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Rayne und Colt sind Seelenpartner - und ihre Liebe bringt sie in größte Gefahr. Denn Lauren, die Anführerin der Dunkelseelen, hat Rayne auf ihre Seite gezogen und versucht auf jede erdenkliche Weise, ihren Willen zu brechen. Doch Colt kämpft weiterhin für die Lichtseelen und würde alles dafür tun, um Rayne zurückzugewinnen. Zwei Seelen begegnen sich nie zufällig …»Was zum Teufel haben sie mit dir gemacht? « Mit einer geschmeidigen Bewegung richtete sich Colt auf. War er schon immer so groß gewesen? So gefährlich? Statt einer Antwort versuchte ich, an ihm vorbeizugehen, aber er stellte sich mir in den Weg.»Die Rayne, die ich kenne, hätte niemals einen ihrer Freunde angegriffen.«»Ich habe Jeff nicht angegriffen.«»Ach nein? Wie willst du es sonst nennen?« Er ließ mich keinen Moment aus den Augen, obwohl hinter uns noch immer der Kampf tobte. »Lass mich durch.« Meine Worte entlockten ihm nur ein abfälliges Schnauben. Ich biss die Zähne zusammen. »Wie du willst.« Doch bevor ich eine Illusion einsetzen konnte, packte Colt meine Handgelenke und zog mich ruckartig an sich.»Keine Chance«, knurrte er. »Ich habe dich schon mal verloren, ich werde dich jetzt nicht wieder verschwinden lassen.«*** Das Finale des dramatischen Zweiteilers von Bianca Iosivoni ***
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Seitenzahl: 482
Als Ravensburger E-Book erschienen 2018Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg© 2017 Ravensburger Verlag GmbHText © 2018 Bianca IosivoniDieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Langenbuch & Weiß, Hamburg.Eingangszitat aus »First Night of Summer« mit freundlicher Genehmigung von Landon Parham.Umschlaggestaltung: Isabelle Hirtz unter Verwendung von Fotos von Shutterstock/Mikhail_Kayl, Shutterstock/Petar Paunchev und Shutterstock/kaisornLektorat: Nadja KorthalsAlle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbHISBN978-3-473-47891-0www.ravensburger.de
Für alle, die gegen die Dunkelheit kämpfen.Kämpft weiter.
Playlist
Ki:Theory – Stand By Me
Sara Bareilles – She Used To Be Mine
Snow Patrol feat. Martha Wainwright – Set The Fire To The Third Bar
Ryan Star – Losing My Memory
Within Temptation – Utopia
Hidden Citizens – I Think We’re Alone Now
Emily Browning – Sweet Dreams (Are Made Of This)
Skillet – Feel Invincible
Tommee Profitt feat. Ruelle – Whose Side Are You On?
Florence And The Machine – Shake It Out
Hidden Citizens – (I Just) Died In Your Arms
Florence And The Machine – Never Let Me Go
Jason Walker – Down
Skillet – The Resistance
RAIGN – When It’s All Over
Trans-Siberian Orchestra – Christmas Canon
Sixx:A.M. – We Will Not Go Quietly
Imagine Dragons – Demons
E.S.Posthumus – Unstoppable
Cary Brothers – O Holy Night
Within Temptation – All I Need
Kaleb Jones – Till The World Stops Turning
Emily Browning feat. Yoav – Where Is My Mind?
The Airborne Toxic Event – Timeless
»Life isn’t just about darkness or light, rather it’s about finding light within the darkness.«Landon Parham – First Night of Summer
Kapitel 1
Als Kind hatte ich Angst vor den Ungeheuern, die in der Dunkelheit lauerten. Doch was, wenn sich die Dunkelheit in Wahrheit vor mir fürchten musste? Zumindest mieden die Männer und Frauen, die jetzt aus den Schatten traten, meinen Blick und kamen mir keinen Schritt zu nahe. Diese Reaktion hatte ich in den letzten Wochen im Hauptquartier der Dunkelseelen öfters erlebt.
Der kühle Nachtwind wehte mir ein paar Haarsträhnen ins Gesicht. Trotz meiner Nervosität zitterte meine Hand nicht, als ich sie mir hinters Ohr schob. Nach außen hin wirkte ich völlig ruhig, auch wenn mein Herz so laut hämmerte, dass ich sicher war, jeder könnte es hören.
Vor uns erstreckte sich das Fabrikgelände am Rande Chicagos, das die Lichtseelen als Notfall-Stützpunkt nutzten, wie nach dem Angriff bei der Hütte im Wald. Grau und düster erhob das Gebäude sich in den Nachthimmel. Scheiben waren eingeschlagen, Efeu rankte sich an den Steinen empor und Unkraut wucherte in jeder Ecke. An den Wänden prangten Graffiti. Bunte Schmierereien, die kaum noch zu entziffern waren, weil Regen und Wind ebenfalls ihre Spuren an den Mauern hinterlassen hatten. Selbst im Licht des Mondes wirkte es verlassen – zumindest für die Dunkelseelen und Gray, der jetzt an meine Seite trat. Sein hellbraunes Haar war in den letzten Wochen länger geworden. Wie die Männer und Frauen um uns herum war er in Schwarz gekleidet, nur trug er zu seinem Langarmshirt eine Jeans, die genau wie meine eigene schon bessere Zeiten gesehen hatte. Als er den Kopf drehte und mich ansah, wirkten seine grauen Augen beinahe so dunkel wie die Wolken, die sich hin und wieder vor den Mond schoben.
»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte er skeptisch. Er sah wieder nach vorne und ich folgte seinem Blick.
Ich wusste, was er wahrnahm – die Illusion, die Jeff und ich damals erschaffen und mit unserem Blut hier verankert hatten. Es war eine Art Momentaufnahme des Fabrikgeländes: leer, verlassen und dunkel. In der nächsten Sekunde erkannte ich das Gebäude hinter dem Trugbild ebenso wie die Lichter im obersten Stockwerk und die Bewegungen, wenn jemand drinnen an den Fenstern vorbeiging.
»Sie sind hier«, erwiderte ich knapp. Ich konnte nur hoffen, dass auch meine Zielperson anwesend war – oder schleunigst hier auftauchen würde, damit diese ganze Aktion nicht umsonst war. »Geht durch die Illusion hindurch, dann seht ihr es.«
Gray nickte der Dunkelseele zu, die ihm am nächsten stand. Der Mann gab den anderen ein Zeichen, dann verschmolzen sie wieder mit der Finsternis. Für einen kurzen Augenblick waren Gray und ich allein.
»Alles in Ordnung?«, fragte er leise.
Ich presste die Lippen aufeinander und nickte, ohne ihn anzusehen. Aber ich hätte wissen müssen, dass er mich besser kannte.
Behutsam legte er seine Hand an mein Gesicht und drehte es zu sich, sodass ich seinem Blick nicht länger ausweichen konnte. »Sicher?«
Wieder ein Nicken.
»Du weißt, was du zu tun hast?«
Diesmal zwang ich mich zu einer Antwort: »Ja.«
»Gut.« Er strich mir über die Wange, dann ließ er seine Hand sinken. »Halte dich an den Plan und keiner wird verletzt. Wir wollen niemandem schaden, wir brauchen nur diese Information.«
Er hatte leicht reden, er musste ja nicht im Kopf eines anderen herumwühlen. Und trotz allen Trainingsstunden mit Lauren fiel es mir nach wie vor schwer … Sie hatte es mich wieder und wieder üben lassen, bis ich so viele Erinnerungen der Dunkelseelen gesehen hatte, dass ich mich erbrach. Sie hätte weitermachen können, mich dazu zwingen können, mit meinem Training fortzufahren. Stattdessen hatte sie mich beiseitegenommen und die fremden Erinnerungen aus meinem Kopf gelöscht, damit ich wieder frei atmen konnte, ohne das Gefühl zu haben, an der Last der Bilder zu ersticken. Wie sie selbst mit all den Erinnerungen von anderen Leuten leben konnte, würde ich nie begreifen.
»Es ist so weit«, murmelte Gray und sah von seinem Handy auf. »Wir lenken sie ab und geben dir Rückendeckung.«
Wir waren den Plan so oft durchgegangen, bis ich ihn im Schlaf aufsagen konnte. In der Theorie war alles klar. Es war die Praxis, die mir Sorgen bereitete.
Beinahe gleichzeitig setzten Gray und ich uns in Bewegung und durchbrachen die Illusion, die das Gebäude schützte, während ich eine neue aufbaute, die uns mit unserer Umgebung verschmelzen ließ. Wir kamen gerade mal ein paar Schritte weit, als die Tür im Erdgeschoss aufging und eine junge Frau heraustrat. Mit ihrer dunklen Haut und der schwarzen Kleidung war sie im ersten Moment kaum auszumachen. Nur das Blitzen der beiden Klingen in ihren Händen verriet sie.
Augenblicklich setzten sich die Schatten in Bewegung und stürzten auf sie zu. Gray verschwand von meiner Seite, und einen Moment lang sah ich dem Nebel nach, der über den Boden Richtung Eingang kroch. Ich folgte ihm langsam, nutzte meine Illusionen, um mich vor den Blicken aller zu verbergen, und schlich an der Hauswand entlang, bis ich die Tür ebenfalls erreicht hatte.
Ein feuchter, modriger Geruch schlug mir entgegen und weckte längst vergessene Erinnerungen.
Der Moment, in dem ich hier aufgewacht war, orientierungslos und verletzt, nachdem ich einen Teil von Colts Wunden auf mich genommen hatte, um ihm das Leben zu retten.
Colt …
Licht blitzte auf und riss mich aus meinen Gedanken. Schatten wirbelten herum. Kampfgeräusche drangen an mein Ohr. Aber ich konnte mich nicht umsehen, da ich meine ganze Konzentration benötigte, um meine Illusion aufrechtzuerhalten und vorwärtszukommen.
Ohne Zeit darauf zu verschwenden, die ersten Etagen abzusuchen, nahm ich die Treppe nach oben. Nach dem, was ich von draußen gesehen hatte, hielten sich die Lichtseelen hauptsächlich im obersten Stockwerk auf. Als ich dort ankam, ließ ich meine Illusion verschwinden und rannte den Gang hinunter. Ab jetzt zählte jede Minute. Mein Brustkorb schmerzte von den schnellen Atemzügen, aber darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen. Diese Mission in die Länge zu ziehen, würde unweigerlich Verletzte auf beiden Seiten bedeuten.
Als ich Jeff endlich entdeckte, seufzte ich erleichtert. Er stand am Rande des Gefechts in der großen Halle, in der ich einst verwundet aufgewacht war. Sein Haar war verstrubbelt, er hatte die Stirn in Falten gelegt, die Arme gehoben und versuchte, die Gegner mithilfe von Illusionen zu verwirren. Erstaunlich, dass niemandem auffiel, dass die Dunkelseelen Jeff mieden. Stattdessen griffen sie alle anderen an, vor allem die Krieger der Lichtseelen.
Ich blendete meine Gedanken aus, bevor sie zu Colt wandern konnten, bevor ich meinen Blick durch den Raum schweifen lassen und nach ihm suchen konnte. Obwohl sich alles in mir dagegen wehrte, wandte ich mich ab. Meine Aufgabe war es lediglich, Lauren die Information zu beschaffen, die sie benötigte. Nicht mehr und nicht weniger.
Leise schlich ich in einem großen Bogen um Jeff herum. Er war zu beschäftigt damit, den Lichtseelen zu helfen, um mich zu bemerken, denn die Sicherheit seiner Freunde war ihm wichtiger als seine eigene. Und diese Loyalität sollte ihm jetzt zum Verhängnis werden.
Ich trat hinter Jeff und legte die Fingerspitzen an seine Schläfen. Er versteifte sich im selben Moment, in dem ich in seinen Geist eindrang. Bilder zuckten an mir vorbei. Ich versuchte, sie zu ignorieren und so vorzugehen, wie Lauren es mir beigebracht hatte. Zuerst suchte ich nach der betreffenden Person in seinem Gedächtnis, dann folgte ich dieser Erinnerungsspur wie einem roten Faden. Leider hegte Jeff eine Menge Erinnerungen an William, den ehemaligen Anführer der Lichtseelen, aber ich hatte lange genug trainiert, um sie eine nach der anderen mit derselben Gelassenheit fortzuwischen, als würde ich auf einem iPad die Seiten eines Buches weiterblättern.
Meine Fingerspitzen begannen zu kribbeln. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich hatte es fast geschafft. Obwohl ich spürte, wie sich uns jemand näherte, wagte ich es nicht, die Augen zu öffnen. Die Verbindung zu unterbrechen, bevor ich fertig war, konnte großen Schaden anrichten. Ich hatte es gesehen, hatte es selbst getan. Lauren zufolge lernte man nur aus Fehlern.
Ich ging weiter, grub noch tiefer. Erinnerung um Erinnerung zog vor meinem inneren Auge vorbei. Ich sah, wie Jeff mit William sprach, wie er seine Sorgen über Livs Zustand während der ersten Zeit bei den Lichtseelen mit ihm teilte, wie er von ihm unterrichtet wurde und sich gemeinsam mit William, Colt und den anderen Jungs ein Spiel der Chicago Bulls anschaute. Ich prüfte jede einzelne kurz und ließ sie dann über mich hinwegspülen wie die Wellen eines Ozeans, die ich genauso wenig festhalten konnte wie diese Bilder. Doch der frische Geruch des Meeres blieb bestehen und wurde von einem holzigen Duft ergänzt, der nicht so recht ins Bild passte. Bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, packte mich jemand an der Taille und riss mich mit sich.
Ich landete hart auf dem Boden. Ellbogen und Rippen schmerzten, meine Handkante war aufgeschürft, aber ich nahm all das nur als dumpfes Pochen wahr. Viel stärker war das plötzliche Hämmern in meiner Brust, denn ich wusste instinktiv, wer mich von Jeff weggerissen hatte. Ich spürte seine Präsenz, noch bevor ich die Augen öffnete und ihn neben mir liegen sah.
Colt.
Er wirkte noch genauso, wie ich ihn in Erinnerung behalten hatte – und doch verändert. Die Ringe unter seinen grünbraunen Augen waren neu und aus den Stoppeln in seinem Gesicht war ein Dreitagebart geworden. Oder eher ein Fünftagebart. Auf seinem Oberarm, knapp unterhalb des Ärmels seines T-Shirts, zeichnete sich ein langer Schnitt ab und mein Blick zuckte automatisch an die Stelle. Etwas regte sich in mir, wollte aus meinem Unterbewusstsein hervorbrechen, aber ich unterdrückte es mit aller Macht.
»Was soll das?«, zischte ich und rollte mich zur Seite weg, dann sprang ich auf und sah zu Jeff, der wenige Meter entfernt bewegungslos am Boden lag.
Oh Gott. Atmete er überhaupt noch?
Ein Aufleuchten später war Colt bei ihm. Er drehte ihn auf den Rücken und prüfte seinen Puls und seine Atmung. »Er lebt. Aber du hast ihm fast das Gehirn verschmort.«
»Nur, weil du mich mittendrin unterbrochen hast.« Unbewusst ballte ich die Hände zu Fäusten. Vielleicht nicht nur aus Wut und Trotz, sondern auch, um mein Zittern vor ihm zu verbergen. »Wenn ich fertig geworden wäre, dann wäre niemand zu Schaden gekommen.«
»Niemand?« In einer geschmeidigen Bewegung richtete sich Colt auf. War er schon immer so groß gewesen? Seine ganze Art so einnehmend? So gefährlich? »Was zum Teufel ist mit dir passiert? Was haben sie mit dir gemacht?«
Zu viel. Zu viel, um darüber zu sprechen, zu viel, um ihn daran teilhaben zu lassen. Statt einer Antwort versuchte ich, an ihm vorbeizugehen, aber er stellte sich mir in den Weg.
»Die Rayne, die ich kenne, hätte niemals einen ihrer Freunde angegriffen.«
»Ich habe ihn nicht angegriffen.«
»Ach nein? Wie willst du es sonst nennen?« Er ließ mich keinen Moment aus den Augen, obwohl hinter uns noch immer der Kampf tobte.
Ich schüttelte den Kopf. Das hier war verrückt. »Lass mich durch.«
Meine Worte entlockten ihm nur ein abfälliges Schnauben.
»Ganz sicher nicht.«
Ich biss die Zähne zusammen. »Wie du willst.«
Colt anzugreifen wäre genauso sinnlos, wie gegen einen Sturm anzukämpfen. Also tat ich das einzig Vernünftige, machte einen Schritt nach hinten und setzte meine Kräfte ein, um mich vor seinen Blicken zu verbergen.
Allerdings hatte ich nicht mit Colts rasend schneller Reaktion gerechnet. Bevor ich mittels einer Illusion mit der Fensterfront in meinem Rücken verschmelzen konnte, packte er meine Handgelenke und zog mich ruckartig an sich.
»Keine Chance«, knurrte er. »Ich habe dich schon mal verloren, ich werde dich jetzt nicht wieder verschwinden lassen.«
Mein Herz setzte einen Schlag lang aus, nur um dann noch schneller weiter zu pochen. Ich schleuderte Colt eine Erinnerung entgegen, um ihn abzulenken, dann befreite ich mich aus seinem Griff – so, wie er es mir selbst beigebracht hatte. Bevor er mich wieder zu fassen kriegen konnte, ließ ich mich auf den Steinboden fallen, rollte mich weg und stand wenige Schritte weiter wieder auf.
»Du willst also unfair kämpfen?« Colt warf mir einen wütenden Blick zu. »Das kannst du haben.« Einen Wimpernschlag später leuchtete es auf, und ich spürte einen Tritt gegen die Kniekehlen, der mich zu Boden schickte. Schmerz zuckte durch meine bereits lädierten Rippen, doch mir blieb keine Zeit, mich darum zu kümmern. Ich hievte mich wieder hoch und ging auf Colt los.
Hieb um Hieb wehrte er ab oder wich in Lichtgeschwindigkeit aus. Nur einmal schaffte ich es, ihn mithilfe einer Illusion aus dem Konzept zu bringen und selbst einen Treffer zu landen. Eine Sekunde später fand ich mich mit dem Rücken an der Wand wieder, während Colt seinen Unterarm gegen meine Kehle drückte wie bei unserem allerersten Treffen.
»Ich will dir nicht wehtun, Rayne.« Mit der freien Hand wischte er sich das Blut aus dem Mundwinkel.
»Aber vielleicht will ich dir wehtun«, brachte ich hervor und schleuderte ihm eine Erinnerung entgegen, von der ich wusste, dass er darunter leiden würde. Ich zeigte ihm den Moment, in dem Zane Alicia tot aufgefunden hatte. Ich ließ ihn den Schmerz, die Verzweiflung und all den Hass spüren, die Zane damals empfunden und die er selbst verursacht hatte.
Colt ließ mich abrupt los und wich zurück. Er war blass geworden, seine Stirn war gerunzelt und in seinen Augen spiegelte sich so viel wider, dass es unmöglich war, alles darin zu lesen. Überraschung, Verwirrung, Zweifel, Schmerz – und so viel Hoffnung, dass etwas in mir zu zerbrechen drohte.
Wie konnte er noch immer hoffen? Wie konnte er glauben, dass nach allem, was geschehen war, auch nur irgendetwas wieder wie früher werden könnte? Nachdem wir alle mit angesehen hatten, wie William gestorben war. Nachdem sich Barry in meinen Armen aufgelöst hatte. Nachdem ich viel mehr Zeit bei den Dunkelseelen verbracht hatte als bei den Lichtseelen.
Nein. Es konnte nicht wieder so werden wie zuvor, weil wir nicht mehr dieselben Menschen waren. Weil ich aufgegeben hatte. Ich hatte aufgeben müssen, sonst wäre ich an meiner Sehnsucht nach ihm, nach meiner Familie und meinem alten Leben zugrunde gegangen. Selbst jetzt spürte ich sie noch, merkte, wie sie sich einen Weg durch die Schutzmauern zu bahnen versuchte, die ich um mich herum errichtet hatte. Ich verdrängte das Gefühl und vergrub es so tief wie möglich in mir. Ich hatte einen Auftrag zu erledigen. Ich musste …
Eine plötzliche Ruhe legte sich auf mich, als würde mich jemand in eine flauschige Wolldecke einhüllen und mir eine heiße Schokolade in die Hand drücken. Ich schüttelte den Kopf, versuchte, diese Empfindung zu vertreiben, aber sie blieb hartnäckig bestehen. Gelassenheit sickerte durch meine Poren, bis ich daran zu ersticken drohte.
»Halt dich aus meinen Gefühlen raus!« Ich wirbelte zu Liv herum und schleuderte ihr eine Illusion entgegen, die sie zurückzucken ließ. Sofort verschwand die Ruhe in mir, als hätte jemand die warme Decke weggerissen. Diesmal war ich diejenige, die zusammenzuckte. »Das ist meine einzige Warnung.«
Liv starrte mich aus geweiteten Augen an, das Gesicht beinahe so blass wie ihr hellblondes Haar, wagte jedoch keinen neuen Versuch, mir ihre Emotionen aufzuzwingen.
»Rayne …«, setzte Colt an.
»Nein.« Je länger ich hier war, je länger ich ihre besorgten Blicke auf mir spürte, desto mehr begannen meine sorgfältig errichteten Mauern zu bröckeln. »Lass mich freiwillig zu Jeff oder ich sorge dafür, dass dir gar nichts anderes übrigbleibt.«
Ein Muskel begann in Colts Kiefer zu zucken, aber er wich nicht zurück, gab keinen Zentimeter nach. Jede andere Reaktion hätte mich überrascht.
»Wie du willst.« Ich riss meinen Blick von ihm los und suchte in der Halle nach Gray oder nach einer Dunkelseele, nach irgendjemand, der Colt lange genug beschäftigen würde, damit ich meinen Job zu Ende bringen konnte.
Doch gerade als ich Gray entdeckte und ihm ein Zeichen geben wollte, schritt Colt ein. Blitzschnell verschmolz er mit dem Licht der Deckenlampen und tauchte direkt vor mir wieder auf. Ich riss die Arme hoch und konnte seinen Schlag gerade noch abwehren, aber es kostete mich mehr Kraft, als ich für möglich gehalten hätte. Ich strauchelte, stolperte nach hinten, doch Colt gab mir keine Sekunde Zeit, um mich von der plötzlichen Attacke zu erholen.
Schritt für Schritt drängte er mich zurück, und ich wusste, dass ich dem Großteil seiner Angriffe nur deshalb ausweichen konnte, weil er nicht mit ganzem Herzen bei der Sache war.
Ich wusste es, weil es mir genauso ging. Völlig egal, welche Erinnerung und welche Illusion ich ihm entgegenschleuderte, völlig egal, wie oft ich zum Gegenangriff überging – ich konnte ihm nicht wehtun. Nicht wirklich.
Mit einer gezielten Trittkombination schickte er mich zu Boden. Schwer atmend rollte ich mich weg, doch da war Colt schon bei mir. Bevor ich mich versah, kniete er über mir und drückte meine Handgelenke neben meinem Kopf zu Boden.
Einen Moment lang starrten wir einander nur an, während die Bilder vor meinem inneren Auge überhandzunehmen drohten. Erinnerungen an unser gemeinsames Training, wie er mich wieder und wieder an meine Grenzen gebracht hatte, damit ich besser, schneller und stärker wurde. Aber es war nicht Colt, dem ich meine Kampffähigkeiten zu verdanken hatte. Nicht mehr.
Ich winkelte die Knie an, klemmte seine Beine zwischen meine Fersen und Oberschenkel, damit er sich nicht befreien konnte, und schob meinen rechten Arm ruckartig nach links oben. Die Bewegung brachte ihn aus dem Gleichgewicht und ich nutzte das Überraschungsmoment, um mich mit der Hüfte vom Boden abzustoßen und uns beide herumzurollen. Dann sprang ich auf und wich vor ihm zurück.
»Das ist Miles’ Trick …«
Livs Stimme drang wie ein Windhauch an mein Ohr, und auch Colt musste sie gehört haben, denn er hielt mitten in der Bewegung inne.
Seine Augen weiteten sich. Ein Aufblitzen später lag er nicht mehr auf dem Boden, sondern hatte mich gepackt und erneut gegen die Wand gedrängt. »Woher kennst du diese Technik?«
Ich lächelte nur, auch wenn es sich kalt und bitter anfühlte. Erwartete er wirklich eine Antwort darauf?
»Woher, Rayne?« Als ich noch immer schwieg, veränderte sich etwas in seinem Blick, wurde weicher, fast schon mitfühlend. »Tut mir leid.« Er schob seine Finger in mein Haar – und dann ging alles so schnell, dass mir keine Zeit zum Reagieren blieb.
Aus dem Augenwinkel sah ich die Mauer auf mich zurasen.
Ein stechender Schmerz an meiner Schläfe.
Dunkelheit und Stille.
Kapitel 2
»Das war eine miese Idee.«
Ein kühler Luftzug streifte mein Gesicht und trug diese Worte zu mir herüber. Nur langsam wurde ich mir meiner Umgebung bewusst. Ich lag auf etwas Hartem, aber es fühlte sich nicht kalt an. Vielleicht eine Decke, die auf dem Boden ausgebreitet war? Mein Kopf schien zu bersten und nur mit Mühe konnte ich einen Schmerzenslaut unterdrücken.
»Sie ist eine von uns. Trotz allem …« Eine Frau mischte sich in die Diskussion ein. Ich kannte sie, aber mein Kopf dröhnte so sehr, dass ich einen Moment brauchte, bis mir der richtige Name einfiel. Liv. Mein Puls schoss in die Höhe. Mit wem sprach sie? Und was war passiert? Ich erinnerte mich noch an die Auseinandersetzung mit Colt in der Fabrikhalle und dann … nichts mehr.
»Ist sie das?«, hakte die erste Stimme nach. Sie gehörte einem Kerl, und ich war mir ziemlich sicher, sie nie zuvor gehört zu haben. Diesen rauen Unterton, der seine melodische Stimme begleitete, hätte ich definitiv nicht vergessen. »Sie hat sich nie im Licht bewegt, also ist sie auch keine Lichtseele.«
»Genauso wenig wie eine Dunkelseele«, kam es von Colt.
Mein Herz setzte einen Schlag lang aus, nur um dann umso heftiger weiterzupochen. Es war eine instinktive Reaktion auf ihn, gegen die ich machtlos war.
Aber wenn Colt, Liv und dieser Fremde hier waren, wo waren dann die Dunkelseelen? Wo war Gray? Die Dunkelseelen würden mich ohne mit der Wimper zu zucken zurücklassen, aber Gray hätte das niemals getan. Etwas musste vorgefallen sein.
Der Drang, die Augen zu öffnen und mich umzusehen, wurde übermächtig, aber ich unterdrückte ihn mit aller Gewalt. Solange ich sie in dem Glauben ließ, ich würde schlafen, war ich in Sicherheit. Auch wenn das nur von kurzer Dauer sein würde.
»Vielleicht habt ihr nur noch nicht gesehen, wie sie in den Schatten wandelt«, widersprach der Fremde. »Wie lange war sie bei Lauren? Vier Wochen? Fünf? Sechs? Das ist mehr als genug Zeit, um sie umzudrehen.«
»Da spricht jemand aus Erfahrung«, kommentierte Colt trocken.
Schweigen.
Ich wagte es nicht, mich zu bewegen. Mir war kalt, doch diese Empfindung war mir inzwischen nur zu vertraut. Ich unterdrückte ein Frösteln und stellte fest, dass ich auf der Seite lag. Meine Hände waren vor meinem Körper gefesselt, meine Füße jedoch frei. Abgesehen von dem hässlichen Pochen in meiner Schläfe schien ich kaum verletzt zu sein. Meine Rippen taten etwas weh und ich hatte vermutlich ein paar Schürfwunden, aber wie die Kopfschmerzen würden auch sie bald verschwinden, weil sich mein Körper nach und nach von selbst heilte. Vielleicht konnte ich entkommen, wenn sie mich allein ließen. Wenn Colt nicht mehr da war.
»Ich bin keine Dunkelseele«, sagte der Fremde gefährlich leise. »Und ich stehe auch nicht auf Laurens Seite, sonst wäre ich nicht hier. Etwas, das man von ihr nicht behaupten kann.«
Offensichtlich sprachen sie jetzt wieder über mich.
»Ihr Kampfstil hat sich verändert«, sinnierte Liv und in ihren Worten lag so viel Schmerz, dass eine Welle an Gefühlen durch den Raum rollte. Es kostete mich all meine Selbstbeherrschung, nicht davor zurückzuzucken, sondern es über mich ergehen zu lassen. »Das war eindeutig eine von Miles’ Techniken. Aber er kann ihr in der kurzen Zeit, in der sie bei uns war, nicht all seine Tricks beigebracht haben. Was, wenn er noch am Leben ist?« Ihre Stimme überschlug sich. »Wenn wir dachten, die Dunkelseelen hätten ihn getötet, aber in Wirklichkeit haben sie ihn mitgenommen? Was, wenn er in diesem Moment bei ihnen ist und unsere Hilfe braucht?«
»Liv …« Der Fremde seufzte.
»Wenn Miles noch lebt, hat Lauren ihn«, sagte Colt ruhig. »Andernfalls hätte er uns längst kontaktiert. Die einzige Person, die uns etwas dazu sagen kann, liegt dort drüben und bleibt auch hier. Verstanden?«
Keiner antwortete. Niemand stellte seine Autorität infrage. Er war der neue Anführer der Lichtseelen, das war unverkennbar.
Am liebsten würde ich meine Ohren genauso verschließen wie meine Augen, um nichts von dem zu hören, worüber sie völlig unbedacht in meiner Nähe sprachen. Trotz all meiner heimlichen Bemühungen konnte Lauren noch immer in mir lesen wie in einem offenen Buch. Sie würde jedes Detail dieses Gesprächs erfahren.
»Jeff ist immer noch bewusstlos und ich habe keine Ahnung, was wir für ihn tun können.« Die Sorge in Livs Worten war nicht zu überhören.
Ich biss die Zähne zusammen. Jeffs Zustand war meine Schuld. Ich hatte das schon einmal jemandem antun müssen – aber ich wusste auch, wie ich es wieder rückgängig machen konnte.
»Ich verstehe nicht, warum Rayne nicht aufwacht«, murmelte Liv.
»Gute Frage«, erwiderte der Fremde gedehnt. Seine Schritte waren nicht zu hören, doch ich merkte anhand seiner Stimme, dass er näher kam. Unwillkürlich verspannte ich mich. »Aber aufzuwachen wäre auch zu einfach. Nicht wahr, Rayne?« Jetzt stand er direkt neben mir.
Ich zwang mich dazu, die Augen geschlossen zu halten und flach zu atmen. Unter anderen Umständen hätte ich mich vielleicht an einer Illusion versuchen können, die mich wie in einer Dauerschleife weiterhin bewusstlos zeigte, aber die Gefahr, dass noch eine Lichtseele mit der gleichen Kraft anwesend war und das Trugbild durchschaute, war zu groß. Dann würde ihnen sofort klar sein, dass ich ihnen etwas vorgemacht und das Gespräch schon seit einer ganzen Weile belauschte.
»Du magst die anderen ja mit dieser kleinen Scharade täuschen, aber nicht mich.« Warmer Atem streifte mein Ohr. »Hat Lauren dir überhaupt nichts beigebracht? Du solltest es besser wissen, als zu versuchen, einen Blender zu blenden.«
Ich spürte seine Hand an meinem Arm und reagierte reflexartig. In der einen Sekunde lag ich noch bewegungslos da, in der nächsten riss ich die Augen auf und trat mit aller Kraft nach ihm. Er sprang zurück, als hätte er mit dieser Reaktion gerechnet, doch beim zweiten Mal wich er nicht schnell genug aus und knallte auf den Boden.
»Du kleine …« Er kam wieder auf die Beine, schaffte es aber gerade mal, einen Schritt auf mich zu zu machen, als Colt mit einem Aufblitzen vor ihm stand.
»Vorsicht«, warnte Colt gefährlich leise. »Du bist nur zu Gast. Wenn du einen von meinen Leuten angreifst, bist du hier nicht länger willkommen.«
Langsam stand ich auf und knickte fast wieder ein, da mein linkes Bein eingeschlafen war. Vorsichtig verlagerte ich mein Gewicht auf das andere und lehnte mich mit der Schulter gegen eine Säule hinter mir. Bis auf Colt, der mit dem Rücken zu mir stand, waren alle Blicke auf mich gerichtet. Liv stand wenige Meter entfernt neben einem großen Bogenfenster. Tageslicht strömte herein, auch wenn es bereits dämmerte. Doch es war hell genug, um den inneren Zwiespalt zu erkennen, der sich in ihrem Gesicht widerspiegelte. Keira wirkte dagegen alles andere als zwiespältig, denn sie taxierte mich scharf. Sie trug noch immer dasselbe schwarze Outfit wie bei unserem Aufeinandertreffen in der Fabrik, einschließlich des Messers in ihrer Hand. Doch da war es mitten in der Nacht gewesen. Wie viel Zeit war seitdem vergangen?
»Dass sie deine Seelenpartnerin ist, hat nichts zu bedeuten«, ergriff sie zum ersten Mal das Wort und löste sich vom Türrahmen, um hereinzukommen. »Lauren war Williams Seelenpartnerin und wir wissen ja, wie das ausgegangen ist. Du kennst die Regeln. Sie kann nicht hierbleiben. Sie ist eine Gefahr für uns alle und außerdem eine von ihnen.«
»Sie bleibt hier, so lange ich es sage.« Colts Stimme war ruhig, duldete aber keinen Widerspruch. Keira schien als Einzige protestieren zu wollen, hielt jedoch inne. Ein letztes Mal sah sie in meine Richtung, dann zuckte ihr Blick zu dem Fremden. Ohne ein weiteres Wort machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum. Ihr Misstrauen blieb schwer in der Luft hängen, untermalt von dem Krachen, mit dem die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.
Colt drehte sich zu mir um. »Rayne …«
»Lass es.« Ich kniff die Augen zusammen und hielt meine verbundenen Hände in die Höhe. Ich hatte schon zu viel gehört, zu viel gesehen. »Mach mich los und ich erfülle uns allen den Wunsch, von hier zu verschwinden.«
»Und wo willst du hin? Zurück zu den Dunkelseelen?«
Ich schnaubte. Für ihn mochte es so einfach sein. Schwarz und Weiß, Licht- und Dunkelseelen, aber so simpel war es nicht. Hier gab es Menschen, die mir wichtig waren – doch die gab es auch bei Lauren. Und die konnte ich nicht im Stich lassen. Hendrik, der Krieger und Heiler, der damals beim Angriff auf die Hütte im Wald verschwunden war, mochte bereits die Seiten gewechselt haben, aber für Miles war es noch nicht zu spät. Ich hatte es gespürt, hatte es in seinen Augen gelesen. Er war noch keiner von ihnen. Und solange das so war, würde ich nicht aufhören, für ihn zu kämpfen. Es war das Mindeste, was ich tun konnte, schließlich war es meine Schuld, dass er bei den Dunkelseelen gelandet war.
Und dann waren da noch Caitlin und Gray … Ich presste die Lippen aufeinander und zwang all meine Emotionen zurück. Ich durfte mir keine Schwäche erlauben.
»Rayne«, wiederholte Colt geduldig, doch in seiner Stimme schwang ein wütender Unterton mit.
»Du verstehst es nicht«, wisperte ich mit geschlossenen Augen. »Ich hatte ihn fast so weit. Ich hatte sie beide fast so weit.«
Nur noch ein wenig mehr Zeit, und ich hätte Gray und Caitlin dazu bringen können, mir bei meinem nächsten Fluchtversuch zu helfen. Ich hätte sie davon überzeugen können, mit mir zu kommen. Wir hätten alle längst frei sein können, wenn sich Colt nicht eingemischt hätte, als ich Jeffs Erinnerungen durchsucht hatte. Wenn er mich nicht mitgenommen und hierher gebracht und damit all meine Pläne zerstört hätte.
Liv machte einen Schritt auf mich zu. »Ihn? Sie beide? Wovon redest du da, Rayne?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich musste zurück. Wieder und wieder tauchte dieser Gedanke in meinem Kopf auf. Angst kroch meine Kehle hoch und schnürte sie mir zu. Wenn Gray ohne mich zurückkehrte, ohne die Information, die wir Lauren hätten beschaffen sollen, würde sie ihn bestrafen. Er würde meinetwegen leiden müssen, weil ich darauf bestanden hatte, dass der richtige Zeitpunkt für diese Mission gekommen war. In Jeffs Gedächtnis zu lesen, war der einzige Weg gewesen, um zu verhindern, dass Lauren ihn ebenfalls in ihre Gewalt brachte und es selbst tat. Aber das konnte ich Colt und den anderen nicht erzählen. Alles, was ich hier tat, alles, was ich sagte und hörte, würde Lauren als Waffe gegen sie verwenden. Und gegen mich.
»Das ist Laurens Einfluss«, stellte der Fremde grimmig fest.
»Ist es nicht!«, fuhr ich ihn an, bevor ich mich selbst davon abhalten konnte. Verdammt. Im selben Moment, in dem mir die Worte über die Lippen kamen, bereute ich sie bereits. Ich sollte den Mund halten, sollte abwarten, bis sie mich allein ließen, und dann versuchen zu fliehen. Oder meinen Auftrag zu Ende zu bringen. Aber ich wusste besser als jeder andere, dass die Lichtseelen mich nicht einfach wieder gehen lassen würden. Schon gar nicht Colt.
In diesem Moment wünschte ich mir so sehr, tatsächlich zu einer Seite zu gehören, weil es mir eine ideale Fluchtmöglichkeit geboten hätte. Ob Licht- oder Dunkelseelen spielte keine Rolle mehr, solange ich mich im Licht oder in den Schatten bewegen und von hier verschwinden könnte. Hektisch ließ ich meinen Blick durch den Raum wandern. Ich hatte keine Ahnung, wo wir uns befanden, aber anhand der spitz zulaufenden Bogenfenster und der Marmorsäulen tippte ich auf eine weitere Kathedrale. Allerdings war dieses Zimmer zu klein und wir zu weit oben, um in einem Kirchenschiff zu sein. An der Stelle, wo ich aufgewacht war, lag tatsächlich eine dicke Wolldecke auf dem Boden. Abgesehen davon gab es nichts. Keine Möbel, keine Bilder an den Wänden. Nichts, das ich zu meiner Verteidigung verwenden könnte, und nichts, um mich von den Fesseln zu befreien.
»Es ist okay …« Liv kam langsam auf mich zu. »Du bist hier in Sicherheit. Alles wird gut.«
Ich spürte, wie sie mich wieder in ihre Emotionen einzuhüllen versuchte wie in einen Kokon. Nur dass er mich nicht beruhigte, sondern ich das Gefühl hatte, an so viel Wärme und Ruhe zu ersticken.
»Hör auf …«, zischte ich und wich vor ihr zurück. »Lass diese Gefühlsspielchen! Das ist mein Ernst, Liv.«
Sie blieb stehen. »Ich möchte dir doch nur helfen …«
»Ich will deine Hilfe nicht!«
Bevor ich es verhindern konnte, schleuderte ich ihr eine Erinnerung entgegen. Lauren hatte mich so lange trainiert, bis mir diese Reaktion in Fleisch und Blut übergegangen, bis sie Teil meines Überlebensinstinkts geworden war. Ich versuchte mich nicht länger mithilfe meiner Illusionen zu verstecken, sondern griff an. Im Idealfall mit den schmerzhaftesten Erinnerungen der Person mir gegenüber. Liv zeigte ich den Moment, in dem Miles in der Tür zu Barrys Comicladen aufgetaucht war. Der Schock und das Entsetzen in seinem Gesicht, als Zane von hinten eine Klinge durch seinen Körper rammte. Die Fassungslosigkeit, mit der er auf den immer größer werdenden Blutfleck auf seiner Brust hinuntersah, kurz bevor ihm seine Beine den Dienst versagten und er in sich zusammensank.
»Hör auf!« Colts Stimme drang zu mir durch, aber ich ignorierte ihn.
Mit einem Mal geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Ein Schluchzen erfüllte den Raum, und ich wusste, dass es von Liv kam und ich die Schuld daran trug. Gleichzeitig wurde ich an den Schultern gepackt. Ehe ich mich versah, prallte ich mit dem Rücken gegen eine der Marmorsäulen. Einen Sekundenbruchteil lang starrte ich in Colts grünbraune Augen, dann lag sein Mund plötzlich auf meinem.
Der Kuss war nicht zärtlich, nicht sanft, sondern so wütend und verzweifelt, dass ich mich ihm unmöglich entziehen konnte. Wären meine Arme nicht gefesselt gewesen, hätte ich sie womöglich um Colts Hals gelegt, doch so blieb mir nichts anderes übrig, als ihm auf andere Weise zu zeigen, was er damit in mir auslöste. Ich erwiderte seinen Kuss mit der gleichen Wut und Verzweiflung.
Erinnerungen prasselten auf mich ein. All die Momente, die wir gemeinsam erlebt hatten. Wie wir zusammen auf dem Dach des Hochhauses in Chicago lagen und die Sterne betrachteten. Wie ich in seinen Armen einschlief und er mich festhielt, wann immer mich die Opferschreie heimsuchten. Wie er mich in der Buchhandlung wider besseres Wissen geküsst hatte. Aber dann sah ich auch Erinnerungen, von denen ich nichts wissen konnte, weil ich nicht dabei gewesen war: wie er in Barrys Laden stand, allein, zwischen umgestoßenen Regalen, zerrissenen Comics und zwei Blutlachen auf dem Boden. Ich sah ihn in einer Bar bei dem verzweifelten Versuch, alles zu vergessen, aber auch auf der Suche – unterwegs von einem Ort zum anderen, von denen er jedes Mal mit leeren Händen zurückkehrte.
Wärme breitete sich in meinem Körper aus. Mein Puls begann zu rasen und ein leises Stöhnen kam mir über die Lippen. Nichts davon hatte mit Livs Beeinflussung zu tun, sondern nur mit Colt und dem, was er mit mir machte.
Ein letztes Mal strich sein Mund über meinen, dann hob er den Kopf und suchte meinen Blick. Wir atmeten beide schwer.
»Was hast du getan?«, flüsterte ich.
»Dich zur Besinnung gebracht.« Seine Hand lag an meiner Wange und er strich mit dem Daumen über meine Haut. »Erinnerst du dich wieder?«
Ich nickte, erst zögerlich, dann fester. All die Bilder und Empfindungen, die ich mir so lange verboten, die ich tief in mir vergraben hatte, waren zurück. Ich wusste wieder, wie es sich anfühlte, bei den Lichtseelen zu sein. Wie es sich anfühlte, bei Colt zu sein.
Ein tiefes Räuspern unterbrach uns. »Ich will die Wiedersehensfreude ja nicht trüben, aber wenn ihr fertig seid, hätten einige von uns noch ein paar Fragen.«
Ich sah an Colt vorbei zu dem Fremden, den ich wenige Minuten zuvor noch zu Boden gekickt hatte. Zum ersten Mal nahm ich ihn richtig wahr. Er konnte nicht viel älter als Mitte zwanzig sein und hatte schwarzes Haar, das im Lichtschein einen dunklen violetten Schimmer aufwies. Es fiel ihm in die Augen und war im Nacken länger. Am auffälligsten war jedoch noch immer seine Stimme, die sofort unter die Haut ging. Auf den ersten Blick wirkte er schlaksig, doch so wie er jetzt dastand, breitbeinig und die Hände in die Hüften gestemmt, waren seine trainierten Armmuskeln nicht zu übersehen.
»Und du bist?« Die Frage verließ meinen Mund, bevor ich sie aufhalten oder einen höflicheren Tonfall anschlagen konnte. Aber wir hatten sowieso keinen besonders freundschaftlichen Start hingelegt.
»Vince.« Seine Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln und er deutete eine Verbeugung an. »Mehr muss ich dir wohl nicht über mich erzählen, Erinnerungsleserin.«
Ich kniff die Augen zusammen. Dieser Typ war mir alles andere als sympathisch. »Ich habe Wichtigeres zu tun, als meine Zeit damit zu verschwenden, in deiner Vergangenheit herumzustochern.«
»Ist das so?«, erwiderte er gefährlich leise.
»Was hast du mit Jeff gemacht?« Liv drängte sich nach vorne. »Und Miles? Lebt er noch? Was du mir gezeigt hast … Das ist nicht wirklich passiert, oder? Du wolltest mir nur wehtun.«
Ich ließ den Kopf gegen die Säule zurücksinken und schloss die Augen. Ich hatte schon zu viel verraten, zu viel mitbekommen, als für irgendjemanden hier gut sein konnte.
»Alles, was ich euch sage, was ich hier höre und tue, kann Lauren sehen«, murmelte ich. »Sie wird es gegen euch verwenden.«
»Nur wenn sie dich wieder zu fassen kriegt und das werde ich nicht zulassen«, widersprach Colt und hob die Hand, als wollte er mir eine Haarsträhne hinters Ohr streichen. Unwillkürlich zuckte ich zurück.
Er runzelte die Stirn und ließ die Hand wieder sinken.
Auch wenn seine Worte etwas in mir auslösten, das ich nicht benennen und ganz bestimmt nicht näher betrachten wollte, stand es außer Frage, dass ich zu den Dunkelseelen zurückkehren und mich Lauren stellen würde. Ich musste es tun – für Gray, für Miles und für Caitlin. Ich musste sie da rausholen.
»Oh nein«, sagte Colt, als würde er etwas von meinen Gedanken ahnen. »Du gehst auf keinen Fall wieder zurück.«
»Ich habe keine Wahl.« Mein Blick wanderte von ihm zu Liv. Eine seltsame Empfindung zog meinen Magen zusammen. Es war so lange her, dass ich so etwas gespürt hatte, dass es einen Moment dauerte, um sie als Schuldgefühl zu erkennen. Ich sollte den Mund halten, um die Sache nicht noch schlimmer zu machen, aber ich konnte Livs gequälten Gesichtsausdruck nicht ertragen. Nicht, wenn ich ihren Schmerz ein kleines bisschen lindern konnte. »Miles lebt. Er ist bei ihnen, aber ich weiß nicht, wie lange er noch durchhalten wird.«
»Miles … lebt?« Liv wurde blass. Sie schwankte, doch bevor ihre Knie nachgeben konnten, war Vince an ihrer Seite und stützte sie.
Die Erleichterung und Sorge, die von Liv ausgingen, waren so stark, dass sie mich zu erdrücken drohten. Ich war Emotionen jeglicher Form nicht mehr gewöhnt, schon gar nicht so starke wie die von Liv. Nur mit Mühe konzentrierte ich mich auf meinen Atem und fixierte einen Punkt an der Wand, damit mich ihre Gefühlskraft nicht überwältigte.
»Was ist mit Jeff?« Sie löste sich von Vince und war in wenigen Schritten bei mir. »Was hast du mit ihm gemacht?«
»Ich bin in sein Bewusstsein eingedrungen und habe seine Erinnerungen durchsucht. Aber ich wurde unterbrochen«, fügte ich mit einem Blick in Colts Richtung hinzu.
»Nell ist noch bei ihm«, beruhigte er sie. »Sie wird ihm helfen.«
Die Selbstverständlichkeit, mit der er das sagte, verursachte einen Stich in meiner Brust. In seiner Stimme lag so viel Vertrauen in Nells Fähigkeiten.
Liv schüttelte den Kopf. »Es geht ihm nicht gut. Ich kann es spüren.« Sie wandte sich an mich und in ihren Augen lag ein Flehen, dem sich niemand entziehen konnte. »Kannst du es rückgängig machen?«
»Ist das dein Ernst?«, rief Vince ungläubig. »Du willst sie noch mal an deinen Bruder ranlassen? Hat sie nicht schon genug in seinem Kopf herumgepfuscht?«
»Du hast keine Ahnung, was ich gemacht habe«, sagte ich kühl.
»Oh, glaub mir, ich habe sehr viel Ahnung.« Das spöttische Lächeln war zurück. »Ich weiß alles über Laurens Kräfte. Und deine.«
Ich biss mir auf die Zunge, um nicht darauf einzugehen, denn genau das schien er zu wollen: mich zu provozieren, bis ich die Beherrschung verlor und sogar Colt einsah, dass ich nicht hierher gehörte. Und vielleicht tat ich das auch nicht. Nicht mehr. Aber ich würde einen Teufel tun und zulassen, dass dieser Vince derjenige war, der das allen klarmachte.
Stattdessen konzentrierte ich mich wieder auf Liv. »Wo ist Jeff?«
Kapitel 3
Wie es aussah, erwies sich meine erste Vermutung als richtig: Wir befanden uns in einer Kathedrale. Colt hatte sein Einverständnis gegeben und nachdem er mich von den Fesseln befreit hatte, war ich Liv aus dem kahlen Raum gefolgt, während Colt bei Vince zurückblieb. Nun erstreckte sich ein langer Gang vor uns. Auf der rechten Seite reihte sich ein spitzes Bogenfenster an das andere. Im Vorbeigehen versuchte ich einen Blick nach draußen zu werfen, um herauszufinden, wo wir uns befanden und welche Uhrzeit es war, doch bei dem Tempo, das Liv vorlegte, war das kaum möglich. Alles, was ich sah, waren Schneeflocken, die durch die Luft wirbelten und sich an die Glasscheiben setzten.
Ein Stockwerk tiefer führte mich Liv durch eine schwere Holztür. Der Raum dahinter war groß und wirkte wie ein Krankenzimmer. Zu beiden Seiten standen drei Einzelbetten, aber nur in einem lag jemand. Jeff. Nell saß auf der Bettkante und riss den Kopf hoch, als sie uns bemerkte. Ihr langes schwarzes Haar glitt ihr wie Seide über die Schultern und umrahmte sowohl ihr Gesicht als auch ihre Gestalt, die von einem dunkelblauen Wollkleid bedeckt war.
»Was hat sie hier zu suchen?« Die Frage ging an Liv.
»Ich kann ihm helfen.« Und könnte dabei gleichzeitig meine Mission zu Ende bringen. Niemand würde es merken, niemand würde zu Schaden kommen, und Lauren wäre besänftigt, wenn ich doch noch mit der gesuchten Information zurückkehrte. Zumindest wäre Jeff dann nicht länger in Gefahr.
Nell funkelte mich an. »Du hast schon genug Schaden angerichtet.«
»Stimmt«, erwiderte ich ruhig, während Liv die Tür hinter uns zudrückte. »Aber ich bin auch die Einzige, die es wieder in Ordnung bringen kann.«
»Oder du beendest, was du angefangen hast.« Ruckartig stand sie auf. »Colt kannst du vielleicht um den kleinen Finger wickeln, aber den Rest von uns nicht. Du warst wochenlang bei den Dunkelseelen. Du arbeitest für Lauren.«
War ich wirklich so lange fort gewesen? Irgendwann zwischen all den Trainingseinheiten und den Stunden in der endlosen Dunkelheit meiner Zelle hatte ich jedes Zeitgefühl verloren. Ich wusste nicht mehr, wann Tag und wann Nacht war, wann es Zeit fürs Essen und zum Schlafen war. Ich hatte all meine Erinnerungen verdrängt, meine Gefühle so gut es ging abgeschaltet und nur noch funktioniert.
»Ich arbeite für niemanden«, stellte ich ruhig klar und hielt Nells wütendem Blick stand. Doch im selben Moment tauchten die ersten Zweifel in mir auf. Wirklich nicht? Wollte ich denn nicht noch immer meine Mission zu Ende bringen?
Ich schüttelte den Kopf, um diese Gedanken loszuwerden. Ich war immer noch ich. Völlig egal, wie viel Zeit ich bei den Lichtseelen und wie viel bei den Dunkelseelen verbracht hatte.
Ich ging auf Jeff zu, doch Nell stellte sich schützend vor ihn. »Lass mich vorbei.«
Aus zusammengekniffenen Augen musterte sie mich von oben bis unten. »Ich weiß wirklich nicht, was Colt in dir sieht«, ließ sie mich in einem Tonfall wissen, der fast als beiläufig durchgehen würde – wäre da nicht das Gift, das in jeder einzelnen Silbe mitschwang. »Aber nur, weil du seine Seelenpartnerin bist, hast du nicht das Recht, hier irgendwelche Befehle zu erteilen. Du bist ein Niemand. Du gehörst nicht zu uns und, wie es aussieht, auch nicht zu den Dunkelseelen. Kein Wunder, dass nicht mal sie dich haben wollten.«
Auch wenn ich alles tat, um ihre Worte nicht an mich heranzulassen, trafen sie einen Nerv. Ed hatte etwas Ähnliches gesagt, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Du kleine Schlampe! Dich wollte doch kein Schwein haben. Du solltest dankbar sein, dass wir dich aufgenommen haben! Du bist nichts weiter als ein Stück Dreck! Die Worte meines früheren Pflegevaters hallten in mir nach, als hätten sie sich wie ein Geschwür in mir festgesetzt. Würde ich sie jemals vergessen können? Unbewusst bohrte ich die Fingernägel in meine Handflächen.
»Sie ist die Einzige, die Jeff helfen kann«, ertönte Livs drängende Stimme von der Tür her. »Bitte, Nell.«
Sekundenlang starrte Nell mich an, und ich konnte sehen, wie sie mit sich rang, dann machte sie einen Schritt zur Seite.
Ich zwang mich dazu, meine zu Fäusten geballten Hände wieder zu lösen und langsam auszuatmen. Das Brennen in meinen Händen vertrieb jeden Gedanken an Ed und gleich darauf hatte Jeff meine ganze Aufmerksamkeit. Er war unnatürlich blass und seine Augenlider zuckten, als würde er schlecht träumen. Oder als hätte ich ein einziges Chaos in seinem Kopf hinterlassen. Bruchstücke von Erinnerungen geisterten ohne jede Reihenfolge durch sein Bewusstsein.
Ich setzte mich neben ihn aufs Bett und klärte meine Gedanken, wie Lauren es mir beigebracht hatte. Dann atmete ich tief durch und legte meine Fingerspitzen an Jeffs Schläfen. Seine Haut war kalt und feucht, doch das vertraute Kribbeln war sofort wieder da. Ich schloss die Augen und drang in sein Bewusstsein ein. Bilder flackerten vor meinem inneren Auge auf. Ich ließ sie vorbeiziehen, genau wie die damit verbundenen Emotionen. Vielleicht wäre es barmherziger gewesen, erst Ordnung in seinem Kopf zu schaffen und danach meinen Auftrag zu Ende zu bringen, doch die Gefahr, dass er dann bemerkte, wonach ich suchte, war einfach zu groß.
Ein Wimmern drang an mein Ohr. Jeff wehrte sich gegen mich. Ich konnte es in meinen Gedanken ebenso spüren wie unter meinen Fingerspitzen.
»Was tust du da?«, rief Nell aufgebracht.
Liv schien sie festzuhalten, denn statt sich auf mich zu stürzen und mich von ihrem Patienten wegzuzerren, ließ sie mich gewähren. Ich biss die Zähne zusammen, tauchte tiefer in Jeffs Geist ein und durchleuchtete all seine Erinnerungen auf der Suche nach der einen, die ich brauchte.
Ein Bild kristallisierte sich vor meinem inneren Auge heraus. Nach und nach nahmen die Regale in Williams altem Büro Gestalt an. Ich erkannte den massiven Schreibtisch, die unscheinbare Kommode mit der Teekanne und den Tassen, die Ledersofas und die vielen Bücher, die die ganze Wand einzunehmen schienen. Jeff stand in der Tür, während William die Regale entlangging und mit den Fingern über die Buchrücken strich. Mein Herz begann zu hämmern, als ich dabei zusah, wie er ein Exemplar herauszog. Es hatte einen dunkelgrünen Einband mit geschwungenen goldenen Ornamenten. In wenigen Schritten war William wieder bei Jeff und drückte ihm das Buch mit der Bitte in die Hand, es in Sicherheit zu bringen und vor den Blicken aller zu verbergen.
Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus, als ich der Erinnerungsspur folgte, bis ich alles gesehen hatte, was ich wissen musste. Dann machte ich mich daran, das Chaos in Jeffs Kopf zu ordnen. Nacheinander rückte ich jede Erinnerung wieder an die richtige Stelle, als würde ich die Einzelteile einer kaputten Vase zusammensetzen, bis sie wieder ganz war. Schließlich öffnete ich die Augen und zog meine Hände zurück. Es konnten nur Minuten vergangen sein, trotzdem zitterten meine Finger und ich brauchte einen Moment, bis der Schwindel wieder verschwand.
Jeff lag bewegungslos auf dem Bett, aber seine Brust hob und senkte sich gleichmäßiger als zuvor. Seine Lider flatterten nicht mehr und seine Muskeln zuckten nicht länger.
Er war eingeschlafen.
»Jetzt sollte alles wieder okay sein«, sagte ich und räusperte mich, um das Krächzen in meiner Stimme loszuwerden. »Wenn er aufwacht, ist er wieder ganz der Alte.«
»Bist du sicher?« Liv setzte sich auf die andere Bettseite und nahm Jeffs Hand in ihre.
»Woher sollen wir wissen, dass du uns nichts vormachst?«, fragte Nell hinter mir. »Dass du nicht einfach in seinem Kopf herumgewühlt hast und es jetzt noch schlimmer um ihn steht als zuvor?«
»Das könnt ihr nicht wissen.« Ich zwang mich dazu aufzustehen. Der Schwindel ließ nach und die Kraft kehrte in meine Gliedmaßen zurück. Ich drehte mich zu Nell um. »Und was seinen Zustand angeht, kannst du ihn gerne selbst überprüfen, Heilerin.«
Ich wartete ihre Antwort nicht ab, sondern ging an ihr vorbei und verließ das Krankenzimmer. Leise zog ich die Tür hinter mir zu und lehnte mich erschöpft dagegen. Jeffs Gedächtnis ein zweites Mal zu durchsuchen, war gefährlich, aber notwendig gewesen. Sowohl um den von mir verursachten Schaden wieder in Ordnung zu bringen, als auch, um das zu beenden, was ich begonnen hatte. Ich schloss die Augen und legte all seine Erinnerungen weit hinten in meinem Gedächtnis ab – wie in einer Schatulle, die ich nach Belieben öffnen und wieder verschließen konnte. Eine weitere Technik, die Lauren mir beigebracht hatte. Nur auf diese Weise gelang es ihr, in den Erinnerungen so vieler Menschen zu lesen, ohne den Verstand zu verlieren.
Als ich fertig war, stieß ich mich von der Tür ab und lief los. Nach rechts, die Treppe hinunter und immer weiter nach unten, bis ich einen Weg hier raus fand. Denn wenn ich eine Sache mit absoluter Bestimmtheit wusste, dann, dass ich nicht bleiben konnte. Ich gehörte nicht hierher. Nicht mehr. Vielleicht hatte ich es nie.
Wo willst du hin, Rayne?
Colts Stimme ertönte so klar in meinem Kopf, als würde er neben mir stehen. Im ersten Moment war ich so überrascht, dass ich zusammenzuckte und mich einmal im Kreis drehte, um sicherzugehen, dass er nicht plötzlich hier aufgetaucht war. Aber es war nur seine Stimme in meinen Gedanken. Ich ignorierte sie und lief die Stufen weiter hinunter.
Geh nicht.
Diesmal zuckte ich nicht zusammen, aber etwas in mir reagierte. Plötzlich war da ein schmerzhaftes Ziehen in meiner Brust, eine Sehnsucht, die ich mir schon vor langer Zeit verboten hatte, weil sie mich schwach gemacht hatte. Und ich durfte nicht wieder schwach sein.
»Rayne.«
Nicht Colt hielt mich am Fuße der Treppe auf, sondern jemand, der mir mindestens ebenso vertraut war, den ich jedoch niemals hier erwartet hätte. Ich blieb auf der letzten Stufe stehen, die Hand noch am Geländer, und blinzelte mehrmals.
»Nora?«, rief ich ungläubig.
Fassungslosigkeit zeichnete ihre Miene und das zurückgebundene braune Haar ließ ihre Augen groß und besorgt wirken. Im nächsten Moment breitete sich eine riesige Freude auf ihrem Gesicht aus und sie begann zu strahlen.
»Rayne …« Sie legte ihre Handtasche und einen Stapel Akten auf dem Boden ab und kam in schnellen Schritten auf mich zu. »Du bist es wirklich. Du bist hier!«
Im nächsten Moment zog sie mich in eine so feste Umarmung, dass mir die Luft wegblieb. Zuerst war ich wie erstarrt, weil mir die Geste so fremd war, dass ich ein paar Sekunden brauchte, um mich daran zu erinnern, wie es war, von jemandem umarmt zu werden. Dann legte ich die Arme um Nora, schloss die Augen und schmiegte mich an sie.
Ihr vertrauter Geruch und ihre Wärme hüllten mich ein und erinnerten mich daran, wie sie mir, als ich noch jünger gewesen war, tröstend über den Kopf gestreichelt und Geschichten von ihrer Arbeit und den Jugendlichen dort erzählt hatte, um mich in den Schlaf zu wiegen. Es fühlte sich so an, als wäre ich wieder das Mädchen, das sich Schutz suchend an sie kuschelte, das heiße Schokolade mit Marshmallows trank und jedem von Noras Worten mit großen Augen lauschte. Denn egal, wie schlimm die Geschichten auch klingen mochten, sie hatten immer ein gutes Ende. Ihre Schützlinge fanden ihren Weg, fanden ein neues Zuhause, eine Ausbildungsstelle, eine neue Familie und Freunde. Und wenn sie es schaffen konnten, dann konnte ich das auch.
»Was … was machst du hier?« Widerwillig löste ich mich von ihr, um sie anzusehen und mir selbst zu versichern, dass sie wirklich da war. Dass sie real und dieser Moment nicht wie so oft nur ein Traum war.
»Colt hat mich angerufen. Als du eines Tages nicht mehr nach Hause gekommen bist …« Sie presste die Lippen aufeinander. Tränen schwammen in ihren Augen, aber sie zwang sich dazu, weiterzusprechen. Und jedes Wort, das ihr wehtat, tat auch mir weh. »Ich war außer mir vor Sorge. Ich dachte, du wärst entführt worden oder weggelaufen oder Schlimmeres. Aber dann stand Colt vor der Tür und hat mir alles erzählt.«
»Alles?«
Sie nickte. »Glaub mir, es war harte Arbeit, mich zu überzeugen, aber wenn man mit eigenen Augen sieht, wie er im Licht verschwindet und woanders wieder auftaucht …« Sie schüttelte den Kopf und rang sich ein Lächeln ab. »Wenn ich schon früher gewusst hätte, was los ist … Ich wünschte, du hättest es mir gesagt, Rayne.«
»Ich wollte es dir sagen …«, gab ich leise zu. Meine Stimme klang heiser und meine Augen brannten. Hastig blinzelte ich die aufsteigenden Tränen weg. »Was ist mit Emma? Ist sie …«
»Es geht ihr gut.« Beruhigend drückte Nora meine Hände. »Sie ist in der Schule und ich hole sie später ab. Möchtest du mitkommen? Sie würde sich unheimlich freuen, dich wiederzusehen.«
Am liebsten hätte ich Ja gesagt, hätte Emma zusammen mit ihr abgeholt und wir wären alle nach Hause gefahren. Aber das konnte ich nicht.
»Ich bin nicht …« Ich brach ab, befeuchtete mir die Lippen und versuchte es erneut. »Tut mir leid, dass ich einfach verschwunden bin.«
»Oh, Rayne.« Sie legte mir eine Hand an die Wange. »Dir muss überhaupt nichts leidtun. Es war nicht deine Schuld. Und jetzt, wo du wieder da bist, wird alles gut.«
Ich brachte es nicht über mich, ihr zu widersprechen. Dafür konnte ich zu viel Hoffnung in ihren Augen lesen. Unweigerlich drängte sich mir die Frage auf, wie viel sie wirklich wusste. Was hatte Colt ihr erzählt? Wusste sie, wo ich in den vergangenen Wochen gewesen war? Und bei wem?
»Rayne kann leider nicht mit dir kommen.« Colt kam hinter mir die Treppe herunter und mit ihm kehrte das warme Prickeln in meinem Nacken zurück, das seine Nähe ankündigte. Als er neben uns stehen blieb, blickte er mich direkt an. »Nicht wahr?«
Ich presste die Lippen aufeinander, antwortete jedoch nicht.
»Was meinst du damit?« Stirnrunzelnd sah Nora zwischen uns hin und her. »Du kannst nicht einfach wieder weggehen. Das … das …«
Diesmal drückte ich ihre Hände. »Es ist okay«, versprach ich ihr und zwang mehr Zuversicht in meine Stimme, als ich tatsächlich empfand. »Du musst mir vertrauen.«
»Ich vertraue dir, aber … Du warst sechs Wochen lang verschwunden, Rayne. Wenn ich nicht gewusst hätte, was …«
Ich zog sie an mich und legte die Arme um sie. Zum ersten Mal in meinem Leben merkte ich, dass sie zitterte. Nicht vor Kälte, sondern vor Angst. Ihr noch mehr Sorgen zu bereiten, war das Letzte, was ich wollte, aber ich musste es tun. Für Gray. Für Miles. Und für Caitlin.
»Ich kann das nicht noch mal durchmachen«, flüsterte sie erstickt.
»Es tut mir so leid«, gab ich genauso leise zurück. »Aber ich kann noch nicht zu euch zurück nach Hause kommen.« Ich löste mich von ihr und zwang mich zu einem beruhigenden Lächeln.
Nora wirkte fassungslos. Sie schien noch etwas sagen zu wollen, aber Colt schaltete sich ein und legte seine Hand auf meinen Rücken. Ich zuckte bei der Berührung zusammen, aber er zog die Hand nicht zurück.
Sein Blick fixierte mich. »Können wir kurz reden?«
Ich zögerte. »Gibst du uns noch eine Minute?«
Er sah von mir zu Nora und wieder zurück, dann nickte er und ließ mich los. Er verschwand nicht im Licht, sondern stieg die Treppe hinauf. Ich wartete, bis seine Schritte ebenso verklungen waren wie das warme Gefühl in meinem Nacken. Erst dann wandte ich mich wieder an Nora.
»Kannst du mir einen Gefallen tun?«
Ein, zwei Sekunden lang starrte sie mich an, nickte dann jedoch. »Alles, was du willst.«
Etwas in mir zerbrach bei dieser Antwort. Nora stellte keine Fragen, sondern vertraute darauf, dass ich das Richtige tat. Dabei wusste ich längst nicht mehr, was noch richtig und was falsch war.
»Kann ich mir dein Handy ausleihen?«
Sofort ging sie zu ihrer Tasche hinüber, zog es heraus und hielt es mir hin. Sie hatte noch ein Diensthandy, also musste ich mir keine Gedanken darüber machen, dass Emma ihre Mutter nicht mehr erreichen konnte.
»Danke.« Ich schob es mir in den Hosenbund und ließ mein Shirt darüber fallen, damit niemand es sehen konnte.
Nora beobachtete mich mit gerunzelter Stirn. »Du wirst mir nicht sagen, was du vorhast, oder?«
Ich schüttelte den Kopf. »Es würde dich nur noch mehr in Gefahr bringen. Keiner darf erfahren, dass du von unserer Existenz weißt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe niemandem ein Sterbenswörtchen verraten, aber ich werde auch nicht einfach die Hände in den Schoß legen und nichts tun. Du kennst mich, Liebes. Wenn ich helfen kann, tue ich das auch.« Mit einem Kopfnicken deutete sie auf die Akten auf dem Boden neben sich. »Das sind alles verschwundene Jugendliche. Kinder, manche so jung wie Emma, die auf der Straße gelandet sind und dann nie wieder gesehen wurden. Die Polizei konnte sie nicht finden, aber vielleicht können es die Lichtseelen.«
Ich musterte ihren entschlossenen Ausdruck einen Moment lang. Wenn sich Nora etwas vorgenommen hatte, konnte nichts und niemand sie davon abbringen, ganz egal, wie gefährlich es für sie sein mochte. Genau das machte sie zu einer so guten Sozialarbeiterin. Sie gab niemals auf, nicht mal bei den schwierigsten Härtefällen. Jeder, den sie unter ihre Fittiche nahm, konnte sich auf sie verlassen, ganz egal, wie viel Mist er oder sie baute.
»Sei vorsichtig«, bat ich sie. »Wenn schon nicht um deinetwillen, dann für Emma. Ich will nicht, dass euch etwas passiert.«
»Wird es nicht.« Sie lächelte mich an. »Colt hat dafür gesorgt, dass immer mindestens eine Lichtseele in unserer Nähe ist und auf uns aufpasst. Fernando hat schon alle Puzzles mit Emma gemacht und ich muss neue kaufen.«
Wärme breitete sich in meiner Brust aus und vermischte sich mit so vielen Emotionen, dass ich das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu kriegen. Zu lange hatte ich nichts Derartiges mehr empfunden. Dankbarkeit. Erleichterung. Freude. Hoffnung. Sorge. Sie alle bildeten einen Strudel in meinem Inneren, dem ich mich nicht entziehen konnte. Ich schluckte hart bei dem Versuch, den Kloß in meinem Hals loszuwerden und meine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Vergebens.
»Ich muss diese Sache zu Ende bringen«, flüsterte ich und umarmte meine Adoptivmutter ein letztes Mal, bevor ich mich abrupt von ihr löste.
»Pass auf dich auf, Rayne.«
Ich nickte, auch wenn sie es nicht sehen konnte, da ich ihr bereits den Rücken zugewandt hatte und die Treppe hinauflief, ohne mich ein einziges Mal umzudrehen. Hätte ich es getan, wäre ich nicht mehr in der Lage gewesen, sie stehen zu lassen.
Kapitel 4
Ein Stockwerk höher traf ich wieder auf Colt. Gemeinsam die Stufen hinaufzugehen war wie ein seltsames Déjà-vu. Es erinnerte mich an jene Nacht in Chicago, als ich intuitiv Colts Nähe gesucht hatte. Wie damals führte er mich jetzt aufs Dach hinaus – nur dass wir diesmal deutlich weniger Treppen erklimmen mussten.
Ein eisiger Wind peitschte mir die Haare ins Gesicht. Einen Moment lang kämpfte ich damit,