Spaß und Schulden am Neustifter Kirtag - Peter Waldeck - E-Book

Spaß und Schulden am Neustifter Kirtag E-Book

Peter Waldeck

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Beschreibung

1985, Neustifter Kirtag. Die konservative Politprominenz drängelt sich beim alljährlichen Winzer-Event. Es wird genetzwerkt und getrunken, alle wollen Erhard Busek die Hand schütteln und gemeinsam über Kreisky schimpfen. Dieser hochoriginelle Roman schildert einen Nachmittag inmitten dieses zutiefst österreichischen Schauspiels. Der Neustifter Kirtag ist heutzutage ein bombastisches Event. Für drei Tage im Jahr brummt das gemütliche Weinhauer-Viertel am Rande Wiens. Prominente zwängen sich in Tracht und Dirndl, Jugendliche schniegeln sich für eine dreitägige Sauftour zurecht, Politiker geben den letzten Rest an Würde auf, um ein paar Stimmen am rechten Rand abzuräumen. Doch in den 1980er Jahren, in denen dieser Roman spielt, war der Neustifter Kirtag noch eine erbärmliche Angelegenheit. Schäbige Stände, ein quietschendes Ringelspiel, enttäuschte Kinder, grantige Eltern, Anspannung und Ohrfeigen. Im Mittelpunkt dieses gloriosen Romans stehen das Ehepaar Thomas und Sylvia und ihre Kinder Lisa, Michael und Willi. Familienhündin Bonny ist im Wald entlaufen, sie soll so schnell wie möglich gefunden werden, sonst passiert noch ein Unglück auf der Höhenstraße. Aber die Familienmitglieder haben drängendere Pläne: Vater Thomas will auf den Kirtag, um bei der ÖVP-Neustift nichts zu versäumen. Michael will nichts lieber als mit einem dritten Bier seinen Alkoholspiegel auf gutem Niveau halten, und Hobby-DJ Lisa ist auf der Suche nach ihren Schallplatten. Nur der Jüngste, Willi, ist voll und ganz bei der Sache, er hat in seinem Leben bereits über zehn Haustiere verloren und würde einen weiteren Verlust nicht verkraften. Und dann drehen auch noch die beiden Skinheads Gabor und Alex ihre Runden und verbreiten Gewalt und Anarchie.

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Peter Waldeck

Spaß und Schulden am Neustifter Kirtag

Roman

Milena

Inhalt

LISTE DER WICHTIGSTEN PERSONEN

Samstag, der 18. August, 1753

Samstag, der 17. August 1985

Samstag, der 18. August, 1753

Samstag, der 17. August 1985

Samstag, der 18. August, 1753

Samstag, der 17. August 1985

Epilog

LISTE DER WICHTIGSTEN PERSONEN:

Die Familie

Thomas, der Vater

Sylvia, die Mutter

Lisa, die Älteste

Michael, der Mittlere

Willi, der Jüngste

Onkel Eddie, Sylvias Onkel

Bonny, der Hund

ÖVP Neustift – die Runde vor dem Weinreben-Wirtl

Rolli, Thomas’ Freund

Ludwig, der Kassier

Adi, der Obmann der ÖVP Döbling

Renate, die Kellnerin

Am Kirtag

Carlo, der Kioskbesitzer

Radek, der Salzgurkenverkäufer

Wendelin, der Besucher

Barbara, Michaels Schulkollegin

Freunde und Bekannte

Paul, Michaels bester Freund

Philipp, Lisas Ex-Freund

Waluyo, der DJ

Dayita, Waluyos Schwester

Herbert, Thomas’ Jugendfreund

Trudi, Herberts Ehefrau

Pater Sebastian, der Geistliche

Und die Skinheads Gabor und Alex

Samstag, der 18. August, 1753

Und wie herrlich der Sommertag, wie schön das liebliche Neustift. Was gab es bloß für Attraktionen: Papierfiguren, von Kerzenlicht getrieben, schwebten am Himmel; einen Narren auf Stelzen, der derbe Lieder trällerte, sah August; es gab einen Schachkaspar, gegen den partout nicht zu gewinnen war; betrunkene Soldaten, die mit ihren Säbeln Flaschen köpften und Wurstkränze spießten; die Kronenprozession, bei der pausbäckige Mädchen Blüten aus Körben in die Menge warfen. Kaum zu glauben, dass die schlechte Erntezeit noch in diesem Jahr gewesen war. Ein Hoch auf die Kaiserin, die den Weinbauern die hohe Steuerlast erlassen hatte. August hob sein Glas. Ein Hoch auf Maria Theresia.

Samstag, der 17. August 1985

ES KRACHTE LAUTER, als sie es erwartet hatten. Gabor und Alex blieb die Spucke weg. Es war also eine gute Idee gewesen, den Piraten in die Bierflasche zu stecken, gemeinsam mit den vielen Ladykrachern. Mit einem Riesenknall zerbarst die Flasche, und die Scherben fetzten in alle Richtungen davon. Alex hielt sich die Hand vor den Mund, seine Wange blutete, eine Scherbe war scharf über seine Haut gezischt. Er lachte.

*

Bis in den Wald hinein donnerte der Knall noch, laut und bedrohlich, wie ein unheilvolles Wetter, das ohne Ankündigung gekommen war.

Bonny stellte die Ohren auf, hielt aber nicht inne, um zu lauschen, sondern raste los. Thomas war völlig überrumpelt. Eben noch hatte er sich mit Sylvia unterhalten, die Leine locker schleifen lassen, da krachte es und der Hund schoss davon. Bevor er kapierte, was vor sich ging, und reagieren konnte, war Bonny schon in den Tiefen des Waldes verschwunden.

»Bonny!«, rief Thomas.

»Bonny!«, rief Sylvia, seine Frau.

Aber nur einmal noch bellte Bonny zurück, schon weiter entfernt, als angenommen, dann war es still. Sie blickten einander ratlos an, warteten, ob etwas passierte, ob Bonny wieder zurückkam. Aber Bonny kam nicht. Thomas runzelte die Stirn.

*

Sylvia ärgerte sich, irgendetwas wird Thomas wohl schon falsch gemacht haben.

So ein Mist! Was werden die Kinder sagen?

*

Erde, Steine, Dreck stoben durch die Luft. Lisa bretterte heran. Viel war nicht mehr los mit dem alten Schrott-Opel, aber einen Auftritt konnte er immer noch hinlegen. Es half, dass es nicht geregnet hatte und der Boden nicht asphaltiert war. Brauner Dreck, vertrocknete Spurrillen – super Staubwolke. Lisa bremste abrupt und parkte dann hektisch unter dem Baum gegenüber dem Haus, in dem sie mit ihren Eltern und Brüdern wohnte.

Das verstanden ihre Eltern also unter einem neuen Auto: ein steinaltes Automobil der uncoolsten Marke, noch dazu in einer Farbe, die es seit bald zehn Jahren auf keiner Farbskala mehr gab – zu gestrig, keine Nachfrage.

Der Motor erstarb, und Lisa verließ all ihre Energie. Drei Wochen Ferialjob waren zu Ende. Sie wollte nie wieder daran denken müssen. Ihr Bedarf an homosexuellen Zauberern mit heterosexuellen Übergriffsneigungen war gedeckt.

Sie löste den Sicherheitsgurt, lehnte sich zurück, atmete ein, starrte die Autodecke an, atmete aus, sah beim Fenster raus. Zum Haus. Es lockte die Tür, die Dusche, das Schwimmbecken, aber Lisa war erledigt und sie hatte noch Zigaretten im Handschuhfach, und einmal ins Haus eingetreten, war Rauchen zwar nicht untersagt, aber eine komplizierte Angelegenheit wegen Blumen, die nicht vernebelt werden durften, Brüdern, die geschont werden mussten, und Räumlichkeiten, in denen das Rauchen nicht immer, sondern nur manchmal verboten war; unmöglich vorauszusagen, wie der Stand gerade war. Das Feuerzeug klickte, der Tabak knisterte, Lisa sog den Rauch ein. Eigentlich sollte sie mit dem Rauchen aufhören, aber es machte ihre Stimme so schön.

*

Eine halbe Stunde hatten sie nach dem blöden Hund gesucht. Sie hatten geschrien, gerufen. Irgendwo ein Bellen, ein Rascheln vielleicht. Vielleicht auch nur eingebildet. So ein stummer Wald ist laut, wenn man sich konzentrieren will. Jedenfalls kam der blöde Hund, pardon, die blöde Hündin, nicht mehr zurück. So ein Angsthase, so ein Angsthund. Die Hunde heutzutage hatten einfach keine Nerven mehr. Als Thomas ein Kind gewesen war, hatte es Hunde gegeben, die nichts erschüttern konnte. Keine Bomber, keine bröckelnden Häuser, keine russischen Spürhunde. Aber Bonny. Jedes Jahr zu Silvester mussten sie Bonny überlisten und ihr Psychopharmaka einflößen, damit sie keine Angstattacke bekam. Das bisschen Knallerei. Was das kostete! Geld! Als Nächstes käme dann wohl eine Therapie. Fünf Wochen Knalltherapie mit irgendeinem dahergelaufenen Dr. Brunnhaider – 5000 Schilling, na sicher! Aber irgendwann war Schluss! Schluss mit Schluss! Eine halbe Stunde gesucht und gerufen, jetzt konnte er nichts mehr tun. Sollten die Kinder Bonny suchen, den Kindern fiel es leicht, die hatten einen Draht zu ihr. Es war ja gar nicht sein Hund. Die Kinder hatten einen Hund gewollt, besonders Willi. Den anderen war es wohl egal gewesen, aber sie hatten sich auch nicht dagegen ausgesprochen. Diese Konfliktscheuheit wird sie alle noch umbringen. Hirtenhund! Das war doch gelacht. Der Hirtentitel gehörte diesem Hund mit sofortiger Wirkung aberkannt. Gefeuert gehörte der Hund. Thomas hielt inne. Er musste sich beruhigen. So ehrlich musste er zu sich selbst sein, er hatte gar nichts gegen den Hund. Bonny war entzückend, und er, Thomas, war nervös. Die Zeit lief ihm davon. Er hatte sich unten mit den Freunden von der Volkspartei verabredet und war schon wieder zu spät dran, er hatte leider schon genug Parteitreffen versäumt, das hing ihm nach. Er musste los, ganz klar. Aber würden die Kinder das auch so sehen? Enttäuscht und empört würden sie sein, und recht hatten sie damit auch noch.

*

Frauen sind wahnsinnig arg, dachte Michael und öffnete sein zweites Bier. Er wollte das zweite Bier eigentlich erst später trinken, in Neustift am Kirtag, aber Paul hatte ihr Treffen um eine Stunde verschoben. Sie beide hätten längst am Kirtag sein sollen. Dort hätte er das zweite Bier in Ruhe trinken können. Niemand hätte etwas gesagt, niemand eine Augenbraue hochgezogen. Es war ihm nicht total verboten, zuhause ein Bier zu trinken. Zum Essen, am Abend auf der Terrasse – da war es auch für seine Eltern in Ordnung, aber das war eben nicht so oft, wie Michael darauf Lust hatte. Wenn es nach seinen Eltern ginge, würde er vielleicht hundertmal weniger Bier trinken, als er gerne wollte, aber weniger Bier war immer schlecht. Also musste er die Winkel und Zimmer des Hauses gut nutzen, um am Bier zu nippen, aber auch um die anderen hören zu können, wenn sie sich annäherten. Frau Elvira, die Putzfrau, obwohl man es ihr nicht ansah, war leise wie eine Katze. Einmal, als er im Heizungsraum eine Flasche geleert hatte, war sie plötzlich hinter ihm gestanden. Weiß der Teufel, was sie da zu suchen hatte. Sie sagte gar nichts, tat ganz fröhlich und meinte nur: »Leider macht Bier ja dick.« So ein Blödsinn! Wenn Bier dick machen würde, wäre er ja dick! Er trank ja das Bier, aber von Dicksein keine Spur. Was für Ammenmärchen die Erwachsenen immer erzählten. Dick oder nichtdick, das war eine Sache der inneren Einstellung. Er konnte es sich ja auch einfach machen und sein Zimmer absperren, aber das konnte man auch nicht immer machen, seine Mutter kam ihn ja gerne besuchen. Ein-, zweimal absperren war schon in Ordnung, mit sechzehn hatte man eben auch seine Geheimnisse, das verstand seine Mutter, aber zu oft würde ihren Jagdinstinkt wecken. Sie war entsetzlich neugierig, kannte keine Grenzen, es war eine Pest. Bier macht dick. So eine Lachnummer. Und das Absperren war ja immer nur die halbe Miete. Er musste die Flasche blitzschnell verstecken, wenn sie an der Tür rüttelte, viel Zeit hatte er dann nicht. Er konnte sie in den Kasten stellen, aber dort befanden sich immer schon zwei, drei andere Bierflaschen, und die Gefahr war groß, dass es selbst beim vorsichtigsten Reinstellen zu klimpern begann, oder schlimmer noch: eine Flasche die andere umstieß und es dann zu sehr lautem, ja unüberhörbarem Supergeklimpere kam. Das wäre peinlich. Wenn ihn da einer erwischte, müsste er einen quälenden Spaziergang mit einem Gespräch in salbungsvollem Ton über sich ergehen lassen. Das war natürlich ein Risiko, aber das war es Michael wert, denn nichts hatte sein Leben so sehr zum Besseren gewendet wie die Entdeckung des Biers.

*

Willi musste langsam damit aufhören, ins Sofa zu beißen. Es zeigte schon Spuren, wenn man genauer hinsah. Er versuchte ja sich zurückzuhalten, aber wenn ihn die Wut überkam, die Weißglut, dann konnte er nichts dagegen machen. Er trommelte auf den Boden, er schmiss einen Polster durch das Zimmer. Er biss in das Sofa. Nein, sich zurückzuhalten war keine Möglichkeit. Deswegen biss er ja ins Sofa, weil er sich nicht mehr unter Kontrolle hatte. Und er wurde immer größer, seine Gebissmuskulatur stärker. Es würde noch zu einer Katastrophe führen. Er würde den Bezug des Sofas aufbeißen. Am Ende würden noch alle glauben, es sei Bonny gewesen und vielleicht musste sie dann weg. Ins Tierheim.

Willi würde natürlich sofort aufschreien: »Nein, das stimmt nicht. Ich war das. Ich!«

Aber seine Eltern würden es ihm nicht glauben. »Du willst ja bloß Bonny schützen«, würden sie sagen und müde mit den Schultern zucken. Und dann, nach ein paar Wochen, wenn niemand im Tierheim Bonny haben wollte, würden sie ihr eine Spritze geben – ihre Haarbüschel in den Ohren würden welken, ihre Augen gelb werden, feucht zerplatzen, oder aus den Augenhöhlen kullern, aus der Nase grüner Schaum rinnen – und dann würden sie den steifen, toten Körper in einem Hundeofen verbrennen.

Argh! Willi schlug sich auf die Wange. Er durfte sich nicht immer so in seine Fantasien hineinsteigern. Nie wusste sein Kopf, wann er aufhören sollte.

Und das Schlimmste dabei: Es half gar nicht mehr so viel. Früher war es das letzte Aufbäumen gewesen: Er hatte sein Gesicht im ledrigen Sofa verborgen, kraftvoll hineingebissen, seinen Kopf hin- und hergebeutelt, wenn es ganz schlimm war, dabei geknurrt, und dann war es ihm besser gegangen. Aber nicht mehr! Und schon gar nicht heute. Schon zweimal hatte er in das Sofa gebissen, der Ledergeschmack klebte ekelhaft an seiner Zunge. Aber nichts hatte sich gebessert, nichts!

Er sollte aufhören, die Fernsehecke mit dem ZX Spectrum verlassen und in den Swimmingpool hüpfen. Aber er hasste Schwimmen! So ein Nonsens. Die Augen brannten, die Haut wurde gereizt, das Becken war jeden Tag gleich. Es war zum Ausder-Haut-Fahren. Wurden einmal Lisa oder Michael zum Rasenmähen eingeteilt, musste er sich um den Swimmingpool kümmern. Blätter rausfischen, Insekten, Vogelfedern. Klebrig, nass, ekelhaft. Sie sollten den Pool zubetonieren und eine Gokart-Bahn draufbauen. So ein Swimmingpool war das Letzte.

Dachte er an den Swimmingpool, wurde er wütend, dachte er an den ZX Spectrum, pochte die Zornesader. Es gab keinen Ausweg aus der Wutspirale.

Vati war schuld mit seiner Sparerei. Einen Commodore 64 hatte er haben wollen. Und einen ZX Spectrum hatte er bekommen. »Lern erst mal auf dem ZX Spectrum programmieren, und wenn du den dann ausgereizt hast, bekommst du nächstes Jahr den Commodore.« Natürlich war im darauffolgenden Jahr keine Rede mehr davon gewesen. Sein Vater rechtfertigte sich nicht einmal, er beendete das Thema einfach mit einer unwirschen Geste und mürrischem Genuschel und ließ Willi als Lügner dastehen, im besten Fall als Konfusling. Und nur wegen dieses irren Spardrangs – als ob Geld irgendetwas bedeutete! – musste Willi an diesem Vormittag den Code eines Computerspiels aus einem Kaufheft abtippen. Der Commodore 64 hatte genug Spiele. Da wären ihm nicht mitten im Sommer die Spiele ausgegangen. Fünf Seiten dicht bedruckte Codes, Zeile für Zeile, hatte er in die blauen, weichen Gummitasten getippt. Stundenlang, stundenlang, stuuuundenlang. Unglaublich, wie sehr ihn diese Konzentration schmerzte, aber man konnte schlecht mittendrin aufhören. Was, wenn Bonny den Stecker zog, über die Tastatur lief? Alles für nichts. Wenn Willi an diesem Tag eine Lektion gelernt hatte, dann, dass sich Durchhalten nicht auszahlte. Durchhalten war etwas für Hirnis. Denn als er dann die letzte Zeile eingetippt hatte und den Befehl Run gab, passierte … Nichts! Nix, nichts, supernichts. Nur eine blöde Fehlermeldung. Eigentlich hätte das Spiel starten müssen. Er musste sich irgendwo vertippt haben. Nachdem er seine Zähne abermals im Sofa versenkt hatte, beging er einen weiteren Fehler: Er gab nicht auf. Das gibt’s doch nicht, dachte er. Das wäre doch gelacht. Aber zum Lachen kam Willi nicht mehr, denn er fand den Fehler nicht. Er ging jede Zeile durch, verglich sie mit dem Abdruck im Heft, fuhr die Zeilen mit dem Finger nach, las laut, Zahlen, Sonderzeichen, englische Wörter. Programmiersprache: Basic. Aber er fand den Fehler nicht.

Alles war richtig. Nichts funktionierte.

Er schlug auf den Teppichboden. Er ballte die Fäuste.

Willi atmete durch und machte den dritten Fehler: Er schmiss gute Zeit der schlechten hinterher. Er kontrollierte den Code noch ein zweites Mal, diesmal von hinten nach vorne. Wenn er das Spiel doch nur endlich spielen könnte! Und da, hurra! Plötzlich entdeckte er zwei Zeilen, die er offenbar übersehen hatte. Ausdauer zahlte sich doch aus. Mit zittrigen Fingern schrieb er die übersehenen Befehle in die richtige Zeile. Das musste es sein.

Run! Enter …

Fehlermeldung!

Willis Gesicht lief heiß an. Kopfschmerzen, Augenstechen, sogar den Ärger konnte er in seinem Mund schmecken, Teer und Sprudel.

Heiß! Weiß! Dampf!

Er schlug auf das Sofa, er schlug gegen die Wand, er warf sein Trinkglas um, er schlug auf den Glastisch vor sich. Immer fester schlug er zu. Das klirrte wenigstens laut. Fester schlagen! Lauter klirren! Er hob beide Hände hoooooch und ließ sie mit Wucht auf den Glastisch sausen. Und mit einem lauten BLANG!, wie es bei Clever & Smart heißen würde, zersprang das Glas in tausend Teile.

*

»Wir haben getan, was wir konnten, nicht?«, sagte Thomas. »Ich meine, was sollen wir noch tun? Wir haben praktisch den ganzen Wald abgesucht.«

Sylvia überlegte, was sie antworten sollte. Die Wahrheit? Vom ganzen Wald konnte keine Rede sein, vielleicht von einem Fünftel, vielleicht einem Viertel, und was hieß schon abgesucht? Thomas war herumgegangen und hatte laut gerufen und gepfiffen, und Sylvia mit einem Stück Holz in dem einen oder anderen Gebüsch rumgestochert. Natürlich hatten sie nicht alles getan, was sie hätten tun können, da wäre noch einiges mehr drin gewesen, aber sie hatten mehr getan, als sie tun wollten. Zumindest als Sylvia tun wollte. Und ganz ehrlich, es wäre ihr gar nicht so unrecht, würde Bonny für immer im Wald verschwinden. Sie hatte es satt. Drei Kinder waren schon die Hölle, der Hund das Tüpfelchen auf dem i. Immer war irgendwas, Kinderarzt, Schulhorror, haarsträubende Mutter-Tochter-Gespräche, Geschirr hin, Geschirr weg, Staub, Hund, Hund, dreimal am Tag Hund, und so lieb war Bonny nun auch wieder nicht, ein strubbeliges Etwas, ein herziger Blick, aber dahinter verbarg sich die Dummheit und keine Leistung; dumme Wesen sahen immer so herzig drein, die konnten gar nicht anders. Hat irgendwer schon einem Hund in die Augen geblickt und sich gedacht: Was für ein sensibles Genie?

Sie wusste gar nicht mehr, wie es diesmal geschehen war. Irgendein Hund räusperte sich, irgendein Kind blickte aus einem Auto, eine Winterwolke, die an einen Hund erinnerte, eine Schulkollegin mit einem süßen Dackel und schon saß ein Tier zuhause unter dem Tisch, hechelte, rülpste, wollte Bewegung, wollte essen, immerzu essen, verbreitete eine Parade an üblen Gerüchen, nach nassem Fell, nach Hundemund, nach Hundedurchfall, eitriger Schnauze – eine Tragödie. Dann noch der Tierarzt. Sie sollten den Tierarzt wechseln. Nicht das kleinste Problemchen konnte er heilen, ohne dass es zu einer monatelangen Behandlung kam. Wie war es überhaupt dazu gekommen, dass sie den Tierarzt von ihrem Haushaltsgeld bezahlen musste? Thomas war sowieso schon so knausrig und überhitzt, wenn es ums Geld ging. Was sollte sie noch alles bezahlen? Das Geld für Bonnys teure Entwurmungstabletten würde ihr für Betäubungsmittel fehlen, wenn sie im Alter mit pochenden Schmerzen im Spital lag.

Und aus diesen und noch vielerlei Kompliziertheiten mehr überkam sie ein wohliger Schauer, wenn sie sich eine Welt ohne Bonny vorstellte. Jetzt noch ein, zwei Kinder aus dem Haus, eine zweite Putzfrau und – aufatmen!

Thomas hatte gar nicht auf ihre Antwort gewartet, es war eine rhetorische Frage gewesen, wie vor Gericht.

»Es ist besser, die Kinder suchen Bonny. Bonny hört auch viel besser auf die Kinder. Die Kinder kennen auch den Wald und die Verstecke besser. Besser die Kinder machen das. Oder?«

*

Die ganze Glasplatte war kaputt. Überall Scherben, teils winzig, teils grob. Der ZX Spectrum, der auf dem Tisch abgestellt war, war auf den Boden gestürzt, mit der Tastatur nach unten, das Fernsehbild war gestört. Willi packte es nicht. Wie konnte das passiert sein? Was war denn das für ein Tisch, der von einem 12-jährigen Kind kaputtgeschlagen werden konnte? Das war doch billigste Ware. War es nicht. Im Gegenteil, ein Erbstück war es, ein teures. Wie oft hatte Mutti geschimpft, sie sollen besser aufpassen, wenn sie ein Glas ohne Untersetzer darauf abgestellt hatten? Und jetzt war der Tisch kaputt. Der von seiner Mutti so geliebte Tisch. Willi wurde von Angst überwältigt. Er bekam kaum noch Luft. Sie würden ihm alles verbieten. Alles. Mehr als alles. Er spürte, wie seine Augen brannten. Willi wurde schwarz vor Augen.

*

Lisa richtete sich auf. Genug geraucht. Ihre Zunge war ganz taub und rau. Pfui, ekelhaft!

Ihre Hand berührte bereits die Schnalle der Autotür, da entdeckte sie ihre Eltern, die um die Ecke bogen. Ein Blick reichte, und Lisa konnte die nervöse Energie zwischen den beiden spüren. Vatis dunkle Haare waren zerzaust, und Mutti sah mit diesem gewissen angespannten Blick vor sich hin. Lisa kannte diesen Blick. Er bedeutete: »Los, frag mich! Frag mich, was los mit dir ist. Was falsch an dir ist. Welche Fehler du dir zukommen hast lassen. Frag mich.«

*

Thomas atmete tief durch. Er öffnete das Gartentor und hielt es für Sylvia auf. Ohne sich zu bedanken, schritt sie durch. Er seufzte und schloss es hinter ihr, ließ es nicht ins Schloss fallen, nein, dazu hatte er jetzt keine Lust. Im Gegenteil, betont langsam führte er die Tür zurück, ließ sie vorsichtig einklicken, rüttelte dann noch mit größter Behutsamkeit daran, als hätte er da ein auffälliges Geräusch gehört. Sylvia, die weitergegangen war, stand nun vor der Haustür – so lang war der Vorgarten nicht auf der Eingangsseite – und musste sich entscheiden: warten, bis Thomas kam, um ihr aufzusperren, oder in ihrer Tasche nach dem Schlüssel suchen. Irgendwann war es ihm aufgefallen; erst hatte er sich nichts dabei gedacht, Zufall, wieder ein Zufall, Sylvia hatte wohl gerade so eine Phase, aber schließlich musste er sich eingestehen: Sylvia schloss nie eine Tür auf, wenn er dabei war. Immer wartete sie und er musste kramen, blinzeln, die Schlösser auf- und zusperren. Aber diesmal langte es ihm. Schon den ganzen Weg zurück hatte sie so nervös geschwiegen. Sollte Sylvia die Tür doch selber aufsperren. Er würde keinen Finger rühren.

*

Sylvia blieb vor der Tür stehen und wischte mit ihrer rechten Sohle über den Steinboden. Sie summte ein Lied, wartete, worauf eigentlich? Sie drehte sich um. Thomas stand vor der Gartentür und klopfte gegen ein Gitter. Warum sperrte er nicht einfach die Tür auf? Sylvia schüttelte den Kopf und läutete an.

*

Michael spuckte vor Schreck fast das ganze Bier an die Wand. Er hatte seine Ohren auf die dünnsten Geräusche ausgerichtet. Das Knistern des Teppichs, der hohle Schwung einer gut geölten Tür, Räuspern, Geklacker in der Hosentasche, aber nicht dieses Sturmgeläute. Er verrenkte sich fast den Hals beim Versuch, seinem Spuckreflex zu widerstehen und das Bier stattdessen zu schlucken. Die Hälfte ging davon gut und glitt – durchaus schmerzhaft, aber immerhin – in seine Kehle. Der Rest blähte seinen Mund auf und schwappte durch den dünnen Schlitz seiner Lippen; das warme Bier lief Michael über das Kinn, auf sein Shirt und auf seinen Teppich. Schockschwerenot! Jetzt galt es, schnell zu reagieren. Er stellte die Bierflasche, in der ein kläglicher Rest schaukelte, in den Kasten zu den anderen Flaschen, wischte sich das Kinn mit dem Shirt ab. Das Shirt war nicht mehr zu retten, aber das Kinn durfte nicht nach Bier stinken!

Das Schrillen war die Hölle, sein guter Rausch dahin. Wer läutete denn so blöd? Das schöne Rauschgefühl! Jetzt war alles Stress. Er zog sich ein neues Shirt über, knüllte das andere zusammen und legte es unter seinen Kopfpolster. Er öffnete seine Lade, kramte unter den Zetteln eine Dose hervor, öffnete sie. Kaffeepulver, ein Löffel steckte drin. Hektisch stopfte er sich zwei Bissen in den Mund. Paul hatte ihm diesen Tipp gegeben. Gegen Saufmundgeruch die beste Lösung: Kaffeepulver essen. Aber, das musste Michael nun einsehen, dafür brauchte es Zeit und eine gewisse Gemütlichkeit, denn in der Geschwindigkeit – die Türklingel läutete ja immer noch Sturm – konnte man unmöglich zwei Teelöffel Kaffee runterwürgen. Auf dem Weg ins Erdgeschoß nahm er noch einen Umweg über die Toilette, spuckte alles hinein, wollte alles hineinspucken, denn leider landete nur die Hälfte in der Schüssel, die andere verteilte sich auf den Bodenfliesen …Für einen kurzen Moment wollte Michael resignieren. Resignieren war doch immer eine Möglichkeit. Sich ins Bett legen, heulen und »Mutti, Mutti« wimmern, aber Mutti war ja das Problem und nicht die Lösung. Also, Kinn vor und weitermachen. Er spülte sich den Mund, fuhr sich rasch mit einer nassgespritzten Hand über das Kinn und rannte die Stiegen hinunter ins Vorzimmer. Wer war bloß der vertrottelte Anläuter? Das konnte ja nur Willi sein. Hatte ihn wieder die Wut überkommen? Oder es war Paul? Das wäre ja noch schöner. Nicht anrufen können und dann wie ein Dummian die Klingel quälen.

Michael ging zur Tür, die in dem Moment aufgerissen wurde, und wurde empfindlich am Kopf getroffen.

*

Der Staubsauger machte ein interessantes Geräusch – dann hörte er auf zu saugen. Das gibt’s doch nicht. Willi trat mit dem Fuß gegen die Seite. »Saug doch wieder, du Depp!« Aber es war nichts zu machen. Kommentarlos kippte der Staubsauger um und blieb stumm liegen. Willi trat noch einmal dagegen, er konnte es gar nicht verhindern. Der Staubsauger wiederholte das Geräusch, nur lauter, und erstarb mit einem Knirschen. Jetzt war auch noch der Staubsauger kaputt! Und das nur wegen seines blöden Vaters. Mit dem Commodore 64 im Haus wäre das nicht passiert. Für den Commodore 64 gab es genug Spiele. Willi hörte Geräusche von oben. Michael heulte. Und sein Vater fluchte irgendwas vor sich hin.

Was tun?, dachte Willi. Er sah sich das Schlachtfeld an.

Vielleicht war ich das gar nicht, dachte sich Willi. Panik. Vielleicht bin ich ja nie hier gewesen.

Er raste in die Waschküche, um sich eine Badehose aus dem Trockner zu holen.

Vielleicht war ich ja die ganze Zeit im Swimmingpool!

*

Thomas schüttelte den Kopf. Was war jetzt schon wieder? Er zückte den Schlüssel, räusperte Sylvia zur Seite, die stur im Takt die Klingel drückte. Dann öffnete er kräftig die Tür und … Michael flog durch den Vorraum.

»Was ist denn jetzt schon wieder?«, entfuhr es ihm, diesmal laut.

Thomas sah wohl, dass Michael Schmerzen hatte, eine Grimasse zog – aber was zum Teufel? Waren denn alle verrückt geworden? Wie schwer konnte es sein, einer aufgehenden Tür nicht entgegenzurennen?

*

Sylvia schlängelte sich an Thomas vorbei ins Haus. So ein Affentheater. Thomas, wütend, knapp vor einer Explosion, und Michael, der aufstand und sich die Stirn rieb. Wie ein Kind jaulte. Wie sah Michael überhaupt schon wieder aus? Kleine schwarze Flecken auf seinem Kinn, seinem Shirt, als hätte er einen Aschenbecher mit Wasser gefüllt und sich damit übergossen. Immer diese Seltsamkeiten. Michael nahm wirklich eine seltsame Entwicklung.

*

Während Sylvia sich frisch machte, erläuterte Thomas seinen Plan: »Weit kann Bonny ja nicht sein. Und bald hat sie sich auch wieder beruhigt und wird sich fragen, wo es nachhause geht. Wahrscheinlich wird sie euch auf dem Weg zum Wald schon entgegenkommen.«

»Wer ist euch?«

»Ja, wer, euch? Du und Willi? Oder ist Lisa schon da?«

»Was habe ich denn damit zu tun? Ihr habt doch Bonny verloren! Das ist doch total ungerecht!«

»Ja, Michael, so löst du aber kein Problem. Das ist eine Sache, da müssen wir alle zusammenhelfen. Wir haben unser Bestes gegeben. Jetzt seid ihr dran. Da muss ich doch nicht darüber reden. Warum muss ich da darüber reden?« Thomas’ Finger begannen zu zappeln.

»Lisa ist nicht da. Nicht dass ich wüsste!«

»Dann gehst du eben mit Willi.«

»Das halte ich für keine gute Idee.«

*

Michael hielt es für eine entsetzliche Idee.

*

»Warum? Das ist eine gute Idee. Sylvia, sag doch was!«

»Hm?«, Sylvia war wieder zurückgekehrt und blies sich eine Strähne aus der Stirn.

»Wenn Willi davon Wind kriegt, dreht er total durch. Da geh ich lieber alleine.«

»Wenn ich wovon Wind kriege?«

Willi stand im Türrahmen zur Küche, in der Badehose, triefnass, ein Handtuch über die Schulter gehängt.

*

Lisa zündete sich doch eine zweite Zigarette an. Sie hatte keine Lust, das Haus jetzt zu betreten. Wenn sie die Schwingungen ihrer Eltern richtig deutete, braute sich da drinnen gerade so richtig was zusammen. Und dann erwarteten wieder alle von ihr, dass sie alle mit ihrer guten weiblichen Art besänftigte. Nur weil sie eine Frau war. Das war doch verrückt! Mutti war auch eine Frau und goss ständig Öl ins Gift. Feuer auf die Wunde. Öl auf die Wunde? Verdammt, war Lisa müde! Und der Zigarettenrauch, der sich in der Fahrerkabine ihres Schrott-Opels staute, machte sie noch müder. Wenn sie Glück hatte, konnte sie über die Garageneinfahrt seitlich am Haus vorbei in den Garten schleichen und durch eine der unteren Türen in den Keller schlüpfen. Dann vielleicht im Partyraum auf dem Sofa heimlich schlafen. Guter Plan, solange sich die anderen nicht in der Küche aufhielten. Dann wäre sie ihren Blicken ausgeliefert. Keine Chance. Die erste Strecke konnte sie noch an die Hauswand gepresst vorankommen, aber dann – gerade unter dem Küchenfenster – musste sie den Abstellplatz queren, um zur Treppe in den Garten zu gelangen. 50:50. Hm … vielleicht musste sie sich einfach noch auf eine gewisse Zeit im Auto einstellen. Sie drehte das Radio auf – Maria Bill –, sie drehte das Radio ab. Sie kurbelte den Sitz nach hinten.

*

Selbstverständlich zuckte Willi aus. Und wie! Er hatte sich zuvor ganz fest darauf konzentriert, seine gute Lügengeschichte zu präsentieren. Hatte seine Gedanken zusammengepresst, bis nur noch die neue Wahrheit da war: Er war schwimmen, und da hatte er gesehen, wie ein aufgeregtes Eichhörnchen durch das Kellerfenster geschlüpft war, direkt ins Fernsehzimmer. Sollen wir nachsehen gehen, ob etwas passiert ist? Hoffentlich hat das Eichhörnchen nichts angestellt! Und jetzt knallte ihm Vati etwas umso Grausameres ums Ohr. Warum war Bonny nicht hier? Das durfte doch nicht wahr sein. Konnte man die Eltern nicht einmal mit einem Hund in den Wald lassen? Wie konnten sie Bonny nur alleine lassen? Im Wald konnte ihr alles Mögliche passieren. Willis Gedanken rasten los. Vielleicht war es mit der Leine blöd gelaufen und Bonny hatte sich an einem Ast erhängt. Oder sie hatte sich eine Pfote gebrochen und ein Wolf riss ihr die Kehle auf. Oder ein Kinderverzahrer übergoss sie mit heißem Pech. Oder ein Förster schoss ihr mit einem Gewehr in den Kopf, weil er sie mit einem Wilderer verwechselte. Oder Bremsenquietschen. Oder Schmerz. Oder Tod. Er zitterte am ganzen Leib. Er schmiss das Handtuch auf den Boden. Er hüpfte darauf herum. Er war rot im Gesicht. Niemand konnte seine Wut stoppen. Noch brodelte sie im Bauch, dann schoss sie hoch und schwappte heiß und laut aus seinem Mund.

»Das gibt es doch nicht!«, brüllte er. Dann irgendwas, das wie »Gnignigni« klang, und dann war der Damm endgültig gebrochen: »Wie kann man nur so, so, so … verantwortungslos sein? Was seid ihr denn für Eltern! Bei euch ist doch jedes Tier ein Trottel! Aber wisst ihr was? Ihr seid die Trottel!«

»Willi«, sagte Mutti.

»Willi«, sagte Vati, strenger.

Michael rollte mit den Augen.

Aber Willi ließ sich davon nicht beeindrucken. Jetzt ging er erst richtig in die Luft. Er raufte sich die Haare.

»Ich pack es überhaupt nicht, dass ihr hier so rumsteht. Warum tut ihr nichts. Wie gemein und dummi kann man überhaupt sein? Ihr Scheiß-Arschlöcher!«

*

Für Michael gab es hier nicht mehr viel zu tun. Er drehte sich um und wollte vorsichtig in die Küche fliehen, aber Vati ergriff ihn bei der Schulter und holte ihn wieder zu sich.

*

Thomas versuchte, Willis Tobsucht mit ein bisschen gespielter Euphorie zu lockern.

»Aber pass auf. Du und Michael geht in den Wald. Das ist doch der Plan. Mit euch hat Bonny eine richtige Beziehung. Euch beide liebt sie. Da wird sie schnell wiederkommen und dann feiern wir am Neustifter Kirtag. Du bekommst Kokosbusserl.«

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Willi konnte es kaum glauben, mit welch beschämenden Worthülsen, mit welch beschämenden Geschenken Vati ihn abspeisen wollte. Jetzt wäre die Gelegenheit gewesen, einen Commodore 64 anzubieten. Und was brachte Vati ins Spiel? Kokosbusserl? Willi weitete die Augen, holte tief Luft, dann stürmte er mit vorgestreckten Fäusten los und rammte sie seinem Vater in den Bauch. Der strauchelte zurück und riss fast Michael mit.

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»Du Trottel! Du Trottel! Du dummer Trottel!«, rief Willi und schlug auf Thomas ein, bis Sylvia ihn von hinten packte und wegzog. Willi hörte nicht auf, richtete nun seinen Zorn gegen ein neues Ziel und stieß seine nackten Füße mit voller Wucht auf Sylvias Fußspitzen. Ein-, zweimal ließ sie das mit sich geschehen, aber dann dämmerte ihr, dass echte Gefahr drohte, die eine oder andere Zehe gebrochen zu bekommen. Sie hob den zappelnden Wüterich hoch, der daraufhin noch mehr tobte.

»Ihr seid solche Hirnis! Ich hasse euch!«

Und dann begann er zu weinen, zu schluchzen. Er schniefte so fest, dass ein Klumpen Nasenrotz in seinen Hals plumpste.

Michael beutelte es vor Ekel.

Sylvia streichelte seinen Kopf und blickte Thomas mit einem strafenden Blick an.

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Was habe ich jetzt schon wieder gemacht?, dachte Thomas.

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Lisa schreckte hoch. Sie war auf dem Autositz eingeschlafen, ihre Hand hatte sich um die Schaltung gelegt, ihr Atem war flach und ihr Traum schäbig und trist gewesen. Eine Wiese, auf der mühsame Gespräche stattfanden, mürrische Küken, und überall roch es nach den Schätzen, die man in einem seit Wochen nicht gewaschenen Bauchnabel fand.

Dann schlug eine Hand gegen die Fensterscheibe, das Klacken von Muttis Ehering ließ Lisas Herz einen Satz nach vorne machen. Sie fuhr hoch, rieb sich die Augen, öffnete die Seitentür.

»Hallo, Mutti!«, aber Mutti wollte von »Hallo!« nichts wissen. Sie hatte schon alles durchgeplant, Lisa und ihre Brüder würden in den Wald gehen, sie hatte zwanzig Minuten, um sich frisch zu machen, dann musste sie den beiden hinterher. Bonny war entlaufen.

»Ach, Mutti! Ich bin komplett erledigt. Und ich leg doch heute Abend auf und muss noch die Platten richten.«

»Eben. Wenn ihr zu dritt geht, habt ihr Bonny bald gefunden, und dann ist auch schon wieder alles vorbei.«

Ein paar müde Argumente von Lisa wurden von Mutti trocken beiseitegewischt. Lisa war leider nicht in Bestform, die lange Fahrt, der kurze Schlaf. Die Sache war gegessen.

Mutti steckte Lisa noch einen Hunderter zu.

»Kommt nachher auch zum Kirtag. Das wäre nett. Oder wenn es Schwierigkeiten gibt. Wir könnten auch unten zu Abend essen.«

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Wo waren denn jetzt wieder alle hin? Thomas hatte doch alles organisiert, die Verantwortlichkeiten verteilt. Warum stand er jetzt alleine im Vorraum und wartete. Sylvia war nach draußen verschwunden, Michael musste plötzlich telefonieren, Willi war in sein Zimmer verschwunden, um sich weinend umzuziehen, und Lisa – wo war Lisa überhaupt? Sollte sie nicht schon hier sein?

Thomas wusste jedenfalls, wo er sein sollte, auf dem Weg nach unten, unterwegs zu seinen Freunden von der Österreichischen Volkspartei.

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Und das war ja überhaupt das Ärgste! Dass Paul ans Telefon ging. Eigentlich hätten sie sich in zehn Minuten unten am Kirtag treffen sollen und Michael wollte nur Pauls Mutter anrufen, um ihr zu sagen, dass es einen Notfall gegeben hatte und er einfach später zum Kirtag kommen würde, in der irrwitzigen Hoffnung, dass Paul, wenn er Michael nicht anträfe, seine Mutter anriefe und fragte, was denn los sei. Eine extrem wackelige Geschichte, aber ha! Anscheinend war Pünktlichkeit für alle anderen ein Vielleicht und kein Muss, jedenfalls galt das für Paul, denn Michael wählte, es tütete, und der Verbrecher hob einfach ab.

»Paul? Ich pack’s nicht. Warum hebst du ab?«

»Ja, es hat geläutet, gell.«

Michael hasste Paul, wenn er so war.

»Wir haben uns doch verabredet. In zehn Minuten vor dem Weinreben-Wirtl.«

»Klar, ich weiß. Na ja, fünf Minuten werde ich mich schon verspäten.«

»Hör mal, du brauchst doch mindestens dreißig Minuten mit dem Bus. Und mindestens zehn Minuten bis zur Bushaltestelle. Rechne doch! Rechne doch! Du klingst nicht so, als hättest du schon deine Schuhe an.«

»Na, ich habe Hausschuhe an.«

Michael schlug sich mit der Hand auf die Stirn. Für Pauls Art musste erst ein Wort erfunden werden. Seine Sätze an sich waren ruhig formuliert, aber irgendwie sott darunter eine Suppe aus Spott und Gemeinheit. Sagen konnte man auch nichts, man konnte ja schlecht das Nichtgesprochene kritisieren. Arg, wie oft er sich über Paul ärgern musste.

Aber irgendwo wusste er ja auch, dass es nicht alleine Pauls Schuld war, dass er sich so ärgern musste. Sein Rausch kochte mittlerweile auf kleiner Flamme. Ein bisschen stolpernde Zunge war noch da, Gedanken, die sich nicht ganz so schnell zu einem Ganzen fügten, aber auch Unruhe, Bauchzwicken, ziellose Selbstvorwürfe.

»Hm, also es gibt da einen Notfall. Bonny ist im Wald entlaufen. Wir müssen sie finden.«

»Ja, das verstehe ich jetzt nicht. Was hast du denn mit Bonny am Hut?«

»Na ja, Bonny ist mein Hund. Also, unser Hund.«

»Ach komm, du weißt doch, wie das ist. Drei Monate nach Einkauf des Haustiers erlöschen die Pflichten der Kinder und dann kommen die Tiere in die Verantwortung der Eltern. Das wissen sie, das wisst ihr. Zeit, die Masken fallen zu lassen, nicht? Wenn du willst, rede ich mit deinen Eltern.«

Woher hatte Paul dieses selbstbewusste Auftreten? Lag es daran, dass sich seine Eltern gerade mitten in einer verzweifelten Scheidungskomödie befanden? Da hatte es jedenfalls begonnen, als er mit den Worten in die Schule kam: »Meine Mutter ist zu ihrem Freund gezogen und mein Vater ist zu seiner Freundin gezogen und jetzt weiß ich auch nicht weiter. Kann mir jemand sagen, wie man ein gutes Beef Tatar zubereitet?«

»Ach, egal. Wir treffen uns dann später am Kirtag.«

»Oder im Wald. Einer mehr ist einer mehr.«

»Ok«, Michael gab auf, er hatte dem Wahnsinn nichts entgegenzusetzen, »wir treffen uns dann also am Kirtag oder im Wald. Wann?«

»Das kann ich dir nicht sagen. Ich habe mir gerade eine Lasagne in den Ofen geschoben und einen Rotwein aufgemacht.«

*

Die Nerven waren geglättet, alles war geplant: Die Buben gingen vor, Lisa würde sich frisch machen, nachkommen und ein Auge auf die beiden werfen. Auf Willi, weil er so fragil war, und auf Michael, weil er gerade in seiner verantwortungslosesten Phase war. Hoffentlich beruhigte sich das bald wieder. Lisa war eigentlich auch nicht viel besser, aber sie war erpressbar, weil sie immer Geld für Benzin und für Platten brauchte.

Es läutete an der Gartentür. Sylvia runzelte die Stirn. Lisa hatte doch einen Schlüssel? Sylvia war gerade guter Stimmung, weil sie zwischen all der Organisation auch Zeit gefunden hatte, eine Zigarette zu rauchen. Würde sie sich wieder ärgern müssen? Sie blickte durch den Spion. Ein kleines Männlein stand vor der Gartentür in einem grünen Lodenmantel, auf dem Kopf trug es – unbeirrt vom schönen Wetter – einen ebenso grünen Lodenhut, dazu einen fein gepflegten Oberlippenbart, und winkte fröhlich: Onkel Eddie.

Sylvia seufzte und drückte den Türöffner.

So schnell konnte sie gar nicht schauen, war Onkel Eddie an ihr vorbeigehuscht und stand nun mitten im Vorraum. Er hob euphorisch die Arme, Sylvia verschränkte die ihren misstrauisch.

*

Jetzt war Onkel Eddie auch noch da. Sie würden nie loskommen. Das war die Wahrheit. Thomas klopfte mit seinen Fingern nervös gegen die Seite seiner Beine. Hauptsache, sich nicht mit ihm in ein Gespräch verwickeln lassen, nicht mit Onkel Eddie, dieser Nervensäge, die ständig in seine Geldbörse schielte.

Seine Nervosität half nicht. Wenn er jetzt vorginge, würde ihn Sylvia das später büßen lassen.

Er schob mit dem Fuß die Küchentür zu, damit er nicht von Onkel Eddie entdeckt werden konnte.

Thomas öffnete den Kühlschrank. Da war eine halb ausgetrunkene Bierflasche drin. Was war denn das für ein Blödsinn? Ein Bier trinkt man aus oder man trinkt keines. Das raucht doch im Nullkommanix aus. Thomas roch daran, ok, doch, es duftete noch ein bisschen nach Bier. Aber man sollte es jetzt trinken.

Thomas nahm die Flasche mit und verließ die Küche durch die Speis in Richtung Garage. Irgendwann wird hier ein Auto stehen, dachte Thomas. Aber solange man vor der Tür parken konnte und er keine Idee hatte, wo er das ganze Gerümpel unterbringen sollte, stand das ganze Gerümpel eben hier.

Thomas nahm sich eine Sonnenliege hinter einem alten Zementsack hervor und machte es sich gemütlich.

Das Bier schmeckte scheußlich!

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»Grüß dich, Sylvia«, sprudelte Onkel Eddie los. »Du bist die Beste, die beste Köchin. Und deine Süßigkeiten, deine Küchleins und deine Törtleins, deine süßen Schmarrens, die sind vom Allerbesten. Du bist einfach die beste Süßspeisenköchin.«

Sylvia kniff die Augen zusammen.

»Du backst doch sicher den ganzen Tag. Als gute Mutter hast du jederzeit etwas Süßes im Rohr, ich weiß doch, dass du eine gute Mutter bist.«

»Onkel Eddie, ich habe es eilig. Mach schnell!«