als ich nach meinem Handy griff und die Zahlen eingab.
»Jemand zu Hause?« Cooper schnippte mit den Fingern vor meiner Nase herum. »Du hast so einen entrückten Blick drauf. Der kann einem echt Angst machen.«
»Sehr witzig.« Ich schob seine Hand beiseite und speicherte Julian als neuen Kontakt ab.
»Hast du überhaupt mitbekommen, worüber wir gesprochen haben?«
Ich schenkte ihm ein honigsüßes Lächeln. »Normalerweise versuche ich auszublenden, was du sagst.«
Claire spuckte ihren Cocktail aus, während Roger und Heather lauthals anfingen zu lachen. Und auch um Coopers Mundwinkel zuckte es amüsiert.
»Badewanne, Claymore«, warnte er mich leise. »Vergiss das nicht.«
»Als ob ich das je vergessen könnte. Außerdem weißt du doch: Du bist mein Lieblingsidiot.«
»Puh. Und ich dachte schon, ich müsste den Pflichten als bester Freund nachkommen. Glück gehabt.«
Schmunzelnd steckte ich das Handy weg. »Ja. Glück gehabt.«
»Robyn war bestimmt nur wegen diesem heißen Barkeeper abgelenkt, bei dem sie vorhin unsere Getränke bestellt hat.« Claire warf mir ein Lächeln zu und zog die Brauen in die Höhe.
Ich verdrehte die Augen. Auffälliger ging es wohl nicht, oder?
»Welcher Barkeeper?« Cooper folgte ihrem Blick und runzelte die Stirn.
Zwei Männer und eine junge Frau gossen Getränke ein, mixten Cocktails und holten Bierflaschen aus dem Kühlschrank. Julian war nicht darunter und auch sonst nirgendwo zu sehen. Ob er auf der Party im Nebenzimmer war? Oder war er nur für ein Feierabendbier hergekommen und längst wieder verschwunden?
Im Laufe des Abends meinte ich zwar, hin und wieder Julians Blick auf mir zu spüren, konnte ihn aber nirgendwo entdecken, auch dann nicht, als wir das Restaurant verließen, um in den Club zu gehen. Dennoch erwischte ich mich immer wieder dabei, wie ich auf die eingespeicherte Nummer in meinem Handy starrte und mich an Julians intensiven Blick, an sein Lächeln und an diesen Spruch erinnerte, der aus seinem Mund sogar einigermaßen gut geklungen hatte. Nein, nicht gut. Nach sinnlichen Versprechen.
Wer war dieser Typ nur?
3. KAPITEL
Gegenwart
Juni
Julian wird vermisst. Er ist verschwunden.
In Gedanken wiederhole ich die Worte wieder und wieder, aber sie ergeben auch eine halbe Stunde später keinen Sinn. Menschen verschwinden nicht einfach, oder? Schon gar nicht so jemand wie Julian.
Und nicht jetzt. Warum ausgerechnet jetzt? Wir haben seit einem Monat keinen Kontakt mehr. Warum muss er ausgerechnet auf diese Weise einen Weg zurück in mein Leben finden? Allein beim Gedanken daran balle ich die Hände zu Fäusten. Meine kurzen Fingernägel bohren sich in meine Haut, aber es ist ein willkommener Schmerz. Er lenkt mich ab. Verankert mich in der Gegenwart, wenn mich die Vergangenheit wie ein schwarzes Loch verschlucken will.
Ich habe zugestimmt, das Gespräch auf dem Polizeirevier zu führen statt in der Redaktion. Schlimm genug, dass uns all meine Kollegen und Kolleginnen beobachtet haben, aber in wenigen Minuten wäre die Mittagspause losgegangen und dann hätte uns jeder erst recht belauschen können. Nein, danke.
Also bin ich jetzt hier.
Das Polizeirevier sieht von innen genauso aus, wie ich es mir dank all der Filme, die ich mit Cooper geschaut habe, immer vorgestellt habe. Ein Empfang, mehrere Schreibtische in einem größeren Raum, das Summen von Computern und Klackern von Tastaturen, hin und wieder ruft jemand einem anderen etwas zu, und überall laufen Menschen herum. Wären da nicht die uniformierten Männer und Frauen, die deutlich neben den Leuten in Zivilkleidung herausstechen, wäre es genauso wie in der Redaktion.
Ich melde mich am Empfang mit meinem Namen an. Gleich darauf taucht Detective Vicario auf und führt mich einen dunklen Flur entlang bis zu einer Tür, die sie mir aufhält. Der dahinterliegende Raum misst nur wenige Quadratmeter und ist damit kaum größer als das Schlafzimmer in meiner alten Wohnung. Kahle graue Wände ohne jegliche Dekoration. Keine Fenster. Nur eine Tür, ein Metalltisch mit zwei Stühlen und eine verspiegelte Wand. Bringt man hierher wirklich Leute, die nur als Zeugen aussagen sollen? Oder ist das der Raum für die Verdächtigen?
»Kaffee? Wasser?«, bietet Detective Vicario an, aber ich schüttle den Kopf.
»Nein, danke.«
Ich will das Ganze nur hinter mich bringen und dann so schnell wie möglich von hier verschwinden. Von diesem Ort bekomme ich Schweißausbrüche, dabei hatte ich bisher nie ein Problem mit kleinen Räumen.
An der Tür wechselt die Polizistin ein paar Worte mit jemandem. Gleich darauf betritt ein älterer Mann den Raum. Auch er trägt Zivilkleidung und eine Marke am Gürtel. Vielleicht ihr Partner. Wie es aussieht, wollen beide mit mir reden, denn sie setzen sich mir gegenüber.
»Was ist passiert?«, stoße ich hervor, als ich das Schweigen nicht länger ertrage.
Detective Vicario faltet die Hände auf dem Tisch. »Wenn es für Sie in Ordnung ist, würden wir dieses Gespräch gerne aufzeichnen. Es wird per Bild und Ton aufgenommen.«
Ich runzle die Stirn und unterdrücke den Drang, mich nach irgendwelchen Kameras umzusehen, nicke aber. Bleibt mir überhaupt eine andere Wahl?
»Gut.« Sie rasselt das heutige Datum, die Uhrzeit und Fallnummer herunter, gefolgt von ihrem Namen und dem ihres Kollegen – Detective Faulkner –, dann wendet sie sich an mich. »Wie Sie vielleicht wissen, muss im Staat Kalifornien keine Wartezeit verstreichen, um eine Person als vermisst zu melden. Wir werden sofort aktiv. In diesem Fall geht es um das Verschwinden von Julian Richardson. Würden Sie uns bitte Ihren vollen Namen nennen?«
»Mein Name ist Robyn Elizabeth Claymore.«
»Was machen Sie beruflich, Miss Claymore?«
»Ich arbeite in einer Zeitungsredaktion, redigiere Artikel, erledige Recherchen, solche Dinge.«
Sie zeigt keine Reaktion. »In welchem Verhältnis stehen Sie zu Mr. Richardson?«
»In gar keinem.« Die Worte kommen mir schneller über die Lippen, als ich sie aufhalten kann.
Detective Vicario zieht die schmalen Augenbrauen hoch, die genauso dunkel sind wie ihr restliches Haar. Ihr Partner auf dem Stuhl daneben lässt sich nichts anmerken. So wie er dasitzt, wirkt er fast gelangweilt, aber ich spüre, dass er mich genau beobachtet.
Ich räuspere mich. »Das heißt … Wir waren bis vor Kurzem zusammen, aber das war’s auch schon. Was ist mit ihm passiert?«
Warum bin ich hier?
Nun ergreift Detective Faulkner das Wort und erklärt in ruhigem, neutralem Tonfall: »Heute Morgen haben wir einen Anruf von den Nachbarn von Mr. Richardsons Atelier erhalten. Anscheinend war sein Hund die ganze Nacht über allein dort eingesperrt und hat stundenlang gebellt. Mr. Richardson war weder telefonisch noch zu Hause zu erreichen, also mussten wir uns Zugang zum Atelier verschaffen, um den Hund zu befreien. Da das sehr untypisch für Mr. Richardson ist, haben seine Nachbarn umgehend eine Vermisstenanzeige aufgegeben.«
Vielleicht stehe ich unter Schock, denn nichts von dem, was der Beamte sagt, ergibt auch nur den geringsten Sinn. Das hier kann nicht wirklich passieren. Oder? Das ist ein dummer, dummer Scherz.
»Wir haben uns bereits den Arbeitsplatz und die Wohnung von Mr. Richardson angesehen und in den Krankenhäusern der Stadt nachgefragt. Bisher ohne Ergebnis.«
Meine Gedanken rasen wie eine viel zu schnelle Achterbahn, doch das Erste, mit dem ich herausplatze, ist: »Was ist mit Lucky?«
Die beiden heben fragend die Augenbrauen.
»Der Hund«, erkläre ich in dem Versuch, mich auf eine Sache zu konzentrieren. Auf eine Sache, die ich beeinflussen kann. »Wo ist er jetzt?«
Ich traue Julian zwar vieles zu, aber Lucky, seinen besten Freund, einfach so allein zu lassen? Nein, das würde er nicht tun.
Im selben Moment, in dem mir dieser Gedanke durch den Kopf schießt, spüre ich einen Stich in der Brust. Bilder tauchen vor meinem inneren Auge auf, Bilder und Erinnerungen, die mir die Luft abzuschnüren drohen. Ich setze alles daran, sie zurückzudrängen. Sie dorthin zu verbannen und einzuschließen, wo sie hergekommen sind, bis ich wieder atmen und klar denken kann.
Die beiden Beamten beobachten mich genau. Ihnen scheint keine einzige Regung zu entgehen. »Er ist bei den Nachbarn, die uns angerufen haben.«
Okay. Das ist gut. Also ist er schon mal nicht in einem Tierheim gelandet oder wo auch immer man Tiere von vermissten Personen hinsteckt.
»Ich kann mich um ihn kümmern«, biete ich an und bereue es im selben Moment. Das Letzte, was ich jetzt tun sollte, ist, noch mehr Verbindungen zu Julian aufzubauen, statt jede einzelne davon zu kappen.
»Das ist sehr großzügig von Ihnen.« Detective Vicario scheint das Gespräch jetzt wieder zu übernehmen. »Unseren Informationen zufolge wohnen Sie und der Vermisste zusammen?«
»Nein«, widerspreche ich schnell. Zu schnell. Ich räuspere mich. »Ich wohne zurzeit bei meiner Schwester.«
»Wie heißt sie?«
»Sara Claymore«, erwidere ich und nenne sicherheitshalber auch noch ihre Adresse.
Detective Vicario mustert mich fragend. »Warum wohnen Sie nicht dort, wo Sie gemeldet sind?«
Erneut bohre ich die Fingernägel in meine Handflächen. Kurz flackert mein Blick durch den Raum und landet dann wieder auf den beiden Polizisten. »Wir haben entschieden, uns zu trennen. Ich bin ausgezogen.«
Die Lüge brennt auf meinen Lippen, aber ich nehme sie nicht zurück. Und irgendwie ist es auch keine richtige Lüge. Wir wohnen nicht mehr zusammen. Uns verbindet nichts mehr außer zweieinhalb Jahre voller gemeinsamer Erinnerungen. Wenn man das nicht Trennung nennt, was dann?
»Wann war das?«
»Vor ungefähr einem Monat.«
»Und danach sind Sie zu Ihrer Schwester gezogen?«
Ich zwinge mich dazu, meine Fäuste zu lösen, und falte stattdessen die Hände im Schoß. »Ja. Zumindest übergangsweise.«
»Aber Sie haben sich noch nicht umgemeldet?«
Ich erstarre. »Nein«, bestätige ich widerwillig. »Dazu hatte ich noch keine Gelegenheit. Im Moment orientiere ich mich neu.«
»Inwiefern?«
»Was hat das mit Julians Verschwinden zu tun?«
Detective Faulkner schenkt mir ein Lächeln, das wohl beruhigend wirken soll. Er scheint den netten Part zu übernehmen, während seine Kollegin mit einer Stricknadel in einer Wunde bohrt, die nicht mal ansatzweise verheilt ist. »Wir versuchen nur herauszufinden, was passiert ist, und ob möglicherweise ein Verbrechen vorliegt.«
Ich kralle die Hände fester zusammen. Meine Fingerknöchel treten weiß hervor. »Sie glauben, ihm ist etwas zugestoßen?«
Die beiden wechseln einen kurzen Blick, dann wendet sich Detective Vicario wieder an mich. »Momentan können wir dazu noch nichts sagen. Wir beleuchten alle Möglichkeiten und stufen das Risiko ein. Das ist unser Job.«
Natürlich. Sie wollen herausfinden, was geschehen ist.
»Wo waren Sie gestern Abend, Miss Claymore?«
Ich reiße den Kopf hoch. »Bei meiner Schwester. Und ja, sie kann es bezeugen.« Ich klinge defensiver, als mir lieb ist, aber ich kann meine Antwort auch nicht mehr zurücknehmen.
Die Miene der Ermittlerin ist nicht zu deuten. Ich habe keine Ahnung, was sie von meiner Antwort hält – oder ob sie mir überhaupt glaubt.
»Den ganzen Abend?«, hakt sie nach.
»Ja. Wie gesagt: Ich wohne momentan bei ihr.«
»Was haben Sie gemacht?«
»Filme geschaut. Wein getrunken. Uns über Männer und das Leben im Allgemeinen aufgeregt.«
Detective Faulkner legt fragend den Kopf schief. »Haben Sie auch über Ihren Ex-Freund gesprochen?«
Ich hasse es, zugeben zu müssen, dass Julian noch immer ein Thema in meinem Leben ist, obwohl er doch kein Teil mehr davon sein sollte. Trotzdem nicke ich knapp. Ich habe nichts zu verbergen.
»Haben Sie ihn angerufen? Ihm eine Nachricht geschrieben? Versucht, wieder Kontakt aufzunehmen?«
Wirklich? So wollen sie es drehen? Die durchgeknallte Ex-Freundin, die nicht von dem Typen loskommt?
Meine Arme zittern, so sehr ringe ich um Beherrschung. »Nein. Meine Schwester und ich haben uns einfach nur einen schönen Abend gemacht.«
»Wann sind Sie schlafen gegangen?«
»Gegen elf oder zwölf.«