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Sozialismus im Kino E-Book

Daria Gordeeva

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Beschreibung

Wie wurden die DDR und die Sowjetunion rückblickend im Kino dargestellt? Daria Gordeeva analysiert mit einem Foucault-inspirierten Ansatz deutsche und russische Filme der letzten 30 Jahre, enthüllt deren Produktions- und Förderstrukturen und beleuchtet kulturpolitische Rezeptionskontexte. Mit ihrer interdisziplinären Methodik arbeitet sie komplexe Wechselwirkungen zwischen staatlicher Gedenkpolitik, nationaler Identität und filmischen Bildern heraus und zeigt, wie stereotype Narrative durchbrochen werden können. An der Schnittstelle von Film, Erinnerungskultur und Politik ergeben sich so neue Wege für eine machtkritische Filmanalyse - auch für Kinobegeisterte außerhalb der Wissenschaft.

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Seitenzahl: 524

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Daria Gordeeva

Sozialismus im Kino

Filmische Erinnerungen an die DDR und die Sowjetunion zwischen Politik, Kunst und Kommerz

Die erste Fassung der vorliegenden Publikation wurde 2023 von der Sozialwissenschaftlichen Fakultät an der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen.;

Datum der Disputation: 21.11.2023

Diese Publikation entstand im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Forschungsverbundes »Das mediale Erbe der DDR«.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.dnb.de/ abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell.

https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2024 im transcript Verlag, Bielefeld

© Daria Gordeeva

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Umschlagabbildung: Vishwas/Adobe Stock

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

https://doi.org/10.14361/9783839473566

Print-ISBN: 978-3-8376-7356-2

PDF-ISBN: 978-3-8394-7356-6

EPUB-ISBN: 978-3-7328-7356-2

Buchreihen-ISSN: 2702-9247

Buchreihen-eISSN: 2703-0466

Inhalt

Einleitung

1.Theoretische Fundierung

1.1Foucault’sche Diskurstheorie: Begriffe, Konzepte, Erweiterungen, Kritik

1.1.1Michel Foucault: Widerstand in Person

1.1.2Forschen mit Foucault

1.1.3Begriffe und Konzepte: Zum Verhältnis von Diskurs, Wissen, Wahrheit und Macht

1.1.4Kritisch-produktive Erweiterungen

1.2Diskursive Vergangenheitskonstruktion

1.2.1Gedächtnis: kommunikatives, kulturelles, kollektives, politisches

1.2.2Diskurs, Gedächtnis und Erinnerungskultur: eine Synthese

1.3Filmische Vergangenheitskonstruktion

1.3.1Begriffliche Abgrenzung: Was ist ein Erinnerungsfilm?

1.3.2Erinnerungsfilm: Geschichtserzählung zwischen Politik, Publikum und Kommerz

1.3.3Das Feld der Kinofilmproduktion

1.4Diskursanalyse

2.Das umkämpfte Erbe des Sozialismus

2.1Die DDR im politischen und kollektiven Gedächtnis der Deutschen

2.2Die Sowjetunion im politischen und kollektiven Gedächtnis der Russen

2.3Postsozialistische Erinnerungslandschaften im Vergleich

2.4Forschungsstand zur DDR und der Sowjetunion im Film

3.Kategoriensystem

3.1Filminhalt

3.2Produktion

3.3Rezeption

3.4Einordnung in den Erinnerungsdiskurs

4.Untersuchungsdesign

4.1Methodenentscheidung

4.2Filmauswahl

4.3Ablauf der Untersuchung

4.4Vorgehen bei der Auswertung: Typologisierung

5.Ergebnisse

5.1Sozialismus im Film: Vier Realitäten

5.2Die DDR im deutschen Film

DDR als Leidensrealität

DDR als Parallelrealität

DDR als Kompromissrealität

DDR als Wohlfühlrealität

Zwischenfazit

5.3Die Sowjetunion im russischen Film

Sowjetunion als Wohlfühlrealität

Sowjetunion als Kompromissrealität

Sowjetunion als Parallelrealität

Zwischenfazit

5.4Filmische Rückblicke auf den Sozialismus: Zusammenfassung und Vergleich

6.Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

Filmverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Einleitung

»This is the world we used to live in, and it is heartbreaking to see how it fell apart overnight.«

(Produzent Timur Bekmambetow über den Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine, in Grater 2022)

»›Wer die Vergangenheit kontrolliert, der kontrolliert die Zukunft; wer die Gegenwart kontrolliert, der kontrolliert die Vergangenheit‹, wiederholte Winston folgsam. […] ›Sie sind der Meinung, Winston, dass die Vergangenheit eine tatsächliche Existenz hat?‹«1

(Orwell 1950, S. 284–285)

»Es herrscht ein Krieg. Kalt, aber durchaus real. […] Sie sind Soldaten. Und Soldaten müssen für die Interessen ihres Vaterlandes sterben.«2 Diese Worte des sowjetischen Generals Kamanin im Weltraum-Blockbuster WREMJA PERWYCH (RU 2017) klangen wie ein weit entferntes Echo des Kalten Krieges, als der Film im April 2017 in die Kinos kam. Fast fünf Jahre später, am 24. Februar 2022, holte uns der lange Schatten dieses als überwunden geglaubten Konflikts mit voller Wucht ein, und die ferne martialische Rhetorik der Ost-West-Konfrontation hielt Einzug in die offizielle Sprache der russischen Regierung. Vom Zentrum des Moskauer Luschniki-Stadions aus rühmte Putin am 18. März 2022, dem achten Jahrestag des Anschlusses der Schwarzmeer-Halbinsel Krim, den heroischen Tod für Landsleute und Vaterland. Er rekurrierte auf Russlands siegesreiche Vergangenheit und pries den Einsatz der Soldaten in der sogenannten militärischen Spezialoperation3, die »Schulter an Schulter« kämpfen und, »wenn nötig, ihre Kameraden wie den eigenen Bruder mit ihrem Körper vor Kugeln schützen«: »Es gibt keine größere Liebe, als seine Seele für seine Freunde hinzugeben.« Von zehntausenden Zuschauerinnen und Zuschauern wurde der russische Präsident bejubelt, während westliche Medien ihn als einen geschichtsbesessenen Kremlchef verspotteten.

Seit mehr als zwei Jahren wütet ein Krieg im Herzen Europas. Neben Panzern, Raketen, Kampfjets und Drohnen nahmen Konfliktparteien Geschichte in ihr Waffenarsenal auf. In Russland diente sie politischen und medialen Akteuren zur Rechtfertigung des militärischen Angriffs auf das Nachbarland, während in Deutschland historische Kriegserfahrungen von politischen Entscheidungsträgern herangezogen wurden, um Kritik an einem vermeintlich zögerlichen Handeln zu entkräften. Die Bedeutung der Geschichte für die Wahrnehmung und Legitimation gegenwärtiger Politik gelangt dadurch erneut in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Und ich selbst, seit 13 Jahren im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Ländern, Kulturen und Sprachen lebend, bin weiterhin auf der Suche nach Erklärungen: in den fragmentierten Erinnerungslandschaften, in medial vermittelten Bildern, in populären Deutungen sowie in den Narrativen der staatlichen Erinnerungs- und Gedenkpolitik. Denn eine kritische Auseinandersetzung mit Geschichts-, Selbst- und Fremdbildern eröffnet nicht nur Einblicke in nationale Erinnerungskulturen, sondern trägt durch eine international vergleichende Perspektive auch zum tieferen Verständnis aktueller grenzüberschreitender Krisen und Konflikte bei.

Im Fokus dieser Arbeit steht der Geschichtsfilm – ein Medium, das sich in einem ständigen Spannungsfeld zwischen Kunst und Politik, wirtschaftlichen Interessen und den Wünschen des Publikums bewegt (Wiedemann 2018b, S. 14) und zum »Leitmedium der Erinnerungskultur« avancierte (Erll und Wodianka 2008, S. 1). Die wirkmächtigen, emotional aufgeladenen Bilder, die durch Geschichtsfilme vermittelt werden, bergen das Potenzial, kollektive Vorstellungen von der Vergangenheit tiefgreifend zu prägen und nationale Identitäten zu formen. Um solchen Prägemechanismen auf die Spur zu kommen, konzentriere ich mich in dieser Arbeit auf historische Epochen, deren politische und künstlerische Aufarbeitung einen wesentlichen Beitrag zur Konstruktion des nationalen Gedächtnisses und Bewusstseins in Deutschland und Russland leistet: die DDR und die Sowjetunion.

Im Rahmen dieser Untersuchung setze ich mir drei zentrale Ziele:

•Zunächst analysiere ich, wie die sozialistischen Staaten – die DDR und die Sowjetunion – in publikumsstarken nationalen Kinofilmen nach 1990/1991 in Deutschland und Russland konstruiert werden. Die übergreifende Fragestellung lautet: Wie werden die DDR und die Sowjetunion in erfolgreichen deutschen bzw. russischen Filmen rückblickend dargestellt? Daraus leiten sich verschiedene Unterfragen ab: Welche Narrative und Deutungsmuster prägen die filmische Erinnerung an den Sozialismus? Welche Ereignisse werden inszeniert und durch welche Figuren, Symbole, Begriffe und Farben zum Ausdruck gebracht? Wie breit ist das Deutungsspektrum? Wie haben sich die Erzählungen im Laufe der Zeit verändert? Welche Interpretationen, Normen und Wertvorstellungen dominieren die Darstellungen der Vergangenheit – und welche sind im Kampf um die Deutungshoheit untergegangen? Welche Tendenzen zeichnen sich ab?

•Als Zweites nehme ich die Kontexte und Faktoren in den Blick, die die Entstehung und Verbreitung bestimmter Bilder und Narrative beeinflussen, und frage: Welche Akteure, Strukturen, Ressourcen und Machtverhältnisse stehen hinter den jeweiligen Geschichtsdarstellungen? 

•Drittens analysiere ich, welchen Beitrag Geschichtsfilme zum historisch-politischen Erinnerungsdiskurs in Deutschland und Russland leisten, und ordne sie damit in den Kontext nationaler Erinnerungskulturen ein.

Mein persönlicher Bezug zu den Medienlandschaften und Erinnerungskulturen Deutschlands und Russlands reicht weit zurück. Geboren und aufgewachsen in Sankt Petersburg, zog es mich im Herbst 2011 als 17-jährige DAAD-Stipendiatin nach München. Meine Familie und engsten Freunde verblieben in Russland, deshalb riss der Draht zum Heimatland nie ab. Kurz nach meinem Weggang rollte über Russland eine Welle von Protesten gegen Wahlfälschungen, Korruption und Machtmissbrauch. Die gewaltsame Niederschlagung dieser Demonstrationen und die darauffolgenden Bolotnaja-Prozesse läuteten die Politisierung der sogenannten Generation Putin (Bidder 2017) ein – und auch ich blieb von diesen Debatten nicht unberührt. Seit 13 Jahren lebe ich nun zwischen zwei Welten und verfolge die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland aus nächster Nähe und in Russland aus der Distanz.

Mit dem Ausbruch des vollumfänglichen Krieges in der Ukraine am 24. Februar 2022 brach auch ein Stück meiner Welt zusammen. Die einstige Hoffnung auf eine Annäherung zwischen meiner alten und neuen Heimat wich der endgültigen Ernüchterung: Russland und der Westen driften immer weiter auseinander. Dennoch blieb ich überzeugt, dass eine kritische Annäherung an diese auf den ersten Blick gegensätzlichen Erinnerungskulturen produktives Potenzial birgt und in einer von Entfremdung geprägten Zeit das gegenseitige Verständnis fördert.

Einordnung in das Forschungsfeld In dieser Arbeit untersuche ich mediale Realitätskonstruktionen und nehme damit zentrale Untersuchungsgegenstände des Faches Kommunikationswissenschaft in den Blick. Allerdings kann die Erinnerungspraxis »von keiner Einzeldisziplin aus allein bearbeitet werden« (Erll 2017, S. 2), sondern erfordert eine interdisziplinäre Herangehensweise, die Sozial-, Geistes- und Naturwissenschaften miteinander verbindet. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, über Fachgrenzen hinwegzublicken, besonders im Forschungsfeld des Kulturellen Gedächtnisses und der Erinnerungskultur, an dem sich eine Vielzahl akademischer Disziplinen beteiligt – von den Altertums-, Geschichts-, Politik- und Religionswissenschaften über Soziologie, Philosophie und Ethnologie bis zu Pädagogik sowie Literatur-, Kunst-, Medien- und Neurowissenschaften. Vor diesem Hintergrund überschreite ich ebenfalls die Grenzen meines Hauptfaches und betrete das Terrain der Wissenssoziologie, der Zeitgeschichte und der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung.

Ebenso verlangt der Untersuchungsgegenstand Geschichtsfilm einen interdisziplinären Zugang, der Populärkultur – im Sinne der Cultural Studies – nicht als einen isolierten Forschungsgegenstand, sondern als ein dynamisches und konfliktäres Feld begreift, das sich kaum in den methodischen und theoretischen Grenzen einer einzelnen Disziplin einfangen lässt (Hepp et al. 2009, S. 10). Diese Arbeit vereint folglich den kommunikationswissenschaftlichen Zugriff mit erinnerungspolitischen Konzepten und Ansätzen aus der Filmwissenschaft und stützt somit auf ein interdisziplinäres theoretisch-methodisches Fundament.

Für diese Arbeit durchstöbere ich keine Archive und führe keine Interviews mit Zeitzeugen. Ich rekonstruiere keine historischen Ereignisse und frage auch nicht explizit danach, wie das Leben in den sozialistischen Staaten tatsächlich aussah. Mein Anspruch ist es nicht, Unstimmigkeiten aufzudecken und Filmszenen nachzuspüren, in denen sich ein Regisseur zu viel künstlerische Freiheit erlaubt hat. Statt einen Vergleich zwischen filmischer Darstellung und historischer Faktenlage anzustellen, setze ich mich mit der künstlerischen Aufarbeitung der DDR und der Sowjetunion kritisch auseinander.

In dieser Arbeit gehe ich von der Prämisse aus, dass die Vergangenheit »täglich neu verhandelt [wird]« (Sabrow 2009, S. 20) und dass historisches Wissen relativ, subjektbezogen und in gesellschaftspolitische Dynamiken eingebettet ist. Unser Wissen über die DDR und die Sowjetunion stammt vornehmlich aus sich wandelnden, subjektiven medialen Repräsentationen, die oft wenig Raum für historische Genauigkeit, Ambivalenzen und komplexe Zusammenhänge lassen – darunter Lehrbücher und Romane, Spielfilme und Dokumentationen, Museumsausstellungen, Zeitzeugenberichte und Anekdote. Mein Interesse gilt deshalb der nachträglichen Rekonstruktion und Deutung dieser historischen Epochen sowie den Akteuren, die sie mit ihren spezifischen Interessen, Ressourcen und Motivationen gestalten.

Am Gegenstand Geschichtsfilm möchte ich zeigen, in welchem Wechselverhältnis kollektive Normvorstellungen und Wissensvorräte zu gesellschaftspolitischen Machtstrukturen stehen, und Räume dessen erschließen, was im medialen und politischen Diskurs gesagt und gezeigt werden kann. Die Relevanz dieser wissenschaftlich fundierten Kritik an den ›Definitionsmachtverhältnissen‹ (Beck 2017) sehe ich nicht nur in der Diagnose – der Identifikation von Problemen –, sondern auch im Heilplan, also in der Produktion vom Wissen, das Anhaltspunkte für die Korrektur von Schieflagen und für die Lösung von Problemen gibt.

Analytischer Zugang Mithilfe einer qualitativen, kategoriengeleiteten Inhalts- bzw. Filmanalyse untersuche ich 20 publikumsstarke nationale Spielfilme, die zwischen 1990 und 2021 in Kinos liefen (je zehn russische und deutsche Produktionen). Mein Ansatz geht dabei über die bloße Beschreibung filmischer Inhalte und die Analyse der einzelnen Filme hinaus. Ich biete auch Erklärungen dafür, wie bestimmte Narrative, Deutungen und audiovisuelle Konstruktionen zustande kommen. Die Arbeit bietet somit zum einen eine wissenschaftlich fundierte Analyse der von Historienfilmen gezeichneten Bilder und reflektiert zum anderen mithilfe diskurstheoretischer Werkzeuge deren Stellung in der Erinnerungskultur. Dabei werden Entstehungs- und Rezeptionskontexte sowie die zugrundeliegenden Machtstrukturen und Interessenverhältnisse kritisch beleuchtet.

Meine Analyse erweitert filmimmanente Kategorien wie Handlung, Figuren, Gesellschaftsbild und Ästhetik um filmtranszendente – über den Film hinausgehende – Aspekte. Dazu gehören der biografische Hintergrund der an der Produktion Beteiligten, Förderung und Finanzierung, Marketingstrategien, Box-Office-Ergebnisse, Bezüge zum Geschichtsdiskurs der Entstehungszeit sowie die öffentliche und mediale Resonanz. Dieser umfassende Ansatz basiert auf der Einsicht, dass Akteure »niemals im luftleeren oder herrschaftsfreien Raum [handeln]« (Wolfrum 2010, S. 22): »Deshalb müssen die Kontexte, in denen sie agieren, ausgeleuchtet werden.« (Ebd.)

Geschichtskonstruktionen vollziehen sich immer in komplexen Kontexten. Um sie zu erfassen, beziehe ich Interviews, Berichte von Fördergremien, Pressemappen, pädagogische Begleitmaterialien sowie Rezensionen in Leitmedien in meine Analyse ein. Diese Herangehensweise ermöglicht es mir, die filmisch inszenierte Erinnerung innerhalb des Rahmens der nationalen Erinnerungskultur zu verorten und ihre geschichtspolitische Dimension zu problematisieren. Durch die Verknüpfung der filmimmanenten und -transzendenten Ebenen trägt diese Arbeit zur systematischen empirischen Untersuchung von bewegten Bildern bei, die, trotz ihres bedeutungsstiftenden Potenzials, in der Kommunikationswissenschaft bisher »weitgehend ausgeklammert« wurden (Wiedemann 2018a, S. 178).

Vergleichende Perspektive Trotz der zunehmenden Bedeutung einer kritischen Auseinandersetzung mit den Erinnerungsdiskursen über den Sozialismus neigt die geschichtspolitische Forschung dazu, in nationalen Perspektiven zu verharren. Bislang leistete die Forschung keine vergleichende Analyse der Erinnerungsdiskurse über die DDR und die Sowjetunion in Geschichtsfilmen. Ein möglicher Grund dafür ist, dass der Zugang zum russischen Diskurs umfassende Sprachkenntnisse und kulturelle Kompetenz erfordert, um Nuancen, subtile Hinweise und kulturelle Codes dechiffrieren zu können. Dieses Buch schließt diese Forschungslücke, nicht zuletzt dank des kulturellen und biografischen Hintergrunds der Autorin.

Eine international-vergleichende Perspektive auf deutsche und russische Erinnerungslandschaften erweist sich aus zwei Hauptgründen als gewinnbringend: aufgrund einer bedeutenden Gemeinsamkeit und eines noch größeren Unterschieds.

•Als Länder, auf deren Boden im 20. Jahrhundert der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft versucht wurde, teilen Deutschland und Russland nicht nur das materielle Erbe des Sozialismus – wie Denkmäler, Plattenbauten und Alltagsgegenstände –, sondern auch das immaterielle: Gesellschaften, die 1990/1991 in einer gänzlich neuen Realität erwachten. Sie mussten sich nicht nur in der Marktwirtschaft zurechtfinden, sondern auch ihre Vergangenheit aufarbeiten. Der Prozess dieser Aufarbeitung, die ihn begleitenden Konflikte und die tiefen ideologischen Gräben, die dabei aufgerissen wurden, werden im Kapitel 2 näher beleuchtet. Wichtig ist, dass beide Länder zu Beginn der 1990er Jahre vor der Herausforderung standen, eine neue nationale Identität zu schaffen – ein Unterfangen, bei dem auch Kinofilme in den letzten 30 Jahren eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben.

•Obwohl Deutschland und Russland eine gemeinsame Erfahrung des Sozialismus und des Umbruchs teilen, unterscheiden sich die Deutungen und Antworten, die ihre jeweiligen Erinnerungskulturen hervorgebracht haben, erheblich. Ein Vergleich der deutschen bzw. westlich geprägten Erinnerungskultur mit der russischen offenbart strukturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten, aber auch das Nicht-Gesagte und das Nicht-Erinnerte. Die Gegenüberstellung zweier divergierender Erinnerungskulturen und der filmischen Darstellungen, die in sehr unterschiedlichen geschichtspolitischen Kontexten entstehen und rezipiert werden, bringt die »Definitionsmachtverhältnisse« (Beck 2017) ans Licht. Gerade dieser Kontrast macht die zugrundeliegenden Interessen- und Machtverhältnisse besonders sichtbar.

Aufbau und Inhalte der Arbeit Im Anschluss an die Einleitung lege ich im Kapitel 1 das theoretische Fundament. Dieser Arbeit liegt die Annahme zugrunde, dass die Vergangenheit ein umkämpftes Terrain darstellt und fortlaufend neu bewertet wird. Daher ist historisches Wissen nicht als objektiv gegeben zu verstehen, sondern als subjektbezogen und in gesellschaftspolitische Dynamiken eingebunden. Als Grundlage dient der diskurstheoretische Ansatz von Michel Foucault (exemplarisch 1981) (Kap. 1.1). Das Foucault’sche Begriffsgebäude bietet den analytischen ›Werkzeugkasten‹, mit dem ich filmische Diskurse vor dem Hintergrund der vorherrschenden Wissensordnungen und der damit einhergehenden Machtgefügen untersuche. Foucaults Analyseinstrumentarium ergänze ich um drei Aspekte, die in seinem Denkansatz nicht ausreichend abgedeckt werden, aber für die Analyse unentbehrlich erscheinen, und beziehe mich dabei auf die Konzepte der Akteure und narrativen Strukturen von Reiner Keller (2011, 2019) sowie das Encoding/Decoding-Modell von Stuart Hall (2005, 2019). Diese diskurstheoretischen Überlegungen verknüpfe ich anschließend mit relevanten Prämissen aus der geschichtspolitischen und erinnerungskulturellen Forschung (Kap. 1.2) sowie mit Erkenntnissen aus der Filmwissenschaft, die die Besonderheiten und Logiken des Genres Geschichtsfilm beleuchten (Kap. 1.3). Dies schließt einen Exkurs in das Feld der Kinofilmproduktion in Deutschland und Russland ein. Das abschließende Theoriekapitel widmet sich dem Verfahren der (Kritischen) Diskursanalyse, indem es dessen Anwendung und Bedeutung im Rahmen dieser Untersuchung erläutert (Kap. 1.4).

Kapitel 2 wirft einen Blick auf die letzten drei Jahrzehnte und untersucht die Entwicklung der postsozialistischen Erinnerungskulturen in Deutschland und Russland (Kap. 2.1 und 2.2). Im Unterkapitel 2.3 arbeite ich anschließend Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus. Dieses Kapitel erhebt nicht den Anspruch, alle Facetten der stark fragmentierten Erinnerungslandschaften vollständig abzubilden – eine umfassende Darstellung würde den Umfang dieser Arbeit überschreiten. Es ist mir jedoch ein Anliegen, die Machtverhältnisse zu skizzieren und die inhaltlichen sowie strukturellen Entwicklungstendenzen der Diskurse zu beleuchten. Am Kapitelende skizziere ich den aktuellen Forschungsstand zur filmischen Darstellung der beiden sozialistischen Staaten und weise auf Leerstellen und Forschungslücken hin (Kap. 2.4).

Kapitel 3 widmet sich dem ›Hirn und Herz‹ dieser Studie – dem Kategoriensystem – und leitet den ersten Schritt zur Operationalisierung filmscher Diskurse ein. Zu Beginn erläutere ich die Vorteile des kategoriengeleiteten Vorgehens und zeige auf, wie es hilft, »das Gewimmel der Diskurse zu entzerren« (Jäger 2019, S. 74). Anschließend zeichne ich die Entwicklung des Kategoriensystems schrittweise nach und gehe dabei detailliert auf die einzelnen Untersuchungskategorien ein.

Im Kapitel 4 beschreibe ich das Untersuchungsdesign. Zunächst begründe ich meine Methodenentscheidung und erläutere die Vorteile des qualitativen, kategoriengeleiteten Ansatzes (Kap. 4.1). Danach beschreibe ich, wie ich den Untersuchungskorpus zusammenstellte und auf welchen Kriterien die Auswahl oder der Ausschluss bestimmter Filme beruhte (Kap. 4.2). Im nächsten Schritt schildere ich den Ablauf der Untersuchung und begründe bestimmte methodische und forschungspragmatische Entscheidungen (Kap. 4.3). Zuletzt erörtere ich im Unterkapitel 4.4 meine Auswertungsschritte, wobei das Verfahren der Typologisierung im Mittelpunkt steht.

Im Kapitel 5 präsentiere ich die empirischen Befunde meiner Studie. Den Dreh- und Angelpunkt dieses Kapitels bildet eine Typologie filmischer Geschichtsinszenierungen, die die Erkenntnisse aus der Analyse russischer und deutscher Filme zusammenführt (Kap. 5.1). Die Darstellung der Ergebnisse zu DDR- und Sowjetunion-Diskursen erfolgen in separaten Unterkapiteln entlang der einzelnen Untersuchungskategorien (Kap. 5.2 und 5.3). Das Unterkapitel 5.4 führt diese Erkenntnisse zusammen.

Das abschließende Kapitel 6 ermutigt zum utopischen Denken und argumentiert dafür, das produktive und transformative Potenzial einer kritischen Diskursanalyse in vollem Umfang zu nutzen. Ich dokumentiere meine Überlegungen zu den Tendenzen in den filmischen Geschichtsdiskursen, die sich vor dem Hintergrund sich wandelnder gesellschaftspolitischer Kontexte, des Generationenwechsels sowie der Akteurs- und Machtstrukturen in der Filmindustrie abzeichnen. Anschließend reflektiere ich die Grenzen meiner theoretischen Perspektive und des gewählten methodischen Ansatzes und weise auf die erkenntnistheoretischen und empirischen Möglichkeiten hin, die sich für weitere Erforschung filmischer Geschichtsbilder bieten. Den Schlusspunkt bildet ein Plädoyer für eine Erinnerungskultur, die nicht in Stereotypen und Klischees verharrt, auf kluges Verständnis statt Abgrenzung setzt und Raum für einen kritisch-reflexiven Umgang mit der Geschichte öffnet.

1 Zitate, die ursprünglich in alter Rechtschreibung verfasst wurden, wurden im Sinne der Einheitlichkeit und Lesbarkeit in die neue Rechtschreibung übertragen.

2 Alle Übersetzungen aus dem Russischen in dieser Arbeit wurden von der Autorin selbst angefertigt. Russische Namen, Bezeichnungen und Titel werden im Interesse einer besseren Lesbarkeit gemäß der Duden-Transkription weitergegeben, die sich an der deutschen Aussprache orientiert.

3Militärische Spezialoperation oder spezielle Militäroperation sind Begriffe aus der offiziellen Sprache des Kremls und stehen im Prinzip für den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, der weder als Angriff noch als Krieg bezeichnet werden darf.

1.Theoretische Fundierung

»Es ist Unfug, sich irgendeine Methode beliebig oder auch zufällig auszusuchen und nach Schema F anzuwenden. Es ist daher unerlässlich, dass diese Theorie zunächst in einer ausführlichen Skizze als ausgespanntes begriffliches Netz dargestellt wird.«

(Jäger 2015, S. 12)

»Theorien strahlen den Forschungsgegenstand wie Scheinwerfer an und lassen ihn je nach Farbe und Lichtstärke ganz unterschiedlich aussehen.«

(Löblich 2016, S. 72)

Dieses Kapitel baut ein theoretisches Gerüst auf. Dabei erläutere ich Grundannahmen, mit denen ich an postsozialistische Erinnerungskulturen und Geschichtsfilme herangehe, und definiere Begriffe sowie Konzepte, die im weiteren Verlauf der Arbeit – von der Entwicklung des Kategoriensystems bis zur Ergebnisdarstellung – eine Rolle spielen werden.

Vorüberlegungen: Wozu braucht es eine Theorie? Die Rolle der Theorie im Forschungsprozess lässt sich gut mit der Metapher einer Brille begreifen. Ähnlich wie eine Brille eine verschwommene Sicht korrigiert und dafür sorgt, dass Gegenstände auf der Augennetzhaut deutlich abgebildet werden, schärfen theoretische Überlegungen unseren Blick auf den Untersuchungsgegenstand. Theorien ermöglichen einen systematischen Zugang zur komplexen Wirklichkeit, indem sie das schier unüberschaubare Feld eingrenzen und den analytischen Rahmen vorgeben. Sie liefern Begriffe, mit denen die Realität beschrieben wird, leiten die einzelnen Analyseschritte an und geben die Richtung für die Darstellung und Interpretation der Ergebnisse vor. Kurz gesagt: Theorien organisieren und strukturieren den Forschungsprozess und gewährleisten seine Nachvollziehbarkeit und Transparenz (Löblich 2016).

Einige Untersuchungen zu filmischen Geschichtsbildern halten theoretische Konzepte für einen »unnötigen ontologischen und epistemischen Ballast« (Lüdeker 2012, S. 36). Auch generell begegnet die Wissenschaft der »Gebundenheit an eine bestimmte theoretische Perspektive« (Löblich 2016, S. 71) gelegentlich mit Skepsis. Theoriegeleitete Forschung steht im Verdacht, keine neuen Erkenntnisse und Einsichten zu generieren, sondern lediglich »theoretische Vorannahmen zu bestätigen« (Mikos und Wegener 2017, S. 14). Stützt man sich als Forscherin auf bestimmte grundlagentheoretische Annahmen und Paradigmen, so lautet das Argument, legt man »seinen Finger immer auf ganz bestimmte Aspekte der sozialen Welt« (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2021, S. 38). Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Wenn man in den theoretischen Überlegungen den Diskurs über die Vergangenheit als Produkt der Auseinandersetzung um geschichtspolitische Deutungsmacht betrachtet, werden auch die Ergebnisse auf Machtverhältnisse und -strukturen hinweisen. Mit einer anderen Theorie würde die empirische Forschung andere Aspekte der Realität berücksichtigen und dadurch zu einem anderen Untersuchungsdesign, anderen Methoden und anderen Ergebnissen gelangen (Löblich 2016, S. 76). Besteht durch dieses theoriegeleitete Vorgehen nicht die Gefahr, dass »Ergebnisse, die sich zu diesen Grundannahmen sperrig verhalten« (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2021, S. 38), systematisch übersehen werden – und die theoretische ›Brille‹ somit zur ›Scheuklappe‹ wird? Diese Befangenheit lässt sich nicht wegdiskutieren, da jede Theorie »die zu stellenden Fragen von vornherein auf bestimmte mögliche Antworten einschränkt« (Hepp et al. 2009, S. 9) und weil »jede Analysebrille, die man sich aufsetzt, der Realität bestimmte Grenzen setzt und vielleicht auch blinde Flecken hat« (Löblich 2016, S. 74).

Dass die Theorie den Forscherblick auf die Wirklichkeit verstellt oder zwangsläufig verengt, darf jedoch nicht zu der Annahme verleiten, dass der Verzicht auf theoretische Fundierung einen offenen und unvoreingenommenen Zugang zur Realität in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit ermöglichen würde. Dem Postulat der Offenheit und Objektivität steht die wissenssoziologische Annahme gegenüber, dass Wissen und Denken niemals voraussetzungslos, sondern immer an das Subjekt und seinen sozialen Standort gebunden sind: seine Herkunft, politische Orientierung und Generationszugehörigkeit. Kein Erkenntnisprozess ist frei von subjektiver Prägung, Erwartungen und sogar Vorurteilen. Kein Wissen ist entkoppelt von Theorietraditionen und Paradigmen. Alle Beschreibungen, Analysen und Interpretationen der Realität werden immer vor dem Hintergrund eines bestimmten Wissens vorgenommen, das man im Laufe seines Lebens erworben oder vermittelt bekommen hat.

Karl Mannheims Theorie von der Seinsverbundenheit des Wissens erschöpft sich jedoch nicht darin, resigniert festzustellen, dass jede Behauptung beliebig, »alles Schein und nichts entscheidbar [sei]« (Mannheim 2015, S. 258). Mannheim lehnt das Objektivitätspostulat nicht ab, sondern behauptet vielmehr, dass Objektivität »nur auf Umwegen herstellbar ist« (ebd., S. 258), nämlich »durch das Übersetzen und Umrechnen« (ebd., S. 259). In der Forschungspraxis bedeutet dies, dass man als Forscherin oder Forscher seine theoretischen Grundannahmen, sein Vorwissen und subjektive Spuren im Forschungsbericht offenlegen sowie alle Entscheidungen und Analyseschritte erklären und begründen sollte (Löblich 2016, S. 72; Meyen et al. 2019, S. 41). Die Reflexion über die ›theoretische Brille‹ ist somit ein wesentlicher Bestandteil des Forschungsprozesses: »Wenn Vorwissen und Ausgangspunkte im Vagen belassen werden, dann bleiben Auswertung und Interpretation ein Mysterium.« (Löblich 2016, S. 71) Nur durch (Selbst-)Reflexion können die Gütekriterien qualitativer Forschung – Zuverlässigkeit, Gültigkeit, Übertragbarkeit und (nicht unumstrittene) Werturteilsfreiheit (Meyen et al. 2019, S. 41) – eingehalten werden.

Aufbau des Kapitels Der Aufbau dieses Kapitels folgt einer Trichterstruktur (Abb. 1). In jedem Unterkapitel erfolgt eine Verdichtung: Von einer allgemeinen Diskurstheorie gelangt man über die Erinnerungskultur und Geschichtspolitik schließlich zum filmischen Geschichtsdiskurs.

Abb. 1: Theoretisch-analytischer Rahmen der Arbeit

Quelle: Eigene Darstellung

Den theoretisch-analytischen Rahmen für diese Arbeit bildet der diskursanalytische Ansatz des französischen Philosophen Michel Foucault (1981) und seine Auffassung vom komplexen Zusammenspiel von Wissen, Wahrheit und Macht. Kapitel 1.1 führt durch das Labyrinth seiner Begriffe, Konzepte und Gedankengänge und stellt ein begrifflich-analytisches Instrumentarium für die zentrale Fragestellung dieser Arbeit bereit. Dieses Instrumentarium wird im nächsten Schritt um einzelne konzeptionelle Aspekte erweitert, die vom Foucault’schen Denkgebäude nicht oder nur unzureichend abgedeckt werden, aber für die Analyse als unentbehrlich erscheinen. Hierbei ziehe ich die Konzepte von Akteuren und narrativen Strukturen von Reiner Keller (2011, 2019) sowie das Encoding/Decoding-Modell von Stuart Hall (2005, 2019) heran.

In den Kapiteln 1.2 und 1.3 übertrage ich die zuvor allgemein formulierten Prämissen aus der Diskurstheorie auf das Gebiet der Erinnerungskultur sowie das Medium Geschichtsfilm. Diese theoretischen Überlegungen ermöglichen einen Brückenschlag zwischen einzelnen Filmen und größeren gesellschaftspolitischen Debatten und Kontexten.

Das abschließende Theoriekapitel (Kap. 1.4) beschreibt das Verfahren der Diskursanalyse und bietet damit eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung des untersuchungsleitenden Kategoriensystems (Kap. 3) sowie für das Untersuchungsdesign (Kap. 4).

1.1Foucault’sche Diskurstheorie: Begriffe, Konzepte, Erweiterungen, Kritik

1.1.1Michel Foucault: Widerstand in Person

»Unerträglich sind: die Gerichte, die Bullen, die Krankenhäuser, die Narrentürme, die Schule, der Militärdienst, die Presse, das Fernsehen, der Staat.«

(Michel Foucault in Intolérable, Nr. 1/1971, zit.n. Eribon 1993, S. 318)

Michel Foucault, geboren 1926 im französischen Poitiers, gilt als einer der einflussreichsten und zugleich umstrittensten und radikalsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Umgeben von einer »Aura des nonkonformen Geistes« (Schneider 2020, S. 3), wurde Foucault in den 1970er Jahren »von vielen als Widerstand in Person, als Ikone der Gegenmacht gefeiert« (Piorkowski 2016). Studentinnen und Studenten aus aller Welt kamen nach Paris, um Foucault am renommierten Collège de France zu hören, wo er seit 1970 eine Professur für die Geschichte der Denksysteme bekleidete. Überwältigende Teilnehmerzahlen in seinen Vorlesungen erforderten eine Tonübertragung in andere Hörsäle (Schneider 2020, S. 6). Vortragsreisen und Aufenthalte in den USA, Lateinamerika und Japan brachten dem Denker internationale Bekanntheit, insbesondere in Intellektuellenkreisen. Das akademische Feld spaltete sich in »euphorische Befürworter« Foucault’schen Denkens (Kammler 2020a, S. 11) und »Stimmen radikaler Ablehnung« (Taureck 1997, S. 135). Diese Spaltung wurde schließlich durch nüchternere, ausgewogenere Analysen seines Werkes ersetzt. Foucaults Ideen fanden Eingang in zahlreiche Fachdisziplinen – von der Philosophie und Soziologie über Geschichts- und Kulturwissenschaften bis hin zur Politologie und Medizin – und haben bis heute nichts an wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Brisanz eingebüßt.

Mit seinen Ideen und philosophischen Einsichten rüttelt Foucault an den Grundfesten des etablierten Wissenschafts- und Gesellschaftsverständnisses: Er stellt unser Wissen, unser Denken und unsere Sprache infrage, konfrontiert scheinbar Selbstverständliches mit alternativen Interpretationen und konkurrierenden Lesarten und betreibt durch seine stets kritische Haltung »eine aufklärende Gegenwartsdiagnostik« (Marchart et al. 2019, S. 4). Im Weltbild Foucaults gibt es nichts objektiv Wahres, Faktisches und von Natur aus Normales – sein Interesse gilt den Mechanismen, die im Kampf um die Definitionshoheit darüber entscheiden, was als wahr und falsch, gesund und krank, vernünftig und irre, ordnungsgemäß und kriminell gilt. Foucault betrachtet die Welt und die Gesellschaft durch eine konstruktivistische Brille: Die Realität kann demnach nicht objektiv beschrieben und erfasst werden, denn unser Bild der Realität ist eine Konstruktion, die unter bestimmten kulturellen, sprachlichen und ideologischen Bedingungen entsteht und spezifischen Regeln unterliegt. Somit ist jede einmal festgehaltene Bedeutung nur eine von vielen potenziell möglichen Lesarten und Interpretationsweisen und somit lediglich »eine Momentaufnahme« (Keller 2011, S. 12).

In seinen Arbeiten, die größtenteils historisch angelegte Analysen darstellen, verfolgt Foucault die Entwicklung von Wissensgebieten und Wissenschaftsdisziplinen, wie etwa Geisteswissenschaft, Psychologie, Religion, Recht oder Medizin (exemplarisch Foucault 1988). Er untersucht Strukturen und Wandel von Irrenhäusern und Gefängnissen und befasst sich mit konkreten Normalisierungs-, Ausschluss- und Machtpraktiken, die in verschiedenen kulturellen und institutionellen Räumen sowie in verschiedenen Epochen – vom Mittelalter über die Renaissance und die Klassik bis zur Moderne – den Umgang mit Geisteskranken und Kriminellen bestimmten (Foucault 1973, 1977). In mehreren Werken erforscht Foucault Machtmechanismen, die individuelle und kollektive sexualitätsbezogene Ethik- und Moralvorstellungen prägen (exemplarisch Foucault 1986a; 1986b). Seine Aufmerksamkeit gilt also der Entwicklung von Bestrafungsstrukturen, ärztlichen Behandlungsmethoden und ethischen Diskussionen sowie sozialen Mechanismen und Praktiken, die mit der Grenzziehung zwischen dem vermeintlich Normalen und dem Abnormalen einhergehen. Dadurch stellt er die gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen, Bedeutungsordnungen und Wissensregime auf den Prüfstand.

Seit den späten 1960er Jahren wuchs Foucaults Ruhm »mit einer geradezu erstaunlichen Beharrlichkeit« (Ruoff 2018, S. 13). Seine Ideen und Texte, teilweise »polemisch und provokativ« (Taureck 1997, S. 74), fielen auf fruchtbaren Boden: Mit dem Übergang von der Moderne zur Postmoderne schritt seit der Mitte der 1960er Jahre ein Wertewandel voran. Im Kern bedeutete dieser Wandel eine Verschiebung von gesamtgesellschaftlich gültigen Normen, Pflichten und Moralvorstellungen – seien es politische, religiöse oder soziale – weg von äußeren Verbindlichkeiten »hin zu Selbstentfaltungswerten wie Selbstständigkeit und Mitbestimmung, Kritik, freiem Willen und individueller Autonomie« (Rödder 2004, S. 29). Mit zunehmender Individualisierung und radikaler Pluralisierung verloren traditionelle Normen und Verbindlichkeiten an Akzeptanz oder wurden gänzlich aufgegeben. Dies lässt sich am Beispiel von Ehe- und Familienstrukturen illustrieren: Das tradierte Ernährer-Hausfrau-Modell verlor ihr Monopol zugunsten anderer Wohn- und Haushaltsformen, wie etwa Patchwork-Familien, nicht-eheliche Lebensgemeinschaften oder gewollt kinderlose Ehen (ebd., S. 26). Neben der Entnormativierung gehörte zum Kern des analytisch-philosophischen Verständnisses der Postmoderne auch die Annahme, dass wir »keinen Zugang zu einer uns gegebenen, objektiven Realität haben« (Diez 2002, S. 188). Was wir für die uns umgebende Realität – mit ihren Regeln und Normvorstellungen – halten, ist, um gleich den Foucault’schen Begriff zu verwenden, ein diskursives Konstrukt1.

Die konstruktivistische Perspektive bildet auch das Fundament dieser Arbeit. Medial verbreitete Bilder und Deutungen der Vergangenheit sind, so die Grundannahme, weder objektiv noch universell, sondern eng mit Interessens- und Machtverhältnissen verflochten. Das, was wir über die DDR und die Sowjetunion wissen (oder zu wissen glauben), sowie Bedeutungen, mit denen wir den Sozialismus aufladen, werden im jeweiligen soziokulturellen und politischen Kontext diskursiv konstruiert und vermittelt. Der Diskurs sollte dabei nicht auf eine verzerrte Darstellung der ›wirklichen Wirklichkeit‹, Lüge, Faktenleugnung oder gar Ideologie reduziert werden. Vielmehr stellt der mediale bzw. filmische Diskurs eine eigene Wirklichkeit dar, besitzt seine eigene Materialität, folgt eigenen Regeln und speist sich aus anderen Diskursen (Jäger 2015, S. 35). Diese filmische Wirklichkeit steht damit im Mittelpunkt meines Forschungsinteresses.

Wie diskursive Realitätskonstruktionen entstehen, sich manifestieren und welche Auswirkungen sie haben, welche Faktoren dabei ins Gewicht fallen und wie das Wissen über die Vergangenheit mit der geschichtspolitischen Deutungsmacht zusammenhängt, wird im weiteren Verlauf dieses Kapitels diskutiert. Bevor jedoch das begriffliche, theoretische und methodische Instrumentarium von Michel Foucault vorgestellt wird, werde ich auf die Vorteile und Potenziale des Arbeitens mit seinen Konzepten sowie auf die damit verbundenen Herausforderungen und Limitationen eingehen.

1.1.2Forschen mit Foucault

»Das Werk Michel Foucaults hält für den Leser Hürden bereit, die sich nicht zuletzt aus den Umorientierungen eines Denkens erklären, das sich im Schaffensprozess mehrfach selbst korrigiert.«

(Ruoff 2018, S. 13)

Um das gleich vorweg festzuhalten: Die theoretische und empirische Arbeit mit Michel Foucault ist ein anspruchsvoller Weg. Seine Texte sind sprachlich wie inhaltlich keine leichte Kost, sein Denkgebäude gleicht einem Labyrinth, sein methodologisches Vokabular ist »nur schwach systematisiert« (Sellhoff 2020, S. 69), und die Begriffsverwendung weder konstant noch eindeutig. Foucault war ein Denker, »der sich wenig um Konsequenz und Kontinuität scherte« (Waldenfels 2003, S. 1) und selbst zugab, dass seine Gedanken manchmal »ziemlich verwirrend und ungewiss klingen« (Foucault 1978, S. 53). Seine Konzepte blieben ständig ein work in progress, begleitet von »Neuinterpretationen, Retouchen, Umdeutungen und terminologischen Verschiebungen« (Kammler 2020a, S. 13). Der Mitherausgeber des 525-seitigen »Foucault-Handbuchs«, Clemens Kammler, stellt fest: »Den inneren Zusammenhang von Foucaults Schriften zu entschlüsseln, erscheint auch heute noch als Herausforderung.« (Ebd., S. 11)

Auch diesem Kapitel gingen mehrere Wochen vertiefter und intensiver Lektüre von Originalschriften und einschlägiger Literatur voraus. Trotz einer breiten Rezeption und zahlreicher Verstehens- und Verwendungsversuche konnte in zentralen Fragen der Werkinterpretation und empirischen Umsetzung keine Einstimmigkeit erzielt werden (Kammler 2020a, S. 11). Auch das Werk »Archäologie des Wissens« (Foucault 1981), auf das sich diese Arbeit hauptsächlich stützt, ist nicht »völlig frei von inneren Widersprüchen und Lücken« und blieb letztendlich auch »eine Baustelle« (Kammler 2020b, S. 65). Daher überrascht es nicht, dass die Bewertungen der »Archäologie« weit auseinandergehen: Während einige die Schrift für ein »gescheitertes Unternehmen« halten, preisen andere sie als »radikale wissenschaftstheoretisch begründete Neuorientierung empirischen Forschens« (Keller 2011, S. 135).

Im Gegensatz zu vielen anderen Theoretikern, wie etwa dem britischen Soziologen Anthony Giddens (1988) oder seinem französischen Fachkollegen Pierre Bourdieu (1982), stützt Foucault seinen Ansatz nicht auf ein festes, wohldefiniertes Begriffsrepertoire und auch nicht auf ein axiomatisch entwickeltes, in sich schlüssiges Konzept. Anders als die Strukturationstheorie oder die Habitus-Kapital-Theorie ist die Foucault’sche Diskurstheorie »kein geschlossenes Ganzes mit einer bestimmten Methodik und einem unerschütterlichen logischen Fundament« (Ruoff 2018, S. 246). Stattdessen ist der Theoriebildungsprozess durch eine kontinuierliche Weiterentwicklung und ständige Akzentverschiebung gekennzeichnet: Foucault verlagert mehrfach seinen Forschungsfokus auf neue Gegenstandsfelder, revidiert seine Interessenschwerpunkte und transformiert seine Analyseverfahren (Kammler 2020a, S. 13). In diesem Theoriebildungsprozess erfahren auch die Begriffe eine »Verschiebung in ihrer Gewichtung und Bedeutung« (Ruoff 2018, S. 13).

Foucault war sich dieser Schwächen und Inkonsistenzen seines theoretischen Konzepts durchaus bewusst. In »Archäologie des Wissens« räumt er ein, er habe »kein strenges theoretisches Modell errichtet« (Foucault 1981, S. 167). Darin bekunde sich »ein Denken, das auf der Suche ist, als dass es Thesen vertritt« (Waldenfels 2003, S. 3). Anstatt einem festen Schema zu folgen, »bereichert, verändert, verbessert, umkreist [Foucault] seine eigene Vorgehensweise immer wieder aufs Neue« (Jäger 2015, S. 8). Diese Vorstellung einer stetigen Weiterentwicklung und kritischer Reflexion entspricht dem Foucault’schen Selbstverständnis als Experimentator, wie er es im Gespräch mit dem italienischen Journalisten Ducio Trombadori formuliert:

»Jedes Buch verändert das, was ich gedacht habe, als ich das vorhergehende Buch abschloss. Ich bin ein Experimentator und kein Theoretiker. Als Theoretiker bezeichne ich jemanden, der ein allgemeines System errichtet, sei es ein deduktives oder ein analytisches, und es immer in der gleichen Weise auf unterschiedliche Bereiche anwendet. Das ist nicht mein Fall. Ich bin ein Experimentator in dem Sinne, dass ich schreibe, um mich selbst zu verändern und nicht mehr dasselbe zu denken wie zuvor.« (Foucault 2005, S. 52)

Vor diesem Hintergrund überrascht es wenig, dass die Rezeption von Foucault’schen Konzepten »über Jahrzehnte hinweg eine Geschichte der Nichtbeachtung, Missverständnisse, Fehldeutungen und Widerstände [blieb]« (Martschukat 2020, S. 367). Beispielsweise in der Historiografie waren die auf Foucault gestützten Arbeiten lange Zeit »vereinzelte Bemühungen von Avantgardisten, die bereit waren, angestrengt gegen den Strom zu schwimmen« (ebd.). Diese Diagnose trifft für andere Fachdisziplinen ebenfalls zu. Auch in der, zumindest deutschsprachigen, Kommunikationswissenschaft und Medienforschung ist eine diskurstheoretische Herangehensweise »noch immer eine Seltenheit« (Wiedemann und Lohmeier 2019, S. 1).

Dass die Kommunikationswissenschaft den auf Foucault gestützten Arbeiten »mit Skepsis und Kopfschütteln« (Wiedemann und Lohmeier 2019, S. 5) begegnet, liegt allerdings nicht nur an den vorhin beschriebenen Defiziten seines theoretisch-empirischen Konzepts. Die Sonderstellung der Diskursanalyse ergibt sich auch aus der Logik des Faches: Zur Legitimations- und Akzeptanzgewinnung setzt die Kommunikationswissenschaft schwerpunktmäßig auf quantitative Methoden, statistische Datenanalyse und standardisierte Untersuchungsverfahren (ebd.; auch Wiedemann und Meyen 2016) und fordert »repräsentative Daten und unmittelbar verwertbare sozialwissenschaftliche Erkenntnisse« (Löblich 2010, S. 302). Die diskursanalytische Herangehensweise fällt durch dieses Raster: Sie ist in der Regel qualitativ angelegt, erfordert eine »unumgängliche Interpretationsarbeit« (Keller 2011, S. 11), generiert keine großen Fallzahlen und Datenmengen und stellt »keine geschlossene, ›lernbare‹ Methode« (Classen 2008, S. 363) dar. Foucault liefert, wie bereits diskutiert, weder »eine ausgearbeitete Theorie« noch »ein methodisches Instrumentarium im engeren Sinne« (ebd., S. 364). Letztendlich erfordert der diskursanalytischer Zugang von Forscherinnen und Forschern »ein hohes Maß an Mut bzw. Methodenpragmatik« (Wiedemann und Lohmeier 2019, S. 5). Doch was kann er leisten?

Warum (trotzdem) Foucault? Der »Literaturhorizont«, aus dem sich Kommunikationswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler Theorien erschließen können, ist breit (Löblich 2016, S. 74). Warum fiel meine Wahl ausgerechnet auf Michel Foucault? Warum lohnt es sich, trotz der starken Detail- und Allgemeineinwände, auf die sein Werk trifft, sich durch das Labyrinth seiner Diskurstheorie durchzuschlagen? Auch wenn Foucaults Gedankengang nicht frei von Irrwegen und Sackgassen ist, gibt es drei Gründe für die Entscheidung, den theoretischen Grundstein mit Foucault zu legen: einen fachlichen, einen fachübergreifenden und auch einen persönlichen.

Aus fachlicher Perspektive halte ich den diskursanalytischen Ansatz für besonders geeignet, um medial vermittelte Geschichtsnarrative eingehend zu untersuchen. Damit lässt sich die Kernfrage der Kommunikationswissenschaft angehen: Wie wird Bedeutung durch öffentliche Kommunikation produziert? (Wiedemann und Lohmeier 2019, S. 5) In seinen Werken entwickelt Foucault zahlreiche theoretische Konzepte sowie einige methodische Vorschläge zur Diskursanalyse, die den Verflechtungen von diskursiven Praktiken, Wissensordnungen und Machtverhältnissen auf den Grund gehen.2 Auf den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit angewendet: Der diskurstheoretische Ansatz erlaubt einen strukturierten, systematischen Zugang zum umkämpften Terrain der Geschichtsvermittlung und ermöglicht es, die Prozesse der Produktion und Manifestation ›historischer Wahrheit‹ und kollektiver Wissensordnungen nachzuvollziehen.

Die Breite und Tiefe der Fragestellungen, die diskursanalytisch angegangen werden können, verdeutlichen, dass das Foucault’sche Denkgebäude eine analytisch-kritische Perspektive nahelegt, die über die bloße Beschreibung manifester Inhalte und immanenter Deutungen hinausgeht (Wiedemann und Lohmeier 2019, S. 7). Mit Foucault’schen ›Werkzeugen‹ lassen sich nicht nur Deutungsmuster und Sinnzusammenhänge auf der Inhaltsebene untersuchen, sondern auch Kontexte, Interessen und damit verbundene Machtkonstellationen auf der Ebene der Produktion und Rezeption. Da der ›Werkzeugkasten‹ so gestaltet ist, dass er weitergedacht und entwickelt werden kann, gleiche ich die Defizite des Foucault’schen Ansatzes durch den Rückgriff auf Erweiterungen seiner Diskurstheorie aus: Definitionen und Aspekte, die mir im Foucault’schen Denkgebäude zur Beantwortung meiner Forschungsfragen fehlen oder unzureichend erscheinen, finde ich in den Ansätzen anderer Diskurs-, Erinnerungs- und Filmforscherinnen und -forscher und integriere sie in das theoretische Konzept.

Mit dem zweiten Argument schlage ich eine Brücke von der Kommunikationswissenschaft zu anderen Disziplinen und größeren gesellschaftspolitischen Fragestellungen. Obwohl die Foucault’sche Diskurstheorie keinen Anspruch erhebt, »alle sozialen Phänomene beschreiben zu können« (Diaz-Bone 2017, S. 131), bietet sie eine »breitere gesellschaftspolitische Kontextualisierung« (Wiedemann und Lohmeier 2019, S. 6), was ihre große Stärke ausmacht. Der diskursanalytische Zugang ermöglicht es, diese primär kommunikationswissenschaftliche Arbeit an größere geschichts- und kulturpolitische Fragehorizonte sowie an geistes-, sozial- und geschichtswissenschaftliche Nachbarfächer anzuschließen. Die Diskursanalyse kann vor allem erinnerungskulturelle Ansätze produktiv ergänzen: Zwar weisen auch sie der kollektiven Wissensordnung eine wichtige Rolle zu, doch bieten sie keine zufriedenstellende Anleitung, »wie man dieses Wissen als eine konstruktive Praxis konzipieren und/oder systematisch analysieren kann« (Diaz-Bone 2017, S. 136). Der diskursanalytische Ansatz bietet auch wertvolle Impulse für die geschichtspolitische Forschung: Dies liegt daran, dass – trotz der florierenden empirischen Entwicklung dieses Feldes – die theoretisch-methodischen Grundlagen im Vergleich dazu erkennbar zurückgeblieben sind (Schmid 2009, S. 9). An dieser Stelle setzt die Diskursanalyse an, die eine systematische Untersuchung von Wechselverhältnissen zwischen Diskursen, Wissen und Macht ermöglicht. Ich gehe davon aus, dass eine Zusammenführung des Diskurskonzepts mit Ansätzen aus dem Bereich der Erinnerungskultur und Geschichtspolitik gewinnbringend ist und dem Feld der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung, insbesondere im postsozialistischen Raum, neue und wichtige Impulse geben kann. Auch das Feld der Filmanalyse kann mit Foucault’schen Begriffen und Konzepten kritisch-produktiv weiterentwickelt werden.

Neben der fachlichen und fachübergreifenden Relevanz steht Foucaults Blick auf die Gesellschaft im Einklang mit meinem Welt- und Selbstverständnis als Wissenschaftlerin. Die Vorstellung, dass Diskurse die Wirklichkeit nicht einfach widerspiegeln, sondern sie neu konstruieren und dass diese Konstruktionen mit Macht- und Herrschaftsbeziehungen verwoben sind, mag Forscherinnen und Forschern aus dem ›positivistischen Lager‹ gegen den Strich gehen. Ich hingegen sehe mich dem Lager eines ideologie- und gesellschaftskritischen, politisch engagierten und transformativen Forschens zugehörig und interessiere mich für Konzepte und Ansätze, in denen das Wissenschaftliche, das Politische und das Gesellschaftliche zusammenkommen. Die Diskursanalyse erlaubt es nicht nur, Diskurse in ihrer Widersprüchlichkeit und Dynamik zu problematisieren, sondern auch Mittel und Strategien aufzudecken, mit denen eine Akzeptanz von bestimmten Erzählungen, Deutungen und Wahrheiten herbeigeführt wird und das Feld des Sag-, Zeig- und Erinnerbaren ausgeweitet oder eingeschränkt wird (Jäger 2019, S. 79). Das Politische der Diskursanalyse zeigt sich darin, dass durch die Infragestellung vorherrschender Diskurse und Wissensordnungen alternative Denkrichtungen aufgezeigt und Ideen entwickelt werden können, die Partizipation und Veränderung ermöglichen (ebd., S. 81). Somit wird eine kritisch-politische Perspektive um eine transformative Komponente erweitert: In meiner akademischen Arbeit geht es mir nicht um reine Deskription oder ›Diagnose‹, denn diese würde lediglich den Status quo verfestigen und ihn als selbstverständlich erscheinen lassen (Jäger 2015, S. 10), sondern darum, »solches Wissen zu produzieren, das Hinweise darauf gibt, wie sich gegenwärtige soziokulturelle Probleme und Konflikte lösen lassen« (Hepp et al. 2009, S. 9)3.

1.1.3Begriffe und Konzepte: Zum Verhältnis von Diskurs, Wissen, Wahrheit und Macht

Begriffe und Konzepte, die in diesem Unterkapitel diskutiert werden, sind Werkzeuge, die ich aus der Foucault’schen ›Werkzeugkiste‹ entlehne, um mich analytisch an filmische Geschichtsbilder anzunähern und meine Forschungsfragen zu beantworten. Aus »einem ganzen Rüstzeug von Termini« (Foucault 1981, S. 283), die Foucault in seinen Werken entwickelt hat, greife ich vier Stichwörter auf: Diskurs, Wissen, Wahrheit und Macht. Diese vier Begriffe helfen im weiteren Verlauf der Arbeit, das Wechselspiel von Geschichtsdiskursen, Geschichtswissen und dem im Namen der historischen Wahrheit geführten Kampf um Deutungsmacht nachzuvollziehen und drei Ebenen der Filmanalyse miteinander zu verbinden: den Inhalt, die Produktion und die Rezeption.

Diskurs Diskurs ist der Schlüsselbegriff vom Foucault’schen Denkgebäude und sein tragender Bezugspunkt. Der Begriff Diskurs stammt aus dem Lateinischen discursus (Umherlaufen) und wird im alltagssprachlichen bzw. nichtwissenschaftlichen Gebrauch oft »als unscharfes Synonym für ›öffentliche Debatte‹ oder ›mediale Berichterstattung‹ [verwendet]« (Wiedemann und Lohmeier 2019, S. 2). Das Diskursverständnis, das das Foucault’sche Konzept prägt, knüpft jedoch nur bedingt an diese Laiendefinition an, und bei dem Versuch einer begrifflichen Abgrenzung begegnet man den vorher diskutierten Herausforderungen. Zwar ist der Diskursbegriff »das zentrale Etikett« (Parr 2020, S. 274), unter dem das Denken Foucaults in die Wissenschaft eingegangen ist, doch »haftet an diesem Begriff immer eine gewisse Unschärfe« (Ruoff 2018, S. 17). Auch wenn Stichwörter wie Diskursanalyse, Diskursgegenstand oder Diskurstheorie wie ein roter Faden das gesamte Foucault’sche Werk durchziehen, hat Foucault den Diskursbegriff »keineswegs konstant verwendet, sondern im Laufe der Jahre immer wieder neu und anders akzentuiert« (Parr 2020, S. 274). Kurzum: Eine eindeutige, griffige Definition des Diskurses legt der Denker nicht vor.

In der »Archäologie des Wissens« räumt Foucault zunächst die »wilde Benutzung« (Foucault 1981, S. 48) und die »schwimmende Bedeutung« (ebd., S. 116) des Terminus Diskurs in seinen früheren Texten ein, um anschließend die erste vorläufige Begriffsdefinition zu formulieren: Unter dem Diskurs versteht er »eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören« (ebd., S. 156). Mit anderen Worten – und dieses Diskursverständnis prägt diese Arbeit – setzt sich der Diskurs, wie aus Atomen, aus einer begrenzten Anzahl von inhaltlich zusammenhängenden Aussagen zusammen, die nach demselben Struktur- und Sinnmuster gebildet werden und »für die man eine Menge von Existenzbedingungen definieren kann« (ebd., S. 170). Auf den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit übertragen, werden Diskurse über die DDR und die Sowjetunion durch eine jeweils abgrenzbare Gruppe von Aussagen konstruiert, die sich auf die jeweilige sozialistische Vergangenheit beziehen und denen eine gemeinsame Struktur und ein gemeinsames Regelsystem zugrunde liegen.

Im Kern bestehen Diskurse aus Zeichen, beispielsweise Wörtern wie ›Diktatur‹ oder ›Heimat‹ oder Bildern wie denen eines Stacheldrahts oder des Wostok-Raumschiffs. Diese Zeichen sind jedoch mehr als bloße Buchstaben- oder Bilderabfolgen, die bestimmte Gegenstände bezeichnen oder abbilden. Entscheidend ist vielmehr, dass Wörter und Bilder, die den Diskurs formen, Zusammenhänge herstellen und Bedeutungen produzieren. Diese Bedeutungen »liegen in den Diskursen […] in Gestalt von Deutungsmustern vor« (Keller 2011, S. 240). Vor diesem Hintergrund erscheint es nur logisch, dass der Diskurs über denselben Gegenstand in unterschiedlichen zeitlichen, sozialen und kulturellen Kontexten unterschiedliche Formen annehmen kann: Er wird mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen und bringt verschiedene Deutungsmuster hervor. Diese dynamische und kontextabhängige Dimension des Diskurses ist für Foucault zentral: Er wendet sich von dem verengten, statischen Verständnis der Diskurse als »Gesamtheiten von Zeichen« (Foucault 1981, S. 74) ab und plädiert dafür, Diskurse als Praktiken zu behandeln, »die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen« (ebd.).

Vier Thesen zum Verhältnis von Diskurs, Wissen, Wahrheit und Macht

»[E]s gibt kein Wissen ohne definierte diskursive Praxis; und jede diskursive Praxis kann durch das Wissen bestimmt werden, das sie formiert.« (Foucault 1981, S. 260) »Wichtig ist, so glaube ich, dass die Wahrheit weder außerhalb der Macht steht noch ohne Macht ist.« (Foucault 1978, S. 51)

Aspekte, die im Hinblick auf die diskursive Praxis und den Konstruktionsprozess relevant sind, habe ich zu vier Thesen verdichtet, die anschließend näher erläutert werden.

These 1: Diskursive Praxis, Wissen und Wahrheit sind untrennbar miteinander verbunden. Diskurse bringen Weltbilder, Normenvorstellungen und Realitätsdeutungen hervor, bieten Orientierung und erfüllen eine sinn- und wahrheitsstiftende Funktion. Die Prägekraft der Diskurse macht gesellschaftliche Wissensordnungen zum Gegenstand konfliktträchtiger Auseinandersetzungen.

Jede diskursive Praxis produziert das als wahr und richtig geltende Wissen, stellt Sinnzusammenhänge her und bietet Legitimationsmuster. Insbesondere wenn ein Diskurs eine breite und intensive Rezeption erfährt, formt er den gesellschaftlichen Wissensvorrat und prägt somit die kollektiven Vorstellungen von Realität, die sich über Epochen und Kulturräume hinweg unterscheiden können.

Diese konstruktivistische Perspektive prägt Foucaults Verständnis von Wissen und Wahrheit. Unter Wahrheit begreift Foucault nicht »das Ensemble der wahren Dinge, die zu entdecken oder zu akzeptieren sind« (Foucault 1978, S. 53). Im Gegenteil: In seinem Weltbild existieren weder die objektiv vorgegebene, universelle Wahrheit noch das absolute, unanfechtbare Wissen. Gefangen im jeweils aktuellen Regelsystem, ist die einmal festgestellte Wahrheit lediglich eine vorläufige »Teillösung mit historisch bedingtem Verfallsdatum« (Ruoff 2018, S. 262), und das Wissen umfasst nur Erkenntnisse, »die in einem bestimmten Moment und in einem bestimmten Gebiet akzeptabel sind« (Foucault 1992, S. 32).

Im jeweiligen zeitlichen und sozialen Raum – in einer spezifischen »Diskursarena« (Keller 2019, S. 44) – wird festgelegt, was als wahr, vernünftig und somit akzeptabel gilt. Diese Festlegung obliegt dabei nicht einem einzelnen Akteur, der monopolmäßig agiert, sondern ist vielmehr Gegenstand »von mehr oder weniger konfliktuellen gesellschaftlichen Wissenspolitiken« (ebd., S. 45). Individuelle und kollektive Akteure aus verschiedenen Lebensbereichen mit unterschiedlichen Interessen, Ressourcen und Spielräumen stricken aktiv am Diskurs mit und versuchen, dessen Ausgestaltung strategisch zu beeinflussen. Letztlich ist der Diskurs die »Resultante all der vielen Bemühungen der Menschen, in einer Gesellschaft zu existieren und sich durchzusetzen« (Jäger 2015, S. 37). Diskurse als Praktiken strukturieren gesellschaftliche Wissensverhältnisse und -ordnungen: Sie legen bestimmte Interpretationen und Lesarten nahe und zielen darauf ab, »einen bindenden Horizont von Deutungen, Werten und Handlungen bzw. Handlungsfähigkeiten in sozialen Kollektiven aufrechtzuerhalten (bzw. zu etablieren)« (Keller 2019, S. 45).

These 2: DiskursiverWissens- und Wahrheitsproduktion liegt ein immanentes Regelsystem zugrunde. In der Diskursanalyse geht es unter anderem darum, diese Strukturmuster und Regelmäßigkeiten, die von Foucault als ›diskursive Formationsregeln‹ bezeichnet werden, zu identifizieren und den ›Deutungscode‹ empirisch zu rekonstruieren.

Diskursive Praktiken sind nicht nur bedeutungsstiftend und somit strukturierend, sondern auch selbst strukturiert. Um das Foucault’sche Diskursverständnis noch einmal in Erinnerung zu rufen: Verstreute Aussagen über einen bestimmten Gegenstand, die nach demselben Muster oder Regelsystem gebildet werden, bilden einen Diskurs. Die Beschaffenheit eines solchen Diskurses – was innerhalb dessen gesagt und gezeigt wird, was verschwiegen und ausgeblendet wird – ist keineswegs zufällig: Diskurse sind Praktiken, die bestimmten Regeln gehorchen (Foucault 1981, S. 198). Gemäß diesen Regeln, die Foucault als diskursive »Formationsregeln« bezeichnet (ebd., S. 48–103), wird im jeweiligen historischen, politischen und soziokulturellen Kontext eine Unterscheidung zwischen richtig und falsch, wahr und unwahr, legitim und illegitim vorgenommen sowie die Produktion, Verteilung und Wirkung von Aussagen reglementiert. Formationsregeln organisieren folglich den Diskurs und bestimmen, »was gesagt, gedacht und getan werden darf, was wahr, normal und legitim ist« (Wiedemann und Lohmeier 2019, S. 3). In den Worten Foucaults: »[N]ichts kann als Wissenselement auftreten, wenn es nicht mit einem System spezifischer Regeln und Zwänge konform geht« (Foucault 1992, S. 33).

In der Diskursanalyse gilt Foucaults Interesse dem »Ensemble der Regeln, nach denen das Wahre vom Falschen geschieden und das Wahre mit spezifischen Machtwirkungen ausgestattet wird« (Foucault 1978, S. 53). Doch woher stammen die Regeln der Diskursproduktion und wer legt sie fest? Wer reguliert die diskursiven Praktiken?

These 3: Diskursproduktion unterliegt der Kontrolle. Diverse Ermächtigungs- und Ausschließungsmechanismen, Reglementierungspraktiken und Zwänge beschränken im Namen der Wahrheit den Zugang zu ›Sprecherpositionen‹ – und damit zum Diskurs – und begrenzen den Raum des Sagbaren und Sichtbaren.

In seiner Inauguralvorlesung am Collège de France am 2. Dezember 1970 entwickelt Foucault eine Hypothese, die das Kontrollprinzip der Diskursproduktion offenbart:

»Ich setze voraus, dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.« (Foucault 1974, S. 7)

Im weiteren Verlauf seines Vortrags befasst sich Foucault mit Mechanismen der Ausschließung, die der Kontrolle über den Diskurs dienen und das Sagbare einschränken: dem Verbot, der Grenzziehung und dem Gegensatz von Wahrem und Falschem (Foucault 1974, S. 7–11). Das Verbot begrenzt den Raum des Sagbaren durch ein »Tabu des Gegenstandes«, ein »Ritual der Umstände« sowie ein »bevorzugtes oder ausschließliches Recht des sprechenden Subjekts« (ebd., S. 7). Anders ausgedrückt: Nicht jeder beliebige Sprecher darf über jedes beliebige Thema zu jeder beliebigen Zeit sprechen – der Zugang zum Diskurs bleibt eingeschränkt und wird nur den ›legitimen Sprechern‹ gewährt. Grenzziehungen, wie die Entgegensetzung von Vernünftigen und Wahnsinnigen, dem Wahren und dem Falschen, setzen zwar keine Tabus, doch stellen weitere restriktive Mechanismen dar. Das Wahre bzw. die Wahrheit rücke ich in den Mittelpunkt meines theoretischen Konstrukts.

Das Stichwort Wahrheit ist eine der wenigen Konstanten im Foucault’schen Denkgebäude:

»Ändern sich im Laufe der Zeit auch die Gegenstandsbereiche (Klinik, Humanwissenschaften, Gefängnis usw.) oder die methodischen Anleihen (strukturalistisch, archäologisch, genealogisch), mithin gar die Bezeichnungen seines Ansatzes (Diskursanalyse, Analyse der Macht), bildet die Wahrheitsproblematik die ständige Herausforderung seines Arbeitens.« (Günzel 2020, S. 343)

Was ist so ›problematisch‹ an der Wahrheit, abgesehen davon, dass sie lediglich ein Konstrukt ist? Vor allem sind es die vielfältigen Kontrollmechanismen, ökonomischen und politischen Zwänge, unter denen sie produziert und verteilt wird, sowie die Machtwirkungen, die von ihr ausgehen.

»Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre ›allgemeine Politik‹ der Wahrheit: d.h. sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren lässt: es gibt Mechanismen und Instanzen, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen und den Modus festlegen, in dem die einen oder anderen sanktioniert werden; es gibt bevorzugte Techniken und Verfahren zur Wahrheitsfindung; es gibt einen Status für jene, die darüber zu befinden haben, was wahr ist und was nicht.« (Foucault 1978, S. 51)

Das Letztere deutet darauf hin, dass die Frage nach der Wissensvermittlung nicht nur die Frage nach den »Akzeptabilitätsbedingungen« (Foucault 1992, S. 35) betrifft, sondern immer auch die Frage nach den sozialen und institutionellen Aspekten des Zugangs zur Sprecherposition: Wer darf als ›legitimer Sprecher‹ die Wahrheit verkünden – und wo? Im Interview von Alessandro Fontana und Pasquale Pasquino behauptet Foucault, dass die Wahrheit »unter der zwar nicht ausschließlichen, aber doch überwiegenden Kontrolle einiger weniger großer politischer oder ökonomischer Apparate« (Foucault 1978, S. 52) produziert und zirkuliert wird, zu denen Foucault neben Universitäten und der Armee auch Massenmedien zählt.

Außerdem spricht Foucault vom Wahrheitsbedürfnis wirtschaftlicher und politischer Akteure (Foucault 1978, S. 52). Dieses Wahrheitsbedürfnis oder, um einen weiteren Foucault’schen Begriff aufzugreifen, der Wille zur Wahrheit durchdringt seit Jahrhunderten gesellschaftliche Diskurse und wird »immer stärker, immer tiefer und unausweichlicher« (Foucault 1974, S. 14). Der ›Wille zur Wahrheit‹ bringt einen Diskurs hervor, der mit einem Wahrheitswert aufgeladenen ist, und wird von einem komplexen Geflecht von Praktiken – pädagogischen, gesetzlichen, kulturellen und medialen – verstärkt, institutionalisiert und permanent erneuert (ebd., S. 11–13). Dabei neigt der ›Wille zur Wahrheit‹ dazu, auf andere, vom ›wahren‹ Diskurs abweichende Diskurse »Druck und Zwang auszuüben« (ebd., S. 13). Foucault spricht von einer »gewaltige[n] Ausschließungsmaschinerie« (ebd., S. 15) und einer »diskursiven ›Polizei‹« (ebd., S. 25), deren Regeln man gehorchen muss, um ›im Wahren‹ zu bleiben. Die womöglich polemisch klingenden Begriffe Ausschließungsmaschinerie und Diskurspolizei sollten jedoch nicht dazu verleiten, die Ausgrenzungen aus der Diskursarena als »bloße Manipulation durch bestimmte Akteure« (Jäger 2019, S. 64) zu betrachten. Vielmehr können Zugangsbeschränkungen institutionell bzw. strukturell verstärkt werden und weisen auf komplexe und vielschichtige Beziehungen innerhalb der Diskursräume hin.

These 4: Kontrollmechanismen, die den Diskurs beeinflussen, offenbaren die Verbindung zwischen diskursiver Praxis und (politischer) Macht. Somit wird das ›wahre‹ Wissen zum Produkt der Macht, und der Diskurs ist das Ergebnis des Kampfes um Deutungshoheit.

Wenn man die vorherigen drei Thesen zusammenführt, wird deutlich: Das Wissen um die Wahrheit ist an den Raum des Sagbaren gekoppelt und steht unter dem Einfluss der Macht. Eine ausführlichere Beschreibung der Macht-Wissen-Beziehungen liefert Foucault in seinem Werk »Überwachen und Strafen«:

»Eher ist wohl anzunehmen, dass die Macht Wissen hervorbringt (und nicht bloß fördert, anwendet, ausnutzt); dass Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; dass es keine Machtbeziehung gibt, ohne dass sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert.« (Foucault 1977, S. 39)

Obwohl die Macht neben dem Diskurs und dem Wissen als »Kernbegriff des foucaultschen Werkes« (Ruoff 2018, S. 164) gilt, bietet Foucault keine klare Begriffsdefinition. In seiner Machtanalytik geht es ihm im Grunde nicht darum, »zu beschreiben, was Wissen ist und was Macht ist« (Foucault 1992, S. 33). Bei seinen Untersuchungen zum Phänomen der Macht scheint Foucault eher davon auszugehen, dass »keine Chance besteht, ›Macht‹ theoretisch erfolgreich zu objektivieren« (Taureck 1997, S. 95). Anstelle einer Definition treten konzeptionelle Überlegungen und Annahmen, die ein spezifisches Machtverständnis offenbaren:

»[N]iemals darf sich die Ansicht einschleichen, dass ein Wissen [Herv.i.O.] oder eine Macht [Herv.i.O.] existiert – oder gar das Wissen [Herv.i.O.] oder die Macht [Herv.i.O.], welche selbst agieren würden. Wissen und Macht – das ist nur ein Analyseraster.« (Foucault 1992, S. 33)

Im Unterschied zur Herrschaft, die mit Besitz, Ungleichheit, Ausgrenzung und Ausbeutung einhergeht, erscheint die Macht als etwas Allgegenwärtiges, Überindividuelles, den gesamten Gesellschaftskörper Durchdringendes: »Diese Macht ist nicht so sehr etwas, was jemand besitzt, sondern vielmehr etwas, was sich entfaltet […].« (Foucault 1977, S. 38) Sie ist weder »eine Mächtigkeit einiger Mächtiger« (Foucault 1986a, S. 114), noch ist sie an eine Einzelperson, eine (politische) Institution oder eine Klasse gebunden, wie etwa den Regierungsapparat, ein Medienunternehmen oder die Bourgeoisie. Auch wenn sich keine Macht »ohne eine Reihe von Absichten und Zielsetzungen entfaltet« (ebd., S. 116) und Machtbeziehungen »durch und durch von einem Kalkül durchsetzt sind« (ebd.), plädiert Foucault dafür, »die Macht ohne den König zu denken« (ebd., S. 112). Sie ist somit ein überkörperliches, abstraktes Konstrukt, das multiple Formen annimmt und alle gesellschaftlichen Verhältnisse durchsetzt: »Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt.« (Ebd., S. 114) Diese komplexe strategische Situation ergibt sich aus der »Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen« (ebd., S. 113), die auf dem Gebiet existieren und in Kämpfen und Auseinandersetzungen transformiert, verstärkt oder umgekehrt werden. Der Gegenstand des Begehrens und der Konfrontationen – in den Worten Foucaults (1977): einer »immerwährende[n] Schlacht« (S. 38) – ist die Kontrolle über den Diskurs. Für Foucault ist der Diskurs somit nicht bloß das, was die Kämpfe in Sprache übersetzt, sondern »dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht« (Foucault 1974, S. 8).

›Wahrheitsspiele‹ und das Politische des Diskurses Mit dem Konzept der Wahrheitsspiele – »der Spiele des Wahren und des Falschen« (Foucault 1986b, S. 13) – bringt Foucault die Diskurspraktiken, das Wissen und die Macht in einen produktiven Zusammenhang und verleiht dem Diskurs eine politische Dimension. Bei den Wahrheitsspielen steht nicht die eigentliche, sach- und faktizitätsbezogene Wahrheit auf dem Spiel, sondern der »Status der Wahrheit« (Foucault 1978, S. 53). Die Frage danach, was als wahr, richtig und legitim bzw. als falsch und moralisch verwerflich gilt, ist dabei keine politikfremde Debatte, sondern ein umkämpftes Terrain, das an Machtsysteme gebunden ist, die die Wahrheit hervorbringen und stützen (ebd., S. 54). Mit dieser Auffassung grenzt sich Foucault von denen ab, die die machtstrategische Dimension des Diskurses leugnen: »Was bei ihnen Lücke, Vergessen, Irrtum wäre, ist für mich bewusster und methodischer Ausschluss.« (Foucault 1981, S. 226) Auf eine einfache Formel gebracht: Wer an den Hebeln der Diskursproduktion sitzt, zieht die Grenze zwischen wahr und falsch und kontrolliert, was über einen bestimmten Gegenstand öffentlich gesagt werden kann (und was nicht). Wer Kontrolle über den kollektiven Wissensbestand hat, gibt politische und moralische Orientierung. Somit ist der Diskurs nicht nur ein sinnstiftendes Konstrukt, wie anfangs erläutert, sondern auch »Ausdruck übergeordneter Macht- und Wissensordnungen« (Wiedemann und Lohmeier 2019, S. 2) und das Produkt der Auseinandersetzung um Deutungshoheit.

Die Diskurs- und Wissensproduktion soll vor diesem Hintergrund problematisiert werden. Vor allem die »Politik der Wahrheit« (Foucault 1978, S. 53) und die Praxis des ›Wahrsprechens‹ bedürfen einer kritischen Hinterfragung. In den Worten Foucaults:

»Unter Produktion von Wahrheit verstehe ich […] nicht die Produktion wahrer Aussagen, sondern die Einrichtung von Bereichen, in denen die Praktik von wahr und falsch zugleich reguliert und gültig sein kann. […] Ich möchte das Regime der Produktion von ›wahr‹ und ›falsch‹ wieder ins Zentrum der historischen Analyse und der politischen Kritik stellen.« (Foucault 2005, S. 34)

Bei dieser »politischen Kritik« an machtgeladenen Wahrheitsregimen geht es nicht darum, festzustellen, was tatsächlich wahr und was falsch ist, um einzelne Aussagen und Deutungen »als Abweichung von einem universalen Standard der Wahrheit abzuqualifizieren« (Folkers 2019, S. 104). Vielmehr rückt in den Vordergrund die Frage nach den ›Spielregeln‹ der Wahrheitsproduktion, also danach, »welche Mechanismen es erlauben, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden, was die Gegenstände sind, die in ein Wahrheitsspiel eintreten, was überhaupt wahrheitsfähige Aussagen sind« (ebd., S. 103). Der Frage, wie man diesen Mechanismen empirisch auf die Spur kommen kann, widmet sich das Kapitel 1.4.

Das Produktive der Macht Das Foucault’sche Machtverständnis zeichnet sich neben der Allgegenwart (Mikrophysik) der Macht und ihrer politischen Dimension durch eine weitere Besonderheit aus: Der Philosoph plädiert gegen eine unterkomplexe Vorstellung, die Macht als bloßes Verbot, Zensur, Bedrohung oder Beschränkung begreift. Um zu verstehen, wie sich die Macht entfaltet und worauf ihre Akzeptanz bzw. das Schwinden der Akzeptanz beruht, sollte sie nicht auf »eine hemmende und aufrechterhaltende Rolle« (Foucault 1986a, S. 115) reduziert werden.

»Man muss aufhören, die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur ›ausschließen‹, ›unterdrücken‹, ›verdrängen‹, ›zensieren‹, ›abstrahieren‹, ›maskieren‹, ›verschleiern‹ würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion.« (Foucault 1977, S. 250)

Für meine Analyse bedeutet das – und das möchte ich besonders betonen –, dass man nicht nach der hegemonialen Macht suchen sollte, die bestimmte Wissensbestände hervorhebt und andere marginalisiert oder völlig ausblendet. Stattdessen sollte man »in das Feld vielfältiger und beweglicher Machtbeziehungen« (Foucault 1986a, S. 119) eintauchen. Ich zitiere eine längere Passage aus dem »Willen zum Wissen«, weil sie das Foucault’sche Verständnis von diskursiven Auseinandersetzungen und das Verhältnis von Diskurs und Macht sehr deutlich und pointiert beschreibt:

»[D]ie Welt des Diskurses ist nicht zweigeteilt zwischen dem zugelassenen und dem ausgeschlossenen oder dem herrschenden und dem beherrschten Diskurs. Sie ist als eine Vielfältigkeit von diskursiven Elementen, die in verschiedenartigen Strategien ihre Rolle spielen können, zu rekonstruieren. […] Es handelt sich um ein komplexes und wechselhaftes Spiel, in dem der Diskurs gleichzeitig Machtinstrument und -effekt sein kann, aber auch Hindernis, Gegenlager, Widerstandspunkt und Ausgangspunkt für eine entgegengesetzte Strategie. Der Diskurs befördert und produziert Macht; er verstärkt sie, aber er unterminiert sie auch, er setzt sie aufs Spiel, macht sie zerbrechlich und aufhaltsam.« (Foucault 1986a, S. 122)

Auch Widerstände – »mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, einsame, abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche, kompromissbereite, interessierte oder opferbereite« (Foucault 1986a, S. 117) – sind somit Teil dieses vielfältigen Machtnetzes. Neben der hegemonialen Erzählung, die in der Regel an den Staat als übergreifende Machtinstanz gekoppelt sind, interessiere ich mich für ihr »nicht wegzudenkende[s] Gegenüber« (ebd.) – die Gegenerzählung –, aber auch für die vielen Zwischentöne, Schattierungen und Ambivalenzen.

1.1.4Kritisch-produktive Erweiterungen

»Die eigene intellektuelle Kreativität der Diskursanalytikerin soll nicht, ja kann nicht in ein schematisches Prokrustesbett gezwängt werden, und spanische Dressur-Stiefel, die diese in ein Schema zwängten, sind nicht angesagt.«

(Jäger 2015, S. 8)

In Foucaults ›Werkzeugkasten‹ können (und müssen oft) neue Instrumente hineingelegt werden, wenn die Forschungsfrage eine Erweiterung erfordert. Für die Analyse von filmischen Geschichtsbildern verknüpfe ich in dieser Arbeit diskurstheoretische Perspektiven von Foucault mit einzelnen Elementen aus weiteren diskurstheoretischen Ansätzen: der wissenssoziologischen Diskursanalyse von Reiner Keller (2011, 2019) sowie der Diskursperspektive der Cultural Studies in Anlehnung an Stuart Hall (2005, 2019). Auf diese Weise wird das theoretisch-konzeptuelle Gerüst der Arbeit um Überlegungen erweitert, die mir für die Beantwortung der Forschungsfragen hilfreich erscheinen.

Erweiterung I (Diskursproduktion): Akteure (Reiner Keller) Der Soziologe Reiner Keller (2011) beschreibt die Foucault’sche Perspektive als »Diskurskonstruktivismus ohne Konstrukteure« (S. 98). Um der diskursiven Praxis ein Gesicht zu verleihen, führt Keller ein Akteurskonzept ein, »mit dem soziale Akteure sowohl als diskursiv konstituierte wie als regelinterpretierend Handelnde, als aktive Produzenten und Rezipienten von Diskursen verstanden werden« (ebd., S. 11). Keller unterscheidet somit zwischen den Akteuren der Diskursproduktion, durch deren Sprechakte Diskurse erst lebendig werden, und den Akteuren der Diskurs